Skip to main content

Full text of "Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer N.S. 17-19 = 21-23.1901-1903"

See other formats


Google 


Über dieses Buch 


Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 


Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 


Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei — eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 


Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 


Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 


+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 


+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 


+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sıe sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 


Über Google Buchsuche 


Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 


Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books.google.comldurchsuchen. 


NT 


3 3433 0759 











ei Google 


ae Google 





ae Google 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung Sehwachsinniger und Kpllepüscher. 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 
herausgegeben von 


Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. I cermuli; 


Dresden-Streblen. Specialarzt für- Sgr yonitank hiter A u. 
in eg ° a 


= Aa en 


XVII. am) Jahrgang 1901. 


Da u 


Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


IK 
Bet 
292789 


\DATION®. 
L. 


3 


u 
Sr 
Z 


\ 
y 


RE 
t 


ARTOR, LENO^ AND 


Th 
PLi'ı.C ' Te 
TILDEN FÒ 
R 





. Bedeutung der Hilfsschulen in pide 


Inhaltsverzeichnis. 


A. Aufsätze. Seite 


. An den Vorstand der Konferenz in 


Elberfeld . 115 


gogischer und volkswirtsphaftlicher j 
Hinsicht (Hanke). 


Hilfsschulen Deutschlands (Weniger) 73 


. Bericht über die X. Konferenz für das 


Idiotenwesen . 185. 201 


. Das Diensteinkommen der Lehrer und 


Lehrerinnen. $ 11 des Gesetzes vom 
3.März1897(J.W.Busch.E. Arnold) 75 


6. Das Hilfslesebuch (Ehrig) . 165 

7. Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetz- 

buches für Schwachsinnige und Epi- 
leptische (Dr. W. Weygandt) . 35. 49 

8. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen 
(Bernhard). . . . 209 

9. Die Bestrebungen für die Bildung und 

Erziehung schwachsinniger Kinder in 
Italien (K. Richter) . 119. 145 

10. Die Bildung des Gemütslebens bei den 
Schwachsinnigen h 15 

1l. Die ideale Seite der Tdiotenpflege 
(Herberich) . 187 

12. Die Idiotenanstalten u. d. Hilfsschulen, 
eine Grenzregulierung (Barthold) . 201 

13. Die X. Konferenz für das Idioten- 
wesen . 33. 12. 113 

14. Die Organisation der Hilfsschulen 
(Kielhorn) . . 99 

15. Die Selbastthätigkeit der Schulen beim 

Unterrichte abnormer Kinder (Rie- 
mann). . . 193 

16. Die Zeitschrift für die Behandlung 
Schwachsinniger (Weniger) 62 

17. Ein Pionier auf dem Gebiete der Für- 

sorge für Schwachsinnige (Dr. La nden- 
berger) è . . 6. 105. 137. 169 
18. Ernst Heinrich Stötzner (W. S.) . 198 


Ä g 
. Bericht über den III. Vorbaidatar i De 


19. 


20. 


Seite 
Heilung eines Falles von epileptischem 
Irresein . . . re A9 
Ministerial-Erlass vom 20. Sept. 1895 22 


21. Sinnes- und Sprechübungen in der 
z. Hälfsschule (F. Loeper) . . l 
22, l ÜBer den Schwachsinn (Dr. Müller) 96 
23. Zu der neuen Anweisung in Privat- 
anstalten . 154 
B. Mitteilungen. 
l. Amerika (Epileptikerfürsorge) . 182 
2. Augsburg (III. Verbandstag d. Hilfs- 
schulen Deutschlands) . . . 25 
3. Berlin (Ministerieller Erlass) . . 110 
4. Dalldorf (Idiotenanstalt) . 215 
5. Dresden (E. Förster f) . . 215 
6. j (Nachhilfeschulen) 66 
7. ~ (Neust. Schwachsinnigen- 
schule . . . Be . 141 
8. Elberfeld (Schalöinriehtungen). . 180 
9. Freiburg, Schl. N) 
Pflegeanstalt) er Be ` 68 
10. Gotha (Hotädän- Maitg Stiflurg) PR 1w 
ll. Hamburg (Alstersdorfor- Anstulfen . 142 
- 12. (i (Hilfesöhulbk): :,. Yen. 26 
13. Leipzig (Christdeschornng,. ~ 
tisch, Milchsperde% > -4 en 43 
14. Leipzig (Sprechtäntetricht) 5 . 200 
15. Mühlhausen i. Th. (Hilfsschule) . 143 
ls. Niederösterreich (Öffentl. Für- 
sorge für epileptische Kinder) . . 181 
17. Roda S.-A. (Martinshaus) . 181 
18. Sachsen (Unterbringung Schwach- 
sinniger) . s a yal 
19. Schweiz (III. Beh wälzerläche Konferen 1 82 
20. Schwelm (Hilfsschule) . 68 
21. Stolp i. P. (Hilfsschule) 69 
22. Zürich (Albert Fisler }). 28 
23. i (Personalien) 182 
24. K (Schweizerische Konferenz) . 29 














ae Google 


í 


ae Google 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung Schwachsinnieer und Kpilepüscher. 


m tieren 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen 
herausgegeben von 


Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H, A. SENDETEIUN: 


Dresden-Streblen. Specialarzt für- Zugefonktadihäiten; 7 F s . 
in ae 


nn 


XVII. um) Jahrgang 1901. 


MN. ww. 


Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresilen. 





| -e 


Th: NEW YORK 
A enen! 


292789 


ARTOR, LENO^ AND 
TILDEN FQUNDATIONG. 
R 1903 L. 







10. 


11. 


12. 


13. 


14. 


15. 


16. 


18. 


. Das Hilfslesebuch (Ehrig) 
. Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetz- 


Inhaltsverzeichnis. 


A. Aufsätze. Seite 


‚An den Vorstand der Konferenz in 


Elberfeld . 115 


. Bedeutung der Hilfsschulen in "päda- 


gogischer und volkswirtsehaftlicher 
Hinsicht (Hanke). 


. Bericht über den III. Vorbandalsg der‘ 


Hilfsschulen Deutschlands (Weniger) 73 


. Bericht über die X. Konferenz für das 


Idiotenwesen . 185. 201 


. Das Diensteinkommen der Lehrer und 


Lehrerinnen. $ 11 des Gesetzes vom 
3.März1897(J.W.Busch.E.Arnold) 75 
. 165 


buches für Schwachsinnige und Epi- 
leptische (Dr. W. Weygandt) . 35. 49 


. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen 


(Bernhard). . 209 


. Die Bestrebungen für die Bildung und 


Erziehung schwachsinniger Kinder in 
Italien (K. Richter) . 119. 145 
Die Bildung des Gemütslebens bei den 
Schwachsinnigen s 

Die ideale Seite der Tdiotenpflege 
(Herberich) . 187 
Die Idiotenanstalten u. d. Hilfsschulen, 
eine Grenzregulierung (Barthold) . 
Die X. Konferenz für das Idioten- 
wesen 20. 33. 12. 113 
Die Organisation der Hilfsschulen 
(Kielhorn) . . 

Die Selbatthätigkeit dar Schulen heim 
Unterrichte abnormer Kinder (Rie- 
mann). . . 193 
Die Zeitschrift für die Behandlung 
Schwachsinniger (Weniger) 


15 


201 


99 


62 


. Ein Pionier auf dem Gebiete der Für- 


sorge für Schwachsinnige (Dr. La nden- 
berger) . 86. 105. 137. 


er! 169 
Ernst Heinrich Stötzner (W. S.) 


. 198 


Seite 


19. Heilung eines Falles von epileptischem 
Irresein . . . in. A9 
20. Ministerial-Erlass vom 20. Sept. 1895 22 
21. Sinnes- und Sprechübungen in der 
<. Hälfsschule (F. Loeper) . . 1 
22. Üfe er len Schwachsinn (Dr. Müller) 96 
23. Zu der neuen Anweisung in Privat- 
anstalten . 154 
B. Mitteilungen. 
l. Amerika (Epileptikerfürsorge) . 182 
2. Augsburg (III. Verbandstag d. Hilfs- 
schulen Deutschlands) ; . 25 
3. Berlin (Ministerieller Erlass) . . 110 
4. Dalldorf (Idiotenanstalt) . 215 
ö. Dresden (E. Förster t). . 215 
6. z (Nachhilfeschulen) 66 
7. j (Neust. Schwachsinnigen- 
schule hed TE . 141 
8. Elberfeld (Schuleinrichtungen) . . 180 
9 


. Freiburg, Schl. (Provinzial-Heil- u 


. Gotha (Hetzcgän- „Manie Stiftung) in 1r 


Pflegeanstalt) . en ° 68 


. Hamburg (Alsterdoriar Anstalten . 142 
a (Hilfsschuleh); : ~.e . 26 
3. Leipzig (Christbegehernng,, Mimayı 
tisch, Milchspende). - - ©) 
. Leipzig (Spreditäiiteiricht} . . 200 
. Mühlhausen i. Th. (Hilfsschule) . 143 
. Niederösterreich (Öffentl. Für- 
sorge für epileptische Kinder) . . 181 
. Roda S.-A. (Martinshaus) . 181 
. Sachsen (Unterbringung Schwach- 
sinniger) . 141 


. Schweiz(lll. Sch Weizerigche Konferen 2) 182 


. Schwelm (Hilfsschule) . 68 
z tolp i. P. (Hilfsschule) 69 
. Zürich (Albert Fisler t). 28 
j (Personalien) 182 
= (Schweizerische Konferenz) . 29 


band 


. Fröhlich, J., Dr., 


. Hohmann, 


. Michels, K., Die ee 


C. Vermischtes. 


; Idioten und das Strafgesetz ; 
. Sanitschar, der taubstummeWolfsknabe 


D. Litteratur. 
Die Individualität 
vom allgemein-menschlichen und ärzt- 
lichen Standpunkte 


. Giese, J. u. Loeper E., Rechenbuch 


in 4 Heften 
Die Grundlinien des 
Seelenlebens 


. Laquer, L., Dr., Die Hilfsschule, ihre 


ärztliche und orale Bedeutung . 


Minderwertigkeiten . 


ef 


Seite | Seito 
29 ° 6. Missalek, W., Rechtschreibefibel 
30 nach phonetischen Grundsätzen 71 
7. Möbius, P., Dr., Über den phy- 
siologischen Schwachsinn des Weibes 48 
8. Piper u. Kelemann, Schulhygiene- 
Hefte . .. 48 
.184 | 9. Schumann, W.. Die Grundzüge ds 
pädagogischen Pathologie . . . . I88 
. 111 | 10. Stim pfl, J., Dr., Der Wert der Kinder- 
psychologie für den Lehrer. . . . 188 
. 144 | 11. Wintermann, A., Die Hilfsschule 
in Bremen . . 143 
31 
Briefkasten 32. 72. 112. 144. 184. 216 
. 183 


d 


~ 


Y P a NT 
~” Nr. 1u. 2. 1.2789 XVII. (il) Jahrg. 


Zeitschrift er 


en 


für die ke een 


Behandlung Sehwachsinnioer und Epilentischer. 


Organ der Konferenz für ' das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitătsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Speziala 
Dresden - Strehler, für Noresnkrankieiten 
Residenzstrasse 27. In Stuttgart. 
Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 


mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Februar 1901. : Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | | einzelne Nummer 80 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Sinnes- und Sprechübungen (Unterscheidungsübungen) 
in der Hilfsschule. 
F. Loeper, Rektor der städt. „Hilfsschule‘‘ Barmen. 

Die schwachbegabten Kinder, die der Hilfsschule überwiesen werden, kommen 
in diese mit meist ungeübten Sinnen und mangelhafter Sprache. Während 
normal begabte Kinder vor ihrer Schulzeit im Hause, auf der Strasse, in Feld 
und Wald allerlei gehört, gesehen, gerochen, geschmeckt, gefühlt haben und 
diese Sinnesempfindungen auch richtig zu benennen wissen, sind unsere Schüler 
an den sie umgebenden Dingen und Erscheinungen mit stumpfen Sinnen vorüber- 
gegangen, so dass sie deren Eigenschaften nicht gemerkt und infolgdessen auch 
ihre sprachliche Bezeichnung nicht kennen gelernt haben. Diese Kinder müssen 
deshalb erst unterrichtsfähig gemacht werden durch einen vorbereitenden Unter- 
richt, wodurch dann ihre Sinne geübt, ihre Sprache entwickelt wird. Denn 
Kinder, die nichts gesehen und gehört haben, die nicht sprechen können, kann 
man nur äusserst mühsam unterrichten. Einer solchen Vorbereitung sollen die 
folgenden Lektionen dienen. 


Lektion I. 


Der Lehrer setzt sich mit den Schülern an einen grossen Tisch, auf dem 
Büchsen, Flaschen etc. stehen. — 

L.*) Was ist das? Sch. Eine Flasche, Dose, Büchse. L. (macht die Dose 
a) Ist etwas in der Dose? Sch. Nein. L. Wie sagt man, wenn nichts in der 


. Selbstverständlich werden beim Unterrichte oft Fagod und Antworten in anderer 
Folge eintreten, aber der Übersichtlichkeit halber sei hier nur der ungefähre Gang angedeutet. 





2 
Dose ist? Sch. Sie ist leer. L. Hier ist eine andere Dose. (Er macht sie auf.) 
Ist diese Dose auch leer? Sch. Nein, diese ist voll. (Dasselbe mit 2 Fläschchen, 
wobei die Begriffe leer und voll gewonnen werden.) L. (zeigt einen belaubten 
Zweig). Dies habe ich auf dem Schulhofe von einem Baume abgeschnitten. 
Was ist das? Sch. Das ist ein Zweig. L. Wie nennt ihr das Grüne hier an 
dem Zweige? Sch. Blätter. L. Was hat der Zweig also? Sch. Der Zweig 
hat Blätter. L. Wie sehen die Blätter aus? Sch. Grün. L. (zeigt eine grüne 
Farbentafel). Wie sieht die Tafel aus? Sch. Grün. L. Zeigt eine Hand voll 
Gras. Welche Farbe hat das Gras? Sch. Das Gras ist grün. Ch. wiederholt. 
L. Was für Blätter bat der Zweig? Sch. Der Zweig hat grüne Blätter. 
(Im Chor wiederholen) L. (hat alle Blätter bis auf eins entfernt). Hat der 
Zweig jetzt auch noch Blätter? Sch. Nein, er hat nur ein Blatt. L. (streift 
auch das letzte Blatt ab). Jetzt hat der Zweig gar keine Blätter mehr. Wie 
ist er jetzt? Sch. Leer. L. So sagt man, wenn in der Dose oder in der Flasche 
nichts mehr drin ist, aber wenn am Zweige nichts mehr dran ist, dann sagt 
man: er ist kahl. Wie ist der Zweig jetzt? Sch. Der Zweig ist kahl 
Ch. Der Zweig ist kahl. L. Im Sommer sind die Zweige der Bäume ganz voll 
Blätter; diese fallen im Herbste ab, und wenn dann der Winter kommt, haben 
sie keine Blätter mehr. Wie sind die Bäume im Winter? Sch. Kahl. Ch. wieder- 
holt. L. Wie nennt ihr einen Menschen, der keine Haare mehr auf dem Kopfe 
bat? Sch. Kahlkopf. L. (nimmt wieder die volle Dose). Nun wollen wir doch 
einmal sehen, was in dieser Dose ist? Was meint ihr wohl? Sch. (raten hin 
und her). L. Nehmt einmal etwas zwischen die Finger und schmeckt. Wie 
fühlt es sich an? Sch. Weich. L. Welche Farbe hat es? Sch. Es ist weiss. 
L. Wie schmeckt es? Sch. Es schmeckt wie Mehl. L. Man sagt dann: es 
schmeckt mehlig. Nun, was wird es dann wohl sein? Sch. Es ist Mehl. 
L. Wie ist das Mehl? Sch. Das Mehl ist weich, weiss und mehlig. Ch. wieder- 
holt. L. Hier habe ich eine andere Dose. (Er öffnet sie.) Ob das auch Mehl 
ist? Sch. (raten). L. Nun nehmt einmal wieder etwas zwischen die Finger und 
schmeckt. Welche Farbe hat es? Sch. Weiss. L. Weiss wie das Mehl; aber 
fühlt es sich auch so an? Sch. Nein, es fühlt sich hart an. L. Und schmeckt 
es wie Mehl? Sch. Nein, es schmeckt süss. L. Was mag es wohl sein? 
Sch. Zucker. L. Ja, es ist Stampfzucker, (er zeigt ein vierkantiges Stück 
Kaffeezucker) aber was mag das sein? Sch. Das ist auch Zucker. L. Fühlt 
und schmeckt einmal! Wie fühlt sich der Zucker an? Sch. Hart. L. Wie 
schmeckt er? Sch. Süss. L. Wie ist der Zucker also? Sch. Der Zucker ist 
weiss, hart und schmeckt süss. Ch. wiederholte. L. Nun wollen wir 
einmal das Mehl mit dem Zucker vergleichen. Welche Farbe hat das Mehl? 
Sch. Das Mehl ist weiss. L. Und wie sieht der Zucker aus? Sch. Er ist auch 
weiss. L. Wie sind also Mehl und Zucker? Sch. Mehl und Zucker sind weiss. 
Ch. wiederholt. L. Aber wie fühlt sich das Mehl an? Sch. Das Mehl ist 
weich. L. Wie ist der Zucker? Sch. Der Zucker ist hart. L. Also: Das 
Mehl ist weich, der Zucker ist hart. Ch. wiederholt. L. Wie schmeckt 
das Mehl? Sch. Mehlig. L. Wie schmeckt der Zucker? Sch. Der Zucker 


3 

schmeckt süss. L. Also: Das Mehl schmeckt mebhlig, der Zucker süss. 
Ch. wiederholt: L. Nun wollen wir alles wiederholen, was wir gefunden haben: 
Mehl und Zucker sind weiss; aber das Mehl ist weich, der Zucker ist 
hart; das Mehl schmeckt mehlig, der Zucker schmeckt süss. Sch. 
wiederholen (mit Hilfe). L. Wisst ihr auch, was die Mutter aus dem Mehl 
macht? Sch. Sie backt Kuchen daraus. L. Und der Bäcker backt Brot daraus. 
Was kann man also aus dem Mehl machen — backen? Sch. Aus dem Mehl 
backt man Brot und Kuchen. L. (lässt die Kinder aus einem Glase Wasser 
trinken). Was ist in dem Glase? Sch. Wasser. L. (wirft einen Theelöffel voll 
Stampfzucker in das Wasser und rührt um). Könnt ihr den Zucker jetzt noch 
sehen? Sch. Nein. L. Wo ist er denn geblieben? Sch. Er ist zergangen — 
ist geschmolzen. L. Zucker schmilzt im Wasser. Schmeckt jetzt einmal! 
(Die Kinder schmecken.) Wie schmeckt das Wasser jetzt? Sch. Das Wasser 
schmeckt süss. L. Wer hat das Wasser süss gemacht? Sch. Der Lehrer. 
L. (schüttelt mit dem Kopfe und zeigt ein Stück Zucker. Sch. Der 
Zucker. L. (zeigt den Kindern eine Tasse mit Kaffee). Was ist das wohl? 
Schmeckt einmal! Sch. Das ist Kaffee. L. (wirft ein vierkantiges Stück Zucker 
in die Tasse und rührt um). Nun hole einmal das Stück Zucker mit dem Löffel 
wieder heraus. Sch. Es ist keiner mehr drin. L. Wo ist der Zucker geblieben? 
Sch. Er ist geschmolzen. L. Der Zucker schmilzt im Kaffe. Wo schmilzt er 
noch? Sch. Im Wasser. L. Der Zucker schmilzt im Wasser und Kaffee. 
Sch. wiederholen. L. Wie wird der Kaffee durch den Zucker? Sch. Süss. 
L. Wie macht der Zucker das Wasser? Sch. Auch süss. L. Der Zucker 
macht das Wasser und den Kaffee süss. Sch. wiederholen. L. Der 
Zucker schmilzt im Wasser und im Kaffee und macht beide süss. Sch. wieder- 
holen. L. Der Zucker schmeckt süss. Es giebt aber noch andere Sachen, die 
auch süss schmecken. Nennt mir welche. (Wenn die Schüler mit der Antwort 
zögern, zeigt der Lehrer süss schmeckende Dinge und lässt schmecken, dann 
kommen sie auf den „Geschmack“.) Sch. Süss schmecken: Zucker, Honig, 
Milch, Klümpchen, Pfefferminzkügelchen, Birnen, Weintrauben. L. Trinkt ihr 
lieber Kaffee mit Zucker oder ohne Zucker? Sch. Mit Zucker. L. Das glaube 
ich. Ich trinke auch gern süssen Kaffee. Jetzt geht nach Hause und sagt 
eurer Mutter, ihr wäret heute recht fleissig gewesen, nun solle sie euch aber 
auch dafür eine Tasse süssen Kaffee geben. Oder: Weil ihr heute so schön 
aufgepasst habt, soll auch jeder von euch ein Klümpchen (Bonbon) haben. 


Lektion II. 


Ziel: Gewinnung der Begriffe: salzig, (nüchtern, fade) sauer, 
bitter (süss) pfeffrig. 

Lehrmittel: Kochsalz, Citrone, saurer Apfel, schwarzer Kaffee, bittere 
Mandeln, bittere Medizin, Pfeffer. 

L. (zeigt eine geöffnete Dose mit Kochsalz). Was mag wohl in dieser 
Dose sein? Sch. (raten). L. Es sieht aus wie Stampfzucker. Nehmt einmal 
etwas zwischen die Finger und schmeckt. Ist es Stampfzucker? Was wird es 





4 


wohl sein? Sch. Salz. L. Wie schmeckt es? Sch. Salzig. L. Welche Farbe 
hat das Salz? Sch. Das Salz sieht weiss aus. L. Wie fühlt es sich an? Sch. Hart. 
L. (lässt die Kinder aus einem Glase Wasser trinken). Was ist das? Sch. Das 
ist Wasser. L. (wirft einen Theelöffel voll Salz ins Glas und rührt um). Könnt 
ihr das Salz noch sehen? Sch. Nein, es ist geschmolzen. L. Was thut also 
das Salz im Wasser? Sch. Das Salz schmilzt im Wasser. L. Schmeckt das 
Wasser jetzt einmal. Wie schmeckt es? Sch. Das Wasser schmeckt salzig. 
L. Wie macht also das Salz das Wasser? Sch. Das Salz macht das Wasser 
salzig. Ch. wiederholt. L. Der Zucker schmolz auch im Wasser, aber wie 
macht der Zucker das Wasser? Sch. Der Zucker macht das Wasser süss. 
L. Nun wollen wir einmal Zucker und Salz miteinander vergleichen. Wie 
sehen beide aus? Sch. Zucker und Salz sind weiss. Ch. wiederholt. 
L. Wie fühlen sich beide au? Sch. Beide sind hart, oder: Zucker und Salz sind 
hart. L. Was thun beide (Z. u. S.) im Wasser? Sch. Z. u. S. schmelzen im 
Wasser. Ch. wiederholt. L. Aber wie schmecken sie? Sch. Zucker schmeckt 
süss, Salz schmeckt salzig. Ch. wiederholt. L. Nun wollen wir wieder- 
holen, was wir gefunden haben. Zsfssg. Zucker und Salz sind weiss, fühlen 
sich hart an und schmelzen im Wasser; aber der Zucker schmeckt 
süss, das Salz schmeckt salzig. L. Mit dem Zucker macht die Mutter den 
Kaffee süss. Was macht die Mutter aber mit dem Salz? Sch. Das Salz thut 
.die Mutter in die Suppe. L. Wozu gebraucht die Mutter noch Salz? Sch. Zum 
‚Salat (Kartoffelsalat), zum Gemüse. L. Wie schmeckt die Suppe, wenn kein 
Salz daran ist? Sch. Nüchtern, laff, fade (diese Ausdrücke müssen den Kindern 
event. gegeben werden). Ch. wiederholt. Wenn kein Salz an der Suppe 
ist, dann schmeckt sie nüchtern oder fade. L. Nun nennt mir Dinge, die 
recht salzig schmecken, (event. vorzeigen. Sch. Der Häring ist salzig. Die 
Butter ist salzig. Der Schinken ist salzig. L. Zucker und Salz sind hart. 
Nennt noch mehr harte Dinge. Sch. Der Stein, das Glas, das Holz, das Eisen, 
sind hart. L. Welche Farbe haben Mehl, Zucker und Salz? Sch. Mehl, Zucker 
und Salz sind weiss. L. Nennt noch mehr weisse Dinge. Sch. Kreide, Kalk, 
Schnee, Milch, Blüte u. s. w. 

L. (zeigt eine Citrone). Was ist das? Sch. Das ist eine Citrone. L. Welche 
Farbe hat die Citrone? L. (zeigt eine gelbe Farbentafel). Wie sieht diese Tafel 
aus? Sch. Gelb. L. Und dieses Taschentuch? Sch. Ist gelb. L. Wie ist die 
Citrone? Sch. Die Citrone ist gelb. Ch. wiederholt. I. Die Citrone wächst 
auf Bäumen, wie Äpfel und Birnen. Nun wollen wir sehen ob sie auch so 
schmeckt wie ein Apfel oder eine Birne. (Der L. schneidet einige Scheiben ab 
. und lässt schmecken.) Wie schmeckt die Citrone? Sch. Die Citrone schmeckt 
sauer. Ch. wiederholt. L. (zeigt einen Apfel — oder Sauerampfer), Was ist 
das? Sch. Ein Apfel. L. Den kann man essen. Schmeckt einmal! Wie 
schmeckt er? Sch. Der Apfel schmeckt sauer. Ch. wiederholt. L. Sagt, 
‚wie die Citrone und der Apfel schmecken. Sch. Die Citrone und der Apfel 
schmecken sauer. Ch. wiederholt. L. Nun wollen wir den Zucker und die Citrone 
miteinander vergleichen. L. Wie sieht der Zucker aus? Sch. Der Zucker ist 


5 
weiss. L. Aber die Citrone? Sch. Die Citrone ist gelb. L. Sagt, wie der Zucker 
und die Citrone aussehen. Sch. Der Zucker ist weiss, die Citrone ist gelb. 
Ch. wiederholt. L. Wie schmeckt der Zucker? Sch. Der Zucker schmeckt süss. 
L. Wie schmeckt die Citrone? Sch. Die Citrone schmeckt sauer. L. Sagt, wie 
der Zucker und die Citrone schmecken! Sch. Der Zucker schmeckt süss, die 
Citrone schmeckt sauer. Ch. wiederholt. Zsfssg. Der Zucker ist weiss, die 
Citrone ist gelb. — Der Zucker ist süss, die Citrone ist sauer. L. Die 
Citrone und der Apfel sind sauer. Was ist noch sauer? Sch. Der Essig, der 
Sauerampfer sind sauer. L. Die Citrone ist gelb. Was ist noch gelb? Sch. 
Anna’s Schürze, der Postwagen, diese Blumen. 

L. (zeigt den Kindern bittere Mandeln. Kennt ihr das? Sch. Das sind 
Mandeln. L. Schmeckt einmal! Wie schmecken sie? Sch. Die Mandeln 
schmecken bitter. Ch. wiederholt. L. Wenn eure Mutter Kuchen backt, dann 
gebraucht sie auch Mandeln, aber solche (zeigt süsse Mandeln). Schmeckt die 
einmal! Schmecken die auch bitter? Sch. Nein, die schmecken süss. L. Es 
giebt also bittere und süsse Mandeln. I. Welche esst ihr lieber? Sch. Die 
süssen. L. (zeigt eine Tasse mit starkem schwarzen Kaffe). Was (ist das)? 
mag das wohl sein? Sch. raten. L. Schmeckt einmal! Was ist in der Tasse? 
Sch. Kaffee. L. Wie schmeckt der Kaffee? Sch. Der Kaffee schmeckt bitter. 
L. Jetzt werfe ich ein Stück Zucker hinein und rühre um, trinkt jetzt einmal! 
Wie schmeckt der Kaffee jetzt? Sch. Jetzt schmeckt er süss. L. Wie schmeckte 
er vorhin? Sch. Bitter. L. Mögt ihr lieber süssen oder bittern Kaffee? Sch. 
Süssen. L. (zeigt ein Medizinfläschehen mit Medizin). Was mag wohl in 
diesem Fläschchen sein? Sch. Medizin. L. Leckt mal daran! Wie schmeckt 
sie? Sch. Die Medizin schmeckt bitter. L. Solche Medizin verschreibt der 
Arzt, wenn ihr krank seid, die müsst ihr dann einnehmen. Woher holt ihr die 
Medizin? Sch. Aus der Apotheke. L. Wer hat schon einmal Medizin ein- 
genommen? 

L. (zeigt eine Dose mit gestossenem Pfeffer). Was ist wohl in dieser Dose? 
Riecht einmal! Schmeckt! Sch. Das ist Pfeffer. L. Wie schmeckt Pfeffer? 
Sch. Der Pfeffer schmeckt pfeffrig. L. Der Pfeffer sieht eigentlich so aus 
(zeigt die Körner). In dieser Dose ist gestampfter oder gemahlener Pfeffer. 
Wozu gebraucht die Mutter den Pfeffer? Sch. Wenn sie Salat (Kartoffelsalat, 
Gurkensalat) macht. L. Salz, Citrone, Essig, Zucker, Mandeln, Pfeffer machen 
die Speisen schmackhaft; man nennt sie Gewürze. Was ist das Salz etc.? 
Sch. Das Salz ist ein Gewürz. 


Lektion III. 

Ziel: Gewinnung der Begriffe: hart (fest); weich, flüssig. Wiederholung 
der Geschmacksempfindungen. Lehrmittel: Wasser, Milch, Stein, Holz, Butter, 
Schwamm. 

L. (zeigt ein Glas mit Wasser). Was ist wohl in dem Glase? Sch. In 
dem Glase ist Wasser. L. (legt ein Geldstück ins Gefäss und giesst Wasser 
darauf). Könnt ihr das Geld sehen? Sch. Ja. L. Und doch ist Wasser darauf. 


6 


Ihr könnt also durch das Wasser hindurch sehen bis auf den Grund. Wie ist 
das Wasser also? Sch. Das Wasser ist durchsichtig. (Der Ausdruck muss 
evtl. gegeben werden). Ch. wiederholt. L. Was mag wohl in diesem Fläschchen 
sein? Es sieht aus wie Wasser. Ob es Wasser ist? Schmeckt einmal! 
Sch. Das ist Essig. L. (macht mit dem Essig dasselbe Experiment, wie mit 
dem Wasser). Wie ist der Essig auch? Sch. Der Essig ist durchsichtig, 
L. (giebt einem Schüler ein Stück Glas in die Hand). Was ist das? Sch. Glas. 
L. Halte einmal das Glas vor die Augen und sieh hierher. Kannst du mich sehen? 
Sch. Ja. L. Du kannst also durch das Glas hindurch sehen. Wie ist das Glas? 
Sch. Das Glas ist durchsichtig. L. Wir können also durch Wasser, Essig, 
Glas hindurchsehen. Wie sind sie also? | Sch. Essig, Wasser, Glas sind 
durchsichtig. Ch. wiederholt. L. (hält den Schülern ein Brett vor die Augen. 
Kannst du mich sehen? Sch. Nein. L. Du kannst also nicht durch das Brett 
sehen? Sch. Nein. L. Es ist also nicht durchsichtig — man sagt: undurch- 
sichtig. Wie ist das Brett? Sch. Das Brett ist undurchsichtig. L. Sieh 
einmal durch das Buch! Geht es? Wie ist das Buch? Sch. Das Buch ist undurch- 
sichtig. Ch. wiederholt. Zsfssg. Wein, Essig, Glassind durchsichtig; Bretter 
und Bücher sind undurchsichtig. L. (giesst einige Tropfen Wasser auf eine 
schiefe Ebene, ein Brett oder eine Tafel). Was thut das Wasser? Sch. Es läuft ab. 
Das Wasser läuft an der Tafel herab. L. Man sagt, es fliesst. Was thut das 
Wasser? Sch. Das Wasser fliesst. Ch. wiederholt. L. Ihr kennt doch die Wupper. 
In der Wupper ist viel Wasser, wenn ihr am Ufer steht oder auf einer Brücke, 
dann seht ihr auch, wie das Wasser fliesst. Darum heisst die Wupper ein Fluss 
und man sagt: Das Wasser ist flüssig. Wie ist das Wasser? Sch. Das 
Wasser ist flüssig. Ch. wiederholt. L. (macht mit dem Essig dasselbe Ex- 
periment). L. Wie ist der Essig auch? Sch. Der Essig ist auch flüssig. 
L. Wie sind Wasser und Essig? Sch. Wasser und Essig sind flüssig. 
Ch. wiederholt. L. Ist das Glas auch flüssig? Sch. Nein. L. Seht, ich muss 
mich tüchtig plagen, wenn ich ein Stück abmachen will. Wie ist das Glas? 
Sch. Hart. L. Man kann auch sagen fest. Das Glas ist hart oder fest, 
Sch. wiederholen. L. Wie ist das Brett? Sch. Fest. L. Vergleiche einmal 
Wasser und Glas! Sch. Wasser und Glas sind durchsichtig; aber das 
Wasser ist flüssig, das Glas ist fest. Ch. wiederholt. L. (zeigt ein 
Stückchen Butter. Was ist das wohl? Sch. (raten. L. Schmeckt einmal! 
Sch. Das ist Butter. L. Wie schmeckt sie? Sch. Gut, — Salzig. L. Wie sieht 
sie aus? Sch. Gelb. L. Wie war die Citrone? Sch. Auch gelb. L. Tippt 
einmal mit dem Finger hinein! Ist die Butter flüssig? Sch. Nein. L. Ist sie 
hart, wie das Brett? Sch. Nein. L. Wie fühlt sich die Butter an? Sch. Die 
Butter ist weich. L. Wie war das Mehl? Sch. Auch weich. L. Was ist 
das? (zeigt einen Schwamm.) Sch. Das ist ein Schwamm. L. Seht, den 
Schwamm kann ich ganz zusammendrücken. Wie ist der Schwamm? (streicht 
jeise damit über die Wange eines Kindes.) Sch. Der Schwamm ist weich. 
L. Wie war das Glas? Sch. Fest. L. Wie ist die Butter? Sch. Weich. 
L. Wie ist das Wasser? Sch. Flüssig. Zsfssg. Das Glas ist hart oder 


7 


fest; die Butter ist weich; das Wasser ist flüssig. L. (nimmt einen 
Schluck Wasser aus dem Glase). Was habe ich gethan? Sch. Sie haben ge- 
trunken. L. Das Wasser ist flüssig. Was flüssig ist, nennt man eine Flüssig- 
keit. Flüssigkeiten kann man trinken. L. Nennt Flüssigkeiten, die man trinken 
kann. Sch. Wasser, Essig, Milch, Bier, Wein, Kaffee, Thee, Limonade, Choko- 
lade u. s. w. L. Was man trinken kann, nennt man auch Getränk. Nennt 
mir noch einmal Getränke! Sch. wiederholen. L. Was trinkt ihr lieber: Essig 
oder Milch? Sch. Milch. L. Wie schmeckt der Essig? Sch. Sauer. L. Wie 
schmeckt die Milch? Sch. Süss. L. (zeigt ein Stück Zucker). Was ist das? 
Scb. Zucker. L. Wie schmeckt der auch? Sch. Süss. L. Also die Milch ist 
süss und der Zucker ist süss. Was ist aber sūsser? Sch. Der Zucker ist 
süsser als die Milch. L. Fühlt den Zucker an. Wie ist er? Sch. Hart (fest). 
L. Und die Milch? Sch. Flüssig. L. (zeigt ein Stück Brot). Was ist das? 
Sch. Brot. L. (beisst ein Stück ab und isst). Was thu’ ich? Sch. Sie essen. 
L. Ist das Brot flüssig? Sch. Nein. L. Weich? Sch. Nein. L. Nun, wie ist 
es denn? Sch. Hart oder fest. L. Für „essen“ sagt man auch „speisen“. Was 
man speisen kann ist „Speise“. Nennt mir feste Speisen! Sch. Brot, Fleisch, 
Kartoffeln — Gemüse, Suppe L. Halt! Ist Gemüse auch eine feste Speise? 
Manches Gemüse lässt sich mit dem Löffel zusammendrücken. Wie ist es dann? 
Sch. Weich. L. Ja, weich wie Butter. Und nun gar die Suppe, die ist doch 
nicht fest. Wie ist die Suppe? Sch. Die Suppe ist flüssig. L. Wer von euch 
isst gern Salat? — Habt ihr auch schon zugesehen, wie die Mutter Salat macht? 
— Was muss sie dazu haben? (evtl. bereitet der Lehrer selbst vor den Augen 
der Schüler Salat. Sch. Salat, Essig, Öl, Pfeffer, Salz, Zucker, Zwiebeln. 
L. Wie haben wir doch Essig, Pfeffer, Salz, Zucker genannt? Sch. Gewürz. 
L. Auch die Zwiebeln sind ein Gewürz. Schmeckt einmal. Wie schmeckt die 
Zwiebel? Nicht wahr, sie beisst auf der Zunge, sie ist scharf. Sch. wieder- 
holen. L. Der Essig ist eine Flüssigkeit. Was ist das Öl? Sch. Auch eine 
Flüssigkeit. L. (lässt von dem Salat kosten). Wie schmeckt er? Nun geht 
nach Hause und sagt der Mutter, sie soll euch auch einen so schönen Salat 
machen. 


Sinnesempfindungen und Sinnesorgane. 


Lehrmittel: Wie in den vorigen Lektionen; ausserdem: Rose oder Nelke, 
Flöte oder Pfeife, Geige, Schelle, Mundharmonika u. s. w., Ball, Würfel u. s. w. 


Lektion I. Gesicht. 


L. Wie ist der Zucker? Sch. Süss, — Weiss, — Hart. L. Woher weisst 
du, dass der Zucker weiss ist? Sch. Ich kann es sehen. L. Ganz recht! 
Man kann daher auch sagen: „Wie sieht der Zucker aus? Nun Karl?“ 
Sch. Der Zucker sieht weiss aus. L. Womit kannst du es sehen? Sch. Mit 
den Augen. L. Wieviel Augen hast du? Sch. Ich habe zwei Augen. Chor: 
Wir haben .... — L. Zeige deine Augen! — Die Augen sind nicht an den 
Beinen, auch nicht auf dem Bauch, — wo sind sie? Sch. Die Augen sind 


8 





am Kopfe. Ch. wiederholt. L. Aber nicht hinten am Kopfe, sondern (fährt 
mit der Hand über das Gesicht) hier vorne. — Was ist das? Sch. Das Gesicht. 
L. Man kann daher auch sagen: Die Augen sind im Gesicht. Zsfssg.: Ich 
sehe mit den Augen. Ich habe zwei Augen im Gesicht. L. Nun sollt 
ihr ein Verschen von den Augen lernen: „Zwei Augen hab’ ich klar und 
hell ete.“ L. Macht jetzt die Augen zu! oder: Schliesst die Augen! Könnt 
ihr mich sehen? Sch. Nein. L. Es giebt aber Kinder und grosse Leute, die 
können nicht sehen, wenn sie auch die Augen weit aufmachen (offen haben). 
Wie sind die? Sch. Die sind blind. L. Wie ist der, welcher nicht seben 
kann? Sch. Wer nicht — blind. Ch. wiederholt. L. Wer nicht sehen kann, 
das ist ein Blinder. Habt ihr schon einen Blinden gesehen? Sch. (teilen 
ihre Beobachtungen mit). L. Die armen Blinden können nicht allein über die 
Strasse gehen, sondern müssen sich führen lassen; sie wissen nicht, wie der 
Zucker aussieht, wie das Gras aussieht. Nun, Gustav, wie sieht das Gras aus? 
Sch. Grün. L. Woher weisst du das? Sch. Ich kann es sehen. L. Wie bist 
du also nicht? Sch. Ich bin nicht blind. L. Danke dem lieben Gott, dass er 
dir zwei gute, gesunde Augen gegeben hat, womit du alles sehen kannst. Sage 
jetzt noch einmal das Verschen von den Augen. „Zwei Augen hab’ ich klar 
und hell, die dreh’n sich nach allen Seiten schnell, die seh’n alle Blümchen, 
Baum und Strauch und den hohen blauen Himmel auch. Die setzte der liebe 
Gott mir ein, und was ich kann sehen, ist alles sein.“ 


Lektion II. Geschmack. 


L. Schliesst die Augen, öffnet den Mund (macht den Mund auf)! (giebt 
jedem Schüler etwas Stampfzucker auf die Zunge). Esst! Was habe ich euch 
da gegeben? Sch. Zucker. L. Habt ihr das gesehen? Sch. Nein. L. Woher 
wisst ihr denn, dass eg Zucker war, was ich euch gegeben habe? Sch. Ich habe 
es geschmeckt. L. Womit schmeckt ibr? Sch. Mit der Zunge. L. Auguste, 
zeige deine Zunge! Wo ist die Zunge? Sch. Die Zunge ist im Munde. 
Ch. wiederholt. L. Sage, womit du schmeckst und wo die Zunge ist! Zsfssg. 
Ich schmecke mit der Zunge Die Zunge ist im Munde. L. Wieviel 
Augen bast du? Sch. Zwei. L. Aber nur wieviel Zungen? Sch. Eine. 
L. Wir schmecken nicht bloss mit der Zunge, sondern mit dem ganzen Munde. 
Was uns gut schmeckt, das essen wir gerne. Wir gebrauchen aber den Mund 
nicht bloss zum Schmecken und Essen. Wozu gebrauchen wir ihn noch? Sch. 
Wir gebrauchen — zum Sprechen. Ch. wiederholt. L. Sage mir jetzt, Klara, 
wozu wir den Mund gebrauchen. Zsfssg. Wir gebrauchen den Mund zum 
Schmecken, Essen und Sprechen. L. Einen Mund hat jeder Mensch, aber 
es giebt Menschen, die doch nicht sprechen können, die machen es nur so: (Der 
Lehrer giebt einige unartikulierte Laute — Hottentottensprache — von sich und 
gestikuliert dabei.) Kennt ihr solche? Wie sind diese Menschen? Sch. Stumm. 
L. Wer nicht sprechen (reden) kann, wie ist der? Sch. Wer nicht — — — 
stumm! Ch. wiederholt. L. Kurt kann noch schlecht sprechen; er muss sich 
viel Mühe geben, dann wird er bald besser sprechen lernen! Nun sollt ihr zum 


9 

Schluss noch ein Verschen lernen! „Einen Mund, einen Mund hab’ ich auch, 
davon weiss ich gar guten Gebrauch, kann nach so vielen Dingen fragen, kann 
alle meine Gedanken sagen, kann lachen und singen, kann beten und loben den 
lieben Gott im Himmel droben.“ 


Lektion III. Gefühl (Tastsinn). 


L. Schliesst die Augen! (giebt den Schülern der Reihe nach einen 
Gummiball in die Hand.) Was ist das? Sch. Ein Schnappball. Augen auf! 
L. Habt ibr das gesehen? Sch. Nein. L. Nun, wie wisst ihr denn, dass es 
ein Ball war? Sch. Wir haben es gefühlt. L. Womit habt ihr das gefühlt? 
Sch. Mit der Hand. L. Hast du bloss eine Hand? Sch. Nein, ich habe zwei 
Hände. L. Zähle einmal! (zeigt erst auf die eine, dann auf die andere Hand.) 
Sch. Eins — Zwei. L. In welche Hand nimmst du den Griffel, wenn du 
schreiben willst? Sch. (zeigt). In diese. L. Das ist deine rechte Hand. Wie 
nennst du die Hand? Sch. Das ist die rechte Hand. Ch. wiederholt. 
L. Wie heisst nun aber die andere Hand? Sch. Die linke Hand. (Muss eventl. 
gegeben werden.) L. Hebt alle die linke Hand in die Höhel sprecht: das ist 
die linke Hand! Ch. wiederholt. L. Was hat die Hand? (zeigt auf die 
Finger.) Sch. Die Hand hat Finger. oder: An der Hand sind Finger. L. Nun 
wollen wir sehen, wer die Finger an der rechten Hand zählen kann? Emil 
kann gut zählen. Zähle einmal! Sch. , -—, — 3, — 4, — 5. — L. Zāhlt 
alle! (Die Kinder fangen beim Daumen an und hören beim kleinen Finger auf.) 
Wieviel Finger babt ihr an der rechten Hand? Sch. Füuf. L. Wieviel Finger 
habt ihr also an jeder Hand? Sch. Wir haben an jeder Hand 5 Finger. 
Ch. wiederholt. L. Ihr hattet vorhin die Augen zugemacht und wusstet doch, 
dass ich euch einen Ball in die Hand gegeben hatte. Woher wusstet ihr das? 
Sch. Wir haben es gefühlt. L. Womit? Sch. Mit der Hand. L. Ja, besonders 
mit den Fingern. Was können die Finger also? Sch. Die Finger können 
fühlen. L. (fasst einen Gegenstand und hält ihn in die Höhe). Was können die 
Finger noch? Sch. Die Finger können greifen und anfassen. L. Die 
Mädchen spielen mit ihren Puppen; die Knaben spielen mit Heuern, Kreiseln etc. 
Wenn sie keine Finger hätten, könnten sie dann wohl spielen? Sch. Nein. 
L. Was können die Finger also? Sch. Die Finger können spielen. L. Ihr 
seid jetzt noch Kinder. Kinder dürfen spielen. Wenn ihr aber gross seid, wie 
der Vater und die Mutter, dann hört das Spielen auf, dann haben die Finger 
etwas anderes zu thun. — Adele, was thut deine Mutter zu Hause? L. Kaffee- 
kochen, Kartoffelschälen u. s. w. ist Arbeit. Was thut die Mutter. Sch. Die 
Mutter arbeitet. L. Zum Arbeiten braucbt sie wieder die Finger. — Was 
können also die Finger noch? Sch. Die Finger können arbeiten. L. Wenn 
ihr gross seid, müssen eure Finger auch arbeiten. Nun sagt mir alles, was ihr 
von den Händen und den Fingern wisst! Zsfssg. Wir haben 2 Hände, eine 
rechte Hand und eine linke Hand. An jeder Hand sind 5 Finger. Die 
Finger können fühlen, greifen und anfassen, spielen und*arbeiten. 

L. Nun sollt ihr ein Verschen von den Händen und Fingern lernen; 


BR. 


„Hier eine Hand und da eine Hand, 
(Die Kinder zeigen erst auf die rechte Hand, dann auf die linke Hand.) 


Die Rechte und die Linke sind sie genannt. 

(Die Kinder heben erst die rechte Hand, dann die linke Hand kehi 
Fünf Finger an jeder, 

(Die Finger spreitzen.) 
Die greifen und fassen. 

~ (Die Kinder machen mit den Händen die Geberden des Greifens und Fassens.) 

‚Jetzt. will ich sie nur noch spielen lassen, 
Doch wenn ich erst gross bin und was lerne, 
Dann arbeiten sie alle auch gar gerne“. 


Lektion IV. Gefühl (Muskelsinn). 


L. (legt vor jeden Schüler der Reihe nach einen grossen Würfel oder Stein 
und einen Gummiball). Was liegt vor dir? Sch. Ein Gummiball (Schnappball) 
und — — L. Das ist ein Würfel. Nun sage noch einmal, was vor dir liegt! 
Sch. Das ist — — — und ein Würfel. L. Nimm den Würfel in die rechte 
Hand, den Ball in die linke! Nun vergleiche beide! Wie ist der Würfel? Wie 
ist der Ball? Sch. Der Würfel ist schwer, der Ball ist leicht. Ch. wiederholt. 
L. (legt einem Schüler ein Stückchen Papier in die eine, ein Messer in die 
andere Hand). Wie ist das Papier? Wie das Messer? Sch. Das Papier ist 
leicht, das Messer ist schwer. L. Woher weisst du das? Sch. Ich kann es fühlen 
L. (zeigt wieder den Ball). Was ist das? Sch. Das ist ein Ball. L. (hält 
einen zweiten ganz gleichen daneben). Wieviel sind es jetzt? Sch. Das sind 
2 Bälle L. Der eine Ball sieht gerade so aus, wie der andere. Die Bälle 
sind gleich. — L. Wie sind die Bälle? Sch. Die Bälle sind gleich. 
Ch. wiederholt. L. (macht dasselbe mit zwei Würfeln. L. (hält den Ball 
neben den Würfel). Sieht der Ball gerade so aus wie der Würfel? Sch. Nein. 
L. Sind Ball und Würfel gleich? Sch. Nein. L. Ball und Würfel sind ver- 
schieden. .Wie sind Ball und Würfel? Sch. Ball und Würfel sind ver- 
schieden. Ch. wiederholt. L. (dasselbe mit Papier und Messer). Ihr habt 
gesagt: Der Würfel ist schwer, der Ball ist leicht. Das ist eine Verschiedenheit 
oder ein Unterschied. Es giebt aber noch mehr Unterschiede. Seht, der Ball 
ist nur so hoch, der Würfel ist so hoch. Wie ist der Ball? Wie ist der Würfel? 
Sch. Der Ball ist klein, der Würfel ist gross. Ch. wiederholt. L. (stellt 
den kleinsten und den grössten Schüler nebeneinander). Sind Karl und Gustav 
gleich oder verschieden? Sch. Sie sind verschieden. L. Wie ist Karl? Wie 
ist Gustav? Sch. Karl ist gross. Gustav ist klein. L. (zeigt auf die Ecken 
und Kanten des Würfels.) Seht, hieran kann man sich stossen und weh thun. 
Das sind Ecken und Kanten. Was hat der Würfel? Sch. Der Würfel hat 
Ecken und Kanten. L. Man sagt: Der Würfel ist eckig und kantig. Wie ist 
der Würfel? Sch. Der Würfel ist eckig und kantig. Ch. wiederholt. 
L. Hat der Ball auch Ecken und Kanten? Sch. Nein. L: (fährt mit dem 
Zeigefinger rund um den Ball). Wie ist der Ball? Sch. Der Ball ist rund: 


11 

Ch. wiederholt. L. Sagt, wie der Würfel und wie der Ball ist? Sch. Der 
Würfel ist eckig und kantig, der Ball ist rund. (Derselbe Vergleich 
zwischen einem Stein und einem Apfel.) L. Anna, drücke einmal den Ball! Lässt 
er sich zusammendrücken? Sch. Ja. L. Nun drücke auch einmal den Würfel 
mit beiden Händen! — Geht’s? Sch. Nein. L. Wie ist der Würfel, wie der 
Ball? Sch. Der Würfel ist hart (fest), der Ball ist weieh. Ch. wieder- 
holt. (Dasselbe mit einem Stein und einem Schwamm.) L. Nun sagt mir alle 
Unterschiede zwischen Würfel und Ball! Zsfesg. (Der Lehrer hebt mit der 
einen Hand den Würfel, mit der anderen den Ball.) Der Würfel ist schwer, 
der Ball ist leicht. (Der Lehrer macht die Geberde des Messens.) Der 
Würfel ist gross, der Ball ist klein. L. (zeigt die Ecken und Kanten des 
Würfels und die Rundung des Balles). Der Würfel ist eckig und kantig, 
der Ball ist rund. L. (drückt mit der einen Hand auf den Ball, mit der 
andern auf den Würfel. Der Würfel ist hart, der Ball ist weich. 
L. (zeigt ein Brettehen und einen nassen Schwamm). Was ist das? Sch. Ein 
Brett, ein Schwamm. L. Fühlt einmal den Schwamm an und dann das Brettchen! 
Wie ist der Schwamm? Sch. Der Schwamm ist nass. L. Ist das Brett auch 
nass? Sch. Nein, das Brett ist trocken. | 

L. Vergleicht jetzt den Schwamm mit dem Brett! Wie ist der Schwamm, 
wie das Brett? Sch. Der Schwamm ist nass, das Brett ist trocken.*) 
Ch. wiederholt. (Dasselbe mit zwei andern Gegenständen.) L. (zeigt ein feines 
Blatt Papier und eine kleine Reibe). Was ist das? Sch. Ein Blatt Papier. 
L. Und das? Sch. Eine Reibe.e L. Was macht die Mutter damit? oder: 
Wozu gebraucht etc.? Sch. Die Mutter reibt Kartoffeln auf der Reibe, wenn sie 
Reibkuchen backen will. L. Fahrt einmal mit der Hand über das Papier! Wie 
ist das Papier? Sch. Das Papier ist glatt. IL. Nun fahrt einmal mit der 
Hand über die Reibe. Ist sie auch glatt? Sch. Nein. L. Wie ist die Reibe? 
Sch. Die Reibe ist rauh. (Der Ausdruck „rauh“ muss event. gegeben werden.) 
L. Vergleicht jeizt das Papier mit der Reibe! Wie ist das Papier, wie die Reibe? 
Sch. Das Papier ist glatt, die Reibe ist rauh. Ch. wiederholt. (Dasselbe 
mit zwei anderen Gegenständen.) L. (stellt zwei Gläser mit Wasser vor die 
Schüler). Was mag wohl in diesen Gläsern sein? Sch. Wasser, — Essig u. s. w. 
L. Es ist Wasser. In dem einen Glase ist warmes, in dem andern kaltes Wasser. 
In welchem Glase mag wohl das warme Wasser sein? Sch. Karl: — In dem 
kleinen Glase. Gustav: — Nein, in dem grossen. L. Seht, ihr wisst es nicht 
genau, — ihr rate. Kann man sehen in welchem Glase das warme Wasser 
ist? Sch. Nein, L. Nun, Karl, stecke einmal den Finger in das Wasser des 


*) Der Begriff „trocken“ kann event. durch folgende Unterredung gewonnen werden: 
L. Was tbust du zuerst, wenn du morgens aufgestanden bist? Sch. Ich wasche mich. L. 
Womit? Sch. Mit Wasser und Seife, L. Wie macht das Wasser die Hände und das Gesicht? 
Sch. Das Wasser macht rein — nass. L. Kommst du denn so nass hier her in die Schule? 
Sch. Nein. ich trockne mich ab. L. Womit? Sch. Mit dem Handtuch. L. Bist du dann 
noch nass, wenu du dich mit dem Handtuch abgetrocknet hast? Sch. Nein, dann bin ich 
trocken. L. So ist auch das Brettchen. 


12 

kleinen Glases! Wie ist dae Wasser? Sch. Warm. L. Stecke den Finger 
in das grosse Glas! Wie ist das Wasser? Sch. Kalt. L. Nun sage, was in 
dem kleinen und was in dem grossen Glase ist! Sch. In dem kleinen Glase 
ist warmes Wasser, in dem grossen Glase ist kaltes Wasser. 
Ch. wiederholt. L. Wer hat nun Recht gehabt, Karl oder Gustav? Sch. Karl, 
L. Ja, Karl hat aber auch zuerst bloss geraten. Sehen konnte er ja nicht, in 
welchem Glase das warme Wasser war. Was hat er nachher gethan? Sch. Er 
hat gefühlt. L. Womit? Sch. Mit der Hand, mit den Fingern. L. Nun sagt 
mir noch einmal das Verschen von den Händen und von den Fingern, was wir 
vorige Stunde gelernt haben: „Hier eine Hand und da eine Hand ete.“ 
L. So, nun geht nach Hause und sagt eurer Mutter auch einmal das schöne 
Verschen. 
Lektion V. Geruch. 

L. Schliesst die Augen! (Hält den Schülern der Reihe nach eine Rose unter 
die Nase.) Riecht einmal! Wie riecht das? Sch. Gut. L. Öffnet die Augen! 
Was habe ich euch wohl unter die Nase gehalten? Sch. Eine Rose. L. Habt 
ihr das gesehen? Sch. Nein, wir haben es gerochen. L. Wie riecht die Rose 
also? Sch. Gut. L. Was gut riecht, das duftet. Nun sagt nochmals, wie die 
Rose riecht? Sch. Die Rose duftet. Ch. wiederholte L. Womit habt ibr 
gerochen? Sch. Mit der Nase. L. Sagt, was ihr mit der Nase thut? Sch. Wir 
riechen mit der Nase. Ch. wiederholt. L. Aber wie sieht die Rose aus? 
Sch. Die Rose sieht rot aus. Ch. wiederholt. L. Kann man riechen wie die 
Rose aussieht? Sch. Nein, das kann man sehen. L. (zeigt eine rote Farben- 
tafel). Wie sieht diese Tafel aus? Sch. Rot. L. Wer hat sich schon in den 
Finger geschnitten? — Was kam aus dem Finger heraus? Sch. Blut. L. Wie 
sieht das Blut aus? Sch. Rot. L. (zeigt ein Stück stark riechenden Käse). 
Was ist das? Sch. Käse. L. Riecht einmal! Riecht der Käse auch so schön, 
wie die Rose? Sch. Nein, er riecht schlecht. L. Was schlecht riecht, 
das stinkt. Der Käse stinkt. Sch. wiederholen. L. (zeigt ein dunkles 
Gefäss mit scharfem Essig). Was mag wohl in diesem Fläschchen sein? 
Sch. (raten). L. Könnt ihr sehen, was in diesem Fläschchen ist? Sch. Nein. 
L. Habt ihr’s geschmeckt? — gefühlt? Scb. Nein. L. Nun sollt ihr einmal 
daran riechen und mir sagen, wie es riecht. Sch. Es riecht sauer. L. Was 
mag es denn wohl sein? Sch. Es ist Essig. L. Wie riecht Essig? Sch. Essig 
riecht sauer. Ch. wiederholt. L. Womit riecht ihr? Sch. Mit der Nase. 
L. Anna, zeige deine Nase! L. (zeigt auf ein Nasenloch). Was ist das? Sch. 
Ein Nasenloch. L. Hast du bloss eins? Sch. Nein, ich habe zwei Nasenlöcher. 
L. Hebt die rechte Hand! — An der Seite, wo die rechte Hand ist, ist auch 
ein Nasenloch! — Hebt die linke Hand! — An der Seite, wo die linke Hand 
ist, ist auch ein Nasenloch. Was ist das für ein Nasenloch? Sch. Das ist das 
linke Nasenloch. L. Zeigt das linke, — das rechte Nasenloch! L. (lässt noch 
an Blumen und scharfriechenden Stoffen und Substanzen riechen und dieselben 
nach dem Geruch bestimmen, z. B., das ist ein Veilchen, das ist eine Nelke, 
das riecht nach Petroleum, das riecht nach Eau de Cologne etc.). 


13 
Lektion VI. Gehör. 

L. Schliesst die Augen! oder: Dreht euch um und sehet nach der Thür! 
(L. singt ein paar Töne oder den Anfang eines Liedes). Seht her! Was habe 
ich gethan? Sch. Sie haben gesungen. L. Woher wisst ihr das? Sch. Wir haben 
es gehört. L. Womit habt ihr das gehört? Sch. Mit den Ohren. L. Womit 
könnt ibr also hören? Sch. Wir hören mit den Ohren. Ch. wiederholt. 
L. Anna, zeige deine Ohren! — Wie viel Ohren hast du? Sch. Ich (wir) habe 
zwei Ohren. Ch. Wir haben zwei Ohren. L. Wo sitzen die Ohren? Sch. Die 
Ohren sitzen (sind) am Kopfe. L. Die Augen sind vorn am Kopfe oder im 
Gesicht. Die Ohren sitzen hier. Wo ist das? Sch. An den Seiten. L. Wieviel 
Seiten hat der Kopf? (L. fährt mit der Hand über beide Seiten). Sch. Der 
Kopf hat zwei Seiten. L. Für zwei sagt man auch beide. Die Ohren sitzen 
an beiden Seiten des Kopfes. Ch. wiederholt. L. Nun wiederholt, was ihr 
von den Ohren wisst! Zsfssg. Wir hören mit den Ohren. Wir haben 
zwei Ohren. Sie sitzen an beiden Seiten des Kopfes. L. Hebt die 
rechte Hand! An der Seite ist auch ein Ohr. Was ist das für ein Ohr? Sch. 
Das ist das rechte Ohr. L. Fasst alle das rechte Ohr! Sprecht: Das ist das 
rechte Ohr! Sch. wiederholen. (Dasselbe mit dem linken Ohr.) L. Wo ist 
nun wohl das rechte Auge, das linke Auge? Sch. (zeigen und sprechen). L. 
Drückt die Hände fest an die Ohren! (L. spricht etwas). Habt ihr gehört, 
was ich gesagt habe? Sch. Nein. L. Es giebt Kinder, die können nicht hören, 
wenn sie sich auch nicht die Ohren zuhalten. Sie können nicht hören, wenn 
man auch ganz laut (hart) schreit. Kennt ihr solche? Sch. (teilen ihre Be- 
obachtungen mit). L. Die armen Kinder, welche nicht hören können, sind taub. 
Wie ist der, der nicht hören kann? Sch. Wer nicht hören kann, ist taub. 
L. Ein taubes Kind kann nicht hören, wenn seine Mutter es ruft; es kann nicht 
hören, wenn sein Vater zu ihm sagt: Ich habe dich lieb, es kann nicht hören, 
was der Lehrer sagt. Darum muss es eine andere Schule besuchen, als ihr und 
andere Kinder. In Elberfeld ist eine solche Schule. — Taube Kinder 
können meistens auch nicht sprechen. Wie ist der, welcher nicht sprechen 
kann? Sch. Wer nicht sprechen kann, ist stumm. L. Wie ist der, der taub 
ist und zugleich stumm? Sch. Wer taub und zugleich stumm ist, der 
ist taubstumm. Ch. wiederholt. L. Wie heisst also eine Schule 
in die die Kinder gehen, welche nicht hören und sprechen können? 
Sch. Taubstummenschule. L. Manche Kinder haben gute, gesunde Ohren und 
wollen doch nicht hören. Wenn die Mutter sagt: „Kind thue das nicht“, dann 
thut das Kind es doch. Wie sind diese Kinder? Sch. Ungehorsam. L. Ich 
habe euch von Adam und Eva erzählt. Der liebe Gott hatte gesagt: „Esst nicht 
von dem Baume!“ Aber sie hörten nicht und thaten es doch. Wie waren sie? 
Sch. Adam und Eva waren ungehorsam! L. Wenn sie aber nicht von dem 
Baume gegessen hätten, wie wären sie dann gewesen? Sch. Gehorsam. L. Wie 
müsst ihr immer sein, gehorsam oder ungehorsam? Sch. Wir müssen immer 
gehorsam sein. Ch. wiederholt. L. (singt die ersten Töne eines den Kindern 
bekannten Liedes recht stark, die folgenden immer schwächer. Wie habe ich 


14 


zuerst gesungen? Sch. Laut (stark). L. Wie dann? Sch. Leise. L. Wie kann 
man also singen? Sch. Man kann laut und leise singen. Ch. wiederholt. 
L. (singt dasselbe Lied zuerst sehr langsam und dann immer schneller). Wie 
habe ich zuerst gesungen? Sch. Langsam. L. Wie dann? Sch. Schnell. 
L. Wie kann man noch singen? Sch. Man kann langsam und schnell 
singen. L. So kann man auch gehen. Wie gehe ich jetzt? Sch. Langsam. 
L. Wie aber jetzt? Sch. Schnell. L. Nun sagt wie man singen und gehen 
kann? Zsfssg. Man kann laut und leise, langsam und schnell singen 
und gehen. L. Nun spitzt einmal die Ohren! L. (schellt hinter dem Pult). 
Was habe ich gethan? Sch. Sie baben geschellt (geläutet). L. Womit? Sch. 
Mit einer Schelle (Glocke). L. (giebt einem Schüler die Schelle in die Hand). 
So nun schelle du auch einmal! — Was hat G. gethan? Sch. G. hat geschellt. 
L. (spielt hinter einer Schrankthär oder hinter dem Ofen auf einer Geige, einer 
Mundharmonika, pfeift, flötet, blässt etc. und lässt von den Kindern angeben, 
was er thut). Auch aus Geräuschen wie Sägen, Hobeln, Hämmern, müssen die 
Kinder die Thätigkeiten erraten. Wenn zufällig ein Wagen über: die Strasse 
fährt, so kann der Lehrer fragen: „Was fährt da über die Strasse?“ Sch. Ein 
Wagen. L. Kannst du den Wagen sehen? Sch. Nein, aber ich kann ihn hören. 
L. Womit. Sch. Mit den Ohren. L. Nun sollt ihr auch ein Verschen von den 
Ohren lernen: | 

Zwei Ohren sind mir gewachsen an, 

Damit ich alles hören kann. 

Wenn meine liebe Mutter spricht: 

„Kind, folge mir und thu’ das nicht!“ 

Wenn der Vater ruft: „Komm her geschwind, 

Ich habe dich lieb, mein gutes Kind.“ 
Gesamtwiederholung. L. zeigt das rechte Auge, Ohr, Nasenloch, Arm, Hand, 
Seite, Beiu, Fuss! — Ebenso linksseitig. L. (zeigt weisse, grūne, gelbe und rote 
Farbentafeln und lässt die Farben benennen). Weiss, Grün, Gelb, Rot sind 
Farben. Karl wiederhole das! — Es giebt aber noch mehr Farben. Die sollt ihr 
jetzt auch kennen lernen. (Zur Behandlung kommen noch Schwarz und Blau. 
Bei Wiederholung dieser Lektion, ein Jahr später, kommt noch Braun, Rosa, 
Violet hinzu.) Nennt Dinge, die eine weis:e etc. Farbe haben! Woher wisst 
ihr, dass der Schnee weiss und der Himmel blau ist? Nennt Speisen und 
Getränke, die süss, sauer, bitter, salzig, pfeffrig schmecken! Womit schmeckt 
ihr? Nennt Dinge, die schwer, leicht, gross, klein, eckig, rund, nass, trocken, 
glatt, rauh, kalt, warm sind! Woher weiss man, dass etwas schwer, leicht etc. 
ist? Welche Getränke trinkt man warm, welche kalt? L. Welche Blumen 
duften? Was stinkt? Womit riecht man? Was kann man noch mit der Nase 
thun? (Atmen) Womit kann man Musik machen? August und Wilhelm 
sprechen ganz verschieden. Wie spricht A. wie W.? (Leise — laut.) Wie 
müsst: ihr immer sprechen? (Laut) L. (stellt einige Schüler so, dass ihr 
Gesicht von den andern nicht gesehen werden kann. Dann lässt er bald den 
einen, bald den anderen einen Satz oder ein Verschen sprechen). Wer hat ge- 








ne 


sprochen? Woran habt ihr das erkannt? (Stimme.) 


Anmerkung: Bei der Behandlung dieses Stoffes im darauffolgenden Jahre kann noch 
folgendes hinzugefügt werden: 
Wer gut sehen kann, hat ein gutes Gesicht. 


» » hören no» n»n „n Gehör 

„ „ Tiechen „  „» einen guten Geruch. 

»  „ schmecken ,, a „ Geschmack. 
»  „ füblen » „» din ceia Gefühl. 


Ebenso: Wer schlecht sehen kann, hat ein schlechtes Gesicht etc. 
L. . Wieviel Ohren hast du? (Zwei.) Aber du hast nur einen Mund. Davon 
sollst du ein Verschen lernen: 
„Du hast zwei Ohren und einen Mund; willst dii beklagen? 
. Gar vieles sollst du hören — und wenig darauf sagen.“ (Fr. Rückert.) 
Wieviel Augen hast du? (Zwei.) Aber du hast nur einen Mund. Auch 
davon sollst Du ein Verschen lernen: 
„Du hast zwei Augen und einen Mund; mach’ dir's zu eigen! 
Gar manches sollst du sehen — und manches verschweigen.“ 
Wieviel Hände hast du? (Zwei.) Aber du hast nur — (zeigt auf den Mund). 
Sch. Einen Mund. — Lernt das Verschen: 
„Du hast zwei Hände und einen Mund; lern’ es ermessen! 
Zwei sind da zur Arbeit — und einer zum Essen.“ 


PEI kit aina e S .— 


Die Bildung des Gemüts bei den Schwachsinnigen.*) 


Wir möchten einige Fingerzeige geben für den Weg, auf welchem die Ent- 
wicklung des Gemüts bei Schwachsinnigen gefördert werden könnte und sollte. 
Wir verstehen unter Gemüt die fühlende Seite der Seele und unterscheiden drei 
Stufen des Gemütes, eine untere, mittlere und höhere Stufe. Auf der unteren 
Gefühlsstufe ist die Seele nur ihrem leiblichen Selbst und dessen wechselnden 
Erregungen und Stimmungen zugekehrt, gleichsam in den leiblichen Organismus 
versenkt, und es ist das Gemüt hier vielfach nur der Spiegel des Gemeingefühls. 
Den Zustand der Befriedigung auf dieser Stufe nennt unsere reiche Sprache 
Behagen und Lust. Auf der mittleren Stufe des Gemütes, wo die fühlende 
Seele sich der Mitmenschheit zuwendet und in der Gemeinschaft mit andern 
Befriedigung sucht, entwickeln sich Geselligkeit, Zuneigung, Anhänglichkeit, 
Freundschaft, Wohlwollen, Elternliebe, Kinderliebe, Gemeinsinn, Vaterlandsliebe 
u. 8. w. Den Zustand der Befriedigung auf dieser Stufe nennen wir Zufrieden- 
heit und Glück. Auf der höheren Stufe, wo der Mensch sich Gott und seiner 
Geisteswelt zuwendet und damit seine vernünftige Anlage und Gottesebenbild- 
lichkeit bekundet, erwachen Rechtsgefühl, Wahrheitssinn, Gewissen, Menschen- 


*) Aus der „Denkschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens der Heil- und Pflegeanstalt 
in Stetten i. B.“, auf welche wir die Leser dieses Blattes wiederholt aufmerksam machen. 
Der Artikel erschien ursprünglich im Anstaltsbericht für 1875 und stammt aus der Feder des 
damaligen Hausvaters Landenberger. 


16 
liebe, Pietät, Gottesbedürfnis, Gottesfurcht, Glaube, Gottesliebe, Gottesfriede, 
Gottseligkeit. Den Zustand der Befriedigung auf dieser höchsten Gemütsstufe 
nennt man Friede und Seligkeit. 

Dass das Gemüt in dem Organismus der menschlichen Seele eine grund- 
legende Stellung einnehme, muss hier als bekannt vorausgesetzt werden, und es 
möge hier nur darauf hingewiesen werden, dass das Gemüt es ist, aus welchem 
die Motive für unser Thun, sei es gut oder böse, entspringen, während dem 
Verstand hauptsächlich nur die Regelung des Thuns zukommt. Schon hieraus 
kann geschlossen werden, dass es sich bei verschiedenen Formen und Stufen 
des jugendlichen Blödsinns nicht bloss um Verkümmerung auf dem Gebiet der 
Erkenntnis handeln kann, sondern dass auch im Gemütsleben sich mancherlei 
Abnormitäten, Mängel und Lücken finden müssen, was sich auch in der That 
bei jeder eingehenden Bekanntschaft mit Blöden herausstellt. 

Bei den rein Blödsinnigen, und zwar sowohl in der apathischen als in der 
aufgeregten Form des Blödsinns, ist schon die unterste Stufe des Gemüts auf- 
fallend stumpf, sodass z. B. manche des Sättigungsgefühls entbehren, durch 
nasse Kleider nicht belästigt sind u. a., dass auch die Reflexerscheinungen sich 
nur langsam auslösen. In dieser bedenklichen Stumpfheit ist das Schicksal der 
blöden Seele schon besiegelt; denn die Weiterentwicklung der gemütlichen Seite 
des Menschen, sowie der Intelligenz ist aufs äusserste behindert. Hier, wo das 
Organ des Fühlens gleichsam gelähmt, fast empfindungslos geworden ist, kann 
das mittlere Gemüt sich nur höchst mangelhaft, das höhere Gemüt gar nicht 
entwickeln, und die Erziehung muss sich nur auf das Feld der Gewöhnung 
beschränken, kann aber den Blöden hierdurch nicht auf eine höhere Stufe er- 
heben. Es ist eben der Blödsinn unheilbar. Auch bei den Kranksinnigen 
finden sich bedeutende Mängel auf der mittleren Gemütsstufe. Nicht wenigen 
scheint aller Trieb zur Geselligkeit zu fehlen, sie isolieren sich immer wieder 
von den Genossen; andere schliessen sich nur an jüngere Kinder an oder gar 
nicht an die Kinderwelt, sondern nur an Erwachsene, oder zieht es sie immer 
zu Fremden, sodass sie jederzeit mit Leichtigkeit sich von den Eigenen trennen 
könnten; noch andern fehlt es auffallend an allgemeinem Wohlwollen. Hier 
hätte die häusliche Erziehung ein nicht undankbares Feld zu bebauen; allein 
es stellen sich ihr bedeutende Hindernisse in den Weg, und zwar nicht bloss 
in der Erkrankung des Organs, sondern in Schwierigkeiten, welche ausser dem 
Zögling sich in seiner Umgebung finden. Geht der erste natürliche Weg zum 
Gemüt, wie schon oben gezeigt, vom leiblichen Organismus aus, so heisst 
der zweite, allbekannte Weg von Gemüt zu Gemüt. So bedarf jedes 
Kind nicht bloss der Mutterliebe, sondern der Gemeinschaft mit der ganzen 
Familie, des Verkehrs mit der Kameradschaft und Nachbarschaft, um den Grund 
zu legen zu einer vollen Gemütsentfaltung. Welche Schwierigkeiten aber liegen 
vor mit dem blöden und schwachsinnigen Kinde! Schon in der Kinderstube 
hat die Mutter nicht selten Mühe, um ihr schwaches Kind gegen die Plackereien 
der gesunden Geschwister zu schützen. Sowie aber der Schwachsinnige den 
Fuss über die Schwelle des Elternhauses setzt, so steht er, der liebe- und hilfe- 


17 

bedürftige, in einer ihm vielfach feindlichen Welt; denn die umgebende Kinder- 
welt hat einen starken Hang und Reiz, den Schwachsinnigen zu necken, zu ver- 
spotten, ja oft mannigfach zu drangsalieren und zu misshandeln, sodass es ein 
förmliches Wunder wäre, wenn das Gemüt des Blöden nicht eingeschüchteıt, 
ängstlich, zurückgezogen oder zornmütig, heimtückisch und verbittert würde. 
In dieser unleugbaren Thatsache liegt die Notwendigkeit der Blödenanstalten 
einleuchtend zu Tage. So dringend der Schwachsinnige eines Unterrichts, der 
für ihn berechnet ist, bedarf, so braucht er nicht minder nötig die Unter- 
bringung in einer Anstalt, um für sein Gemütsleben die entsprechende Berück- 
sichtigung zu finden. In der Anstalt findet der Schwachsinnige, was er braucht, 
gemütlichen Verkehr mit andern, ohne Kränkung befürchten und erfahren zu 
müssen, Gemeinschaft mit Gleichstehenden unter guter Beaufsichtigung, und 
zwar in gemeinsamer Arbeit und Erholung, gemeinsamem Lernen und Spielen. 
Lässt das Vorurteil immer wieder den Wunsch laut werden, es sollten eben 
geistesgesunde Kinder sein, mit denen der Schwachsinnige Umgang hätte, so 
muss man nicht müde werden, daran zu erinnern, dass eben die geistesgesunden 
Kinder es seien, von denen der Schwachsinnige nur geplagt, nie aber irgendwie 
gefördert werde, und dass geistesgesunden Kindern, auch wenn sie gut erzogen 
seien, doch nicht eine erzieherische Aufgabe an Schwachsinnigen zugemutet 
werden könne, endlich dass die Schwachsinnigen immer unter entsprechender 
Aufsicht und Leitung stehen. Es ist demnach Aufgabe der Anstalt, bei der 
Gruppierung der Kinder die Eigenart derselben zu berücksichtigen, und der 
Liebe, Einsicht und Erfahrung kommt es zu, zu ermitteln, wie Träge und Leb- 
hafte, Aufgeregte und Ruhige, Selbstsüchtige und Selbstlose, Stumpfe und Ge- 
fühlige zu einander vergesellschaftet werden sollen, wie die Gemeinsamkeit in 
Arbeit, Spiel und Erholung zu benützen sei, dass sie das Besserungsmittel für 
die abnormen Gemütsverhältnisse bilde Der gute Erfolg eines richtigen Ver- 
fahrens wird nicht ausbleiben; mancher üble Zug, der ganz auf krankhafter 
Grundlage zu ruhen scheint, wird sich als Folge übler Behandlung herausstellen 
und unter richtiger Behandlung und in besserer Umgebung rasch weichen. 
Wirklich krankhafte, d. h. auf Hirnstörung beruhende Erscheinungen des Gemüts- 
lebens stellen auch dem besten Verfahren einen viel zäheren Widerstand ent- 
gegen, lassen sich oft nicht mehr völlig austilgen. Hier gilt es, die als nötig 
erkannten Bemühungen beharrlich fortzusetzen, da nur die Ausdauer noch einen 
Erfolg in Aussicht stellt. Immerhin leistet aber eine gut geleitete Anstalt dem 
Blöden und Schwachsinnigen für seine Gemütsentwickelung mehr und besseres 
als die Familie zu bieten vermag, und fast immer lohnt der Blöde durch 
rührende Anhänglichkeit an die Anstalt die Wohlthat, die ihm in derselben 
zuteil wird. 

Ein dritter Weg zum Gemüt geht durch die Erkenntnis. Der 
Gesichtskreis des Schwachsinnigen ist beschränkt, wenig bevölkert und belebt, 
nebelhaft unbestimmt, einförmig. Selbstverständlich kann eine so dürftig aus- 
gestattete Vorstellungswelt das Gemütsleben nicht zur Thätigkeit, zum Interesse 
wecken; aber durch guten Unterricht ist man imstande, den geistigen Gesichts- 


18 





kreis des Schülers nach allen Seiten zu weitern, zu erhellen, zu bevälkern und 
zu beleben, und damit dem Schüler zu einem wertvollen geistigen Eigentum zu 
verhelfen, insofern er keineswegs die Vorstellungen nur mechanisch zu einem 
Gedächtnisschatz ansammelt, sondern sie zu bestimmten Anschauungen erhebt, 
mit dem Verstande erfasst, die ihm nahe tretende Welt also durch Geistes- 
thätigkeit und Fleiss durchdringt, erobert und sich aneignet. Man führe deshalb 
den Schwachsinnigen ein in das Leben, dessen Äusseres er nur sehr mangelhaft 
kennt, dessen Inueres er nicht einmal ahnt; man lasse ihn die Natur, ihre Bil- 
dungen, Ordnungen und Wandlungen anschauen, und man wird bald erfahren, 
dass mit dem Verständnis auch das stumpfe Gemüt erwacht und Freude an der 
Natur gewinnt. Man führe den Blöden ein in das Verständnis des Menschen- 
lebens (wozu die biblische Geschichte ein unvergleichlicher Führer ist), lehre 
ihn die verschiedenen Beziehungen und Ordnungen, die Zwecke und Aufgaben, 
Arbeiten und Kämpfe, Leiden und Freuden des Menschenlebens kennen, und die 
zunehmende Einsicht wird auch das Gemüt zur Teilnahme am Leben der Mensch- 
heit rufen. Wo die Grenzen des sog. Anschauungsunterrichts überschritten 
werden können und der schwachsinnige Zögling imstande ist, einen Unterricht 
in den Realien zu empfangen, versäume man es nicht, ihn in Geographie und 
Geschichte, Naturlehre und Naturgeschichte, Formunterricht und Geometrie ein- 
zuführen. So ferne auch das eine und das andere dieser Fächer der Gemüts- 
welt liegt, bleibt die materielle Bereicherung der Seele mit diesen Kenntnissen, 
sowie die formelle Stärkung der Erkenntniskräfte doch nicht ohne Einfluss auf 
das Gemüt, sofern dadurch das so mangelhafte Selbstgefühl des Schwachsinnigen 
geweckt und gehoben wird. 

‚Hoch über allen Gegenständen der Erkenntnis steht die Religion der Wahr- 
heit und übt da, wo sie Aufnahme findet, den tiefsten Einfluss auf das Gemüt, 
und zwar schon deshalb, weil sie der Menschheit als geschichtliche Thatsache 
zuteil geworden ist. Sie erschliesst das Gemüt der höchsten Liebe, erlöst es so 
von den beengenden Banden der Selbstsucht und gründet in ihm einen Himmel 
von Frieden und Liebe. Dass der Schwachsinnige, wie überhaupt die Kinder- 
welt, nicht nur der Stimme des Gewissens gehorsam sein, sondern auch der 
Gemeinschaft mit Gott und damit der Teilnahme am Reiche Gottes fähig werden 
kann, ist über allen Zweifel erhaben. 

Wer den Schwachsinnigen nicht an der Hand der biblischen Geschichte in 
die Gemeinschaft mit Gott einzuführen sich bemüht, der versäumt es, das höchste 
Bildungsmittel, den stärksten Hebel anzuwenden, um den Schwachsinnigen aus 
seiner Geistesschwäche zu heben. Erfahrungsgemäss gehen diejenigen Schwach- 
sinnigen, welche Gott fürchten und suchen und ihren Erlöser lieben, der Heilung 
am raschesten entgegen. Ä 

Der vierte Weg zum Gemüt geht durch den Willen. Jede That 
des Willens wirkt auf ihren Ursprung zurück; die That der Selbstsucht, die 
Sünde wirkt verbärtend, verschlechternd, die That der Liebe und Gerechtigkeit, 
die Selbstverleugnung veredelnd auf das Gemüt. Einem Menschen z. B. mit 
verrohetem Gemüt wird allgemein, bei aller Berücksichtigung der Herkunft, der 


19 
Erziehung, des Lebensgangs, doch das rohe Gemüt und dessen Ausbrüche 
zugerechnet, da mit Recht angenommen wird, dass die Gemütsentartung zu 
einem grossen Teile die Folge lange fortgesetzten schlechten Verhaltens sei. 
Umgekehrt wird z. B. ein Mensch, der bei aufrichtiger Selbstprüfung findet, 
dass er ziemlich wenig Mitgefühl bei fremden Leiden habe, der aber, wenn 
auch zunächst nur aus Pflichtgefühl, sich dennoch Werken der Barmherzigkeit 
unterzieht, bald erfahren dürfen, dass sein stumpfes Herz weich und fühlend 
werde. Deshalb muss es die erste Aufgabe aller Erziehung sein, dass die 
erkannte Wahrheit ins Leben umgesetzt werde, da erst durch Gehorsam gegen 
die Wahrheit der volle Segen derselben sich mitteilt. So einfach das Leben in 
einer Anstalt ist, so genügt es doch, um den schwachsinnigen Zögling zur Liebe 
und Gerechtigkeit gegen andere, zur Wahrheit zu führen, überhaupt den Grund 
zu allen Tugenden zu legen. Nichts, was gegen Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit, 
wahre Ehre, Ordnung, Mässigkeit verstösst, darf gering geachtet werden. Es 
sollen die Zöglinge mit guten Beispielen umgeben werden, damit sie erfahren, 
dass keineswegs Willkür herrsche, sondern dass ein höherer heiliger Wille in 
der Anstalt walte und geachtet werde. 

Das beim Schwachsinnigen so sehr mangelnde Selbstgefühl wird besonders 
auch dadurch gepflanzt werden, dass der Zögling etwas zu leisten hat, dass 
irgend etwas unter seine Aufsicht und Verantwortlichkeit gestellt wird, da nicht 
nur, wie oben angezeigt, durch geistigen Besitz, sondern auch durch Leistungs- 
fähigkeit der Grund gelegt wird zu dem nötigen Mass von Selbstgefühl. 


— | nn 


Heilung eines Falles von epileptischem Irrsinn. 


Über einen in mehrfacher Richtung interessanten Fall von epileptischem 
Irrsinn und Heilung desselben durch Trepanation berichtet Geh. Medizinalrat 
Dr. Edmund Rose in Nr. 42 der „Deutsch. Mediz. Wochenschrift“ vom 
Jahre 1900. Aus diesem Berichte teilen wir auszugsweise und zwar zum 
grossen Teil wörtlich folgendes mit. 

Es handelt sich um einen 5jährigen kräftigen Knaben. Der Vater des- 
selben, ein kleiner Mann, seinem Beruf nach Kuhfütterer dicht bei Freienwalde, 
ist nach eigener Angabe gesund und stammt aus einer gesunden Familie, in 
der weder Geisteskrankheiten noch Epilepsie und ähnliche Leiden vorgekommen 
sind. Sein Vater ist an Pocken und seine Mutter im 64. Jahre an unbekannter 
Ursache gestorben, und ausser einem Bruder, der im Kriege gefallen, sind seine 
übrigen Geschwister gesund. Eher kann der Knabe von seiten der Mutter 
erblich belastet sein, welche seit ihrem 14. Lebensjahr Krämpfe haben soll, bei 
denen sie plötzlich hinfällt, bisweilen Schaum vor dem Munde hat und um 
sich schlägt. Ein ähnliches Leiden ist in der Familie der Mutter nicht beob- 
achtet. Dagegen hat eines der Kinder angeblich Krämpfe wie die Mutter; 
ausserdem ist der Vater und eine Schwester der Mutter an Schwindsucht 
gestorben. 


20 

Ausser dem kranken Otto und einem Kinde, das an Diphtheritis gestorben, 
hat der Kuhfütterer acht gesunde Kinder. Otto soll früher nie krank gewesen 
sein, hat am Ende des ersten Jahres laufen gelernt, hat zur rechten Zeit Zähne 
bekommen und sprechen gelernt, kurz, sich anscheinend normal entwickelt. 

Anfang September 1898 ist er gegen ein Thürgerüst gelaufen und hat sich 
eine Wunde an der Stirn parallel oberhalb der linken Augenbraue zugezogen, 
worauf man nicht weiter achtete, weil sie ohne Zwischenfall heilte und mit 
keinerlei Hirnerscheinungen verbunden war. Mitte September bemerkten die 
Eltern, dass der früher ganz normale Knabe Gegenstände zu fixieren begann, 
dabei das Gleichgewicht verlor, rücklings hintenüberfiel und in bewusstlosem 
Zustande Zuckungen hatte. Diese Anfälle wiederholten sich nach dem ärztlichen 
Attest an einzelnen Tagen stündlich; während sie nun am 1. Oktober aufhörten» 
sei eine völlige Verblödung des damals sechs Jahre alten Kindes eingetreten- 
Es starre ausdruckslos vor sich hin, spreche nicht, reagiere auf Anrufen kaum, 
sei aber oft unruhig und zu Zerstörungen geneigt. Die epileptischen Anfälle 
haben sich dann nach Angabe des Vaters Mitte Oktober wieder eingestellt und 
sind bisweilen achtmal am Tage aufgetreten. Seit Anfang November hat der 
Knabe nicht mehr gesprochen, nur bisweilen irgend ein Wort ausgestossen, aber 
niemals irgend welche Wünsche oder Empfindungen ausgedrückt. Appetit ist stets 
gut gewesen, Erbrechen niemals bemerkt, auch nicht nach dem Fall, ebenso- 
wenig wie der Knabe damals das Bewusstsein verloren hatte; gleich nach der 
Verwundung, wie auch in den ersten 14 Tagen danach bot er keinerlei auf- 
fallende Erscheinungen dar und ist stets herumgelaufen. Übrigens ist es ein 
kräftiger, für sein Alter gut entwickelter Junge mit starkem Knochenbau, guter 
Muskulatur, mässigem Fettpolster und normalem Schädelbau, dessen innere 
Organe am Stamm bei der Untersuchung nichts abweichendes darboten. 
Nirgends hat er geschwollene Drüsen. An der Stirn einen Querfinger breit 
über der linken Augenbraue findet sich die lineare, weisse, 2 cm lange, nicht 
angeheftete Narbe, in deren Nachbarschaft Haut und Knochen keinerlei Ab- 
weichung darbieten, auch keine besondere Empfindlichkeit bei Berührung. 

Am 5. Dezember 1898 wird der Knabe in das Diakonissenhaus Bethanien 
in Berlin aufgenommen. Er nimmt von seiner neuen Umgebung keine Notiz, 
scheint auch die Trennung von seinen Angehörigen garnicht zu empfinden. Er 
ist im Bett in steter Bewegung, droht jedem, der ihm nahe kommt, mit dem 
Finger, schlägt auch bisweilen, speit ins Zimmer, macht Urin und Stuhlgang 
unter sich. Es ist vollständig vergeblich, seine Aufmerksamkeit durch irgend 
etwas zu erregen. Bilderbücher zerreisst er, ohne sie anzusehen. Er schlägt 
im Bett die Beine gegen den Kopf in die Höhe, schmiert sich am Hintern die 
Finger voll und damit nachher ins Gesicht. Einen grossen Becher Milch stürzte 
er in einem Zug herunter. Mit Essen stopfte er sich den Mund so voll, dass 
man fürchten musste, er ersticke. Die Anfälle wiederholten sich am Tage 
mehrmals. 

Am auffälligsten war, dass man nie ein Wort aus seinen Munde hörte und 
ihn nicht zum Sprechen bringen konnte. Er schien vollständig taub und sprach- 


los. Eine genaue Untersuchung von Augen und Ohr ist bei dem Betragen des 
Knaben, seiner steten Unruhe, seinem Beissen und Umsichschlagen ganz un- 
möglich. f 

Nachdem der Knabe, der anfangs unter steter Aufsicht ausser Bett war, 
seit dem 8. Dezember zu husten anfing, am 9. abends 38,4 maass, hat er am 
10. früh im Gesicht und Hals einen typischen Masernausschlag. So leicht der 
Verlauf der Masern bei ihm war, zeigte sich doch uuverkennbar der für die 
Umgebung segensreiche Einfluss, Der Junge war entschieden durch den Aus- 
bruch etwas angegriffen, die Anfälle kamen zwei- bis dreimal an jedem Tage, 
die Nächte waren gut. Die Zerstörungswut hat sich gelegt, er besah ruhig 
Bilderbücher, schlug nicht mehr um sich. Zweimal soll er sogar das Wort 
„Unglück“ und „Dusel“ vor sich hingesprochen haben. Am 9. December hat 
die beaufsichtigende Schwester es sogar soweit gebracht, mit ihm Ball zu 
spielen, wie er überhaupt beim Essen und Trinken zuthulicher und manierlicher 
zu ihr geworden ist. Die Anfälle blieben dieselben, wenn sie auch nicht so 
häufig kamen, bisweilen nur einmal am Tage, oder auch wohl garnicht. 

Nach Ablauf der Masernerkrankung war der geistige Zustand unverändert, 
die Unruhe und die Anfälle mehrten sich wieder. Der Knabe schlägt wieder 
um sich, speit ins Zimmer, kurz, benimmt sich gerade wie vor den Masern. 
Eine Untersuchung mit dem Augen- und Ohrenspiegel ergab nichts besonderes. 
Am 20. Januar bekam er Besuch von seiner Mutter. Er erkannte sie garnicht 
wieder, nimmt überhaupt gar keine Notiz von der Aussenwelt. Als seine 
freundliche Schwester einen Moment das Zimmer verlassen, zerbiss er ihre 
goldene Uhr, die sie beim Temperaturmessen noch hatte auf dem Nachttisch 
liegen lassen. Weil er an der eisernen Bettstelle sich geschadet hatte, bekam 
er eine hölzerne; da hat er ein Loch herausgeknabbert, so gross wie meine 
halbe Handfläche Es war wirklich ein schrecklicher Patient für die Station, 
der entweder in ein Siechenhaus gebracht, oder, wenn man die Krankheit von 
der Verletzung herleitete, nach so langer fruchtloser Beobachtung und Pflege 
operiert werden musste. 

Die Wegleitung zur Operation gab die äussere Narbe und ihre Nähe am 
Aphasiecentrum;; allerdings muss betont werden, dass die Narbe niemals in der 
ganzen Zeit der Beobachtung empfindlich oder gerötet war oder irgend eine 
Veränderung zeigte, wie denn auch die Anfälle keine partiellen Krampfanfälle 
waren, nicht etwa durch Druck von der Narbe aus hervorgerufen werden konnten, 
sondern stets anscheinend von selbst kamen und symmetrisch waren. Nach 
den nötigen Vorbereitungen wurde am 28. Januar 1899 die Operation ausge- 
führt. Bei derselben fand man keine Veränderung des Gehirns, und es schien, 
als sei der Eingriff überflüssig gewesen. Allmählich jedoch wurden die Anfälle 
seltener, und die geistigen Funktionen stellten sich nach und nach wieder ein. 
An manchen Tagen schien er anständiger zu sein als an den anderen. Am 
15. März wurde der Knabe aus dem Krankenhause entlassen. Bei der Entlassung 
wurde den Eltern für den Fall, dass weitere Besserungen in seinem geistigen 
Befinden nicht eintreten sollten, empfohlen, ihn in eine Anstalt für schwach- 


22 


sinnige Kinder zu bringen. Letzteres geschah nicht. Der Knabe war zunächst 
zwar noch nicht anfallsfrei, vom 7. April 1899 an aber trat ein Anfall nicht 
wieder ein, und der Zustand des Knaben besserte sich stetig. — Im März 1900 
liess ihn Medizinalrat Dr. Rose nach Berlin kommen, um ihn in der Freien 
Vereinigung der Chirurgen Berlins vorzustellen. Bei der Vorstellung war der 
Knabe zunächst etwas verlegen, sonst aber ganz manierlich ; er kannte die Uhr, 
zählte die Finger u. s. w. und antwortete im allgemeinen wie ein Kind, das 
erst zur Schule kommen soll. Der Vater erzählte u. a, dass die Mutter den 
Knaben oft mit einem Korbe eine Viertelmeile weit in die Stadt schicke, um 
Besorgungen zu machen. — 

Wenn man die Krankheitsdauer von dem Stosse gegen das Thürgerüst bis 
zum letzten Anfall rechnet, so ergeben sich 63/, Monat. Sie endete 21/, Monat 
nach der Operation, indem unter Schwankungen die Besserung allmählich eintrat. 
Sprache und Gehör sind vollständig wieder gekehrt; sehr merkwürdig aber ist 
die vollständige Amnesie. Der Knabe kannte, als er zu der Vorstellung in 
Berlin war, weder. seine Stube wieder, noch überhaupt Bethanien. Ebensowenig 
erkannte er die Ärzte und die Schwestern, die ihn behandelt bezw. gepflegt 
hatten. Die ganze Krankenzeit fehlte in seiner Geschichte. — 

Der Fall ist sicher nicht nur ein interessanter, sondern auch ein seltener. 
Wie er im letzten Grund zu erklären ist, braucht hier nicht untersucht zu 
werden. Bemerkt sei aber, dass die linke Trepanationsöffnung offen geblieben 
ist und sich bei starkem Schnäuzen der Schädelinhalt leicht darin hervorwölbt. 
Dabei scheint die linke Stirnhälfte vor der rechten in ihrem Niveau etwas vor- 
springend eingeheilt zu sein. Nach dem allen neigt sich Geh. Medizinalrat 
Dr. E. Rose der Meinung zu, dass die Heilung durch Bildung eines Sicher- 
heitsventils eingetreten ist. Die Hauptsache aber ist und bleibt nunmehr, dass 
.die erzielte Heilung von Dauer ist. 


Zum Ministerial- Erlass vom 20. September 1895. 


Der Vorstand der Vereinigung der Leiter von Anstalten für Idioten und 
Epileptische (Pfarrer Schuchard- Treysa und Direktor Schwenk - Idstein), 
sowie die preussischen Vorstandsmitglieder der IX. Konferenz für das Idioten- 
wesen (Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf und Kreisschulinspektor Weichert- 
Leschnitz) überreichten im November bez. Dezember v. J. den Vorständen der 
preussischen Ministerien der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten, des Innern und der Justiz folgende Eingabe: 

„Schon seit mehreren Jahren leben die Vertreter und Vorsteher der privaten 
Idioten-Erziehungsanstalten in steter Besorgnis hinsichtlich der Sonderstellung, welche 
seitens der Staatsbehörde ihren Anstalten unter den übrigen Erziehun gsinstitute 
Preussens angewiesen wird. Diese Besorgnis wurde hervorgerufen durch den Ministerial- 
Erlass vom 20. September 1895, in welchem ausführliche Bestimmungen über die 
Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken, Idioten und Epileptischen in und aus 


23 


Privatirrenanstalten u. s. w. gegeben sind. Der Umstand, dass in diesem Erlass die 
Unterrichts- und Erziehungsanstalten für Schwachsinnige den Irrenanstalten gleich- 
gestellt und gemeinsam mit diesen behandelt wurden, musste naturgemäss für erstere 
nicht unbedenkliche Härten zur Folge haben. Die Vorschrift einer mediziwischen 
Oberleitung und einer lediglich medizinischen Revision, welche dem pädagogischen 
Charakter der betreffenden Anstalten nicht nur keine Rechnung trägt, sondern diesem 
sogar oftmals entgegenarbeitet, veranlasste den Vorstand des „Vereins für das Idioten- 
wesen“ im Januar 1896 eine Sonderkonferenz nach Berlin einzuberufen, welche 
Stellung zu dem genannten Reskript nahm und durch eine besondere Deputation eine 
Denkschrift an die 3 resp. Ministerien überreichen liess. 

Diese Denkschrift hatte zunächst keinen direkten Erfolg. Die höchsten Stellen 
erkannten zwar die Härten des Gesetzes an und versprachen „auch Abhilfe, liessen es 
aber damit bewenden. 

Da kam am 11. März 1896 die genannte Ministerialverfügung im preussischen 
Abgeordnetenhause zur Sprache. Bei dieser Gelegenheit gaben der Ministerial-Direktor 
Herr Dr. von Bartsch folgende Erklärung ab: „Die Anweisung unterscheidet sehr 
scharf zwischen eigentlichen Anstalten für Geisteskranke und Anstalten, die bestimmt 
sind für Idioten und Epileptiker. Die letzteren unterliegen in keiner Weise den 
strengen Vorschriften, denen die Privatirrenanstalten unterliegen.“ — „Es ist durchaus 
nicht notwendig, dass in einer Anstalt für Idioten ein Arzt dauernd seine Wohnung 
hat. Das ist nicht erforderlich, es genügt, wenn ihm im Haufe der Woche un- 
behindert zwei- oder dreimal der Zutritt gestattet wird, damit er sich von dem Zu- 
stand der Kranken überzeugen kann.“ (Stenograph. Bericht der 40. Sitzung am 
11. März 1896, Seite 1277.) 

Das waren recht tröstliche Worte, die noch wesentlich an Wirkung gewannen, 
als die Staatsbehörde bald nach dieser Debatte eine Verordnung (24. April 1896) 
erliess, welche die Anweisung vom 20. September 1895 ii bezw. ein- 
schränken sollte. 

Aber trotz dieses wohlwollenden Entgegenkommens seitens der Herren Minister 
blieben doch noch recht drückende Bestimmungen bestehen. Nach wie vor wurde 
von einem leitenden Arzt gesprochen, dem auch fernerhin viele der Obliegenheiten zu 
übertragen seien, die bisher die theologischen oder pädagogischen Leiter der Anstalten 
in Händen hatten. 

Auffallend war es, dass einzelne Regierungspräsidenten in ihren Bezirken anch 
von der Durchführung dieser Vorschrift Abstand nahmen, während andere dieselbe 
aufrecht erhielten. 

Der Erlass vom 4. Februar 1899 (M. d. g. A. Nr. 5099, Just.-M. I Nr. 580, 
M.d. J. II Nr. 1409) brachte endlich die erfreuliche Absicht, dass die Bestimmungen 
vom 20. September 1895 einer Revision unterzogen werden sollten. In Wahrnehmung 
dieser Gelegenheit reichte der Vorstand des Vereins für das Idiotenwesen ein neues 
Gesuch an Se. Excellenz den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten mit der Bitte ein, die Idioten-Erziehungsanstalten von der Anweisung 
zu befreien und für dieselben event. besondere, den Verhältnissen entsprechende Be- 
stimmungen erlassen zu wollen. In der ministeriellen Antwort auf dieses Gesuch 


‚4 


(vom 16. August 1899) wurden die Bedenken der Anstaltsvertreter teilweise als 
nicht mehr bestehend bezeichnet, teilweise auch anerkannt und die Erwägung einer 
Abänderung der Bestimmungen vom 20. September 1895 bei der zu erwartenden 
Nachprüfung derselben in Aussicht gestellte Diese Nachprüfung ist nun zwar bis 
jetzt noch nicht erfolgt, aber es sind inzwischen weitere beruhigende Erklärungen 
von Vertretern der Regierung abgegeben worden. 

Veranlasst durch das Verhalten der Besuchskommissionen, die nach wie vor bei 
Beurteilung unserer Anstalten den Massstab für Krankenhäuser und Irrenanstalten 
zu Grunde legen, halten wir es im Interesse unserer Anstalten für unsere Pflicht, 
dieserhalb der Kgl. Regierung unsere Bitte nochmals ganz ergebenst zu unterbreiten. 

Dass die Schwachsinnigen und Idioten praktisch nicht zu den Geisteskranken 
gezählt werden dürfen, ist nicht nur von einer grossen Anzahl bedeutender Fachleute 
der medizinischen Wissenschaft anerkannt, sondern ist auch durch die Erfahrungen 
einer jahrzehntelangen Praxis auf dem Gebiete des Idioten-Unterrichts und -Erziehungs- 
wesens bewiesen. Die Schwachsinnigen werden in uuseren Anstalten nicht in erster 
Linie ihrer Verpflegungsbedürftigkeit wegen aufgenommen, sondern sie sollen erzogen, 
unterrichtet und soweit als möglich zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesell- 
schaft herangebildet werden. Unsere Anstalten sind darum hauptsächlich Erziehungs- 
und Unterrichts - Institute und müssen als solche weit mehr den Taubstnummen-, 
Blinden-, Rettungsanstalten u. s. w. als den Irrenanstalten an die Seite gestellt 
werden, welche letztere doch in erster Linie nur der Verpflegung und Versorgung 
erwerbsunfähiger Geisteskranker dienen. Wenn nun aber durch die Bestimmungen 
vom 20. September 1895 die Idiotenanstalten denselben Vorschriften wie die Irren- 
anstalten unterworfen werden, so muss naturgemäss daraus für die ersteren eine ein- 
seitige, ungerechtfertigte Behandlung entspringen, welche deren freier Entwickelung 
hindernd im Wege steht. 

Wir erlauben uns darum nochmals ganz ergebenst die Bitte vorzutragen, bei der 
nach den Äusserungen der Kgl. Regierung bestimmt in Aussicht stehenden Revision 
der Bestimmungen vom 20. September 1895 unsere Anstalten gütigst berücksichtigen 
und besondere, ihrem pädagogischen Charakter entsprechende Verordnungen erlassen 
zu wollen. Diesem pädagogischen Charakter bitten wir zunächst dadurch Rechnung 
tragen zu wollen, dass der Unterschied zwischen Geistesschwachen und Geistes- 
kranken nicht nur theoretisch anerkannt, sondern auch in gesetzlicher Weise fest- 
gelegt würde. Dadurch würde von vornherein einer nicht geringen Anzahl von Miss- 
ständen vorgebeugt, die aus der vom praktischen Staudpunkte aus jedenfalls un- 
berechtigten Gleichstellung dieser beiden Gruppen entspringen. Wir wollen dabei 
nicht unerwähnt lassen, dass auch das Bürgerliche Gesetzbuch Geisteskranke und 
Geistesschwache nicht gleichbehandelt, sondern zwischen denselben ($ 104 und 
8 114) genau unterscheidet. 

Sodann müsste auch dem Pädagogen die ihm zugehörige dominierende Stellung 
in den Anstalten gesetzlich zugesichert werden. Wir sind weit davon entfernt, die 
Verdienste, welche sich die Ärzte schon auf dem Gebiete der Psychiatrie erworben 
haben, zu verkennen oder die Mithilfe, die sie uns bei unserer Arbeit an den 
Schwachsinnigen zu bieten vermögen, zu unterschätzen. Im Gegenteil, im Interesse 


25 


unserer Kinder werden wir eine Unterstützung, die für uns von wirklich praktischem 
Wert ist, jederzeit freudig begrüssen. Dagegen halten wir die Stellung, welche die 
Bestimmungen vom 20. September 1895 den Ärzten in der Anstalt einräumen, als 
über die Grenzen der Zweckmässigkeit hinausgehend. Wenn auclı von der Forderung 
Abstand genommen wurde, dass in den Anstalten dauernd ein Arzt wohnen sollte, 
so verblieben diesem doch eine Menge Funktionen, die ihm thatsächlich die Ober- 
leitung zusichern. Dass aber eine solche Stellung des Arztes neben einem offiziellen 
Direktor nur zu Misshelligkeiten führen muss und nur in den wenigsten Fällen dem 
gesunden Wachstum einer Anstalt förderlich sein wird, liegt auf der Hand. Warum 
sollte ein leitender Pädagoge vom Arzte in jeder Hinsicht abhängig sein und diesem 
Obliegenheiten überlassen müssen, die er zum mindesten ebenso gut wie jener ver- 
richten kann? 

Sicher ist z. B., dass der Arzt bei seinen nur vorübergehenden und flüchtigen 
Beobachtungen der Kinder über diese im einzelnen kaum ein zutreffonderes Urteil 
abgeben kann, als der Pädagog, welcher tagtäglich im unmittelbaren Verkehr mit 
seinen Schülern steht. Es ist darum auch nur schwer zu verstehen, wie verschiedene 
Revisoren die von den Anstaltsdirektoren unter Mithilfe des Arztes verfassten 
„Krankengeschichten“ nur deshalb beanstanden konnten, weil sie nicht vom Arzte 
allein geführt wurden. Überhaupt spielt die praktische Psychiatrie in unseren 
Anstalten eine viel geringere Rolle als in medizinischen Kreisen vielfach noch immer 
angenommen wird; jedenfalls ist sie nicht von der Bedeutung, dass ihr die päda- 
gogische Arbeit untergeordnet werden kann. 

Ferner liegt es sicher nicht im Interesse unserer Anstalten, wenn dieselben bei 
den jährlich wiederkehrenden Revisionen stets nur vom hygienischen und psychia- 
trischen Standpunkte aus revidiert werden, in ihrer Hauptaufgabe — Unterricht und 
Erziehung — aber vollständig ignoriert bleiben. Wenn diese Revisionen ihren Zweck 
nicht verfeblen sollen, so müssten doch in erster Linie der Stand der Schule und 
die Resultate der Unterrichtsarbeit geprüft werden. Das ist aber bei der Art und 
Weise der gegenwärtigen Revisionen ganz ausgeschlossen. 

Überhaupt zeigt sich bei diesen Revisionen die Unhaltbarkeit der bestehenden 
Zustände am deutlichsten, insofern das von der Kgl. Regierung vorgedruckte und für 
Irrenanstalten bestimmte Formular des Revisionsprotokolls nur zum kleinsten Teil auf 
die besonderen Verbältnisse unserer Anstalten passt, wie dies hin und wieder selbst 
von den revidierenden Medizinalbeamten anerkannt wurde. 

Auf Grund dieser Thatsachen beehren wir uns nochmals die Bitte gehorsamst 
vorzutragen, unsere Anstalten von den Bestimmungen des Ministerial-Erlasses vom 
20. September 1895 ausschliessen zu wollen. 


Mitteilungen. 


Augsburg. (Dritter Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.) Am 
11. und 12. April d. J. soll hier der 3. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 
abgehalten werden und zwar soll am 11. April abends eine Vorversammlung und am 


26 


12. Aprıl mittags die Hauptversammlung stattfoden. In der Vorversammlung wird 
Lehrer V. Ehrig-Leipzig und Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig über das Lese- 
buch und die Fibel der Hilfsschulen, Lehrer Basedow-Hannover aber über 
den Handfertigkeitsunterricht sprechen. Auf der Tagesordnung der Haupt- 
versammlung steht u. a. ein Vortrag des Dr. med. F. W. Müller-Augsburg „Über 
den kindlichen Schwachsinn“. Gleichzeitig findet eine Ausstellung von pädagogischen 
Werken, Schriften und Lehrmitteln statt, die auf die Ausbildung geistig und körper- 
lich zurückgebliebener Kinder Bezug haben. — 

Hamburg. (Hilfsschulen.) Die Hilfsschulen Hamburgs wurden im Schuljahre 
1899/1900 von 247 Knaben und 203 Mädchen, zusammen 450 Kindern besucht. 
Es bestanden 23 Klassen, und zwar 12 für Knaben, 10 für Mädchen, sowie eine 
gemischte. Den Unterricht erteilten 12 Lehrer und 18 Lehrerin. Im Laufe des 
vorigen Schuljahres konnten 15 Kinder wieder in die Normalschulen zurückversetzt 
und 43 Kinder am Ende des Schuljahres ins Berufsleben entlassen werden. — 

Gotha. (Herzogin-Marie-Stiftung.) Unsere Idiotenanstalt der Herzogin- 
Marie-Stiftung ist jetzt bis auf den letzten Platz mit Zöglingen besetzt, sodass wir 
leider in manchen Fällen schon genötigt waren, Anmeldungen neuer Zöglinge zurück- 
zuweisen. Mit 48 (28 Knaben u. 20 Mädchen) am Schluss des Jahres in der Anstalt 
befindlichen Zöglingen haben wir die Höchstzahl erreicht. Mehr Räumlichkeiten stehen 
nicht zur Verfügung. Die Insassen stammen fast ausschliesslich aus den Herzog- 
tümern Coburg und Gotha. Nur wenig Kinder aus den benachbarten Staaten konnten 
ausnahmsweise aufgenommen werden. Dagegen haben Stadt und Land unserer engeren 
Heimat ihre hilfsbedürftigen Kinder der Anstalt zugeführt, insofern sie nicht als 
schwachbefähigte der Hilfsschule zu Gotha überwiesen wurden. (In den anderen 
Orten wird für diese durch besonderen Privatunterricht gesorgt, der meistens durch 
Staatszuschüsse ermöglicht wird.) Das Alter der Insassen der Herzogin-Marie-Stiftung 
schwankt zwischen 8 und 25 Jahren. — Dem Grade ihrer Schwachsinnigkeit nach 
lassen sie sich in drei Gruppen teilen: noch bildungsfähige (9 Kn. und 3 Mdch.), 
welche Schulunterricht geniessen und mit ziemlicher Sicherheit erwarten lassen, dass 
sie sich einmal ihr Brot werden erwerben können, schwachsinnige (9 Kn. und 4 Mdch.), 
welche ebenfalls Schulunterricht geniessen, bei denen aber noch nicht vorauszusehen 
ist, ob sie einmal irgend welche Selbständigkeit erhalten werden und blödsinnige (10 Kn. 
und 4 Mdch.), die ausschliesslich für die Wohlthat einer geordneten Pflege empfäng- 
lich sind, da irgend welche Spuren geistiger Regsamkeit kaum vorhanden sind. 
Ausserdem befinden sich in der Anstalt noch 9 ältere Mädchen, die in der Haus- 
wirtschaft ausgebildet, resp. zu Handreichungen beigezogen werden. — Diesen ver- 
schiedenen Graden entsprechend sind die Kinder in die einzelnen Familien und 
Klassen verteilt. Abteilung I enthält die bildungefähigen Zöglinge, die wieder nach 
Geschlechtern in zwei Gruppen verteilt sind. Während der Schulstunden und bei den 
Mahlzeiten sind die Geschlechter nicht getrennt, sonst aber ist die Trennung streng 
durchgeführt. Die Mädchengruppe umfasst Schulkinder und die vorhin erwähnten 
älteren Mädchen, während sämtliche Knaben dieser Abteilung noch schulpflichtig sind. 
Der Schule entwachsene Knaben werden grundsätzlich nicht aufgenommen. — Die 
1. Abteilung erhält Unterricht durch einen Lehrer, der auch im vergangenen Jahre 


27 


diese Kinder mit Verständnis und Treue in ihren Kenntnissen förderte und schöne 
Erfolge erzielt hat.*) Allen sieht man die Freude an, die sie über die Anregung und 
Förderung ihrer geistigen Thätigkeit empfinden. Da früher eine ganze Anzahl Kinder 
am Unterricht teilnahmen, die nur sehr langsam vorwärts kamen, wenn von einem 
Vorwärtskommen überhaupt geredet werden konnte, ist eine besondere Klasse gebildet 
worden, in welcher eine Lehrerin gern und gut den Unterricht erteilt. Zu ihnen ge- 
hört der grösste Teil der Kinder, welche in der 2. Abteilung wohnen. — Ausser den 
Schulstunden haben die Kinder der 1. und 2. Abteilung noch täglich Unterricht in 
Handfertigkeit, während zwei Stunden zur Wiederholung und Befestigung des in 
den Unterrichtsstunden durchgenommenen Stoffes benutzt werden und der Anfertigung 
der Schulaufgaben dienen. Damit ist der Tag ziemlich ausgefüllt. Die unterrichts- 
freien Stunden bleiben dem Spiel und nützlicher Beschäftigung der älteren Kinder, 
die vorderhand hauptsächlich im Stricken von Strümpfen und Wäscheleinen u. s. w. 
besteht. Besonders werden sie, solange es Zeit und Witterung erlauben, bei der 
Pflege und Instandhaltung des Obst- und Gemüsegartens mit herangezogen. Die 
älteren Mädchen finden zweckentsprechende Verwendung im Haushalt, um für einen 
Dienst vorbereitet zu werden. Einige von ihnen sind diesem Ziel schon ziemlich nahe 
gekommen und werden in absehbarer Zeit in Stellung gebracht werden. In einigen 
Stunden wöchentlich erhalten dieselben ausserdem Haushaltungsunterricht. 

Bei der grossen Zahl der Kinder war die Aufgabe der Hauseltern und des immerhin 
nuch geringen Pflegepersonals oft nicht leicht. Einigen Pflegerinnen ist die Arbeit auch 
zu schwer geworden, sodass sie den Dienst in der Anstalt bald wieder aufgegeben 
haben, wodurch mannigfacher Wechsel im Personal stattfand. Um so dankenswerter 
ist anzuerkennen, dass sich die Hauseltern bisher grosse Mühe gaben, das Hauswesen 
in regelrechtem Gang zu erhalten und den Kindern eine geordnete und liebevolle Pflege 
zukommen zu lassen. Von einigen Pflegerinnen haben sie darin erfreuliche Unter- 
stützung erfahren. 

Es hat den Kindern auch an sonstigen Abwechselungen nicht gefehlt, Sie 
haben öfters grössere und kleinere Spaziergänge gemacht und durch die Güte 
ihrer Freunde auch im Hause viel frohe Stunden verlebt. Vor allem war ihnen 
das Weihnachtsfest ein Tag ganz besonderer Freude. Sie hatten dazu Lieder und 
Deklamationen gelernt und freuten sich von Herzen an den reichlich gespendeten 
Gaben. Hier wie sonst zeigte es sich, dass im Hause ein fröhlicher Geist herrscht, 
das beste Zeichen dafür, dass die Kinder ihren Aufenthalt in der Anstalt als eine 
Wohlthat empfinden. Auch der Tag, an welchem Ihre Kaiserliche und Königliche 
Hoheit die Frau Herzogin Marie mit den Prinzessinnen Marie und Beatrice die Anstalt 
mit ihrem Besuch beehrte, war für die Kinder ein Festtag. Die Güte der Hohen Frau, 
die sich mit den einzelnen Kindern unterhielt, gab diesen eine harmlose Unbefangen- 

*) Für den Schreibleseunterricht hat sich „Des Kindes erstes Schulbuch“ von Schulze 
und Giggel (Verlag von E. F. Thienemann in Gotha) ganz vortrefflich bewährt. Das Buch 
ist naeh Form und Stoff so recht der Fassungskraft des kindlichen Geistes angepasst. Das 
Vorwärtsschreiten ist ein langsames und macht das Kind mit den sich darbietenden Laut- und 
Sprachbezeichnungen durch öftere Wiederholungen vertraut. Gerade diese planmässigen 


Wiederholungen, diese Ruhepausen, die in die Leseübungen geschickt hinein gewebt sind, ge- 
reichen der Fibel zu ganz besonderem Vorteil. 


28 


heit, und die vielen Süssigkeiten, die sie aus der Hand der Huhen Herrschaften 
empfingen, mundeten ihnen vortrefflich. — Der Förderung Ihrer Kaiserlichen und 
Königlichen Hoheit als Protektorin des Vereins verdanken wir auch eine namhafte 
Vermehrung unseres Vermögens. Von einem im Hoftheater abgehaltenen Wohlthätig- 
keitsbazar, der der Anregung der Frau Herzogin entsprang, erhielt die Vereinskasse 
einen bedeutenden Zuwachs von fast 10000 Mark, die dann noch durch Seine Königliche 
Hoheit den Herzog Alfred durch Überweisung der Einnahmen einer Vorstellung im 
Hoftheater beträchtlich vermehrt wurden. Der leider zu frülı verschiedene Hohe Herr 
hat überhaupt seit dem Bestehen unseres Vereins demselben mehrfach sein regstes 
Interesse bewiesen, und auch uns trifft sein unerwartetes Hinscheiden tief und schwer. 
Dankbaren Herzens werden wir dem Entschlafonen ein dauerndes Andenken bewahren 
und nie der Förderung vergessen, die er unserer Arbeit hat zu teil werden lassen. 

Zürich. (Albert Fisler 4.) Am 23. Dezember v. J. starb einer der hervor- 
ragendsten Lehrer und Erzieher im ganzen Schweizerlande, Albert Fisler, Lehrer 
an der Spezialklasse für Schwachbegabte in Zürich. Derselbe übernahm 1891 die zu 
dieser Zeit von der Stadtschulpflege auf seine Veranlassung ins leben gerufene 
Spezialklasse für Schwachbegabte, für welche Institution er sich schon in der 
I. schweizerischen Konferenz für das Idioteuwesen, die im Jahre 1889 in Zürich 
stattfand, ausgesprochen hatte. Hier wirkte er unermüdlich und in nicht ermattender 
Begeisterung bis an seinen Lebensabend. „Mit der angemessenen Fürsorge für die 
geistig Anormalen,“ schrieb er im Jahre 1896, „hat endlich praktische Gestalt ge- 
wonnen, was schon vor hundert und mehr Jahren von hochherzigen Freunden der 
Menschenbildung immer und immer wieder als einfachste Forderung der Billigkeit 
hingestellt worden: Die gesellschaftliche Anerkennung der Rechte jedes Menschen- 
kindes auf Mobilmachung der Kräfte, die ihm im Lebenskampfe mitgegeben wurden.“ 
Hervorragenden Anteil nahm Fisler sodann nach der Stadterweiterung an der Orga- 
nisation der Spezialklasse, wie sie in den bezüglichen Bestimmungen enthalten sind, 
die von der Zentralschulpflege unterm 15. Februar 1894 erlassen wurden. Mitte der 
neunziger Jahre machte er auf Veranlassung des Schulvorstandes eine Studienreise 
nach Deutschland und brachte neue Ideen und neue Begeisterung für seine Spezial- 
klasse mit nach Hause. Einer seiner Zielpunkte hinsichtlich der Organisation dieser 
Klasse gelangte zu Beginn des Schuljahres 1900/1901 versuchsweise für die Kreise 
I und V zur Durchführung: der Zusammenzug mehrerer Spezialklassen zu eiuer 
besonderen Schule zum Zwecke der Ermöglichung der Klassenbildung nach den Fähig- 
keiten der Schüler, welche Organisation nicht bloss die Arbeit des Lehrers erleichterte, 
sondern auch die erzieherischen und unterrichtlichen Erfolge steigerte. Mit grosser 
Begeisterung begrüsste er die im Jahre 1898 von der Schweiz. Gemeinnützigen Ge- 
sellschaft aufgegriffene Idee der Errichtung eines Instruktionskurses für Lehrer an 
Spezialklassen. Dieser Kurs fand im ersten Quartal des Schuljahres 1899/1900 
(April-Juli) in Zürich statt; Fisler war die Seele desselben ; er übernahm die Ober- 
leitung und ihm gelang es, die Kursteilnehmer nicht bloss einzuführen in ihren 
schweren Beruf, sondern ihnen zugleich auch jene Begeisterung für die edle Sache 
beizubringen, die über die Schwierigkeiten hinweghilft und auch bei anscheinend wenig 
zu Tage tretendem Erfolg doch die innere Befriedigung dem Lehrer sichert. 


29 


Zürich. (Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen.) Donnerstag, 
den 20. Dezember 1900, nachmittags, fand im Hotel St. Gotthard eine Sitzung des 
Vorstandes der Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen statt. Anwesend 
waren: Sekundarlehrer Auer in Schmanden als Präsident, Erhard, Direktor der 
Taubstummenanstalt in St, Gallen, Dr. Ganguillet, Arzt in Burgdorf, Dr. Schenker 
in Aarau, Präsident der Anstalt für Schwachsinnige in Biberstein, Piaget, Schul- 
inspektor in Neuenburg, als Vertreter des Hrn. Staatsrat Quartier de la Tente, 
Britschgi, Erziehungsrat in Sarnen, Frau Villiger-Keller in Lenzburg, Fritschi, 
Erziehungsrat in Zürich, Wachter in Zürich, Generalsekretär der Schweizerischen 
Gemeinnützigen Gesellschaft und Graf, Lehrer an der Spezialklasse in Züricb. Am 
Erscheinen verhindert waren die Herren: Direktor Kölle und der inzwischen ver- 
storbene Lehrer an der Spezialklasse für Schwachbegabte A. Fisler in Zürich. 
Nachdem bisher zwei Konferenzen für das Idiotenwesen abgehalten wurden, 1889 
in Zürich und 1899 in Aarau, sollen nun künftig die Konferenzen regelmässig in 
einem zweijährigen Turnus stattfinden Die nächste Konferenz soll sich im Mai 
oder Juni 1901 versammeln und zwar wird hierfür Burgdorf in Aussicht genommen. 
Die Haupttraktanden an dieser Versammlung werden zwei Vorträge über folgende 
Themata bilden: 1. Die eidgenössische Zählung der ins schulpflichtige Alter ein- 
tretenden Kinder mit körperlichen oder geistigen Gebrechen; wie muss diese Zählung 
vorgenommen werden und wie sind deren Ergebnisse praktisch zu verwerten, damit 
sie ihren Zweck erreicht? 2. Wie sollen Unterricht und Erziehung in deu Anstalten 
und Hilfsklassen für Schwachsinnige gestaltet sein, um diese Kinder für den Brot- 
erwerb tauglich zu machen und welche Beschäftigungsarten eignen sich hierfür am 
besten? Möge die Frage der Ausbildung und Erziehung der anormalen Kinder in 
der Schweiz durch diese Konferenz wieder neue Impulse erhalten und ihrer Lösung 
näher gebracht werden ! 


Vermischtes. 


Idioten und das Strafgesetz. Ein 18 Jahre alter Porzellanmaler S. stand 
wegen Sittlichkeitsvergehens unter Anklage. Er hatte wiederholt einigen Schul- 
mädchen auf der Strasse aufgelauert, dieselben an die Wand gedrückt und in un- 
züchtiger Weise angefasst.. Schon bei seiner ersten Vernehmung registrierte der 
Richter, dass S. einen ganz schwachsinnigen Eindruck mache. Der daraufhin mit 
seiner Untersuchung beauftragte Kreisphysikus führte in einem motivierten Gutachten 
aus, dass S. in der Entwickelung zurückgeblieben und schwachsinnig sei; 
doch hielt er eine weitere Beobachtung noch für wünschenswert und das Gericht 
beschloss demgemäss auf seinen Antrag, den S. für die Dauer von sechs Wochen 
einer Irrenanstalt zu überweisen. S. hat sich in derselben vom 13. Juni bis 6. Juli 
befunden. Das Gutachten des Kreisphysikus, dass S. ein Idiot und unzurechnungs- 
fähig sei, konnte hier lediglich bestätigt werden. — Der 18jährige Barbierlehrling D. 
war beschuldigt und geständig in zehn Fällen kleine Diebstähle verübt zu haben. 
Nachdem sein Vater durch ein von ihm eingereichtes ärztliches Attest die Zurechnungs- 


30 

fähigkeit des Angeklagten in Zweifel gestellt hatte, wurde die Beobachtung des 
Letzteren in einer Irrenanstalt gerichtlicherseits beschlossen. Es ergab sich, dass 
D. an Schwachsinn litt. Auf Grund der Thatsache, dass die Entwickelung des 
D., sowohl die körperliche wie die geistige, eine verlangsamte und erschwerte gewesen, 
sowie dass in seiner Kindheit Krämpfe aufgetreten waren, musste der Schwachsinn 
bei ihm als auf einer krankhaften konstitutionellen Anlage begründet erachtet werden. 
Zu den erwähnten pathologischen Symptomen gesellte sich noch ein nervöses Zittern 
der Hände, eine Lähmung der äusseren Augenmuskeln, eine krankhafte Erregung 
des Gefässsystems und völlige Widerstandslosigkeit gegen Affekte. Das Gutachten 
wurde dahin abgegeben, dass D. ein von Hause aus krankhaftes Individuum sei und 
sich dauernd in einem Zustande von krankhafter Störung seiner Geistesthätigkeit 
befunden habe bezw. befinde, durch welchen seine freie Willensbestimmung aus- 
geschlossen sei. 

Sanitschar, der taubstumme Wolfsknabe. Im Jahre 1867 befand sich eine 
Anzahl indischer Eingeborener in den dichten Wäldern von Bulandschahr in den 
Nordwestprovinzen Indiens auf einem Jagdzuge. Da stiessen sie auf einen umher- 
streifenden Wolf und verfolgten dessen Spur. Diese führte zu einem kleinen Hügel, 
auf dem, augenscheinlich sich sonnend, ein sonderbar aussehendes Wesen lag, das sich 
bei näherem Zusehen zum grossen Erstaunen der Jäger als ein menschliches Geschöpf 
auswies. Kaum hatte es aber die Jäger erblickt, als es sich von seinem Ruheplatze 
erhob, auf allen Vieren davonsprang und mit dem Wolf in einer Höhle verschwand. 
Die Eingeborenen zündeten nun am Eingange der Höhle ein Feuer an, um ihre 
Bewohner durch Ausräucherung zum Verlassen des Schlupfwinkels zu nötigen. Dies 
gelang. Es währte nicht lange, da stürzte das rätselhafte Wesen, vom Wolfe gefolgt, 
ins Freie und suchte zu entkommen. Die Eingeborenen warfen sich jedoch sogleich 
auf den Flüchtling und bemächtigten sich seiner nach kurzem Kampfe, wobei mehrere 
von ihnen nicht unerhebliche Bisswunden davontrugen. Es fand sich nun, dass es 
wirklich ein menschliches Wesen war, ein Knabe von 7 oder 8 Jahren, der hier 
mitten in der Urwildnis, fern von allen menschlichen Wohnungen, in Gemeinschaft 
mit einem Wolfe in dessen Höhle hauste und augenscheinlich auch dessen Lebens- 
weise angenommen hatte, denn der Knabe bewegte sich nur. auf allen Vieren und 
verteidigte sich mit seinen Zähnen. Dabei war er über und über mit Schmutz und 
Ungeziefer bedeckt, während das wirre Haar wie eine Mähne über sein Gesicht herab- 
hing, und letzteres einen wilden, unruhigen Ausdruck hatte. Der Wolfsknabe wurde 
darauf einem der englischen Mission gehörigen Waisenhause übergeben, und da er 
gerade an einem Samstag (Sanitschar) hier eintraf, gab man ihm den Namen Sanitschar. 
Anfangs schlugen alle Versuche, ihn seinem tierischen Zustande zu entreissen, fehl. 
Er wollte durchaus seine Nahrung nur am Boden zu sich nehmen, indem er die 
Pflanzenkost mit den Tippen erfasste und das Fleisch mit den Zähnen von den 
Knochen nagte wie ein Tier. Auch sein Aussehen hatte etwas Tierisches. Seine 
grossen, grauen Augen unter der niedrigen, zusammengedrückten Stirn waren in be- 
ständiger Unruhe und schielten bald dahin, bald dorthin, als ob ihm von irgend 
einer Seite ein unvermuteter Angriff drohe. Sein runzliches Gesicht trug verschiedene 
Narben, die augenscheinlich von scharfen Bissen herrührten, und die ihm wohl sein 


' 31 


ehemaliger Lagergefährte, der Wolf, beigebracht hatte. Auch an verschiedenen 
anderen Teilen seines Körpers waren solche Merkmale wahrzunehmen. Sein Kopf 
war in steter Bewegung, indem er ihn fortwährend mit einer gewissen Gleichmässig- 
keit und Schnelligkeit, wie sie den Wölfen bekanntlich eigen ist, hin und her wiegte. 
Alle seine Muskeln schienen zu zucken und er schlenkerte dabei mit den Armen, als 
ob er mit ihnen nichts anzufangen wüsste. Sobald er Hunger verspürte, pflegte er 
sich auf die Magengegend zu schlagen, während er zugleich griuste und unverständ- 
liche Laute von sich gab. Sprechen lernte er nicht, er war taubstumm. Doch fehlte 
es ihm nicht an einem gewissen Grad von Intelligenz. Durch Zeichen lernte er nach 
und nach seine Umgebung soweit verstehen, dass er alles that, was man von ihm 
wünschte. Sanitschar blieb nahezu 30 Jahre lang der Pflegling der Mission. Er 
entschlief im Jahre 1896. Über seine Herkunft ist niemals der Schleier gelüftet 
worden und sein ganzes Dasein ist ein undurchdringliches Geheimnis geblieben. 
(Jugendblätter, herausgegeben von G. Weitbrecht, Stuttgart, Jahrgang 1897, 172.) 


Litteratur. 


Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und soziale 
Bedeutung. Von Dr. med. Leopold Laquer, Nervenarzt in Frankfurt a/M. — 
Mit einem Geleitwort von Dr. med. E. Kraepelin, Professor der Psychiatrie 
in Heidelberg. Wiesbaden. Verlag von J. F. Bergmaun. 1901. 

Vorlisgendes, 62 Seiten umfassendes Schriftcnen ist der bereits in dieser Zeit- 
schrift (1900, Nr. 11) erwähnte, von dem Verfasser auf der 25. Wanderversammlung 
der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte gehaltenen Vortrag. Professor Dr. 
Kraepelin in Heidelberg gab der Schrift in Form eines Briefes ein Geleit- bezw. Vor- 
wort, in welchem u. a. gesagt wird, dass eine grosse Bedeutung der Hilfsschulen 
darin zu suchen sei, dass durch dieselben das Augenmerk der Lehrer und weiterhin 
auch der Bevölkerung auf die krankhaft veranlagten Kinder gelenkt und das Verständnis 
für ihre Eigenart geweckt werde. In dem Vorworte sowohl wie auch in der Schrift 
selbst wird dem Zusammenarbeiten des Arztes und der Lehrer an den Hilfsschulen 
entschieden das Wort geredet, und wir stimmen dem vollständig bei; wie aber nicht 
jeder Lehrer geeignet ist, an der Hilfsschule, und setzen wir hinzu, an der Anstalt 
für Schwachsinnige zu arbeiten, so taugt auch nicht jeder Arzt für diese Vor- 
anstaltungen. Von dem Arzte an der Hilfsschule und der Anstalt ist vorauszusetzen, 
dass er auch psychiatrische Bildung besitzt, und gleiches wird man auch von dem 
Lehrer verlangen müssen. Auf solche Weise werden Arzt und Lehrer mit einander zu 
arbeiten haben, nicht aber wird der eine von ihnen lediglich den Aufsichtführenden, 
Überwachenden und Kommandierenden zu spielen haben. Nach dem vorliegenden Schriftchen 
und insbesondere nach den am Schlusse desselben aufgeführten Leitsätzen teilt der 
Verfasser diese unsere Anschauung, und aus diesem Grunde möchten wir dieser Schrift 
auch unter den Ärzten eine grosse Verbreitung wünschen. S. 


32 


Briefkasten. 
H. M. i. L. Mit Dank erhalten. — R. 6. W. i. Gr. — Geschw. 6. i. H. — N. i. &. — 
M. J. i. B. — Fr. Fr. i. St. — Dir &. i. L. — St. i. L. — P. B. i. K. — Erhalten und 
Eogan Den — Dir. K. K.i. R. Erhalten. Sobald ich fertig bin, erhalten Sie Nachricht. 
— F. Fr, i. St. Mit Dank erhalten und die gewünschten Nrn. abgeschickt. — 






















Sn meinem Berlage ift erjchienen: 

R. ©. Wehle, Peftalozzisibel für den Schreib-Lefe-Unterricht zurüd- 
gebliebener Kinder. 1900. 112 ©. 8°. Preis A --,50; geb. Æ —,65. 
Begleitwort dazu mit eingehendem Urteil des Herrn Schuldirektors 

AM Kölle in Regensberg (16 S. 8°) fteht Toftenlog zu Dienften. 

R. ©. Wehle, Erfter Schreib : Qefe =- Unterricht Tchwachlinniger 

N  (fġhmwadbefähigter) Kinder. 1898. 104 ©. 8%, Preis Æ 1,50. 

R. G. Wehle, Vorübnungen zum Schreib-Lefe-Iinterricht Hwag- 
finniger Kinder. Eine Handreihung für Schule und Haus. Mit zahl- 
reichen Abbildungen und 1 Tafel. 1897. 40 ©. 8%. Preis Æ 1,50. 

Eremplare obiger Bücher ftehen den Herren Lehrern an Schulen für zurüd- 

A gebliebene Rinder, Jdiotenanftalten u. j. w. gern zur Anficht zu Dienften. 


| Hellmuth Moflermann, Berlagsbuhhandlung in Brannfchweig. 


I DI nm nm nn nn u mi ni nn nD Deu Dei DD IC 


l 


I 


DD A nn > 







Die X. Konferenz für das Idiotenwesen 
und Schulen für schwachsinnige Kinder 


findet im September 1901 in Elberfeld statt. Im Interesse der 
guten Sache bittet der Unterzeichnete etwaige auf die Konferenz bezügliche 
Anträge und Wünsche schon jetzt an ihn gelangen zu lassen und die An- 
meldung von Vorträgen bis Ende März bewirken zu wollen. 


Dalldorf. Erziehungsinspektor Hi. Piper, Vorsitzender der IX. Konferenz. 


| Direkt vom Verfasser oder durch die Schrift- 
Zu kaufen leitung dieser Zeitschrift, wie auch durch die 


K. S. Hofhuchhandlung, H. Burdach-Dresden, 
gesucht? — $i n 





Zeitschrift für das Idiotenwesen G. Nitzsche, 
1.—I YV. J ahrg ang ° 18 80—1884. Š der a T OaS 


Sowie ältere Schriften der Idioten-Litteratur, i 
z. B. Disselhof, Saegert, Helferich, Guggen- Aus der Praxis der Vorschule. 


bühl u. a. Angebote zu richten unter , Separatabdruck aus der Zeitschrift für die 
AAH 100 an die K. S. Hofbuchhandlung, Bebandlung Schwachsinniger u. Epileptischer. 
H. Burdach, Dresden. | Preis Mark 0,50. 





Inhalt: Sinnes- und Sprechübungen (Unterscheidungsübungen) in der Hilfsschule, 
(F. Loeper). — Die Bilduug des Gemüts bei den Schwachsinnigen. — Heilung eines Falles 
von epileptischem Irrsinn. — Zum Ministerial-Erlass vom 20. September 1895. — Mitteilungen: 
Augsburg, Hamburg, Gotha, Zürich. — Vermischtes: Idioten und das Strafgesetz. — Sanitschar, 
der taubstumme Wolfsknabe. — Litteratur: Die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder, ihre 
ärztliche und soziale Bedeutung. — Briefkasten. — Anzeigen. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 





en 


Nr. 3. ey (XXI) 


“Zeitschrift 


für die 


Behandlung Sehwachsinnieer wi Epileptise E 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden -Strehlen, für Nerrenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. tattgart 


Erscheint jährlich in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

mindestens einem Bogen. Anzeigen für Mä 1901 | und Postämter, wie auch direkt von der 

die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- rz . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark." | einzelne Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 








Einladung. 


Die X. Konferenz für das ldiotenwesen und die Schulen 
für schwachsinnige Kinder 


findet nach dem Beschluss der Breslauer Konferenz im September d. J. zu 
Elberfeld statt. 

Das Präsidium hat die Tage vom 17. bis 19. September für die Konferenz 
in Aussicht genommen und als Termin für die Einsendung der zu behandelnden 
Themata, Thesen u. s. w. den 10. April festgestellt. Die Vorkonferenz, in der 
über die vorgeschlagenen Themen Beschluss gefasst und das Programm der Kon- 
ferenz festgesetzt wird, soll Ende April abgehalten werden. 

Die Veröffentlichung einer statistischen Übersicht über die Idiotenan- 
stalten Deutschlands, der Schweiz, der russischen Ostseeprovinzeu und Österreichs 
hat Herr Pastor Stritter, Direktor der Alsterdorfer Anstalten (Hamburg), über- 
nommen und bitte ich etwaige Wünsche an Herrn Pastor Stritter umgehend 


gelangen zu lassen. 


Die Vorbereitungen zur Konferenz sind im besten Gange. Herr Schulrat 
Dr. Boodstein-Elberfeld, der durch seinen regelmässigen Besuch der Konferenzen 
das wärmste Interesse für unsere Arbeit bekundet und durch seine rege 
Beteiligung an unsern Debatten sein tiefes Empfinden für unsere schwachsinnigen 
Kinder offenbart hat, teilte mir mit, dass es unserer Konferenz in Elberfeld an 
ideellem wie materiellem Entgegenkommen nicht fehlen werde. 

Das Lokal-Komitee ist in der Bildung begriffen, 





34 


Für die Konferenz sind bis jetzt folgende Themata angemeldet: 
. Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine Grenzregulierung. — 
Dir. Barthold-M.-Gladbach. 


uud 


2. Die ideale Seite der Idiotenpflege. — Dir. Herberich-Gemünden. 

3. Die Aufänge des Schwachsinns. — Dir. Trüper-.Jena. 

4. Versuch einer Einteilung der Idioten. — Dir. Kölle-Regensberg. 

5. Der Formenunterricht bei Schwachsinnigen. — Dir. Kölle-Regensbery. 

6. Übersicht über die Entwicklung und den jetzigen Zustand des Idioten- 
wesens in Dänemark. — Dir. Bolstedt-Kopenhagen. 

7. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen. — Pastor Bernhard- 
Stettin, Kückenmühle. 

8. Über einige besondere Gruppen unter den Idioten. -- Dr. Berkhan- 
Braunschweig. 

9. Über den höheren Grad von Schreibstammeln. — Dr. Berkhan- 
Braunschweig. 


10. Was fordern wir von unseren Zöglingen für die Reife zur Konfirmation ? 
Pfarrer Geiger- Mosbach. 

Alle, welche sich für die Fürsorge der Schwachsinnigen interessieren, ins- 
besondere Behörden, Psychiater, Ärzte, Geistliche, Pädagogen werden zur Teil- 
nahme an dieser Konferenz freundlichst eingeladen und gebeten, Vorträge und 
Demonstrationen spätestens bis 10. April cr. bei dem unterzeichneten Vorsitzen- 


den anınelden zu wollen. Piper, Erziehungsinspektor 


der Berliner Idiotenanstalt zu Dalldort. 


Von Herrn Schulrat Pfarrer Strebel-Stetten, welcher leider verhindert ist, 
unserer Konferenz beizuwohnen, werden nachfolgende Themen zur Besprechung 
vorgeschlagen: 

1. Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitet zur Arbeit an den 
Schwachen ? 

2. Das Stabturnen in unseren Anstalten. 

3. Referat über die Pestalozzi-Fibel und das Hilfsschullesebuch. 

4. Wie kann und soll das Zeichnen von unten herauf bei den Schwachen 
getrieben werden ? 

5. Schulgarten. 

6. Mass und Art des Memorierens. 

Der Unterzeichnete bittet um Berücksichtigung obiger Themen und baldige 
Anmeldung. Est ist zu empfehlen, die Referate kurz zu halten und Leitsätze 
aufzustellen. Erwünscht ist es auch, diese Leitsätze möglichst bald bekannt zu 
geben, zu welchem Zwecke es sich empfiehlt, dieselben dem Organe der IXonferenz 
(Dir. Schröter-Dresden-Strehlen, Residenzstrasse 27) zuzustellen. Piper. 


39 


Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetzbuchs für 
Schwachsinnige und Epileptische. 
Von Dr W. Weygandt, Privatdozent in Würzburg. 

Unser seit Beginn des vorigen Jahres geltendes bürgerliches Gesetzbuch 
hat die civile Stellung der geistig abnormen Menschen neu geregelt. Die kurze 
Zeit seit der Einführung konnte freilich noch keinen feststehenden Usus in der 
Auslegung des Gesetzes bringen, doch ist sie immerhin lang genug, dass wenig- 
stens von der ärztlichen Seite die mannigfachsten Äusserungen über die Frage 
laut werden und dass auch die Anfänge einer Handhabung des einschlägigen 
Teils in der öffentlichen Praxis vorliegen und uns zeigen, wie die uns an- 
gehenden Punkte des neuen Rechts verstanden oder auch missverstanden 
worden sind. Auch alle, die sich mit der Behandlung der angeboren 
Schwachsinnigen wie der Epileptiker befassen, sollten sich über die 
fraglichen Neuerungen informieren. Die Fürsorge für jene Kategorien von 
geistig Abnormen, die sich ja vielfach wegen des dauernden Anstaltsaufenthalts 
nur noch in ganz lockerem Konnex mit ihren Familienangehörigen befinden, hat 
sich schliesslich auch auf die Überwachung und Regelung der rechtlichen Ver- 
hältnisse zu erstrecken, da hierin gerade von seiten der Eltern aus Mangel an 
Sachkenntnis viel versäumt wird. 

Für viele Idioten- und auch Epileptikeranstalten gilt als das Austrittsalter 
der Zöglinge gerade die Lebenszeit, in der ein normaler Mensch in den Voll- 
besitz der bürgerlichen Rechte gelangt. Freilich ist bisher auch der elternlose 
Idiot oder Epileptiker öfter entmündigt worden oder es konnte für einen Teil 
Deutschlands, dessen Civilverhältnisse nach dem französischen Recht geregelt 
waren, die auf ganz leichte Fälle von Defektzuständen anwendbbare „Verbei- 
standung“ in Betracht kommen, die indes für unsere Kranken eine seltene Aus- 
nahmemassregel war. Gewöhnlich wurde mit der vollständigen Entmündigung 
jede Möglichkeit, eigenen Willen zu bethätigen, ein Erwerbsgeschäft zu be- 
treiben, zu heiraten u. s. w., ganz und gar abgeschnitten. 

Hierin ist nunmehr eine weitreichende Änderung eingetreten. Überschauen 
wir nun einmal in Kürze zunächst die wichtigsten Bestimmungen des B. G.-B. 
betreffs der geistig abnormen Zustände; darauf wollen wir die Anwendbarkeit 
auf die Schwachsinnigen und Epileptiker untersuchen und schliesslich fragen, 
in welcher Weise bisher das neue Verfahren schon geübt wurde. 

Grundlegend ist der § 6: 

„Entmündigt kann werden: 

1. Wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine An- 

gelegenheiten nicht zu besorgen vermag; 
2. wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des 
Notstandes aussetzt; 

3 wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen 
vermag oder. sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aus- 
setzt oder die Sicherheit anderer gefährdet. 


36 


Die Entmündigung ist wieder aufzuheben, wenn der Grund der Ent- 
mündigung wegfällt.“ 

Die wesentlichste Neuerung für uns ist darin bereits ausgesprochen: Es 
werden 2 Entmündigungsgründe aus dem Bereich der geistigen Störungen an- 
geführt, Geisteskrankheit und Geistesschwäche. Gleich an dieser Stelle sei der 
nachdrückliche Hinweis vorweggenommen, dass es sich nach dem ganzen Ent- 
wickelungsgang des B. G.-B. wie nach dem Urteil der namhaftesten juristischen 
Kommentatoren (Planck) sowie aller irrenärztlichen Beurteiler hier nicht um 
medizinische Begriffe handelt, sondern lediglich um die Bezeichnung eines ver- 
schieden hohen Grades der geistigen Abnormität. 

Welche praktischen rechtlichen Folgen hat die Unterscheidung nach dem 
Entmündigungsgrund? 8 104 sagt hierüber aus: 

„Geschäftsunfähig ist: 

1. Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat; 

2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschliessenden Zu- 
stande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befindet, sofern nicht 
der Zustand seiner Natur noch ein vorübergehender ist; 

3. wer wegen Geisteskrankheit entmündigt ist.“ 

Die wegen Geisteskrankheit a sind also dem Kind unter 

7 Jahren gleichgestellt. 

$ 105: „Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. 

Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Be- 
wusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistesthätigkeit ab- 
gegeben wird.“ 

Während also vorübergehende Geistesstörungen, wie etwa Hypnose, Rausch, 
Fieberdelirium und auch epileptische und hysterische Dämmerzustände den Be- 
treffenden nicht geschäftsunfähig machen, ist doch durch § 105 dafür gesorgt, 
dass etwaige Handlungen, die in dem betreffenden Krankheitszustand begangen 
sind, keine Rechtskraft besitzen. 

Im Unterschied davon gilt für die aus dem 2. Grunde, wegen Geistes- 
schwäche Entmündigten, der $ 114: 

„Wer wegen Geistesschwäche, wegen Verschwendung oder wegen 
Trunksucht entmündigt ist oder wer nach § 1906 unter vorläufige 
Vormundschaft gestellt ist, steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit 
einem Minderjährigen gleich, der das siebente Lebensjahr vollendet 
hat.“ 

§ 106 bestimmt: „Ein Minderjähriger, der das siebente Lebensjahr 
vollendet hat, ist nach Massgabe der $$ 107 bis 113 in der Geschäfts- 
fähigkeit beschränkt.“ 

Wichtig ist, dass der wegen Geistesschwäche Entmündigte also den 
Minderjährigen vom 7. bis zum 21. Jahre gleichsteht. 

Was ist nun dem Entmündigten, einerlei aus welchem Grund er unter 
Vormundschaft gestellt ist, unter allen Umständen untersagt? Vor allen 
Dingen darf er „ohne den Willen seines gesetzlichen Vertreters einen Wohnsitz 


37 


weder begründen, noch aufheben“ ($ 8). Damit hat der Vormund das Recht, 
den Wohnsitz, eventuell eine geeignete Anstalt für Geisteskranke, Schwach- 
sinnige, Epileptiker oder Trinker, anzuordnen. Natürlich darf der Entmündigte 
nicht selbst zu Vormundschaftsgeschäften oder zum Familienrat herangezogen 
werden (88 1780, 1897, 1792 IV, 1915, 1694 I, 1865, 1885). Ebenso darf er weder 
Testamentszeuge noch Testamentsvollstrecker sein, noch Eheverträge schliessen. 

Der Vormund selbst ist in einer Reihe von Handlungen für seinen Mündel 
abhängig von der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, so bei der Ver- 
fügung über Grundstücke des Mündels, Pachtverträgen für denselben u. s. w. 
(S$ 1821 bis 1831). 

Zu betonen ist unter diesen Bestimmungen besonders, dass kein Ent- 
mündigter ein Testament errichten darf; aber auch ein noch nicht Entmün- 
digter Geistesgestörter ist dazu nicht berechtigt, da ja jede im Zustand der 
Bewusstlosigkeit oder der dauernden oder vorübergehenden Geistesstörung ab- 
gegebene Willenserklärung nach $ 105 nichtig ist. 

Der wegen Geisteskrankheit Entmündigte bedarf zu jedem Rechtsgeschäft 
eines Vormunds; selbst die Annahme eines Geschenkes ohne vormundschaft- 
liche Genehmigung ist nach dem Buchstaben des Gesetzes ungültig. 

In wichtigen Punkten verhält es sich anders mit den wegen Geistesschwäche 
entmündigten Personen, die dem Minderjährigen vom 7. bis zum 21. Lebens- 
jahre gleichgestellt sind. Diese Personen sind geschäftsbeschränkt und dürfen 
ohne Einwilligung des Vormundes nur solche Willenserklärungen abgeben, durch 
die sie lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangen ($ 107) Schenkungen 
können sie z. B. ohne Weiteres annehmen. Im übrigen aber bedürfen sie 
stets der Genehmigung des Vertreters und in wichtigeren Punkten auch der 
des Vormundschaftsgerichts. Hierher gehören die Schliessung eines Ehevertrags, 
durch den die allgemeine Gütergemeinschaft vereinbart oder aufgehoben wird 
(§ 1437), die Schliessung eines ehelichen Erbvertrags, die väterliche Ehelich- 
keitserklärung und Einwilligung in dieselbe, sowie aktive und passive Annahme 
an Kindesstatt (§§ 1437, 2275 U, 1729, 1751). Die Möglichkeit einer Ehe- 
schliessung, die für Geschäftsunfähige nicht besteht, ist hier besonders wichtig. 

Eine Reihe von Rechtsgeschäften familiärer Art sind auch ohne Genehmigung 
des Vormunds erlaubt: Anfechtung der Ehelichkeit ($ 1595), Anfechtung eines 
Erbvertrags, dessen Aufhebung, Rücktritt von demselben ($$ 2282 I, 2290 II, 
2296 I), Annahme des Erbverzichts ($ 2347 II) u. s. w. 

Ferner kann der Vormund dem wegen Geistesschwäche Entmündigten zu 
bestimmten Zwecken Mittel zur Verfügung stellen, über die dem Mündel im 
Umkreis des gedachten Zwecks freie Verfügung zusteht: 

$ 110: „Eine von dem Minderjährigen ohne Zustimmung des ge- 
setzlichen Vertreters geschlossener Vertrag gilt als von Anfang an wirk- 
sam, wenn der Minderjährige die vertragsmässige Leistung mit Mitteln 
bewirkt, die ihm zu diesem Zwecke oder zu freier Verfügung von dem 
Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen 
worden sind.“ 


38 


Es ist dasselbe, wie wenn ein minderjähriger Student oder ein Soldat von 
seinem Vormund einen monatlichen Zuschuss zur Bestreitung irgend welcher 
Ausgaben erhält. 

Im Anschluss daran geben die wichtigen §§ 112 und 113 dem wegen 
Greistesschwäche Entmündigten noch eine Reihe wertvoller Rechte. 

$ 112: „Ermächtigt der gesetzliche Vertreter mit Genehmigung 
des Vormundschaftsgerichts den Minderjährigen zum selbständigen 
Betrieb eines Erwerbsgeschäfts, so ist der Minderjährige für solche 
Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche der Geschäftsbetrieb 
mit sich bringt. Ausgenommen sind Rechtsgeschäfte, zu denen der 
Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf. 

Die Ermächtigung kann von dem Vertreter nur mit Genehmigung 
des Vormundschaftsgerichts zurückgenommen werden.“ 

$ 113: „Ermächtigt der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen, 
in Dienst oder in Arbeit zu treten, so ist der Minderjährige für solche 
Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche die Eingehung 
oder Aufhebung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses der gestatteten 
Art oder die Erfüllung der sich aus einem solchen Verhältnis ergeben- 
den Verpflichtungen betreffen. Ausgenommen sind Verträge, zu denen 
der Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf. 

Die Ermächtigung kann von dem Vertreter zurückgenommen oder 
eingeschränkt werden. 

Ist der gesetzliche Vertreter ein Vormund, so kann die Frmächtigung, 
wenn sie von ihm verweigert wird, auf Antrag des Minderjährigen 
durch das Vormundschaftsgericht ersetzt werden. Das Vormundschafts- 
gericht hat die Ermächtigung zu ersetzen, wenn sie im Interesse des 
Mündels liegt. 

Die für einen einzelnen Fall erteilte Ermächtigung gilt im Zweifel als 
allgemeine Ermächtigung zur Eingehung von Verhältnissen derselben Art.“ 

Die bedeutenden Konsequenzen dieser $$ sind zunächst die, dass der wegen 
(ieistesschwäche Entmündigte ein Erwerbsgeschäft betreiben darf, im Bereich 
dessen er unbeschränkt erwerbsfähig ist; natürlich unter vorheriger einmaliger 
Ermächtigung durch den Vormund mit Genehmigung des Vormundschafsgerichts. 
Ein Handwerk, ein Handelsgeschäft, Ausübung einer Kunst, Landwirtschafts- 
betrieb u. s. f., kann also auch dem wegen Geistesschwäche Entmündigten zuge- 
standen werden. Betreibt ein solcher z. B: die Schuhmacherei, so kann er 
selbständig das Leder einkaufen, Gesellen nehmen, Buchführung besorgen und 
Rechnungen ausstellen, ja selbständig Prozesse führen, die sich aus seinem Ge- 
schäftsbetrieb ergeben. 

Betreffs des Entmündigungsverfahrens sei nur soviel erwähnt, dass zu- 
nächst ein Antrag von seiten eines nahen Verwandten nebst ärztlichem Zeugnis 
einzureichen ist, worauf Zeugen und vor allem ein ärztliches Gutachten her- 
beigeliefert werden muss. Der Richter ist in seiner Entscheidung nicht an die 
Ansicht des Gutachtens gebunden. 


39 


Im Anschluss an die Entmündigungsvorschriften müssen wir hier noch 
eine andere Form gesetzlicher Fürsorge erwähnen, die mit der „Verbeistandung“ 
in Anlehnung an den Code civile verwandt ist: 


8 1910: „Ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, 
kann einen Pfleger für seine Person und sein Vermögen erhalten, wenn 
er infolge körperlicher Gebrechen, insbesondere weil er taub, blind 
oder stumm ist, seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag. 

Vermag ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, in- 
folge geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne seiner Angelegen- 
heiten oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere 
seine Vermögensangelegenheiten, nicht zu besorgen, so kann er für 
diese Angelegenheiten einen Pfleger erhalten. 

Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des Gebrechlichen an- 
geordnet werden, es sei denn, dass eine Verständigung mit ihm nicht 
möglich ist.“ 

Es handelt sich bei dieser Pflegschaft also um eine partielle, freiwillige, 
vormundschaftliche Fürsorge, deren Wiederaufhebung jederzeit in der Hand des 
Pflegebefohlenen selbst liegt. 

Angefügt seien nun noch einige Worte über das Eherecht, das freilich 
bei angeboren Schwachsinnigen selten, eher noch einmal bei Epileptikern in 
Frage kommen wird. 


$ 1325: „Eine Ehe ist nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit 
der Eheschliessung geschäftsunfähig war oder sich im Zustand der 
Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistesthätigkeit 
befand. 

Die Ehe ist als von Anfang an gültig anzusehen, wenn der Ehe- 
gatte sie nach dem Wegfalle der Geschäftsunfähigkeit, der Bewusst- 
losigkeit oder der Störung der Geistesthätigkeit bestätigt, bevor sie für 
nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist. Die Bestätigung bedarf nicht 
der für die Eheschliessung vorgeschriebenen Form.“ 


Auch die Möglichkeit einer arglistigen Täuschung wäre unter Umständen 
bei Epileptikern zuzugeben: 


§ 1334: „Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden, 
der zur Eingehung der Ehe durch arglistige Täuschung über solche 
Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und 
bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung 
der Ehe abgehalten haben würden. Ist die Täuschung nicht von dem 
anderen Ehegatten verübt worden, so ist die Ehe nur dann anfechtbar, 
wenn dieser die Täuschung bei der Eheschliessung gekannt hat. 

Auf Grund einer Täuschung über Vermögensverhältnisse findet die 
Anfechtung nicht statt.“ 


Erfährt z. B. der eine Ehegatte nach der Eheschliessung, dass der andere 
an epileptischen Anfällen oder Dämmerzuständen leidet, so kann er hinterher 


40 


die Ehe auf Grund dieses $ anfechten. Freilich richtet sich die Entscheidung 
nach der Eigenart des Falles. 

Von der Ehescheidung handelt $ 1569: 

„Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn der andere Ehe- 
gatte in Geisteskrankheit verfallen ist, die Krankheit während der 
Ehe mindestens 3 Jahre gedauert und einen solchen Grad erreicht 
hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben, 
auch jede Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft aus- 
geschlossen ist.“ 

Angeborener Schwachsinn kommt hier nicht in Betracht. Wohl aber ist 
der Fall möglich, dass ein Ehegatte allmählich in hochgradigen epileptischen 
Blödsinn verfällt, worauf dann nach 3 Jahren die Scheidung ausgesprochen 
werden kann, da die Krankheit unheilbar ist und der Zustand eine geistige 
Gemeinschaft ausschliesst. Freilich angesichts der Erfahrung, dass Epileptiker 
vielfach schon in früheren Lebensjahren verblöden, wird die erwähnte Konstellation 
nicht häufig eintreten. In praxi pflegt das Volk grade von dem $ 1569, bez. 
den einschlägigen Bestimmungen des früheren Rechts über Ehescheidung wegen 
Geistesstörung, nur ganz selten Gebrauch zu machen. Zu beachten ist noch, 
dass vor dem Riohterspruch ein ärztliches Gutachten eingeholt werden muss. 


Viel häufiger wird die Deliktsfähigkeit bei unseren Kranken in Frage 
kommen. Bekanntlich ist das Kind unter 7 Jahren für einen Schaden, dem 
es verursacht, gar nicht verantwortlich, ein Minderjähriger vom 7. bis 18. Jahr 
nur dann, wenn er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit nötige Einsicht 
hat ($ 828). Für geistig abnorme Personen gilt $ 827: 

„Wer im Zustande der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie 
Willensbestimmung ausschliessenden Zustande krankhafter Störung der 
Geistesthätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden 
nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähn- 
liche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so 
ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustande widerrechtlich 
verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässig- 
keit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne 
Verschulden in den Zustand geraten ist.“ 

Die Bestimmung steht in Füblung mit dem wichtigen $ 51 des Straf- 
gesetzbuchs für das Deutsche Reich und will unter „freier Willensbestimmung“ 
auch nichts anderes verstehen als „die regelgemässe Bestimmbarkeit durch 
Vorstellungen“, wie es der Strafrechtslehrer Professor von Liszt in Berlin aus- 
drückt. Der selbstverschuldete Rausch gilt nicht als Ausrede; wohl aber kann 
ein Epileptiker, der alkoholintolerant ist und deshalb nach Genuss von 1 bis 2 
Glas Bier schon in einen pathologischen Rauschzustand gerät, in dem er ver- 
schiedenes zerstört, den letzten Absatz des $ zu seinen Gunsten geltend machen; 
hatte er aber bereits öfter Gelegenheit zu erfahren, dass er eben überhaupt 
keinen Alkohol verträgt, so gilt auch sein pathologischer Rausch, der durch den 


41 
Genuss ganz geringer Mengen geistiger Getränke provoziert ist, als ein selbst- 
verschuldeter. 

Besonders zu bemerken ist aber noch, dass jemand, der aus den soeben 
besprochenen Gründen für den verursachten Schaden nicht verantwortlich ist, 
gleichwohl den Schaden insoweit zu ersetzen hat, 

„als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den 
Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm 
nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum standesgemässen Unter- 
halte sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltungspflichten 
bedarf“ ($ 829). 

Diese Ersatzpflicht gilt also, wenn ein reicher Epileptiker in einem Dämmer- 
zustand ein Haus ansteckt, auch für den Fall, dass die Frage nach der 
kriminellen Verantwortlichkeit verneint wird. Geschieht aber die gleiche Hand- 
lung von seiten eines Unvermögenden, so kann von ihm kein Schadenersatz 
verlangt werden. 

Schliesslich ist noch nachzutragen, dass die That eines, der wegen Minder- 
Jährigkeit oder wegen seines geistigen oder körperlichen Zustandes der Beauf- 
sichtigung bedarf, die zur Beaufsichtigung verpflichtete Person ($ 832) verant- 
wortlich ist, also etwa der Vater oder auch bei internierten Geistesschwachen 
oder Epileptikern der Direktor der betreffenden Anstalt. Immerhin wird diese 
Ersatzpflicht, die ja bei rigoroser Handhabung für die Anstaltsleiter manchmal 
die übelsten Konsequenzen haben könnte, dann nicht geltend gemacht, wenn 
der Aufsichtführende 

„seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei ge- 
höriger Aufsichtsführung entstanden wäre“ ($ 832). 

Wenn wir fragen, welche Anwendung die soeben vorgeführten rechtlichen 
Bestimmungen auf die uns hier näher interessierenden Kranken, auf angeboren 
Schwachsinnige und Epileptiker finden, so müssen wir noch einmal betonen, 
dass der gesetzliche Begriff der Geistesschwäche nichts zu thun hat mit dem 
medizinischen, wie er sich gerade auch in der vorliegenden Zeitschrift aus- 
spricht (Gemeiniglich stellt man die Geistesschwäche als einen bleibenden 
Zustand auf angeborener oder in frühester Jugend erworbener Grundlage den 
Geisteskrankheiten als den erworbenen Prozessen gegenüber. Aber ärztlicher- 
seits ist man sich längst darüber klar, dass dieser Geistesschwäche ebenso gut 
pathologische Verhältnisse in dem Träger der seelischen Erscheinungen, der 
Grosshirnrinde, parallel gehen, wie jeder anderweitigen geistigen Abnormität, 
dem Altersblödsinn, dem Säuferwahnsinn und wie sie alle heissen. Die ärztlicher- 
seits nur geduldete, aber nicht voll begründete Gegenüberstellung von Geistes- 
schwäche und Geisteskrankheit hat nichts mit jenen 2 Begriffen des B. G.-B. zu 
thun, die vielmehr nur 2 Zustände geistiger Abnormität von verschieden hohem 
Grad ausdrücken sollen. Es kommt jedesmal auf die rechtlichen Folgen an. 
Der Geistesgestörte, der noch in gewissem Umfang ein Erwerbsgeschäft be- 
treiben, eine Dienststellung versehen und schliesslich auch in die Ehe treten 
kann, aber doch eines gesetzlichen Schutzes bedarf, wird wegen Geistesschwäche 


42 


entmündigt, jeder tiefer stehende Geistesgestörte jedoch wegen Geisteskrankheit 
mit ihren weiter reichenden Konsequenzen. 

Eine Aufteilung der einzelnen Psychosen nach diesem Gesichtspunkt ist 
unmöglich, es muss vielmehr von Fall zu Fall gerechnet werden. Im ganzen 
kann man wohl sagen, dass die schweren Geisteskrankheiten mit progressivem 
Verlauf mehr der schweren Form der Entmündigung bedürfen, so die progressive 
Paralyse, der Altersblödsinn, auch die schwereren Fälle der jugendlichen Ver- 
blödungsprozesse u. s. w. Die periodischen Störungen nehmen eine Sonder- 
stellung ein. Wegen Geistesschwäche entmündigen wird man am ehesten Leute 
mit Krankheiten wie die systematisierende Paranoia, der Querulantenwahn, 
dann die als Psychoneurosen bezeichneten Fälle wie schwere Hysterie, kon- 
stitutionelle Neurasthenie u. s. w. Aber alle diese diagnostischen Unterschiede 
geben keine von vornherein sicheren Gesichtspunkte für die gerichtsärztliche 
Entscheidung ab, sondern lediglich die Erwägung: ist der geistige Defekt derart, 
dass der Betreffende noch unter gewissen Einschränkungen einzelne Rechtsge- 
schäfte ausführen kann, oder bedingt er vollkommene Geschäftsunfähigkeit? 

Grade so werden wir auch in den Fällen des angeborenen Schwachsinns 
fragen müssen nach dem Grade der Störung. Einen Fingerzeig kann uns hier 
der Klassifikationsmodus Wildermuths geben, der von der Untersuchung aus- 
geht: welcher Bildungsstufe des normalen Kindes entspricht der Zustand der 
Entwicklungshemmung des Idioten oder Imbezillen? Wir hätten somit eine 
ungefähre Parallele zu der gesetzlichen Gleichstellung der wegen Geisteskrank- 
heit Entmündigten und der Kinder unter 7 Jahren einerseits und der wegen 
Greistesschwäche Entmündigten und der Unmündigen vom 7. bis 21. Jahr. Die 
Idioten gehören jedenfalls in die Kategorie der Geschäftsunfähigen. Bei ihnen 
muss der Vormund für alle Rechtsgeschäfte eintreten. Aber auch ein grosser 
Teil der Imbezillen ist dahin zu zählen, trotzdem gerade diese Gruppe oft als 
die Geistesschwachen im engeren Sinn den völlig blödsinnigen Idioten einerseits 
und den an erworbenen Psychosen Leidenden andererseits gegenübergestellt 
werden. Die Frage nach der entsprechenden Entwicklungsstufe beim normalen 
Menschen lässt sich für zahlreiche Imbezillitätsfälle gar nicht beantworten. Es 
ist ratsam, sich im praktischen Fall immer darüber zu orientieren, ob der Im- 
bezille auch im stande ist, die Konsequenzen der Entmündigung wegen Geistes- 
schwäche zu erfüllen. Die bei weitem wichtigsten dieser Konsequenzen sind 
einmal die Betreibung eines Erwerbsgeschäfts ($ 112), dann die Eingehung eines 
Dienstvertrags ($ 113), sowie die Eheschliessung, alles natürlich mit vormund- 
schaftlicher Genehmigung. So wünschenswert die Durchführung der beiden 
ersten Möglichkeiten, die den Imbezillen in den Stand setzen, alle seine Kräfte 
auszunutzen, auch vom sozialen Standpunkt ist, so muss doch untersucht werden, 
ob der Geistesschwache über einen gewissen Grad von Selbständigkeit und 
Widerstandsfähigkeit gegen fremde Einflüsse verfügt, ohne den ein Erwerbs- 
geschäft nicht betrieben werden kann. 

Bei der Eheschliessungsfrage ist zu bedenken, dass da auch für den Geistes- 
gesunden gewisse Einschränkungen bestehen: der Mann wird erst mit der Voll- 


43 


jährigkeit ehemündig, eine Frau mit dem 16. Lebensjahr ($ 1303). Vor allem 
ist zu überlegen, dass vom sozialhygienischen Standpunkt aus die Eheschliessung 
Geistesgestörter wegen der Vererbungsgefahr unerwünscht ist und deshalb in 
manchen Fällen gerade die Entmündigung wegen Geisteskrankheit angebracht 
sein kann, die eine Verehelichung des Entmündigten unter allen Umständen 
ausschliesst.. Es wird mit diesem Eheverbot Geisteskranker, wie man sich von 
einer Seite ausdrückte, „ein Wall gegen die progressive Degeneration der Rasse 
aufgeworfen“. 

In diesem Sinn der Entmündigunz wegen Geisteskrankheit wurde z. B. 
folgender Fall einer 34 jährigen Imbezillen entschieden. Der Vater derselben war 
Säufer. Sie kam schon in der Volksschule nicht mit, war später ausser stand, 
sich selbständig durchs Leben zu bringen und bekam ein uneheliches Kind nach 
dem anderen. Man brachte sie in einer Kreispflegeanstalt unter, wo sie aber 
von einem Wärter Zwillinge bekam. Darauf wurde sie in einer Irrenanstalt 
interniert und der Entmündigungsantrag gestellt. 

Patientin hat kurzen Schädel und niedere Stirn; der Gesichtsausdruck ist 
blöd und schlaff; der Gaumen steil und das Zäpfchen seitlich geneigt. Die 
Sprache ist näselnd; die Sehschärfe gering. Der Kniescheiben-Sehnenreflex war 
etwas lebhaft, sonst bestand keine körperliche Abweichung. Patientin fasste 
die Fragen richtig auf, war besonnen und geordnet; örtlich gut, zeitlich aber 
mangelhaft orientiert. Sie antwortete sinngemäss, doch etwas weitschweifig. 
Ganz leichte Rechenaufgaben konnte sie lösen; die geschichtlichen und 
geographischen Kenntnisse waren gleich Null. Sie hatte keinerlei Krankheits- 
einsicht, vielmehr meinte sie, sie habe ihren Verstand und könne arbeiten. Sie 
machte sich gar kein Gewissen daraus, dass sie schon 8 uneheliche Kinder ge- 
boren, nur das einzige Bedenken äusserte sie „wegen dem Durchmachen bei 
der Geburt“. In kindlicher Weise meinte sie, die Sache wäre erledigt, denn 
der „Herr Amtmann habe ihr diesmal noch verziehen“; sie habe aber jetzt dem 
Amtmann versprochen, es käme nichts mehr vor. Den Heiratsversprechungen 
des Wärters hatte sie blindlings geglaubt. Wenn sie zur Arbeit angehalten 
wurde, half sie fleissig im Haushalt der Krankenabteilung mit. Sie war manch- 
mal etwas rührselig, doch im ganzen apathischer Stimmung. 

Die Stufe geistiger Entwickelung entsprach ungefähr der eines Schulkinds 
in den unteren Schulklassen. Wenn sie auch in bescheidenem Maße arbeits- 
fähig war und eine ganz leichte Dienststellung wohl hätte versehen können, 
musste man sie doch als gänzlich unfähig zur Vollziehung irgend welcher 
Rechtsgeschäfte bezeichnen und anlässlich dieser Geschäftsunfähigkeit das Gut- 
achten auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit stellen. (Schluss i. nächst. Nr.) 


Mitteilungen. 
Leipzig. (Christbescherung, Mittagtisch, Milchspende) Am 18. Januar 
nachmittags 3 Uhr fand in der hiesigen Hilfsschule die diesjährige Christbescherung 
statt. 51 Knaben und 35 Mädchen, die bedürftigsten und würdigsten unserer gegen- 


44 


wärtig 191 Schüler, wurden mit wertvollen Geschenken reich bedacht. Sie erhielten 
je nach Bedürfnis schwarzen Stoff zur Konfirmandenausstattung oder auch fertige 
Kleider, ganze Anzüge oder einzelne Kleidungsstücke, Schuhwerk, Strümpfe, Hemden, 
Taschentücher, Mützen und dergleichen brauchbare Suchen, und schliesslich fehlte auch 
das Päcktchen Pfefferkuchen nicht. Die Summe, welche für all die Geschenke ver- 
ausgabt wurde, betrug 795 Mk. 81 Pf. 

Mit der Bescherung, die im Betsaale der 3. Bürgerschule, in deren Räumen die 
Hilfsschule mit untergebracht ist, abgehalten wurde, verband sich eine einfache, würdige 
Feier. Es hatten sich zu dieser ausser dem Lehrerkollegium Eltern, Geschwister und 
Verwandte der Kinder, Freunde und Gönner der Schule zahlreich eingefunden und 
füllten den im hellen Lichterscheine des Christbaumes erglänzenden Saal. Nach dem 
Gesange der ersten zwei Verse des Chorals „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ — 
hielt zunächst einer der Kollegen eine kurze Ansprache an die Kinder, in die sich an 
geeigneter Stelle die Erzählung der Geschichte von der Geburt Christi seitens eines 
Schülers einfügte. Anknüpfend an das Wort des Engels: „Siehe, ich verkündige euch 
grosse Freude“ legte er den Kindern klar, welche Freude den Menschen und also 
auch ihnen die Geburt des Heilandes, des Freundes der Armen und Verlassenen, 
gebracht habe, wies sie dann darauf hin, wie christliche Liebe ihnen heute eine rechte 
Weihnachtsfreude bereite, und forderte sie auf, nun durch gutes Verhalten in und 
ausser der Schule und durch rechte Wertschätzung der empfangenen Gaben den Dank 
gegen die mildherzigen Geber zu beweisen. Hierauf folgte das Lied: „O du fröhliche, 
o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit —“, worauf der Direktor Gelegenheit 
nahm, unter Zugrundelegung des Bibelwortes: „Die Liebe höret nimmer auf“ ein- 
dringliche Ermabnungen an die Eltern und Angehörigen der Kinder zu richten, dass 
sie nun auch ihrerseits die Liebe, die auch ihnen widerfahre, vergelten möchten und 
zwar durch das Festhalten an dem Glauben, der Liebe und der Hoffnung zu Gott, 
durch wahre Gegenliebe zu den Mitmenschen und durch rechtes Verhalten ihren Kindern 
und der Schule gegenüber. Zum Schluss folgte die Vorführung der Lieder: „Es ist 
ein’ Ros’ entsprungen —‘“ und „Grosser Gott, wir loben dich —“, die wie die vorher- 
gehenden Gesänge in ansprechender Weise und mit Ausnahme des Chorals zweistimmig 
von dem sich ans den besseren Sängern der oberen vier Klassen bildenden Sängerchor 
ausgeführt wurden. 

Die Christbescherung war die neunte, die wir für unsere Kinder veranstalteten. 
Die grosse Not, in der sich viele von ihnen befinden, führte schon vor Jahren dazu, 
helfend einzugreifen. Es machte sich dies insbesondere auch deshalb nötig, weil nur 
verhältnismässig wenige unserer Armen bei den stattfindenden Öffentlichen Bescherungen 
anzubringen waren. Am 17. Januar 1893 konnte das erste Mal beschert werden. 
238 Kinder (12 Knaben und 11 Mädchen) erhielten vor allem die ihnen nötigen 
Kleidungsstücke. Dazu standen 133 Mk. zur Verfügung, die auf Bittgänge und Bitt- 
schriften hin der Rat der Stadt und opferwillige Menschonfreunde spendeten. Doch 
schon ein Jahr darauf war es möglich, mit reichlicheren Mitteln ans Werk zu gehen, 
Zu Pfingsten 1893 erschien „zum Besten einer Christbescherang für arme schwach- 
sinnige Kinder“ die Schrift: „Die Leipziger Schwachsinnigenschule nach ihrer Geschichte 
und Entwicklung“, von dem Verfasser, Direktor Karl Richter, „allen Teilnehmern an 


Da 


der 30. Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung in Leipzig als Gruss, allen hilfs- 
bereiten und opferfreudigen Menschenfreunden Leipzigs als Weckruf entboten.“ Das 
Schriftchen brachte einen reichen Ertrag durch die willige Abnahme in Lehrerkreisen 
und nach seiner Versendung an edle Wohlthäter der Stadt, die für die bedauerns- 
wertesten aller Armen gern ihre milde Hand aufthaten. Sie wandten ihr hilfsbereites 
Herz der guten Sache auch weiterhin zu und liessen uns bei den nun alljährlich 
unternommenen Sammlungen, denen eine herzliche Bitte unter Beigabe eines gedruckten 
Jahresberichtes vorausging, nie leer ausgehen. Und da es gelang, den Kreis hoch- 
herziger Geber nach und nach zu erweitern, so dass die Quellen thatkräftiger Liebe 
von Jahr zu Jahr reichlicher flossen, vermochte sich die Christbescherung, die sich 
seit 1892 alljährlich wiederholte, zu dem erfreulichen Umfange auszugestalten, in dem 
sie sich nun darstellt. Sie wurde, wie aus dem früher Angeführten ersichtlich ist, 
in der Regel erst nach dem Weihnachtsfeste abgehalten, damit nicht diejenigen Kinder, 
die etwa bereits anderwärts bedacht werden, — deren sind gegenwärtig allerdings 
kaum noch einige, — zu Ungunsten anderer doppelt berücksichtigt würden. Die 
Bescherungsfeier hielten wir anfangs nur ganz unter uns im Speisezimmer der Schule 
ab. Im Januar 1897 erfolgte sie, wie nun auch in den kommenden Jahren, Öffentlich 
im Saale der 3. Bürgerschule, wozu die Angehörigen der Kinder, sowie die Freunde 
und Gönner der Schule in zwei hiesigen Tagesblättern eingeladen wurden. 

Der Segen, den die Christbescherungen unseren armen Schwachsinnigen bringen, 
ist ein reicher. Wieviel Gutes sie aber auch stiften, sie vermögen doch nur die eine 
Seite leiblicher Not lindernd zu beeinflussen, den Mangel an den nötigen Kleidungs- 
stücken. Schlimmer noch als dieser wirken die Schädigungen auf unsere Kinder, 
denen viele infolge ungenügender Nahrung ausgesetzt sind, da sie für die Entwicklung 
von Körper und Geist gleich nachteilig sind. Um diesem Übel mit Erfolg entgegen- 
zutreten, galt os, die kräftigsten Hebel anzusetzen. Zwei Einrichtungen sind es, die 
hier helfend eingreifen: die Gewährung des Mittagtisches und die Ver- 
abreichung von Milch zum Frühstücke. 

Als Leipzig in den Jahren 1889 bis 1892 16 Vororte einverleibte und das 
neue Lokalstatut den hiesigen Volksschulen die Ausscheidung schwachsinniger Schüler 
zur Pflicht machte, da wuchs nicht allein die Hilfsschule an ihrer Schülerzahl, sondern 
es erweiterte sich auch ihr Schulbezirk ganz bedeutend. Obwohl für die westlichen 
Vororte, wie auch für die nördlichen besondere Hilfsklassen geschaffen wurden, ver- 
blieb doch der Hilfsschule ausser der alteu Stadt, die sich weit nach Süden erstreckt, 
insbesondere der volkreiche, ausgedehnte Osten. Da hatten nun viele Kinder einen 
recht weiten Schulweg; manche mussten wohl bis zu dreiviertel Stunde gehen. An 
den Tagen, an denen nur vormittags Schule war, mochte dies sein, da ja der Unter- 
richt auch im Sommer von 8—12 Uhr liegt; aber es bestand schon damals ein 
Schulnachmittag (Dienstag 2—4 Uhr), und dem sollten sich noch zwei Nachmittage 
(Donnerstag und Freitag) beigesellen. Da wäre es freilich manchen Kindern, die weit 
weg wohnten, vor allem den vielen körperlich schwächlichen, kaum möglich gewesen, 
in der Mittagspause zurecht zu kommen, ohne sich übermässig anzustrengen. Diesem 
Übelstande musste entgegengetreten werden, wenn unserer Schule solche Schüler 
erhalten bleiben sollten, zumal damals von anderer Seite angestrebt wurde, ihnen in 


46 


ihren Wohnbezirken Hilfsklassen errichten zu lassen, ein Vorhaben, dessen Ausführung 
für das hiesige Hilfsschulwesen einen entschiedenen Rückschritt bedeutet und ins- 
besondere unsere Hilfsschule dazu verurteilt hätte, auf dem Standpunkte einer 
geringeren Gliederung zu verharren. Daher war es unerlässlich, eine Einrichtung 
zu treffen, die es den entfernt wohnenden Kindern ermöglichte, über Mittag in der 
Schule zu bleiben. Dies aber konnte nicht anders geschehen, als dass ihnen in dieser 
Zeit ausser einer geregelten Aufsicht und einer angemessenen, der Erholung dienenden 
Beschäftigung und Unterhallung ein warmes Mittagessen geboten wurde. Auf 
eine dem entsprechende Eingabe erteilten die städtischen Behörden dazu ihre Ge- 
nehmigung und bewilligten die erforderlichen Mittel. 

Nachdem ein Lehrzimmer von genügender Grösse als Speisesaal hergerichtet 
worden war und die zur Speisung nötigen Geräte (lange Tafeln und Bänke dazu, 
Tischtücher von Wachsleinewand, tiefe, unzerbrechliche Teller und Löffel, Servietten 
mit Bändern zum Umbinden um den Hals) zur Stelle waren, trat die neue Ordnung 
am 20. Oktober 1891 in Kraft. 60 Kinder wurden in Übereinstimmung mit den 
Eltern zum Dableiben über Mittag angenommen, etwa dreifünftel unserer gesamten 
Schüler, ein Prozentsatz, der sich im Verlaufe der folgenden Schuljahre im ganzen 
gleichgeblieben ist, da in diesen die Zahl der Dableibenden im gleichen Verhältnisse 
mit der Schülerzahl wuchs. Gegenwärtig beträgt die Zahl der Speisenden etwa 120 
bei einer Gesamtschülerzahl von rund 200. 

Mit der Zunahme der Teilnehmerzahl steigerte sich natürlich auch der Beitrag 
zu den Kosten der Speisung, den die Stadt gewährte. Er betrug im ersten Jahre 
500 Mk., stieg aber schon im darauffolgenden auf 700 und sofort um etwa 100 Mk. 
Jährlich. Als dann die Hilfsschule mit Ostern 1898 ihren Wirkungskreis dadurch 
erweiterte, dass sie insbesondere für diejenigen Kinder, die auch an den noch freien 
Nachmittagen der Überwachung bedurften, Montag und Mittwoch von 2—4 Uhr 
Beschäftigungsstunden einrichtete, da erhöhte sich der städtische Zuschuss mit einem 
Male auf beinahe 2000 Mk., welche Summe die Stadt nun jedes Jahr beisteuert. 
Ein kleinerer Teil des Speisegeldes wird von den Kindern aufgebracht. Es wurde 
von Anfang an darauf Bedacht genommen, dass Kinder bemittelter Eltern ihr Mittag- 
essen bezahlen sollten und zwar mit 10 Pf. für die Mahlzeit. Da jedoch kaum das 
Drittel aller Teilnehmer imstande ist, diesen geringen Preis zu entrichten, so waren 
es selbst in den letzten Jahren nur knapp 500 Mk., die dadurch zusammenkamen. 
So gestaltet sich die Einrichtung des Mittagtisches, zu dem im Laufe der Zeit noch 
dieses und jenes arme Kind, das nicht gerade entfernt wohnt, zugelassen wurde, zu 
einer ganz besonderen Wohlthat. 

Das Essen wird aus der nahen Speiseanstalt von dem Schulaufwärter in Eimern 
geholt und von ihm den Kindern in tiefe Toller zugeteilt. Für jedes derselben ist 
eine halbe Portion gerechnet, das ist ein halbes Liter Gemüse und Fleisch dazu. Um 
möglichst kräftige Nahrung zu bieten, wurde meist die Portion ınit doppeltem Fleisch- 
auteile bezogen, die dann 25 Pf. kostete, seit kurzem aber mit 28 Pf. berechnet wird. 
(Der Preis der gewöhnlichen Portion belief sich früher auf 17 und beträgt jetzt 
20 Pf.) Das Fleisch ist geschnitten dem Gemüse beigemengt und wird mit diesem 
mittelst des Löflels genossen. Die Speiseanstalt hat immer das Essen nicht so kärg- 


47 


lich bemessen, sv dass Kinder mit stärkerem Appetite durch Überreichung mehrerer 
Teller vollauf befriedigt werden konnten. Das Mahl beginnt und endet mit Gebet, 
das von den Speisenden gemeinsam gesprochen wird. Die Aufsicht über Mittag führen 
die Lehrer abwechselnd. Früher genügte hierzu eine Kraft. Als aber die Teilnehmer- 
zıhl zunahm, wurden seit Ostern 1895 je zwei, seit 1896 je drei damit betraut. 

Hand in Hand mit der Gewährung des Mittagessens schreitet in Verfolgung des 
gleichen Zweckes die Milchspende. Sie ist allerdings viel später als jene ein- 
gerichtet, obgleich der Wunsch nach ihr schon längst gehegt und bereits im Jahre 
1893 in dem oben erwähnten Schriftchen (S. 58) vor der Öffentlichkeit ausgesprochen 
wurde. Erst als bei den früher erwähnten jährlichen Sammlungen einige Jahre nach 
ihrem Beginne die Gaben reichlicher eingingen, war es möglich, jenen Wunsch seiner 
Erfüllung entgegenzuführen; denn bei der grossen Opferfreudigkeit, mit welcher die 
städtischen Behörden unserer Schule in allen Obliegenheiten und so auch bei der 
Einrichtung des Mittagtisches entgegenkamen, wäre es wuhl ein Missbrauch ihrer Güte 
gewesen, auch hier an ihre Hilfe zu denken. Nun hatte zwar die Speisung schon 
seit Jahren ihre woblthätige Wirkung entfaltet; aber sie erstreckte sich doch ihrer 
Bestimmung gemäss nicht ausschliesslich auf alle die Kinder, auf die es hier abgesehen 
werden musste, und dann waren auch viele unter diesen, die ob ihrer grossen körper- 
lichen Schwäche der von zwei Seiten kommenden Aufhilfe dringend bedurften. So 
wurde die Darreichung von Milch an unsere blutarmen und schwächlichen Kinder zur 
unabweisbaren Notwendigkeit. 

Um nun bei der Auswahl der Trinkenden möglichst gewissenhaft zu verfahren, 
wurde der Schularzt zur Untersuchung der Kinder herangezogen. Es wurden 154, 
d. i. reichlich dreiviertel aller unserer Schüler, als die bedürftigsten ausgewählt, eine 
Zahl und ein Verhältnis, die sich auch in den kommenden Jahren bei dem ungefähr 
gleichen Schülerbestande der Schule im ganzen gleichgeblieben sind und eine deutliche 
Sprache reden von dem grossen Elende, dem hier begegnet wurde. 

Die Verabreichung von Milch begann am 18. Januar 1897 und dauarte zunächst 
bis Ostern. Sie fand dann in den folgenden Schuljahren in der Hauptsache in den 
kühleren Monaten Oktober bis mit April statt. Im Anfange geschah sie am Montag, 
Mittwoch und Sonnabend, an den Tagen, an denen damals noch kein Nachmittags- 
unterricht und also keine Speisung war, und zwar in der Frühstückspause. Vom 
1. Oktober 1899 an wurde täglich getrunken und dabei insofern eine Änderung ge- 
troffen, als dies nun von Montag bis mit Freitag um 9 Uhr geschieht, damit bis zum 
Mittagessen die zur Verdauung nötige Pause dazwischen liegt. Für den Sonnabend 
wurde der frühere Zeitpunkt beibehalten. 

Jedes Kind erhält !/, Liter warme, sterilisierte Vollmilch, die von einer hiesigen 
Dampfmolkerei in dichtverschlossenen Flaschen zu dem freilich nicht geringen Preise 
von je 7 Pf. in die Schule geliefert wird. Die Kinder trinken im Speisesaale unter 
Aufsicht ihrer Lehrer und zwar aus emaillierten, unzerbrechlichen Bechern. 

Die besser gestellten Eltern werden auch hier wie beim Essen zur Bezahlung 
veranlasst. Es betrifft dies allerdings nur etwa das reichliche Drittel aller Teilnehmer, 
und darunter ist wieder nur ungefähr der dritte Teil, welcher den vollen Betrag er- 
stattet, während die übrigen nur je 5 Pf. entrichten. Auf diese Weise konnten auch 


48 





körperlich kräftige Kinder auf Wunsch der Ihrigen gegen Erlegung des vollen Betrags 
teilnehmen, welche Gelegenheit z. B. im Schuljahre 1899/1900 9 Knaben und 
9 Mädchen benutzten. In eben diesem Jahre, in welchem auch im Sommer und zwar 
wöchentlich dreimal Milch gereicht wurde, beliefen sich die Beiträge der Kinder auf 
659 Mk. 81 Pf. 1423 Mk. 60 Pf. aber wurden den Mitteln entnommen, die 
menschliche Barmherzigkeit zur Linderung der leiblichen Not unserer armen Schwach“ 
sinnigen spendete. H. Müller. 


Litteratur. 


Schulhygiene-Hefte. Herausgegeben von H. Piper, Erziehungsinspektor 
der Berliner Idiotenanstalt und J. Kelemann, Oberlehrer a. d. staatl. Erziehungs- 
anstalt für schwachs. Kinder in Budapest. 6 Hefte à 10 Pfg. Verlag von 
Heinrich Titelmann. Berlin C., Stralauerstr. 11. — 

In den vorliegenden Heften ist der Grundsatz streng durchgeführt, nach welchem 
den Kindern zu derselben Zeit immer nur eine Schwierigkeit zu überwinden zugemutet 
werden soll. Heft 1 enthält nur die Grundlinien und zwar in einer Entfernung von 
8 mm, während in Heft 2 dieselben Linien in einer Weite von 4 mm erscheinen. 
Heft 3 enthält neben den Grundlinien die oberen und Heft 4 die unteren Hilfslinien, 
während aber die Grundlinien die rote Farbe tragen, sind die Hilfslinien schwarz 
ausgeführt. Heft 5 und 6 geben die vollständige Liniatur; in dem ersten erscheinen 
die aufeinanderfolgenden Hilfslinien ziemlich entfernt von einander, während in dem 
lotzten Hefte die Weite der Linien die allgemein übliche ist. Die Grundlinien tragen 
aber auch hier die rote Farbe. — Es unterliegt keinem Zweifel, dass die aus der 
Praxis herausgewachsenen Schreibhefte überall da, wo besondere Schwierigkeiten zu 
überwinden sind, als sehr praktisch sich erweisen werden. — 

Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Von Dr. P. 
J. Möbius. II. Auflage Halle a/S. Verlag von Carl Marhold. 1901. 

Auf die erste Auflage des Schriftchens wurde in dieser Zeitschrift bereits in 
Nr. 11 vom vorigen Jahre aufmerksam gemacht. Der Inhalt der 2. Auflage ist 
derselbe geblieben, nur das Vorwort ist neu, und auf dieses möchten wir heute be- 
sonders hinweisen. Würde der Raum es gestatten, so würden wir dasselbe hier in 
voller Ausdehnung wiedergeben. S. 


Inhalt: Einladung. — Die Bedeutung des Bürgerlichen Gesetzbuchs für Schwachsinnige 
und Epileptische. (Dr. W. Weygandt). — Mitteilungen: Leipzig. — Litteratur: Schul- 
bygiene-Hefte. — Uber den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 


Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


~ THE Ni T a 
S O 88 ! 
Nr. 4. XVII. X) Jahrg. 


T. BEN Fer nA”, 


Zeitschrift —— 


für die 


Pehandiung Schwaclsinniger md Epileptischer. 


Organ der Konferenz "Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden -Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. in Stattgart. 


Erscheint jährlich In 13 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. Anzeigen für e und Postämter, wie auch direkt von der 
i April 1901. 
die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- pri ° Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Bellagen 6 Mark. | einzelne Nummer 60 Pfg. 





Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetzbuchs für 
Schwachsinnige und Epileptische. 
Von Dr. W. Weygandt, Privatdozent in Würzburg. 
(Schluss.) 

Buchholz sprach sich in seiner Arbeit „Über die Aufgaben des ärztlichen 
Sachverständigen bei der Beurteilung Imbeziller“ (Allg. Zeitschrift für Psychiatrie, 
Band LVII, S. 340, 1900) dahin aus, dass in den meisten Fällen, in welchen 
stärkere Defekte, besonders auch auf moralischem Gebiet nachweisbar sind, Ent- 
mündigung wegen Geisteskrankheit angebracht ist, während die andere Form 
nur bei einer kleinen Anzahl Imbeziller in Frage komme, bei denen die 
moralischen Defekte nicht erheblich sind und die intellektuellen Fähigkeiten 
einen Erwerb ermöglichen. Die Pflegschaft kommt seiner Ansicht nach nur 
ausserordentlich selten in Betracht, wenn er auch zugiebt, dass manchmal die 
vorhandene Geistesschwäche auch als geistiges Gebrechen im Sinn des $ 1910 
aufgefasst werden kann. Vor allem die Gefahr, dass der unter Pflegschaft 
Gestellte jeden Tag selbst die Aufhebung derselben herbeiführen kann, macht 
ihn bedenklich. Ich glaube nun, dass die Anwendbarkeit dieser Form gesetz- 
licher Fürsorge nicht soweit weggeschoben werden sollte. Gerade unter den 
ganz leichten Imbezillen von mehr anergetischem Typus giebt es Individuen, die 
sehr wohl im stand sind, einen ruhigen Lebensweg zu gehen, wenn auf ihre 
Vermögensverwaltung stets ein Augenmerk von seiten eines Pflegers gerichtet 
bleibt, und die ihres friedlichen Charakters wegen nicht in Versuchung kommen, 
die milde Fürsorge der Pflegschaft von sich abzuschütteln. Debilen Personen 
mit irgend welchen erethischen Zügen, mit moralischen Defekten, mit Genuss- 


50 


sucht, mit dem Drang nach Gesellschaft, nach Verkehr, mit hysterischen 
Neigungen müssen natürlich die strafferen Zügel der Vormundschaft angelegt 
werden. 

Einen Fall, der sich meines Erachtens zur Pflegschaft eignete, möchte ich 
im folgenden skizzieren: 

Die 54 jährige Patientin stammte von gesunden, hochintelligenten Eltern, 
die jedoch Geschwisterkinder zu einander waren. Die 6 Geschwister der 
Patientin waren gesund. Patientin hatte als Schülerin gute Leistungen im 
Auswendiglernen, Briefschreiben und dergl. geboten, während sie im Rechnen 
zurück war. Mit 25 Jahren heiratete sie einen wohlhabenden Kaufmann. Sie 
bekam 3 Töchter, deren jüngste geistig etwas zurück sein soll, sowie einen 
idiotischen Sohn. 

Während der Ehe war sie einmal an Typhus und einmal an Gelenk- 
rheumatismus erkrankt. Sie besorgte die Haushaltung und verstand sich gut 
auf die Verkehrs- und Repräsentationspflichten der Hausfrau. Als der Mann 
nach langem Krankenlager gestorben war, verlangte sie von ihrem Bruder 
Rechnungsablage über die vertretungsweise besorgte Vermögensverwaltung; 
dieser antwortete darauf jedoch mit dem Entmündigungsantrag. 

Patientin ist von kleiner Figur (142 cm) und sehr korpulent (99 kg). Ab- 
gesehen von etwas Kurzatmigkeit und leichter Erregbarkeit des Herzens besteht 
keine körperliche Abnormität. Patientin tritt in korrekter Haltung auf und zeigt 
gewandte Umgangsformen, nur ist sie etwas verlegen bei der ärztlichen Unter- 
suchung. Sie fasst gut auf, ist besonnen, geordnet und örtlich gut orientiert, 
während sie sich die Datumsangabe erst überlegen muss. Das Gedächtnis ist 
gut, sie merkt sich eine dreistellige Zahl auf längere Zeit, erzählt detailliert von 
früheren Reisen, giebt den Inhalt von Theaterstücken an, die sie vor langer 
Zeit gesehen u. s. w. 

Das Rechnen geht etwas mangelhaft. Bei grösseren Additionen im Kopf 
sucht Patientin die Zahlen einzeln zusammenzuzählen, schriftlich rechnet sie etwas 
besser, doch kommen öfter Fehler vor. Das kleine Einmaleins geht gut, das 
grosse mangelhaft. Bei einigen psychologischen Prüfungen auf Addieren (deren 
Technik wir vielleicht an anderer Stelle einmal zur Besprechung bringen 
können) ist in Bezug auf die Gesamtleistung kein Übungserfolg von Tag zu 
Tag ersichtlich, während die Fehlerzahl von Beginn bis zum Ende der Versuchs- 
reihe erheblich abnimmt, also in dieser Hinsicht doch Übungsfähigkeit besteht. 
Zeitliche Angaben, soweit sie mit Berechnungen verknüpft sind, werden mangel- 
haft gemacht. Bei konkreten Rechenbeispielen geht es besser. Einfache Prozent- 
rechnungen, wie 4!/, °/, von 200 Mk. bringt sie langsam, doch zutreffend zu- 
stande, nachdem man ihr ein ähnliches Exempel vorgemacht hat. 

Sie liest fliessend und kann den Inhalt angeben; ferner versteht sie noch 
ganz gut, hebräische Schrift zu lesen, was sie in der Jugend gelernt hatte. 
Geläufig schreibt sie Deutsch und Antiqua. Auch nach Diktat schreibt sie flott 
und ohne viel Fehler, selbst Fremdwörter wie z. B. Lokomotive, Generalmajor 
u. s. w., ohne zu stocken. Sie stilisiert ganz gut Briefe, selbst über so ver- 


51 


wickelte Themata wie ihren eigenen Entmündigungsstreit. Zutreffend spricht 
sie sich über ihre Angelegenheiten aus und äussert sich durchweg im Sinn einer 
sparsamen, umsichtigen und sorgfältigen Hausfrau. In ethischer Hinsicht ist 
zu bemerken, dass sie pietätvoll ihrer Eltern gedenkt, um die Erziehung ihrer 
Kinder aufrichtig besorgt ist und unter dem jetzigen Streit mit ihren Ver- 
wandten leidet. 

Es handelt sich um einen sehr geringen Grad geistiger Schwäche. Während 
Rubrikatin geistig nach den meisten Richtungen hin ihrem Bildungsgang und 
ihrer Lebensstellung entspricht, zeigt sie Defekte hinsichtlich des Rechnens. 
Dass sie infolgedessen Schwierigkeiten hätte, das ihr zugefallene grosse Ver- 
mögen selbst zu verwalten, ist zuzugeben. Keineswegs aber darf man von ihr 
sagen, dass sie ihre Angelegenheiten in der Gesamtheit nicht zu besorgen ver- 
möchte. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Frau die nötige Geschäftsfähig- 
keit besitzt, eine geeignete Person zur Vermögensverwaltung ausfindig zu machen; 
ferner ist zu betonen, dass sie gewiss in der Lage ist, eine Reihe wichtiger 
Dispositionen zu treffen, so einen Wohnsitz‘ zu begründen, Testament zu er- 
richten, für die Erziehung ihrer Kinder passende Hilfskräfte anzustellen u. s. w., 
was ihr nach einer Entmündigung versagt wäre. Da die Rubrikatin selbst ihre 
Bereitschaft erklärte, die Vermögensverwaltung einer Pflegschaft zu übertragen, 
stand meines Erachtens nichts im Weg, die Entmündigungsfrage zu ver- 
neinen und die Einsetzung einer Pflegeschaft anzuempfehlen. Auf die gericht- 
liche Entscheidung dieses Falls kommen wir noch zurück. 

Bei Epileptikern müssen wir ebenfalls immer nur nach der Eigenart 
des Falls urteilen. Kranke mit epileptischem Blödsinn sollen wegen Geistes- 
krankheit entmündigt werden, denn sie sind völlig geschäftsunfähig. Dort, wo 
die Epilepsie sich vorzugsweise in Anfällen und Äquivalenten äussert, muss 
man, abgesehen von der Frequenz jener Attaquen, besonders das Verhalten in 
den freien Zwischenzeiten beachten. Bei grosser Neigung zu Dämmerzu- 
ständen, Wandertrieb, sehr häufigen Verstimmungen mit impulsiven Regungen, 
dipsomanischen Zuständen, weitgehender Charakterdepravation wird man, selbst 
wenn der Intellekt ziemlich erhalten bliebe, daran denken müssen, die Ent- 
mündigung, mindestens wegen Geistesschwäche, zu befürworten. Es wird 
dadurch vielen Schwierigkeiten vorgebeugt, die aus Handlungen während der 
Bewusstseinsalterationen entspringen können; im Fall einer mangelnden Vor- 
mundschaft müsste die rechtliche Klärung jedesmal wesentlich umständlicher 
auf Grund des § 105 herbeigeführt werden. 

In zahlreichen Fällen mit nur selten auftretenden Krämpfen, Ohnmachten, 
Schwindelanfällen u. s. w. kommt überhaupt keine Änderung der civilrechtlichen 
Stellung gegenüber dem normalen Menschen in Betracht, doch interessieren 
uns diese Fälle hier weniger, da sie ja auch in der Regel nicht die Anstalten 
aufsuchen. 

Schliesslich aber kann auch der 4. Fall vorkommen, dass eine gewisse 
Fürsorge erwünscht ist, während die Entmündigung wegen Geistesschwäche und 
erst recht wegen Geisteskrankheit zu einschneidend und streng erscheint. Hier 


M 


ist für Epileptiker die Pflegschaft empfehlenswert, bei deren Einsetzung wir 
weniger ängstlich zu sein brauchen, als den Imbezillen gegenüber. Grade die 
Epileptiker, so bedenklich sie auch in krimineller Hinsicht werden können, pflegen 
hinsichtlich der Regelung ihrer bürgerlichen Geschäfte weniger Schwierigkeiten 
zu machen. Leute mit so ausgeprägtem’ Krankheitsgefühl, wie sie es vielfach 
haben, erkennen in der Mehrzahl der Fälle die ihnen gewidmete Fürsorge gern 
an und haben nicht die Neigung, sie wieder von sich abzuschütteln, wie es bei 
der Pflegschaft in ihre Hand gegeben wäre. Vor allem können solche Epileptiker, 
die sich nach jahrelangem Anstaltsaufenthalt erholt haben, so dass Anfälle 
und ähnliche Insulten ausbleiben, während doch eine gewisse leichte Erschwerung 
der Geschäftsfähigkeit, eine Umständlichkeit und Ängstlichkeit im Auftreten 
fortbestehen, recht wohl mit der Einsetzung einer Pflegschaft abgefunden werden, 
die ihnen eine gewisse Stütze verleiht, ohne die Bewegungsfreiheit allzu straff 
einzuengen. 

Ein Fall derart sei in kurzen Zügen folgendermaßen wiedergegeben. Es 
handelte sich um einen Herrn von 34 Jahren, der seine Mutter mit 1/, Jahr ver- 
loren hatte, während der Vater 81 Jahr alt starb. Eine Tante hatte sich in Schwer- 
mut das Leben genommen; ein Bruder starb durch Suicid. Von früh auf war 
Rubrikat schwerhörig, als Kind war er skrophulös. Mit 6 Jahren traten Schwindel 
und Ohnmachten auf, dann gesellten sich Krämpfe hinzu von typisch epilep- 
tischer Art. Anfänglich stellten sie sich alle 2—3 Monate, dann alle 2—3 
Wochen ein. Öfter kam Bettnässen vor. Rubrikat besuchte die Volksschule 
und wurden mit 11 Jahren in eine Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische 
gebracht. Nach 2jähriger konsequenter Brombehandlung hörten die Anfälle 
ganz auf, sodass Rubrikat schliesslich mit 16 Jahren als „sehr gebessert“ ent- 
lassen werden konnte. Als sich nach 2 Jahren, während deren er bei einem Buch- 
binder arbeitete, wieder Anfälle einstellten, kam er zurück in die Anstalt, wo die 
Anfälle ganz ausblieben; Brom wurde jetzt nur kurze Zeit gegeben. Nach 5 
Jahren trat Rubrikat als „genesen“ aus. Er arbeitete nun 2 Jahre tüchtig und 
in bestem Wohlsein bei einem Buchbinder, worauf ihn der Vater jedoch wieder 
in eine Schweizer Anstalt schickte und zugleich die Entmündigung durchsetzte. 

Das ärztliche Gutachten bezeichnete die psychischen Funktionen als sehr 
reduziert, die Intelligenz als gering, das Gedächtnis als schwach; Willenskraft 
und Selbständigkeit fehle, ebenso die Fähigkeit der Selbstbestimmung; sein 
Vermögen könne Rubrikat nicht selbst verwalten; den vierprozentigen Zinsbetrag 
von 1000 Mk. konnte Rubrikat nicht berechnen. Ausser der letzteren positiven 
Angabe waren es vorwiegend subjektive Eindrücke des Gutachters, die seinen 
Schluss stützten. Es sei bemerkt, dass derartige allgemeine Behauptungen wie 
„die Willenskraft fehle“, die nicht belegt und auch nicht beweisbar sind und 
überhaupt ihrem Wortlaut nach unmöglich zutreffen können, besser ganz ver- 
mieden werden! | 

Nachdem der Vater unter Hinterlassung eines beträchtlichen Vermögens 
gestorben, beantragte der nunmehr 34 Jahre alte Rubrikat die Wiederaufhebung 
der Entmündigung. 


53 





Körperlich zeigte er bei den vielfachen, eingehenden Untersuchungen ausser 
der auf einer alten Mittelohreiterung beruhenden Schwerhörigkeit keine nennens- 
werten Abnormitäten Nachts soll er noch manchmal im Schlaf schreien, was 
möglicherweise ein Überbleibsel der epileptischen Zustände ist, doch auch bei 
sonstigen nervösen Personen vorkommt. 

Geistig ist Rubrikat vollkommen besonnen und geordnet, zeitlich und örtlich 
durchaus orientiert. Das Auftreten ist etwas schüchtern, doch in keiner Weise 
auffallend. Die Schulkenntnisse sind in Anbetracht der längst verflossenen 
Schulzeit ganz beträchtlich. Er setzt den Unterschied zwischen Protestantismus 
und Katholizismus, zwischen dem Glauben der Israeliten und der Amalekiter 
auseinander. Geschichtlich ist er sowohl in der Neuzeit wie in vergangenen 
Jahrhunderten bewandert; er nennt die Geschichtszahl des 30 jährigen Kriegs, 
weiss Bescheid um Pompeji, um den trojanischen Krieg u. s. w. Über unsere 
staatlichen Einrichtungen ist er orientiert; er weiss, dass ein Reichsgesetz vom 
Ministerium entworfen, vom Reichstag bekräftigt und von der Regierung unter- 
schrieben wird. Seine geographischen Kenntnisse sind ganz gut; er erkennt 
auf den ersten Blick die Karte von Südamerika, ohne den Namen abzulesen, 
er beschreibt die Reiseroute nach Ostasien u. s. w. 

Das Gedächtnis ist gut. Rubrikat nannte die Ärzte aus der Anstalt, wo 
er vor 11 Jahren war, und giebt den Inhalt von gesehenen Theaterstücken 
wieder, trotzdem er wegen seiner Schwerhörigkeit Mühe hatte, dem Wortlaut 
desselben zu folgen, er kennt die Regeln des Schachspiels, das er seit Jahren 
nicht mehr übte. 

Lesen und schreiben geht flott. 

Kleinere Rechenaufgaben (119-+96 oder 112—48 oder 8><28 oder °/,—!/, 
oder 1/><?/,) löst er im Kopf richtig; grössere auf schriftlichem Weg. Er be- 
rechnet prompt einfache Zinsrechnungen im Kopf, wie 1000 Mark zu 4!/, %, 
auf 2 Jahre; schriftlich: 210 Mark zu 31/, °/, auf 2 Jahre. In den Aufgaben 
des täglichen Lebens findet er sich gut zurecht; er entwirft z. B. anschaulich 
das Jahresbudget eines Mannes mit 120 Mark Monatseinkommen. Eine öfters 
wiederholte experimental-psychologische Prüfung ergab eine beträchtliche Übungs- 
fähigkeit auf reohnerischem Gebiet. 

Die Kenntnisse übertreffen entschieden das, was ein Volksschüler von 
mittlerer Begabung ins Leben mitzunehmen pflegt. Das Urteil ist ganz zu- 
treffend, die Gemütslage ruhig, das Auftreten korrekt und freundlich, nur ein 
wenig schüchtern. 

Da die rechnerischen Kenntnisse nicht über die namhaft gemachten An- 
fangsgründe der Bruch- und Zinsrechnungen hinausreichen, könnte Rubrikat zur 
Zeit thatsächlich Schwierigkeit haben, ein grosses Vermögen ganz vollständig 
zu behandeln. Jene Lücken aber beruhen nicht auf Geisteschwäche, sondern 
auf mangelhafter Ausbildung; in der Anstaltsschule war der Unterricht in der 
That nur bis zu diesem Ziel ausgedehnt worden. Dagegen besteht eine be- 
achtenswerte Übungsfähigkeit, die erwarten lässt, dass Rubrikat sich die zur 
selbständigen Vermögensverwaltung erforderlichen Kenntnisse und Gewandtheit 


aneignet. Die lückenhafte Schulung als direkte Folge der Epilepsie und somit als 
Geistesschwäche im Sinne des $ 6 B. G.-B. hinzustellen, entspricht nicht den 
Thatsachen; der Grund der Entmündigung vor 9 Jahren ist zur Zeit als weg- 
gefallen zu erachten. Als rechtliche Fürsorge für Rubrikat, der infolge seines 
langen Internatsaufenthalts den Aufgaben des Lebens etwas fiemd und schüchtern 
gegenüber steht und dem seine Schwerhörigkeit die Wahrnehmungen seiner 
Interessen etwas erschwert ist, während von einer die Regelung der Angelegen- 
heiten in ihrer Gesamtheit betreffenden Geschäftsbeschränktheit nicht die Rede 
sein darf, konnte die Pflegschaft im Sinn des $ 1910 B.G.-B. empfohlen werden, 
in die Rubrikat auch selbst einwilligt. Das Gericht schloss sich dem Gutachten 
völlig an. 

Wenn wir nun zu guter Letzt fragen, in welcher Weise die neuen Vor- 
schriften des B.G.-B. während der kurzen Giltigkeitsdauer desselben bisher aus- 
geübt worden sind, so ist es vielleicht nicht zu herb geurteilt, wenn die an die 
Einführung des BG.-B. geknüpften Erwartungen in diesem Punkt als nicht 
voll erfüllt bezeichnet werden. Auf der irrenärztliohen Seite sind die Meinungen 
allmählich geklärt und entsprechen im wesentlichen dem, was in den obigen 
Ausführungen mit spezieller Anwendung auf den angeborenen Schwachsinn und 
die Epilepsie wiedergegeben ist. Die Kenntnisnahme von seiten der Laienwelt 
wie auch des grösseren ärztlichen Publikums lässt noch zu wünschen übrig. 
Am wichtigsten ist natürlich die Stellungnahme der Richter, denn ihr Urteil 
ist ja allein massgebend, da sie zwar verpflichtet sind, ein Sachverständigen- 
gutachten zu hören, aber doch nach eigenem Ermessen, eventuell auch gegen 
die Ansicht des Arztes, die Entscheidung zu fällen haben. Der Sinn des neuen 
Gesetzes ist der, jedem nicht völlig Geschäftsfähigen die notwendige Fürsorge 
zu verschaffen, ohne ihn mehr in seinen Rechten zu beschränken, als dem Grad 
der Verminderung seiner Geschäftsfähigkeit angemessen ist. Vor Einführung des 
B.G.-B. glaubten manche, so der Jurist Hardeland, dass man in praxi die 
schwerste Entmündigungsform, die wegen Geisteskrankheit, wohl überhaupt kaum 
noch anwenden wird. Das ist nicht eingetroffen. 

Vor allem 2 Punkte geben auf juristischer Seite zu Divergenzen Anlass. 
Einmal besteht die Neigung, möglichst streng zu verfahren und lieber die Ent- 
mündigung wegen Geisteskrankheit als die wegen Geistesschwäche auszusprechen ; 
das ist begreiflich, weil durch die Schärfe der Aufsicht über den Entmündigten 
sich die Grösse der Verantwortung, die durch die Einsetzung einer rechtlichen 
Fürsorge übernommen wird, doch etwas verringert. Damit wird aber dem Sinn 
des Gesetzes nicht ganz entsprochen, das niemand in seiner Geschäftsfähigkeit 
mehr einengen will, als dem Grade seiner Defekte entspricht. 

Andererseits ist die unselige Möglichkeit der Verwechslung der ärztlichen 
und der juristischen Begriffe der Geisteskrankheit und der Geistesschwäche 
schon bedenklich oft eingetroffen. Prof. Tuczek (Geisteskrankheit und Geistes- 
schwäche nach dem bürgerlichen Gesetzbuch, Psychiatrische Wochenschrift, 
1900, S. 317) klagt, es sei ihm wiederholt begegnet, dass tiefstehende Idioten 
als geistesschwach im Sinn des $ 6 bezeichnet wurden, „obwohl ihre gänzliche 


55 

Unfähigkeit zur selbständigen Besorgung irgend welcher eigenen Angelegenheiten 
ausdrücklich betont war.“ Ebenso sträuben sich manchmal die Gerichte, 
Geisteskranke von ziemlich weitreichender Geschäftsfähigkeit, wie z. B. Leute 
mit Querulantenwahn u. s. w., nur wegen Geistesschwäche nach $ 6 zu ent 
mündigen; und doch konnte Cramer in seiner „Gerichtlichen Psychiatrie“, 
II. Aufi., darauf hinweisen, dass es sogar aktive Juristen, Universitätsprofessoren, 
Baumeister, Gymnasiallehrer, Landwirte und Geschäftsleute giebt, die an 
chronischer Paranoia leiden und somit also im ärztlichen Sinn geisteskrank sind, 
ohne dass bei ihnen Geschäftsunfähigkeit oder oft auch nur Geschäfts- 
beschränktheit nachweisbar sei. 

In dem oben beschriebenen Fall einer ganz leicht imbezillen Frau, in dem 
ärztlicherseits die Einsetzung einer Pflegschaft für das Entsprechende angesehen 
wurde, entschieden das Gericht in zweiter Instanz in einem anderen Sinn: 

. an der Hand der Ergebnisse der gepflogenen Erhebungen sei die Frage zu 
prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen des $ 6: Geistesschwäche und 
hierdurch bedingtes Unvermögen, seine Angelegenheiten zu besorgen, in der 
Person der zu Entmündigenden festzustellen seien, denn in diesem Fall müsse 
die Entmündigung ausgesprochen werden. 

„a) Geistesschwäche: Diese ist nach den Gutachten der Sachverständigen 
unbedenklich anzunehmen. Selbst der sich für die Veranlagung am günstigsten 
äussernde Sachverständige X. erachtet den Ausdruck Debilität als mildesten 
Grad einer angeborenen Geisteschwäche anwendbar. .... 

b) Durch Geistesschwäche bedingtes Unvermögen, ihre Angelegenheiten zu 
besorgen.“ 

Über die Tragweite des 2. Arguments kann gestritten werden, jedenfalls 
aber ist die Ausführung a) kein direkter Entmündigungsgrund, da die ärztlicher- 
seits angenommene Geisteschwäche eben nicht mit dem gleichnamigen Begriff 
des $ 6 identisch ist, sondern bei ganz leichten Fällen angeborenen Schwach- 
sinns sehr wohl, wie im citierten Beispiel, ein „geistiges Gebrechen“ im Sinn 
des § 1910, andererseits bei angeborenem Schwachsinn hohen Grades, also bei 
Idioten und vielen Imbezillen, wie in dem hier an erster Stelle besprochenen 
Fall, „Geisteskrankheit“ im Sinn des § 6 darstellt. 

Es kann also ärztlicherseits nicht energisch genug darauf hingewiesen 
werden, dass jene gesetzlichen Begriffe „Geisteskrankheit“ und „Geistesschwāche“, 
wie sowohl von der ersten, als auch von der zweiten Kommission zur Vor- 
bereitung des B.G.-B. ausgesprochen werde, mit den gleichlautenden ärztlichen 
Begriffen nichts zu thun haben, sondern lediglich den Grad der Störung mit 
ihren praktischen Konsequenzen der Geschäftsunfähigkeit und Geschäftsbeschränkt- 
heit betreffen. 

Heute hat das B.G.-B. seine Geltung, es ist somit zwecklos, hinterher sein 
Bedauern darüber auszusprechen, dass man nicht indifferentere Bezeichnungen 
genommen hat, etwa Entmündigung 1. und 2. Grades oder schwere und leichtere 
Entmündigung, oder auch dass man unter Hereinbeziehung der Pflegschaft 
3 Grade hätte nebeneinanderstellen und vielleicht für jeden derselben einen be- 


56 

sonderen Namen gewählt hat. Die Abneigung des Publikums, sich oder einen 
Angehörigen bei Geistesstörung unter Vormundschaft stellen zu lassen, beruht 
zum grossen Teil auf dem Odium, dass dem Namen der Entmündigung oder 
Mundtotmachung anhaftet; erfahrungsgemäss ist es dem Laien oft ziemlich einer- 
lei, ob jemand schliesslich geschäftsunfähig oder geschäftsbeschränkt ist, da er 
nach aussen hin doch in gleicher Weise als mundtot gilt. Durch eine minder 
verfängliche Nomenklatur hätte man bei der Einführung der Entmündigung 
wegen Geistesschwäche, die sachlich einen eminenten Fortschritt bezeichnet, 
eine stärkere Hebung der bestehenden Vorurteile des grossen Publikums gegen 
jene rechtliche Fürsorge überhaupt erzielen können. Darüber zu klagen, ist 
nicht zeitgemäss. Es gilt vielmehr, durch Aufklärung über den Sinn des B.G.-B. 
und die Absicht der Gesetzgeber die richtige Anwendung des Gesetzes zu 
fördern. Hoffentlich wird auch den Lesern der vorliegenden Zeitschrift diese 
kurze Übersicht über die mannigfachen neuen Bestimmungen des B.G.-B. hin- 
sichtlich der rechtlichen Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptiker ein nicht 
unwillkommener Beitrag sein. 


Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- 
sinnige: J. Landenberger. 
Von K. Kölle-Regensberg. 

Wer sich in den letzten Jahren der Idiotenpflege angenommen hat, muss 
sich freuen über die Teilnahme, die gegenwärtig von allen Seiten den zurück- 
gebliebenen und verkümmerten Menschen entgegengebracht wird. 

Für die Blöden entstehen überall Pflegeanstalten, die erwachsenen 
Schwachsinnigen, welche in einer Erziehungsanstalt einige Bildung erlangen 
konnten, werden in Arbeitsanstalten zweckmässig beschäftigt. Am meisten 
aber wendet sich das Interesse den Schwachsinnigen zu, welche noch er- 
zogen und unterrichtet werden können. Eine grosse Anzahl von Anstalten 
widmet sich ausschliesslich der Idiotenerziehung, und immer mehr zeigt sich, in 
welch segensreicher Arbeit die grosse Menge von Spezialklassen wirken, welche 
sich dem Unterricht der geistig zurückgebliebenen Kinder zuwenden. 

Es konnte dabei natürlich nicht ausbleiben, dass von berufener und un- 
berufener Seite viel, ja sehr viel über Erziehung und Unterricht schwachsinniger 
Kinder geschrieben wurde. Ja, es kam gar häufig vor, dass begeisterte Lehrer 
und Lehrerinnen, nachdem sie kurze Zeit sich diesem Unterrichte gewidmet 
hatten, den unwiderstehlichen Drang fühlten, ihre Erfahrungen in Lehrerzeitungen, 
Schulblättern, Fachschriften oder besondern Broschüren darzulegen und dabei der 
Meinung waren, sie hätten etwas Neues geboten, etwas, was der Sache wesent- 
liche Dienste leiste, sie fördere und zu ihrem Gedeihen beitrage, aber leider war 
dies nur selten der Falle Es musste auf Leute, die schon längere Zeit mit 
einigem Eifer für den Unterricht bei Schwachsinnigen eingestanden waren, sehr 
ermüdend wirken, immer wieder allgemeine pädagogische Lehrsätze breit getreten 


57 

zu sehen, um sie für den Unterricht bei Schwachsinnigen mundgerecht zu 
machen und Ansichten vornehmen zu müssen, die durchaus nichts Neues brachten, 
die vielmehr schon längst entweder beiseite geschoben‘, oder so allgemeines 
Gut geworden waren, dass eine neue Darlegung nicht viel Wert hatte. Es wäre 
deshalb wünschenswert, dass Konferenzen und Fachschriften auf diesem Gebiete 
solche allgemeine Arbeiten, die nichts Neues bieten, fernhalten würden, damit 
um so eher ein gewisser gemeinschaftlicher Fortschritt in der Erziehung und im 
Unterricht der Idioten erzielt werden könnte, wie dies z. B. auf dem Gebiete 
des Taubstummen- und Blindenwesens der Fall ist. Es kann der Sache doch 
unmöglich nützen, wenn heute Arbeiten vor die Öffentlichkeit gebracht werden, 
die hinter solchen, die schon vor fünfzig Jahren geboten wurden, her marschieren, 
ohne sie zu erreichen. *) | 

Um so mehr dürfte es von Interesse sein, an die Geistesarbeit eines Mannes 
heranzutreten, der schon vor fünfzig Jahren ganz Erstaunliches leistete und der 
als eigentlicher Bahnbrecher für die Erziehung Schwachsinniger gelten muss. 

Dieser hervorragende Pädagoge und Psychologe, der durch eingehendes 
Studium, tiefes Nachdenken und fortwährende Beobachtung einen streng natur- 
wissenschaftlichen Weg einschlug, um eine präzise Methode für den Unterricht 
Schwachsinniger zu gewinnen, ist J. Landenberger, 1851—1860 Hauptlehrer 
an der Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige in Winterbach, 1860—1877 
Inspektor dieser Anstalt, die im Jahre 1864 nach Stetten im Remsthale über- 
siedelte. Im Jahre 1899 feierte diese Anstalt, die sich seit 1866 zu einer Heil- 
und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische erweitert hatte, ihr 
fünfzigjähriges Bestehen, und bei diesem Anlasse wurde von dem Inspektor 
derselben, Schulrat Strebel, ganz besonders der hervorragenden Leistungen 
Landenbergers gedacht. **) 

Und es ist nicht zu verwundern, denn dieser Mann war ein Anwalt der 
Idioten, wie er sich nicht zu häufig finde. Es war ihm nicht darum zu thun, 
eine grosse, glänzende Anstalt zu bauen, nach aussen zu repräsentieren oder sich 
eine angenehme Stellung zu verschaffen. Für diese Dinge war er zu einfach, 
oder vielmehr für diese Dinge stand er zu hoch. Sein ganzes Wesen, seine 
ganze Lebensarbeit ging dahin, ein Christ zu sein, sein äusseres Leben und 
Wirken in Übereinstimmung zu bringen mit dem Ideal, das ihm nach dem 
Evangelium vorschwebte. Und er wurde ein edler Mensch, der im Sinne des 
Evangeliums seine Lebenskraft daran setzte, den Blödsinnigen zu helfen. Und 


*) Hier dürfte Verfasser doch etwas zu einseitig urteilen. Wenn auch zuweilen in einem 
Vortrage, Schriftehen oder Zeitungsartikel für den bereits seit einiger Zeit im Dienste der 
Erziehung Schwachsinniger stehenden Fachmanne wenig Neues geboten wird, so ist doch zu 
bedenken, dass das betreffende Wort sich doch vor allem an diejenigen wendet, welchen die 
Idiotenbehandlung noch wenig oder gar nicht bekannt ist. Zu viel ist gewiss noch nicht 
geschrieben und geredet worden, eher zu wenig, und besonders ist es immer zu beklagen 
gewesen, dass die sogenannten „Alten“ recht wenig von sich hören liessen. 

Die Schriftleitung. 
**) Herr Schulrat Strebel teilt mit, dass dieser Bericht unentgeltlich von der Anstalt 
Stetten i. R. (Württemberg) bezogen werden kann. 


58 


deshalb erfrischen seine Worte, alle seine Arbeiten über Idiotenpflege wie er- 
quickendes Quellwasser. Da finden sich keine abgedroschenen, ausgebrauchten 
Phrasen, unter denen sich der Schreiber gewöhnlich so wenig denkt als der 
Leser, sondern jeder Satz zeugt von tiefer Gedankenarbeit, von unablässigem 
Ringen, vom Umackern eines harten, steinigen Bodens. 

Und mit dem feinen Takt eines geistig reifen Mannes ebnete er die Wege 
auf dem Gebiete der Idiotenpflege in einer Weise, dass man sich nur wundern 
muss, dass neben den Arbeiten eines solchen Mannes bis in unsere Zeit herein 
noch so viel Unklarheit, Geschwätz und Phrasen bestehen können. Wäre es 
möglich gewesen, an diese Arbeiten anzuschliessen und sie weiter zu bauen und 
zu verwerten, der Unterricht in den Schulen für Schwachsinnige müsste schon 
längst mit derselben Klarheit erteilt werden können, wie der Unterricht für 
Taubstumme. 

Um Landenberger ganz zu verstehen und ihn auch da begreifen zu können, 
wo man nach den heutigen Forschungen nicht mehr mit ihm einig sein kann, 
ist es nötig, sich zu vergegenwärtigen, wie er seine Arbeit antrat und wie er 
sie auffasste. Er war Volksschullehrer in Württemberg, eine Zeit lang an einer 
Rettungsanstalt in Ebingen thätig und wurde im Jahre 1851 von seinem 
Schwager, Dr. med. Müller, als Hauptlehrer an die Heil- und Pflegeanstalt 
für schwachsinnige Kinder in Winterbach berufen. Im Lehrplan der württem- 
bergischen Volksschule wurde von jeher der biblischen Geschichte und dem 
Memorieren von biblischen Sprüchen besonders grosser Wert beigelegt. Mit 
diesem Lehrplan war Landenberger vollständig einverstanden, ja er ging noch 
weiter und legte dem biblischen Worte als solchem eine besondere Kraft bei, 
die menschliche Seele zu wecken und zu beleben. In dieser Ansicht war er 
ganz einig mit seinem Schwager Dr. Müller, der im ersten Jahresbericht der 
Anstalt vom Jahre 1849 sagt: 

„Darum ist es Hauptaufgabe der Anstalt, den anvertrauten Kindern das Bibel- 
wort, welches nimmermehr vergeht, und eine sichere Brücke hinüber bildet zur seligen 
Ewigkeit, zur Herzenssache zu machen.“ 

Ebenso sagt Dr. Müller im 2. Jahresbericht: vom Jahre 1850: 

„Unter allen Erziehungsmitteln giebt es aber in der That kein so für alle denk- 
baren Fälle passendes als das Wort Gottes; es ist auch für die blödesten Herzen 
tauglich und wirkt belebend, ermunternd, kräftigend, anfassend. Die biblischen 
Geschichten alten und neuen Testaments mit herzlicher Einfalt prunklos den Kindern 
mitgeteilt, erwärmen nicht bloß das Herz, sondern sind auch dazu geeignet, die Ver- 
standeskräfte zu wecken, zu kräftigen.“ 

Es ist ein ganz seltenes Zusammentreffen, dass ein Arzt eine Erziehungs- 
anstalt für Schwachsinnige gründete und einen Lehrer fand, der ihn vollständig 
verstand, so dass ein Zusammenarbeiten möglich war, wie wir es heutzutage 
wohl wünschen, aber selten antreffen. 

Landenberger gab sich aber nicht damit zufrieden, dass der Arzt mit seinem 
pädagogischen Standpunkte übereinstimmte, sondern er lernte von seinem Schwager 
die naturwissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiete kennen. Unermüdlich war 


59 

er bemüht, das Wesen des Idiotismus zu erforschen und auf Grund dieser Er- 
gebnisse den Schwachsinnigen zu behandeln. Die Jahresberichte, die er ver- 
fasste, sind deshalb eine reiche Fundgrube für die Idiotenpflege. Über die 
leibliche und geistige Pflege sind darin Sätze niedergelegt, die leider heute noch 
nicht in allen Idiotenanstalten befolgt werden. Auf Grund dieser Erfahrungen 
arbeitete er einen Lehrplan aus. Jedes Unterrichtsfach wurde von ihm mit 
besonderer Sorgfalt behandelt. Dadurch wurde seine Anstalt zu einer Muster- 
anstalt, die heute noch vorbildlich ist. Immer kehren in den Berichten der 
Anstalt die Grundsätze wieder, nach welchen in der Anstalt verfahren 
wurde, und im 14. Bericht vom Jahre 1862 schreibt Landenberger dies in 
einem besondern Anhange nieder: 

„Unsere Grundsätze für das Erfassen und Durchführen unserer Auf- 
gabe gehen von dem Wesen des Menschen aus. Als dieses erkennen wir 

die Natur des Menschen, d. i. die Gesamtheit der dem Menschen von seinem 
Schöpfer verliehenen Anlagen, Vermögen und Kräfte, samt den zu ihrem Gebrauch 
bestimmten Organen und den Gesetzen der Entwicklung und Bethätigung der Kräfte, 

die Bestimmung des Menschen, d. i. die Erfüllung des Zweckes, für welchen, 
und der Absichten, mit welchen der Schöpfer dem Menschen die Natur verliehen hat. 
Als solche bezeichnet das Wort Gottes, übereinstimmend mit den Bedürfnissen des 
Menschen, das ewige Leben in der Gemeinschaft Gottes, und zwar soll der Mensch 
seine Kräfte nach den göttlichen Absichten und Geboten so für seine zeitliche Be- 
stimmung anwenden, dass er mit Hilfe der ihm gebotenen Gnaden- und Heilsmittel 
sich seiner ewigen Bestimmung würdig mache. 

Aus der engen Verbindung, welche zwischen der Natur und Bestimmung unter 
sich und ihrem Schöpfer besteht, folgt für das Feld der Erziehung unwidersprechlich, 
dass nur diejenige Erziehung und Bilduug ganz naturgemäss verfährt, welche die 
Bestimmung des Menschen zum Ziele hat, und nur diejenige ihre Zöglinge sicher ihrer 
Bestimmung entgegenführt, welche die Natur des Menschen kennt und berücksichtigt; 
dass also beide Abwege, wie sie, der erste von der weltförmigen Erziehung, der zweite 
von übelverstandener Frömmigkeit gemacht werden, stets zum Schaden der Zöglinge 
geraten müssen. Da wir nun den kindlichen Blödsinn als eine auf angeborener oder 
in früher Jugend entstandener Hirnerkrankung beruhende Schwächung oder Störung 
der Seelenthätigkeit anzuschen haben, so muss es Aufgabe der Anstalt sein, die 
Ursache des vorhandenen Gebrechens möglichst zu erforschen, zu beseitigen, die noch 
freien, oder durch das Bemühen der Anstalt frei gewordenen Vermögen auszubilden, 
um das unglückliche Kind zu einem nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft 
zu machen, oder wo ein Rückbilden des Gebrechens ein Heilen oder Bessern des 
abnormen Zustandes nicht möglich ist, das Kind menschenwürdig zu verpflegen. Leicht 
ergiebt und scheidet sich hiernach die Aufgabe und das Gebiet des Arztes und das 
des Erziehers und Lehrers; nur ist die Scheidung zwischen beiden Gebieten nicht der 
Art, dass sich eines um das andere nicht zu kümmern hätte. Der Arzt muss viel- 
mehr bei seinen medizinischen und diätetischen Verordnungen pädagogisch, der Er- 
zieher und Lehrer im Sinne wahrer Heilkunst verfahren; beide müssen also nach 
einem gemeinschaftlichen Plane arbeiten. Die Regeln für die Behandlung der Blöden 


60 
und Geistesschwachen müssen beide, der Arzt und der Lehrer, der Entwicklung des 
gesunden Kindes entnehmen, da ja in der That der Verlauf des kranken Lebens nur 
aus den Gesetzen des gesunden Lebens recht begriffen werden kann. 

Gleicherweise verhält es sich mit dem Ziel der Erziehung. Besteht dasselbe für 
den gesunden Menschen in Mündigmachung oder in der Befähigung des Zöglings zur 
Selbsterziehung, so kann auch für den Schwachsinnigen kein anderes Ziel aufgestellt 
werden, obwohl es ihm weit ferner liegt und schwerer zu ergreifen ist, als dem geistig 
gesunden Kinde, ja wenn es auch für ihn gar nicht zu erreichen ist, und wirklich 
liegt in der konsequenten Verfolgung dieses Zieles das Geheimnis der Erziehung und 
Bildung Schwachsinniger. Es müssen die vorhandenen Kräfte geübt, der schwache 
Wille zur Selbstthätigkeit veranlasst werden; es muss an das vorhandene Gesunde, 
Edlere und Höhere appelliert, und dasselbe durch die Kanäle der Erkenntnis und des 
Gemütes gestärkt werden, damit es das Kranke, Unfreie, Tierische überwinde, beherrsche 
und dem vernünftig-verständigen Leben dienstbar mache. Denn wenn auch bei ober- 
flächlicher Betrachtung der Schwachsinnige hauptsächlich an Schwäche der Erkenntnis 
zu leiden scheint, so ergiebt sich doch für den, der sich eingehend mit ihm beschäftigt, 
gründlicher ihn beobachtet, eine andere Ansicht, dass nämlich der schwache, unfreie, 
kranke Wille die leidendste, kränkste Stelle im Menschen ist, und dass hier der 
Hebel angesetzt werden müsse, wenn nicht nur die schwache Intelligenz gestärkt, 
sondern der ganze Mensch aus seinem tiefen Standpunkt auf einen höhern gehoben 
werden soll. Verhält es sich denn bei irgend einer geistigen Hebung eines Menschen, 
eines Volkes, von der unbedeutendsten Aufrafftung bis zur höchsten Hebung der 
Wiedergeburt anders? 

Was die zweite Richtung des menschlichen Wesens betrifft, nämlich die Be- 
stimmung des Menschen oder die Anwendung seiner Vermögen für sein Seelenheil, so 
ist allerdings das Verhältnis eines schwachsinnigen Kindes von dem eines gesunden 
verschieden; denn wo auch nur eine der Seiten des geistigen Lebens leidet, da leiden 
alle mehr oder weniger mit. Es ist in dieser Beziehung sowohl die Ansicht, nach 
welcher unsere Kinder ganz unfähig und stumpf für die Religion sein sollen, als die 
entgegengesetzte, nach welcher alle zur Religion besonders geneigt seien, als eine auf 
mangelhafter Erkenntnis und auf Vorurteil beruhende irrige zu bezeichnen, und wir 
wollen, um diesen Vorurteilen entgegenzutreten, uns hier offen über die Bedeutung der 
Religion für die Blöden erklären. Das blödsinnige Kind, dessen Wille blinder Trieb- 
wille ist, das nur in der niedern Sinnlichkeit lebt, das alberne, kranksinnige Kind, 
das bei aller Entwicklung der niedern Erkenntnissinne doch den Charakter der Ver- 
nünftigkeit entbehrt, sind beide des religiösen Gefühls und darum auch wirklicher 
religiöser Erkenntnis nicht fähig, eben weil das höhere Gemüt stumpf, nicht entwickelt 
ist. Wir haben uns und andere nie damit getäuscht, dass ein ordentliches, ruhiges 
Verhalten Tiefstehender bei der Hausandacht, dass das Wissen von den Thatsachen 
und Wahrheiten des Glaubens bei Kranksinnigen von wirklich religiösem Leben und 
Fühlen begleitet se. Das von Albernen aufgenommene religiöse Wissen schlummert 
in ihnen nur wie etwa der Same unter der Schneedecke, und wir erwarten nicht die 
Frucht, wo die Blüte noch in weiter Ferne steht. Solche Kinder, die den Zusammen- 
hang mit Gott nicht selbst zu unterhalten im stande sind, nehmen in der Anstalts- 


61 


familie die gleiche Stellung ein, wie in jeder christlichen Familie ihre unmändigen 
Glieder, in denen das Gottesbewusstsein noch nicht erwacht ist, für welche aber der 
Glaube und die Liebe der Eltern fürbittend und fürsorgend eintritt und so den Zu- 
sammenhang mit Gott priesterlich unterhält. Wenn aber behauptet werden wollte, 
auch das rein schwachsinnige Kind sei der bewussten Beziehung zu Gott und Gottes 
Reich und Gesetz nicht fähig, so entspricht das dem wahren Sachverhalt und darum 
auch der Wissenschaft, welche doch nur den Thatsachen nachzugehen, sie zu er- 
forschen, darzustellen und za verwerten hat, nicht; denn wer vorurteilsfrei die Schwach- 
sinnigen beobachtet, wird bald finden, dass bei der Mehrzahl die Gemütsseite von der 
Verkümmerung weniger getroffen ist, als die Intelligenz. Wir stehen darum nicht an, 
ein solches Verfahren, das dem Schwachsinnigen die Welt des Geistes verschlossen 
hält und ihn zur bleibenden Unmündigkeit verurteilt, weil er ihm das Höchste, für 
seine Bildung und Hebung unersetzliche Gut, die Beziehung zu Gott vorenthält, für 
eine schwere Versündigung an den Ärmsten, und für unwissenschaftlich zu erklären. 
Wenn wir daher in unsern Kindern Erkenntnis und Furcht vor Gott, Liebe zu ihrem 
Erlöser zu pflanzen suchen, wenn wir für sie beten, sie selbst zum Gebet und zum 
Wandel vor Gott anleiten, und überhaupt in jeder Beziehung beabsichtigen, dass 
unsere Anstalt als. eine christlich religiöse Gemeinschaft sich verwirkliche und als 
solche erkannt werden könne, so ist der Vorwurf einer pietistischen Frömmelei ebenso 
ungerecht, als etwa der Vorwurf, dass wir einer materialistischen Auffassung huldigen, 
weil wir materielle Veränderungen der leiblichen Beschaffenheit als Ursache der 
Schwachsinnigkeit annehmen. Was die Bestimmung des Menschen zur Thätigkeit, 
zur Arbeit betrifft, so liegt auch für den Schwachsinnigen der gleiche Segen in der 
Erfüllung dieser Bestimmung, wie für den geistig gesunden Menschen, und es ist 
daher dringende Aufgabe, den Zögling nach irgend einer Seite ‚hin leistungsfähig oder 
arbeitsfähig zu machen; ja, es ist für tieferstehende nötiger und segensreicher, sie zu 
irgend einer Arbeit zu befähigen und zu gewöhnen, als sie mit ungeheurem Aufwand 
von Zeit und Mühe zu einem ungenügenden Lesen und Schreiben zu bringen, von 
dem sie nachher doch nicht den geringsten Gebrauch machen können. Bei solcher 
Berücksichtigung des menschlichen Wesens in den beiden Momenten, aus denen es 
besteht, und bei unserem Streben, auch die von Gott in die menschliche Natur gelegten 
Wechselwirkungen der einzelnen Vermögen zu erkennen und diese Erkenntnis für 
unser Wirken zu verwerten, glauben wir unsere Grundsätze und unser Verfahren ruhig 
der Prüfung hinstellen zu dürfen, ob sie mit Christentum und Vernunft, also mit 
wahrer Wissenschaft im Einklang stehen, und hoffen auch dem Ziel unserer Aufgabe 
in der That viel näher zu sein, als wenn wir die Zöglinge nach irgend einer selbst- 
geschaffenen Theorie, möchte sie nun für rationell oder für religiös ausgegeben werden, 
behandeln würden. Durch sorgfältige Sammlung unserer Erfahrungen und der Er- 
gebnisse unseres Bemühens und durch Benutzung der anderwärts gemachten und ver- 
öffentlichten wissenschaftlichen und praktischen Fortschritte, durch freundliche Ver- 
bindung mit andern Anstalten hoffen wir nach und nach in den Besitz von Materialien 
zu gelangen, aus welchen allmählich ein vollständiges Gebäude erwachsen könnte, 
nämlich eine wissenschaftliche Zusammenstellung der für die Heilung und Pflege der 
Schwachsinnigen nötigen Grundsätze. Es handelt sich ja nicht um Grundsätze, wie 


62 


sie menschliche Beschränktheit oder Willkür aufstellt, sondern um solche, wie sie aus 
dem Wesen des Menschen notwendig gefolgert werden müssen, wie sie der Schöpfer 
durch die in die Natur des Menschen gelegten und sich immer nach denselben Gesetzen 
manifestierenden Fähigkeiten selbst uns offenbart, und deren Auwenden und Befolgen 
er durch seine unaussprechliche Liebe, durch seine Gebote, Heilsmittel und Ver- 
heissungen uns zur unerlässlichen Pflicht macht. Wir würden glauben, uns selbst 
aufzugeben, wenn wir diesen Weg, dieses Ziel für unser Streben verlassen würden, 
und werden daran in jeder Beziehung unter allen Verhältnissen festhalten.“ 
(Fortsetzung in nächster Nr) 


Die „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und 
Epileptischer“ und die Hilfsschule. 


Ein nicht unerhebliches Verdienst, mit am Ausbau der Hilfsschulen gearbeitet 
zu haben, kann sich unsere Zeitschrift zuschreiben. Vom ersten Jahre ihres 
Bestehens an, 1880, bis zur Gegenwart hat sie eine grosse Anzahl von Auf- 
sätzen veröffentlicht, die ganz speziell Bezug haben auf die Hilfsschule. Die 
übrigen Abhandlungen sind in dem „Organ der Konferenz für das Idiotenwesen“ 
naturgemäss für die Idiotenanstalten und ihre Arbeiten berechnet. Die nahe 
Verwandtschaft der Hilfsschule mit der Idiotenanstalt, sowie der Umstand, dass 
die Idiotenanstalten nicht bloss Pflege- und Erziehungsanstalten sind, sondern in 
vorwiegendem Masse auch dem Unterrichte ihre Zeit widmen, bringt es mit 
sich, dass die letzterwähnten Abhandlungen wichtige Ratschläge für die Ver- 
waltung, den inneren Betrieb und die Unterrichtsmethodik auch der Hilfsschule 
aufweisen. 

Zur Information für Hilfsschullehrer, welche sich theoretisch eingehend aus- 
bilden wollen, geben wir in Nachstehendem eine Zusammenstellung der eigens 
für die Hilfsschule geschriebenen Artikel. Wer es ernst meint mit seiner Fort- 
bildung auf heilpädagogischem Gebiete, wird nicht umhin können, auch dem 
weiteren Iuhalte der Zeitschrift seine Beachtung zu schenken. 

Wir teilen die Artikel in vier Rubriken ein: Geschichtliches, Allgemein- 
pädagogische Abhandlungen, Allgemeine Unterrichtsgrundsätze, Zur 
speziellen Methodik. 

Die Zusammenstellung giebt zugleich einen Überblick über die noch zu 
bearbeitenden Lücken, und werden die Kollegen zur Mitarbeit freundlichst ein- 


geladen. 
I. Geschichtliches. 


Jahrgang 1880/81, Nr. 1, E. Falch: Über die Berechtigung besonderer Klassen 
bez. Schulen für die leichtesten Formen des Schwachsinns. 

J. 1881/82, Nr. 1, Dr. Berkhan: Die Hilfsklassen für schwachbefähigte Kinder 
bei den Bürgerschulen zu Braunschweig. 

J. 1881/82, Nr. 5, Dr. Berkhan: Über die Grundsätze, nach denen Hilfsklassen 
einzurichten sind. 


nn Cd 


uns 


us C 


Sd 


wm : 


63 


. 1883/84, Nr. 3 u. 4, Kielhorn: Über Hilfsklassen für Halbidioten. 
. 1885, Nr. 3, Kielhorn: Die Hilfsklassen für schwachbefähigte Kinder in 


Braunschweig. 


. 1887, Nr. 1 u. 2, Dr. Bartels: Über die Klassen für Schwachbefähigte. 
. 1888, Nr. 2, E. R.: Wohin drängt die Entwicklung der Schwachsinnigen-Schulen ? 
.1889, Nr. 5, Reichelt: Welche Kinder gehören in die Hilfsklassen und welche 


in die Idiotenanstalten ? 


. 1890, Nr. 2, Piper: Ein Wort, die Hilfsklassen oder Hilfsschulen betr. 


1890, Nr. 3, Kielhorn: Ein Wort, die Hilfsklassen oder Hilfsschulen betr. 
1890, Nr. 4, Piper: Ein Wort, die Hilfsklassen oder Hilfsschulen betr. 
1891, Nr. 3u.4, E. Reichelt: Mein Antrag auf der Braunschweiger Konferenz. 
1892, Nr. 4, Weniger: Eine Anregung zum Besten unserer Hilfsschulen. 


. 1900, Nr. 4, 5, 6, Tätzner: Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen 


für schwachsinnige Kinder zu errichten, und die Art, wie dieser Ge- 
danke in der Nachhilfeschule zu Dresden -Altstadt Verwirklichung 
gefunden hat. 


.1896, Nr. 1, Strakerjahn: Bericht über die Nebenversammlung für Lehrer an 


Hilfsschulen zu Heidelberg. 


.1898, Nr. 1: Gründung des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. 
. 1898, Nr. 4 u. 5: Bericht über den 1. Verbandstag der deutschen Hilfsschulen 


zu Hannover. 


. 1899, Nr. 5: Bericht über den 2. Verbandstag der deutschen Hilfsschulen zu 


Kassel. 


II. Allgemeinpädagogische Abhandlungen. 


. 1880/81, Nr. 4, E. Reichelt: Die Kräftigung des Willens bei bildungsfähigen 


idiotischen Kindern. 


. 1882/83, Nr. 3, E. Falch: Der Schwachsinn vor Gericht. 

. 1889, Nr. 3, 4, 5, Kielhorn: Der schwachsinnige Mensch im Öffentlichen Leben. 
.1891, Nr. 5, H. Mahler: Die Hygiene der Schule. 

. 1892, Nr. 2 u. 3, H. Horrix: Welche Anforderungen stellt die Hilfsschule an 


den Lehrer? 


. 1893, Nr. 2 u.3, Kielhorn: Zum Schutze der Schwachsinnigen im öffentlichen 


Leben. 


J. 1893, Nr. 4, Kielhorn: Zum Schutze körperlich und geistig belasteter Kinder. 
.1894, Nr. 1, Kielhorn: Anträge, das bürgerliche Gesetzbuch betreffend. 
. 1894, Nr. 5 u. 6: Übersicht der bei Abfassung der Charakteristiken der Kinder 


einer Schwachsinnigen-Schule zu beachtenden Merkmale. 


. 1895, Nr. 4 und 5, Kannegiesser: Beurteilung des kindlichen Geistes durch 


Spiegelschrift. 


. 1895, Nr. 3 u. 4, Becher: Die geistig Zurückgebliebenen mit besonderer Be- 


rücksichtigung derjenigen in den Volksschulen. 


.1896, Nr. 4, Wintermann: Die Fürsorge für unsere Schüler bei deren Ent- 


lassung aus der Schule und in späteren Jahren. 





Qa C C 


u 


u 


Zi 


u 


eo. 


.1896, Nr. 7 u. 8, Dr. Dillner: Ergebnisse ärztlicher Untersuchung schwach- 


sinniger Kinder und ihre Bedeutung für den Lehrer. 


.1896, Nr. 5 und 6, Dr. Gündel: Zur Klassifizierung der Idioten. 
.1899, Nr. 2, Fuhrmann: Das Verhältnis der Hilfsschule zur Volksschule. 
. 1899, Nr. 9, Kannegiesser: Der schädliche Einfluss behinderter Nasenatmung 


auf die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder. 


. 1899, Nr. 10 u. 11, A. Fisler: Über den Beruf und die Aufgabe eines Lehrers 


und Erziehers bei Schwachsinnigen. 


III. Allgemeine Unterrichtsgrundsätze in der Hilfsschule. 


.1893, Nr.2 u. 3, K. Richter: Über den Unterricht schwachsinniger Kinder. 
. 1897, Nr. 2 u. 3, Ziegler: Bemerkungen zum „gemütlich anregenden“ Unter- 


richt in Idiotenklassen. 


.1897, Nr. 8, Chr. K.: Der Lehrvortrag in unserer Schule. 
.1898, Nr. 1, 2, 3, Ziegler: Die Kinder können zu viel. 
. 1899, Nr. 7 u. 8, Ziegler: Zum erziehenden Unterricht bei schwachsinnigeu 


Kindern. 


. 1900, Nr. 3, 4, 5, Ziegler: Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des 


Unterrichts bei schwachsinnigen Kindern. 


.1887, Nr. 1, 2, 3: Lehrplan für die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder 


zu Braunschweig. 


IV. Zur speziellen Methodik. 
Religion. 


.1894, Nr. 3, W. Schroeter: Lehrplan für den Religionsunterricht. 
. 1897, Nr. 5, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe. Hochzeit zu Kana. 


Deutsch. (Lesen, Sprechen, Schreiben.) 


.1896, Nr. 2, Horrix: Aufsatzübungen in der Hilfsschule. 
. 1896, Nr. 3: Die Lesebuchfrage vom Standpunkte der Leipziger Schwach- 


sinnigen -Schule aus betrachtet. 


. 1887, Nr.7 u. 8, Horrix: Der Leseunterricht in der Hilfsschule. 
. 1900, Nr. 8: Ein Lesebuch für Schwachsinnige. 
. 1888, Nr. 1, Piper: Welche Unterrichtsdisziplinen sind mit Rücksicht auf die 


an Sprachgebrechen leidenden Idioten zu pflegen? Sind auf Erfahrung 
beruhende Methoden vorhanden, resp. welcher Lehrgang ist vor- 
zuschlagen ? 


. 1890, Nr. 1 u. 2, Weniger: Die Sprachstörungen bei geistig Zurückgebliebenen 


und ihre methodische Behandlung. 


. 1893, Nr. 5, Piper: Die Sprachgebrechen bei idiotischen Kindern und deren 


Heilung. 


. 1896, Nr. 1, Piper: Der grundlegende Sprechunterricht bei stammelnden 


schwachsinnigen Kindern. 


. 1896, Nr. 8, Frenzel: Zehn Fälle von Aphasie bei idiotischen Kindern und 


deren unterrichtliche Behandlung. 


u u u u Cd 


Ci Cod 


65 


. 1897, Nr. 6 u. 7, Frenzel: Der Sprechunterricht sprachloser Geistesschwacher. 


1897, Nr. 2 u. 3, K. Kölle: Der Sprechunterricht. 


. 1897, Nr. 5, Dr. K. Bock: Die Aphasie und ihre Behandlung durch Sprach- 


unterricht. 


.1898, Nr. 7 u. 8, Piper: Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen 


Kinder zum Sprechen bringen ? 


. 1899, Nr. 1 u. 2, Frenzel: Der Artikulationsunterricht bei geistesschwachen 


Kindern. 


.1897, Nr. 1, Horrix: Der Schönschreibeunterricht in der Hilfsschule. 
. 1898, Nr. 2, Wehle: Über Schreibvoräbungen. 
. 1899, Nr. 9, Horrix: Rechtschreibübung in der Hilfsschule. 


Anschauungsunterricht. 


. 1894, Nr. 2, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe. 
.1894, Nr. 5 u. 6, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe. 
. 1897, Nr. 6 u. 7, Wintermann: Lehrplan für den Anschauungs- und heimat- 


kundlichen Unterricht in der dreiklassigen Hilfsschule. 


.1898, Nr. 1, Horrix: Wie vermittelt die Hilfsschule die Fertigkeit, an der 


Uhr die Zeit abzulesen ? 


. 1899, Nr. 12, Horrix: Der Anschauungsunterricht in der Hilfsschule. 
. 1900, Nr. 1, Dost: Die Meinhold-Kempterschen Bilder und ihre Verkörperung 


durch Modelle im Dienste des Anschauungsunterrichtes der Schwach- 
sinnigen-Schule. 


. 1901, Nr. 1, Loeper: Sinn- und Sprechübungen (Unterscheidungsübungen) in 


der Hilfsschule. 


. 1900, Nr. 11 u. 12: Lehrplan für den naturkundlichen Unterricht. 


Vorstufe. 


. 1882/83, Nr. 6, R. Scheffler: Thätigkeitsübungen für die Vorstufe. 

.1890, Nr. 3, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe: Das Mosaikspiel. 

. 1895, Nr. 1, Horrix: Die ersten vorbereitenden Übungen in der Hilfsschule. 
. 1898, Nr. 4, 5, 6, 7, Nitzsche: Aus der Praxis der Vorschule. 

.1898, Nr. 4 und 5, Weniger: Übe und pflege die Selbstthätigkeit der Schüler. 


Übungen mit den Formenbrettern. 


Rechnen. 


. 1887, Nr. 6, Roth: Die natürlichste Rechenmaschine. 
. 1899, Nr. 10 u. 11, Cb. K.: Zum Rechenunterricht in der Schule für Schwach- 


sinnige. 
Zeichnen. 


.1899, Nr. 7 u. 8: Zur Methodik des Zeichenunterrichts in Schwachsinnigen- 


Schulen. 
Handfertigkeit. 


. 1892, Nr. 5 u.6, P. Müller: Der Handfertigkeitsunterricht bei Schwachsinnigen- 
.1894, Nr. 1, Müller: Der Handfertigkeitsunterricht bei Schwachsinnigen. 


66 
J. 1895, Nr. 2, Wintermann: Lehrplan für den Handarbeitsunterricht einer drei- 
klassigen Hilfsschule. 
J. 1900, Nr. 8, Frenzel: Der Knaben-Handarbeitsunterricht bei geisiesschwachen 
Kindern. 

Zum Schluss wollen wir nicht verfehlen, auf das unter „Mitteilungen“ und 
„Litteratur“ der Zeitschrift befindliche wertvolle Material hinzuweisen. Unter 
„Mitteilungen“ finden wir z. B. Berichte über die Hilfsschulen in Hannover, Gera, 
Braunschweig, Dresden, Leipzig, Bremen, Breslau, Hamburg, Posen, Erfurt u. a. 

Weniger-Schwelm in Westf. 


Mitteilungen. 


Dresden. (Nachhilfeschulen.) Die beiden Nachhilfeschulen hatten im Schul- 
jahr 1900/01 einen Bestand von zusammen 147 Schülern. Davon gehörten der 
Altstädter Nachhilfeschule (links der Elbe) 123 Kinder an, der Neustädter Nach- 
hilfeschule (rechts der Elbe) 24. Während in letzterer der Schülerbestand seit Jahren 
eine merkliche Veränderung nicht erfahren hat, ist die Schülerzahl in der Altstädter 
Schule in den letzten fünf Jahren von 97 auf 123 gestiegen. — Im Laufe des 
letzten Schuljahres traten in die Altstädter Nachhilfeschule 33 Kinder neu ein; 19 
dieser Kinder hatten zuvor andere Dresdner Volksschulen besucht, 7 waren von aus- 
wärts zugezogen, darunter eins von Leipzig, wo es die Hilfsschule für Schwachbegabte 
besucht hatte, 2 kamen infolge Umzugs aus der Neustädter Nachhilfeschule, und 
5 Kinder traten ein, ohne zuvor eine Schule besucht zu haben. Diese letzteren waren 
im Alter schon weit vorgeschritten und standen geistig so tief, dass eine versuchs- 
weise Aufnahme in die allgemeine Volksschule nicht zweckdienlich erschien. — Dem 
Alter und der geistigen Entwicklung nach standen die neu aufgenommenen 
Schüler auf ganz verschiedenen Stufen. Bei ihrer Verteilung auf die einzelnen Klassen 
kam selbstverständlich nur ihr geistiger Standpunkt und der Grad ihrer Kenntnisse 
in Betracht. Darnach konnte der ersten Klasse keiner der -neu eingetretenen Schüler 
zugewiesen werden; 4 wurden der II. Klasse zugeteilt, 1 Schüler der III. Klasse, 
6 der IV. Klasse, 4 der V. Klasse und 18 Schüler wurden der VI. Klasse zuge- 
wiesen. — In der letzteren Klasse waren im vorangegangenen Schuljahre 6 Kinder 
sitzen geblieben, sodass nach Aufnahme der 18 neuen Schüler diese Klasse aus 
24 Schülern bestand. Zwei Schüler traten im Laufe des Jahres infolge Wegzuges 
wieder aus; es behielt die VI. Klasse mithin nur einen Bestand von 22 Schülern. — 
Zur näheren Charakterisierung der gegenwärtig die unterste Klasse bildenden 
Schüler und zur Kennzeichnung der Verhältnisse, in welchen dieselben leben, 
mögen die weiterhin folgenden Angaben dienen. — Die Altersstufen der aus 
11 Knaben und gleichvielen Mädchen bestehenden Schülerzahl gehen weit auseinander; 
während das jüngste der Kinder 7 Jahr alt ist, hat das älteste bereits das 15. Lebens- 
jahr überschritten. 14 der Kinder besuchen die Klasse das erste Jahr, 6 Kinder das 
zweite Jahr, und 2 besunders schwache Kinder gehören der Klasse das dritte Jahr 
an. Viele Kinder sind neben ihrer geistigen Schwäche auch körperlich schwer belastet. 


67 
Eine grosse Anzahl leidet an Nervenschwäche und Blutarmut, sowie auch an Rhachitis 
und Skrofulose. Drei Kinder sind gelähmt, eins davon rechtsseitig, sodass dieses mit 
der linken Hand schreiben muss. Bei 9 Kindern ist die Schädelbildung eine ab- 
norme; zwei Kinder sind als grossköpfig, vier als kleinköpfig zu bezeichnen. Eins 
der letzteren hat die Kopfbildung eines Azteken. Bei einem Kinde ist die Schädel- 
form viereckig, bei zwei anderen hat das Hinterhauptbein eine auffallend wulstige 
Ausbauchung. An Krümmung der Wirbelsäule leiden zwei Kinder, und bei drei 
Kindern findet sich Hühnerbrust vor. Ein Kind ist als Zwerg zu bezeichnen; os ist, 
obgleich 11 Jahr alt, doch nur 91! cm gross. Das Gehen hatten 12 Kinder 
vor dem 2. Lebensjahre gelernt, 8 Kinder aber erst in dem 3. und 4. Jahre und 
2 Kinder sogar erst zwischen ihrem 5. und 6. Lebensjahre. Neun Kinder haben jetzt 
noch einen schwerfälligen, wackligen Gang. An allgemeiner Muskelschwäche leiden 
8 Kinder. Eine krankhafte Beschaffenheit der Sinnesorgane findet sich 
bei 5 Kindern; drei derselben sind kurzsichtig, zwei sind schwerhörig. Fünf Kinder 
leiden an Ohrenfluss und ebensoviele an Speichelflus. Das Sprechen hatten, den 
Angaben der Eltern nach, 9 Kinder bis zum zweiten Lebensjahre gelernt, 9 andere 
Kinder lernten es in ihrem dritten bis vierten Jahre, 3 Kinder aber erst zwischen 
dem fünften und sechsten und 1 sogar erst mit dem siebenten Lebensjahre. — Es 
ist leicht erklärlich, dass die Sprachentwicklung bei denjenigen Kindern, die so auf- 
fallend spät zu sprechen anfingen, auch jetzt noch eine unvollkommene ist; ja, 8 
dieser Kinder stammeln noch in recht hohem Grade. Stotterer finden sich dagegen 
unter ihnen nicht. — Die angegebenen körperlichen Übel und Gebrechen finden sich 
bei dem einzelnen Schüler auch vielfach als Komplikationen vor. So ist z. B. der 
Schüler L. mit einer ganzen Reihe von Abnormitäten behaftet. Dieser Schüler hat 
1. einen viereckig geformten Schädel; 2. schräg gestellte Augenhöhlenachsen; 3. eigen- 
tümlich verbogene Ohrenmuscheln; 4. Hühnerbrust; 5. rauhe Haut mit auffallend ver- 
minderter Schmerzempfindlichkeit; 6. Muskelschlaffheit; 7. wackligen, schiebenden Gang; 
8. hochgradige Schlafsucht (diese hat sich in letzter Zeit gemildert); 9. chronischen 
Katarrh der Nasen- und Rachenhöhle; 10. Speichelfluss; 11. schwache Sehkraft und 
12. mangelhafte, stammelnde Sprache. — Die körperlichen Gebrechen der Kinder und 
insbesondere der krankhafte Zustand ihres Nervensystems mussten zweifellos auch 
einen höchst nachteiligen Einfluss auf ihr ganzes Verhalten ausüben. — Bei den meisten 
der Kinder äussert sich der abnorme Nervenzustand als allgemeine nervöse Unruhe; 
bei 3 Kindern äussert er sich als krankhafter Jachreiz mit Veitstanz ähnlichen 
Erscheinungen; bei 4 Kindern als Angstgefühl und Schreckhaftigkeit; bei 3 Kin- 
dern als Neigung zu plötzlichem Wechsel in der Gemütsstimmung; bei ebenfalls 
3 Kindern als Necklust und Zanksucht; bei 2 als Neigung zur Gewaltthätigkeit ; 
bei 1 Kinde als Überstürzung im Sprechen; und bei 4 Kindern als Schwatz- 
haftigkeit. — Über die Zeit des Beginns der Geistesschwäche dieser Kinder liess sich 
auf Grund der elterlichen Angaben feststellen, dass bei 16 Kindern der Schwachsinn 
angeboren ist und zwar bei 6 Kindern infolge Nerven- oder Gemütskrankheit der 
Mutter; bei 4 Kindern infolge Früh- oder infolge Schwergeburt und bei ebenfalls 
4 Kindern infolge Trunksucht des Vaters. In 2 Fällen sind bestimmte Ursachen 
nicht bekannt, es ist aber in diesen Fällen auf angebornen Schwachsinn zu schliessen, 


68 


da die Geschwister der betr. Kinder auch schwachsinnig sind. — An orworbenem 
Schwachsinn leiden 6 Kinder und zwar 3 infolge überstandener Gehirnkrankheiten 
und 3 infolge Rhachitis. — Die Wohnungsverhältnisse sind bei 7 Kin- 
dern als besonders gute, bei 7 anderen aber als besonders mangelhafte zu 
bezeichnen. Ein eigenes Bett haben nur 12 von den 22 Kindern der Klasse. Sieben 
Kinder schlafen mit einem Geschwister zusammen, ein Kind sogar mit zwei Geschwistern. 
In zwei Fällen schliefen die Kinder mit der Mutter zusammen, ein Übelstand, der in 
beiden Fällen aber beseitigt worden ist. — Die meisten Eltern unterstützen die Schule 
nach besten Kräften; 10 Kinder werden von der Mutter oder von einem der Ge- 
schwister, zum Teil regelmässig, zur Schule gebracht und wieder abgeholt, was bei 
den zumeist weiten Schulwegen für diese ein grosses Opfer bedeutet. In einzelnen 
Fällen ist die Mithilfe des Elternhauses zu vermissen gewesen, in diesen Fällen lag 
aber in der Regel nicht böser Wille vor, sondern es waren missliche Verhältnisse, 
welche es den betr. Eltern unmöglich machten, sich mehr um ihre Kinder zu kümmern. — 
Mit Ostern werden 16 Konfirmanden die Nachhilfeschule verlassen, darunter 
9 Knaben. Von den letzteren wollen 4 ein Handwerk lernen und zwar will je 
einer Fleischer, Tischler, Schriftmaler und Lackierer werden. Zwei Knaben werden 
als Arbeitsburschen und drei als Stall- bez. als Hausburschen ein Unterkommen finden. 
Von den Mädchen will eine zu einer Herrschaft in Dienst gehen, während die übrigen 
zu Hause bleiben sollen, um der Mutter in der Hauswirtschaft behilflich zu sein. 
Pruggmayer. 

Freiburg, Schl. (Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.) Die Anstaltsschule 
erhielt eine Vergrösserung, da zur bessern Erteilung des Unterrichts eine andere 
Klassenteilung notwendig wurde. Es ist deshalb ein drittes Schulzimmer eingerichtet 
und eine dritte Lehrkraft angenommen worden. Die Schule besuchten 25 Knaben 
und 24 Mädchen. 

Schwelm. (Hilfsschule.) Die Hilfsschule zu Schwelm wurde zu Ostern 1900 
eröffnet und der Leiter derselben, Lehrer Weniger, früher in Gera (Reuss), durch 
den Kgl. Kreisschulinspektor eingeführt. In der Schule wurden sämtliche in den 
hiesigen vier Schulsystemen befindlichen geistesschwachen Kinder vereinigt, wodurch 
allerdings die Schülerzahl eine grosse geworden ist. Die Klasse zählt 31 Kinder. 
Die Errichtung einer zweiten Klasse wird in Erwägung gezogen. Unter den 31 Kindern 
waren 4 Knaben und 1 Mädchen kurzsichtig und 3 Knaben schwerhörig; 2 Mädchen 
stotterten und 2 Knaben und 2 Mädchen stammelten. Nach dem Religionsbekenntnis 
waren 21 Kinder evangel.-lutherisch, 4 Kinder evangel.-reformiert, 6 Kinder katholisch. 
Als Ursachen der geistigen Schwäche ergaben sich 

bei 8 Kindern Trunksucht der Eltern, 
jm a “ schwere Kopfverletzungen, 
„1 , verschiedene Krankheiten: Scrophulosis, Rhachitis etc. 
y Frühgeburt und langsame Entwicklung, 
n erbliche Belastung, 
Lähmung, 
i Kopf- und Ohrenleiden, 
„ Krämpfe in früheren Lebensjahren, 


U O9 m DD m 


69 

Ostern 1901 werden vier Knaben konfirmiert und entlassen, sie sind alle erwerbs- 
fähig. Ein Knabe tritt in eine Schlosserei ein, einer in eine Fabrik und zwei bleiben 
im elterlichen Hause, um ihrem Vater bei landwirtschaftlichen Arbeiten zu helfen. — 
Im Religionsunterrichte wurde bei Darbietung der biblischen Geschichien in erster 
Linie auf die schwächeren Schüler Rücksicht genommen, mit den vor der Konfirmation 
stehenden Kindern und den nächstjährigen Konfirmanden wurden Katechismusstücke, 
Gesangbuchstrophen und Sprüche repetitorisch herangezogen und die Heilsgeschichte 
im Leben Jesu in ausführlicherer Weise zur Darstellung gebracht. — Der An- 
schauungsunterricht hatte die Aufgabe den Formen- und Farbensinn, das Begriffs- 
vermögen überhaupt und die Sprachfertigkeit zu wecken und zu fördern und den 
Anschauungskreis je nach der geistigen Kraft der Kinder zu erweitern. Er diente 
einmal dazu, den Religionsunterricht zu unterstützen, indem er die in den biblischen 
Geschichten vorkommenden neuen Begriffe erläuterte, so dass in der Religionsstunde 
mehr auf den religiös sittlichen Inhalt eingegangen werden konnte; zum andern schloss 
sich der Anschauungsunterricht an die Vorgänge in der Natur nach den Jahreszeiten 
und an die historischen Gedenktage an (Kaisers Geburtstag, Einweihung des Kaiser 
Friedrich Denkmals, Gedenkfeier des 200 jährigen Bestehens des Königreichs Preussen). 
Durch Singen zum Anschauungsstoff passender Volkslieder und Einübung einiger 
Choräle wurde der Unterricht erheblich belebt, durch Turnübungen die erschlaffende 
geistige Regsamkeit ermuntert und die körperliche Gewandtheit gefördert. Im Hand- 
fertigkeitsunterricht wurde das Stäbchenlegen, das Verschränken, Falten und 
Flechten geübt, dem sich zuletzt das Formen in Plastilina anschloss. Im Hand- 
arbeitsunterrichte für die Mädchen wurden von Frl. Hielscher durchgenommen : 
I. Gruppe: Stricken eines wollenen Strumpfes, Aufschlagen, Abnehmen, Stricken der 
Ferse und des Käppchens. Die dazu nötigen Berechnungen konnten die Schülerinnen 
nur teilweise ausführen; II. Gruppe: Anfang eines Nähtuches, Strickbeutel, nen 
erlernt: Aufschlagen, I,inksmaschen, Abwechslung rechter und linker Maschen, III. Gruppe: 
Erlernung der Rechtsmaschen; IV. Gruppe: Versuch eines Strickzeuges, dazu Be- 
schäftigung mit leichtesten Ausnäharbeiten nach Fröbelscher Methode. — Rechnen 
und Lesen, als die obnehin schwierigsten Unterrichtsfächer, boten in der einklassigen 
Hilfsschule insofern noch vermehrte Schwierigkeiten, als hier nicht infolge der grossen 
Schülerzahl individualisierend belehrt werden konnte, sondern der Unterricht mehr 
Klassenunterricht sein musste. Neben diesem Gesamtunterrichte musste aber jedes 
Kind, sollte es weiter gefördert werden, seine besonderen Aufgaben erhalten, denn im 
Behalten bereits erworbener Kenntnisse und im Auffassen des neuen Wissensstoffes 
zeigten sich bei den Hilfsschülern die grössten Verschiedenheiten. 

Stolp i. Pom. (Hilfsschule für schwachbegabte Kinder.) Statistische 
Erhebungen weisen nach, dass in den letzten drei Jahren ungefähr 80 neue Hilfs- 
schulen für schwachbegabte Kinder in den verschiedensten Teilen des deutschen Reiches 
begründet worden sind. Zu diesen neuen Hilfsschulen gehört auch die der Stadt 
Stolp i. Pom, welche am 17. Mai 1900 ins Leben trat. Stolp i. Pom. ist die 
grösste Stadt Hinterpommerns, die driltgrösste der Provinz Pommern und zählt nach 
der letzten Volkszählung 28 000 Einwohner. Die Stadt besitzt ein Gymnasium, eine 
lateinlose Realschule eine höhere Mädchenschule, zwei Mittelschulen, zwei grosse Ge- 





70 

meindeschulen und eine einklassige katholische Volksschule, — Der Vorstand des Ver- 
bandes der Hilfsschulen Deutschlands, der sich die Verbreitung dieser Schulgattungen zur 
Aufgabe gestellt hat, sandte im November 1899 dem hiesigen Magistrat ein Rund- 
schreiben zu, das die Bitte aussprach: „Der Magistrat möge die Errichtung einer 
Schule für schwachbegabte Kinder wohlwollend in Erwägung ziehen“. Dem Schreiben 
war der Bericht über die Verhandlungen des II. Verbandstages der Hilfsschulen 
Deutschlands beigefügt, der am 4. und 5. April 1899 zu Cassel tagte. Der Magistrat 
trat der Angelegenheit sofort sympathisch näher, erforderte ein Gutachten über eine 
zu errichtende Hilfsschule für schwachbegabte Kinder von den Rektoren der Gemeinde- 
schulen und erliess eine Umfrage behufs Feststellung der Zahl der schwachbegabten 
Kinder. Auf Grund der eingegangenen Berichte beschloss der Magistrat am 30. No- 
vember 1899 die Errichtung einer Hilfsschule für schwachbegabte Kinder; die Stadt- 
schuldeputation trat diesem Beschlusse am 1. Dezember 1899 und die Stadtverordneten- 
versammlung am 6. desselben Monats bei. Somit war die Gründung einer Hilfs- 
schule für schwachbegabte Kinder „usgesprochen; die Genehmigung derselben seitens 
der Königlichen Regierung erfolgte am 22. Dezember 1899. Zum Leiter der Schule 
wollte man eine Lehrperson wählen, die mit der Unterweisung und Behandlung 
schwachbegabter Kinder vertraut wäresund welcher zu dem Gehalte einer Volksschul- 
lehrerstelle noch eine pensionsfähige Zulage von 300 Mk. gewährt werden sollte. 
Die Wahl derselben erfolgte in der Schuldeputation am 27. Februar 1900 und in 
der Stadtverordnetenversammlung am 1. März 1900. Es wurde als Leiter der Schule 
der Königliche Anstaltslehrer Fr. Frenzel aus Wabern (Bezirk Cassel) gewählt, der 
vorher längere Zeit an einer Taubstummenschule und an einer Erziehungsanstalt für 
geistesschwache Kinder ale Lebrer und Erzieher thätig war. Derselbe meldete sich 
Anfang Mai 1900 zum Dienstantritte und eröffnete, nachdem die Auswahl und Über- 
weisung geeigneter Kinder durch Sachverständige erfolgt war, am 17. Mai 1900 
mit 31 Kindern die städtische Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. — Die 
Hilfsschule gliedert sich nach dem Beispiele der Breslauer Hilfsschulen in eine Ober- 
und eine Unterstufe; diese erhält wöchentlich 20 Unterrichtsstunden, die Oberstufe 24. 
Bei der Aufstellung des Lehrplanes sind Lehrpläne verschiedener Hilfsschulen heran- 
gezogen; Lehrgegenstände sind dieselben wie in andern Hilfsschulen. Über ein jedes 
Kind wird ein Personalbuch geführt; ein Arzt untersucht sämtliche Kinder und steht 
dem Leiter der Schule beratend zur Seite. — Die erste Jahresprüfung, welche am 
9. März 1901 stattfand, ergab durchweg gute Resultate; die Schule hat sich in der 
kurzen Zeit ihres Bestehens viel Vertrauen erworben und wird, von dem Wohlwollen 
der städtischen Körperschaften getragen, sicher zum Wohle der Stadt gereichen. 
Schliesslich sei noch bemerkt, dass die Hilfsschule ihren eignen Etat besitzt und als 
Schule für sich ganz selbständig besteht. — Ausser Stolp i. Pom. besitzt in der Provinz. 
nur noch Stettin eine mehrklassige Hilfsschule, welche bereits 1892 gegründet 
worden ist. Andere Städte, wie z. B. Greifswald, haben bisher des leidigen Kosten- 
punktos wegen die Gründung und Errichtung von Hilfsschulen resp. Hilfsklassen für 
schwachbegabte Kinder hinausgeschoben; hoffentlich treten sie demnächst der Angelegen- 
heit wieder näher und verwirklichen ihre Projekte. 


71 


Litteratur. 


Rechtschreiblesefibel nach phonetischen Grundsätzen bearbeitet 
von Wilhelm Missalek, Lehrer in Breslau. Als Manuskript gedruckt. 
Breslau 1900. Verlag von Wilh. Gottl. Korn. Preis geb. 40 Pf. Dazu 
Begleitwort: Welche Forderungen stellt die Gegenwart an eine mustergiltige 
Fibel, gratis. 

Die pädagogische Welt scheint zur Zeit mit keiner Fibel so recht zufrieden zu 
sein, weil mit keiner recht befriedigende Gesamtresultate erzielt werden; deshalb steht 
gegenwärtig die Fibel-Produktion in höchster Blüte. Es vergeht nicht ein Jahr, ohne 
dass mehrere Fibeln das Licht der Welt erblicken. An einem guten ersten Lesebuche 
sind wir vom pädagogisch-pathologischen Standpunkte aus in hohem Grade interessiert 
und würden ein solches mit Freuden begrüssen. Im allgemeinen finden wir in der 
vorliegenden Fibel ein recht brauchbares Buch auch für unsere Zwecke, das in 
mancher Hinsicht die bereits bestehenden Fibeln für schwachbegabte (Barthold) oder 
zurückgebliebene Kinder (Wehle) übertrifft. Für die Anordnung der Lautzeichen in 
der Fibel sind phonetische Prinzipien massgebend gewesen, wobei auch die Schwierig- 
keit ihrer Schreibformen grösstmögliche Berücksichtigung gefunden hat. Die Auswahl 
der Wörter ist nach der Verbindungsfähigkeit ihrer Laute getroffen. Das gewonnene 
Material wird sobald als möglich in Sätzchen angewandt, an denen Sprachfertigkeit 
und Sprachgefühl gepflegt und geübt werden können. Durchsichtig und klar ist der 
Gedankengang von Anfaug bis zum Schlusse der Fibel, und lückenlos reihen sich 
Laute, Wörter, Sätzchen, Sätze etc. aneinander. Die deutlichen und schönen Bilder, 
welche von einem Münchener Künstler gefertigt sind, erhöhen den Wert des Buches nicht 
unwesentlich und machen seinen Gebrauch interessant. Wenn auch an einigen Stellen 
etwas viel Stoff geboten wird und der Übungen zu viele erscheinen, an andern wieder 
bedeutende lautliche Schwierigkeiten ziemlich früh auftreten, s@ wird der Wert der 
Fibel dadurch gar nicht beeinträchtigt, man darf ja nur aus dem reichen Inhalte der- 
selben das auswählen, was man für geeignet hält; ausserdem sollen die lautlichen 
Schwierigkeiten, wie der Verfasser es mitteilt, beim Erscheinen des Buches auf später 
verschoben und die lateinische Schrift gänzlich entfernt werden. Das würde den Ge- 
brauch der Fibel für unsere Anstalten und Hilfsschulen geeigneter machen. Wir 
müssen mit unsern Schülern im Lesen zunächst einen Kursus ohne Fibel durchmachen, 
ehe wir eine solche mit Nutzen werden gebrauchen können. Nach dieser Voraussetzung 
gewinnt die Fibel für uns die Bedeutung eines Compendiums; daher lässt sich beim 
Leseunterrichte Schwachbegabter jede Fibel verwenden, die den Forderungen, welche 
die gegenwärtige Pädagogik an eine mustergiltige Fibel stellt, überhaupt entspricht. 
Wir empfehlen deshalb die vorliegende Fibel allen Interessenten zur Beachtung nament- 
lich im Hinblicke darauf, dass die Fibelfrage in unserer Angelegenheit demnächst auf 
dem III. Verbandstage deutscher Hilfsschulen zur Erörterung kommen soll. Fr. 


72 


iiaae aiaa 0 


Die X. Konferenz für das Idiotenwesen- 
und die Schulen für schwachsinnige Kinder 


findet vom 


17. bis 19. September d. J. in Elberfeld 


statt. Geschäftsführer des Ortsausschusses ist Herr Beigeordneter Schulrat 
Dr. Boodstein daselbst. Die Vorkonferenz findet am 25. April in Berlin statt. 


Für die Konferenz sind bis jetzt folgende Themata angemeldet: 
1. Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine Grenzregulierung. — 
Dir. Barthold-M.-Gladbach. 
. Die ideale Seite der Idiotenpflege. — Dir. Herberich-Gemünden. 
. Die Anfänge des Schwachsinns. — Dir. Trüper-Jena. 
. Versuch einer Einteilung der Idioten. — Dir. Kölle-Regensberg. 
. Der Formenunterricht bei Schwachsinnigen. — Dir. Kölle-Regensberg. 
. Übersicht über die Entwickelung und den jetzigen Zustand des 
Idiotenwesens in Dänemark. — Dir. Rolstedt-Kopenhagen. 
7. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen. — Postor Bernhard- 
Stettin, Kückenmühle. 
8. Über einige besondere Gruppen unter den Idioten. — Dr. Berkhan- 
Braunschweig. 
9. Über den höheren Grad von Schreibstammeln. — Dr. Berkhan- 
Braunschweig. 
10. Was fordern wir von unseren Zöglingen für die Reife zur Konfirmation ? 
Pfarrer Geiger-Mosbach. 
Weitere Anmädungen werden von dem Vorsitzenden der IX. Konferenz, 
Herrn Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, entgegengenommen. 


on» OD 





Briefkasten. 


Dir. F. i. B., Dr. E. H. i. B., A. M. H. i. B., P. i. L. Erhalten und gutgeschriebeu. — 
K. 2.1. 3. Besten Dank! — L. @. I. St. Ganze Jabrgänge und auch einzelne Nrn. werden, 
soweit solche noch vorrätig sind, zu dem ursprünglichen Preise abgegeben. Bis 1895 erschien 
unsere Zeitschrift in jährlich 6 Nrn. und kostete 3 Mark, 1896 erhöhte sich der Preis bei 
8 Nrn. auf 4 Mark, und seit 1899 kostet das Blatt bei jährlich 12 Nrn. 6 Mark. — 
E. M. i. R. Sie haben recht, kurze Berichte aus den Anstalten und Hilfsschalen und sonstige 
in das Gebiet der Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer fallende Mitteilungen sind 
uns nicht nur willkommen, sondern werden auch entsprechend honoriert. — 





Inhalt: Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetzbuches für Schwachsinnige und Epi- 
leptische. (Dr. W. Weygandt.) — Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- 
sinnige: J. Landenberger. (K. Kölle.) — Die „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 
und Epileptischer.“ — Mitteilungen: Dresden, Freiberg, Schwelm, Stolp i. Pom. — Litteratur: 


Rechtschreiblesefibel. — Die X. Konferenz etc. — Briefkasten. 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


N 
~ ' o o Ew Fo 
5 ' Nr.5 u. 6. XVII. (AI) rg LIBE 





~ 


Zeitsehrift 


für die 


Behandlung Sehwachsinniger und Epleptischer 


Organ der Konferenz für das das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


. ae . 3 
Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzatrasse 27. In Stattgart. 
Erscheint Jährlic ch in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. Anzeigen für e und Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- Juni 1901. Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Bericht 
über den HI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 
zu Augsburg am 10., 11. und 12. April 1901. 
Erstattet von M. Weniger, 
Leiter der städtischen Hilfsschule zu Schwelm i. Westfalen. 
Reihenfolge aller Veranstaltungen. 
A. Mittwoch, den 10. April. 
I. Nachmittags 4 Uhr gemeinsame Sitzung des Verbandsvorstandes und 
des Ortsausschusses im Reservesitzungssaal des Rathauses. 
II. Abends 71/, Uhr im Hotel „Bamberger Hof“ Vorversammlung: 
a) Das Hilfsschullesebuch. Referent: Lehrer Ehrig- Leipzig. 
b) Die Hilfsschulfibel. Referent: Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig. 
c) Der Handfertigkeitsunterricht für Knaben in der Hilfsschule. 
Referent: Lebrer Basedow - Hannover. 
d) Bericht über die neue Hilfsschulstatistik. Referent: Hilfsschullehrer 
Wintermann-Bremen. 
e) Rechnungsablage. 
f) Statutenänderung. 
g) Vorstandswahl. 
B. Donnerstag, den 11. April. 
L Vormittags 9 Uhr im Börsensaal Hauptversammlung. 
1. Genehmigung der Beschlüsse der Vorversammlung. 


2. Begrüssungen. 


74 


3. Vorträge: 
a) Bedeutung der Hilfsschulen in pädagogischer und volkswirt- 
schaftlicher Hinsicht. Referent: Hilfsschullehrer Hanke-Görlitz. 
b) Über den Schwachsinn. Referent: Dr. med. Fr. Wilh. Müller-Augsburg. 
c) Beratung über die dem II. Verbandstage vom Hauptlehrer Kielhorn- 
Braunschweig vorgelegten Leitsätze A bis E über die Organisation der 
Hilfsschule. 
II. 2 Uhr gemeinsames Mittagsmahl im Hotel „Drei Mohren“. 
IIl. Nachmittags 5 Uhr Besuch der Schwäbisch-permanenten Schulausstellung 
und der damit verbundenen Lehr- und Lernmittelsammlung für Hilfsschulen. 
IV. Abends 8 Uhr Festabend im Saalbau „Schiessgraben“, gegeben zu Ehren 
der Gäste von der Augsburger Liedertafel, gegründet 1847, ausgezeichnet 
bei dem Sängerwettstreit zu Karlsruhe 1892 mit dem Kaiserpreis. 


C. Freitag, den 12. April. 


I. Tour nach Ursberg. Eine halbe Stunde von der Bahnstation Thann- 
hausen, dem langjährigen Wirkungsorte des Jugendschriftstellers Christ. v. Schmidt, 
entfernt, liegt im lieblichen Mindelthale das ehemalige Kloster Ursberg. Dasselbe 
wurde im Jahre 1884 von dem Beneficiaten Dominikus Ringeisen angekauft und 
zu einer Heil- und Pflegestätte für Schwachsinnige, Kretinen, Epileptische, 
Taubstumme und Blinde eingerichtet. 1884 zählte die Anstalt 34 Zöglinge. 
Heute beherbergt sie 752 Schwachsinnige und Kretinen, 111 Blinde, 81 Taub- 
stumme und 145 Epileptische. Das Lehr- und Pflegepersonal allein umfasst 
453 Personen. Das ehemalige Klostergebäude wurde bedeutend erweitert und 
für die Zwecke der Anstalt 21 andere Gebäulichkeiten teils neu aufgeführt, teils 
angekauft. 

Mit der Anstalt steht in Verbindung eine Ökonomie (3000 Tagwerk um- 
fassend), eine Mühle, eine Sägemühle mit Stampfmühle, eine Bäckerei, Metzgerei 
und Brauerei, eine Schreinerei, eine Korbflechterei, eine Buchbinderei, eine 
Weberei, eine Strohflechterei u. s. w. 

Die Pfleglinge werden unterrichtet: 1. in der Kleinkinderschule St. Anna 
(60 gebrechliche schwachsinnige Kinder); 2. in der Sprechschule; 3. in einer 
Vorbereitungsklasse und drei Klassen für Schwachsinnige, je 2 bis 3 Abteilungen ; 
4. in zwei Fortbildungsschulen; 5. in zwei Blindenschulen; 6. in einer Schule 
für Schwerhörige mit 5 Abteilungen; 7. in zwei Schulen für gebrechliche oder 
schwachsinnige Taubstumme mit je 4 Abteilungen. Ein 5 kursiges Lehrerinnen- 
Seminar versorgt die Anstalt mit Hilfskräften; dasselbe zählt gegenwärtig 
64 Lehrkandidatinnen. 

Damit auch nach dem Hinscheiden des derzeitigen Besitzers und Direktors 
dieses grossartige Humanitätswerk fortgeführt wird, wurde im Jahre 1897 die 
St. Josephs-Kongregation ins Leben gerufen, der Herr Dominikus Ringeisen als 
Superior vorsteht und deren Mitglieder dauernd dem Werke der Charitas sich 
widmen. 

Ursberg hat 6 Filialen, welche ihre Entstehung ebenfalls dem edlen Priester- 


ln 


Samariter verdanken: 1. Bad Krumbach bei Krumbach; 2. Pfaffenhausen in 
Schwaben (Blindenheim); 3. Percha (4 Villen am Starnbergersee für Rekonvales- 
centen); 4. Fendsbach in Oberbayern; 5. Bildhausen in Unterfranken (Ökonomiegut 
mit 1100 bayer. Tagwerken zu einer neuen grossen Anstalt bestimmt). 

IL. Für Gäste, welche an der Tour nach Ursberg nicht teilnehmen, wird 
folgendes Tages-Programm aufgestellt: 

a) Vormittags unter Führung Besichtigung der Sehenswürdig- 
keiten der Stadt Augsburg. 

b) Nachmittags Ausflug nach Göggingen und Besuch der ortho- 
pädischen Kuranstalt von Hessing- 


Vorversammlung 
im Hotel „Bamberger Hof“ am 10. April 1901, abends 71/,—12 Uhr. 


1. Vorsitzender, Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover: 

Hochgeehrte Damen und Herren! Indem ich die Vorversammlung des II. Ver- 
bandstages der deutschen Hilfsschulen eröffne, begrüsse ich Sie im Namen des 
Vorstands und bringe meine grosse Freude darüber zum Ausdruck, dass er eine über 
alles Erwarten rege Beteiligung gefunden hat. Mindestens 300 Teilnehmer, von 
denen ausserordentlich viele von auswärts kamen, sind erschienen. Mit wenig Aus- 
nahmen sind alle grösseren Städte Deutschlands vertreten; von Königsberg bis 
Lindau und ausserhalb von Wien bis London und Stockholm sind Vertreter hier er- 
schienen. Als wir auf dem Il. Verbandstage zu Kassel von Herrn Schulrat Bauer- 
Augsburg, der leider durch schwere Krankheit verhindert ist in unserer Mitte zu 
weilen, die herzliche Einladung nach hier erhalten hatten, hatten wir doch einige 
Bedenken. Augsburg liegt zu sehr an der Grenze, dass wir uns sagten, wir 
werden wenig Besuch erhalten. Aber zu unserer grössten Freude sind wir 
gründlich getäuscht worden, dank den ausserordentlich rührigen Arbeiten des 
Ortsausschusses und der Liebenswürdigkeit der städtischen Kollegien, welche der 
Sache nähergetreten sind. Dafür allerseits besten Dank. Die Arbeit des Vorstands 
seit dem II. Verbandstage ist eine sehr reichhaltige gewesen. Obgleich viel 
geschehen ist, bis jetzt haben einige 90 Städte Hilfsschulen, so ist doch zu 
erwägen, dass noch 300 Städte mit über 15000 Einwohnern keine Hilfsschulen 
haben. Die zweite Arbeit des Verbandes beruht auf dem inneren Ausbau der 
Hilfsschulpädagogik. Ich eröffne den III. Verbandstag mit dem Wunsche, dass 
auf den Verhandlungen Gottes reichster Segen ruhe. 

Nachdem der Vorsitzende des Örtsausschusses, Oberlehrer und Landtags- 
abgeordneter Schubert, einige geschäftliche Mitteilungen bekannt gab, wurde 
in die Tagesordnung eingetreten. Es erhielt das Wort: 

Lehrer Ehrig-Leipzig zu seinem Referat über das Hilfsschullesebuch. 

Unter den Lehrmitteln, die der Schule zur Verfügung stehen, ist unstreitig 
das Lesebuch eines der wichtigsten, sei es zur Erlangung einer guten Lesefertig- 
keit, sei es zur Unterstützung des Unterrichtes und seiner Wirkung auf Geist 
und Gemüt der Kinder, sei es zur Einführung in unser deutsches Schrifttum 


76 

'Soll es aber seinen Zweck erfüllen, so muss es in möglichstem Einklange mit 
den Verhältnissen der Schule, ihrem Lehrplane und Lehrgange stehen. Wenn 
das im allgemeinen für jede Schule gilt, so insbesondere auch für die Hilfsschule 
für Schwachbefähigte. Allein diese war bisher in der üblen Lage, in ihren 
Klassen Lesebücher gebrauchen zu müssen, die nach Auswahl und Anordnung 
des Stoffes für 6—8klassige Schulen normal beanlagter Kinder berechnet und 
den Lehrgängen der einzelnen Klassen gemäss zusammengestellt waren. Für 
schwachsinnige Kinder bieten sie teils zu viel, teils zu wenig. Zu viel, weil 
die Lesestücke, sowohl nach ihrer Zahl, als nach ihrem Inhalte, vielfach den 
engen Anschauungs- und Erfahrungskreis solcher Kinder überschreiten und 
ein weit umfangreicheres und tieferes Vorstellungsleben voraussetzen, als es diese 
besitzen; zu wenig, weil in den unteren Teilen dieser Lesebücher, die doch in 
der Hilfsschule nur benutzt werden können, so manches nicht zu finden ist, was 
teils der mechanischen Lesefertigkeit dient, teils Lehrstoffe der oberen Klassen 
der Volksschule betrifft, die auch schwachsinnigen Kindern, freilich in einfacherer 
Form, geboten werden können, um sie einigermassen in Welt und Leben ein- 
zuführen. Ein zweiter Missstand betrifft die sprachliche Seite vieler Lesestücke, die 
in Ausdrucksweise, Redewendungen und Satzbau dem geistigen Standpunkte und 
der Sprachkenntnis schwachsinniger Kinder zu hoch liegen und ihrem Verständ- 
nisse nur schwer und mit viel Zeitverlust nahe gebracht werden können. Nach 
dem allen vermochten die bisher in Hilfsschulen gebrauchten Lesebücher, nach 
Inhalt wie nach Form, keineswegs den Unterricht schwachsinniger Kinder in 
wirksamster Weise zu unterstützen. 

Dass dies allseitig als ein schwerwiegender Mangel empfunden wurde, zeigte 
sich 1895 in der Konferenz für Idiotenwesen zu Heidelberg, wo in einer zablreich 
besuchten Nebenversammlung der Vertreter von Hilfsschulen nach einem Vor- 
trage des Schulvorstehers Kruse in Altona das Bedürfnis eines eigenen Lese- 
buches für Hilfsschulen einhellig anerkannt und die Herausgabe eines solchen 
angeregt wurde. 

Das gleiche Bedürfnis hatte sich dem Lehrerkollegium der Leipziger Hilfs- 
schule schon vorher, namentlich seit Anfang der neunziger Jahre aufgedrängt, 
als die Schule infolge der Einverleibung der Vororte in ungeahnter Weise jedes 
Jahr an Umfang und Klassenzahl wuchs und 1893 eine Gliederung in vier 
Stufen nebst einer Vorstufe eingetreten war. So reifte denn der Entschluss, die 
Bearbeitung eines eigenen Lesebuchs gemeinsam zu unternehmen. Im Herbste 
des Jahres 1895 ist damit begonnen und das Ganze nach zahlreichen Kom- 
missions- und Gesamtberatungen vorigen Herbst fertiggestellt worden. Dank 
des uns jederzeit bewiesenen Wohlwollens unserer städtischen Bebörden, die die 
Drucklegung sicherten, liegt es nunmehr als „Lesebuch für Hilfsschulen* in 
zwei Teilen vor, von denen der erste für die vierte und dritte Stufe, der zweite 
für die beiden oberen Stufen unserer Schule berechnet ist; die Vorstufe, welche 
die schwächsten Kinder umfasst, die erst an der Hand der Fibel nach der 
Schreiblesemethode lesen lernen müssen, war selbstverständlich auszuschliessen. 
Dass wir uns. nicht zur Abfassung eines einbändigen Lesebuchs entschliessen 


77 


konnten, hatte einen äusseren und einen inneren Grund. Zunächst einen 
äusseren. Ein einbändiges Lesebuch würde sich in den Händen unserer Kinder 
etwa vier bis sechs Jahre befinden. Ganz abgesehen von der Unhandlichkeit 
eines solchen, namentlich für die unbeholfenen Kinder der unteren Stufen, 
würde dasselbe schon in den unteren Stufen so abgenutzt werden, dass es kaum 
bis in die oberen Stufen sein Dasein fristen und den Eltern vermehrte Kosten 
wiederholter Neuanschaffungen auferlegen würde. Der innere Grund für die 
Zweiteilung unseres Lesebuches lag in unserem Lehrplane. Während für die 
unteren Stufen der Anschauungsunterricht den Mittel- und Anknüpfungspunkt 
für alle übrigen Unterrichtsgegenstände, seien sie nun religiöser und sittlicher oder 
realistischer Art, bildet, treten dieselben auf den oberen Stufen mehr selbständig neben 
einander und bedingen dadurch auch eine andere Gruppierung der Lesestücke, 
die zu ihnen in Beziehung stehen. Bei einem einbändigen Lesebuche würde das 
die übersichtliche Anordnung der stofflich wie sprachlich so verschiedenen Lese- 
stücke erheblich erschweren oder geradezu zu einer Scheidung derselben in 
zwei Abteilungen nötigen, die einer vorteilhafteren zweiteiligen Herausgabe des 
Lesebuchs gleichkäme. — Da wir der Ansicht sind, dass ein Lesebuch für die 
Hilfsschule in erster Linie und namentlich für die schwächeren Kinder die 
Förderung der mechanischen Lesefertigkeit ins Auge zu fassen, im übrigen 
durch Anschluss an den Lehrplan aber den Unterricht wirksam zu unterstützen 
habe, so war uns damit der Massstab für die Auswahl der Lesestücke vor- 
gezeichnet. Die Stoffgebiete, über die sich die Auswahl zu erstrecken hatte, 
waren in der Hauptsache das sittlich-religiöse und das realistische. Bei der 
bedauerlichen Schwäche an sittlicher Einsicht und religiösem Empfinden, die 
schwachsinnigen Kindern meist eigen ist, erschien es notwendig, eine genügende 
Zahl von Lesestücken aufzunehmen, die ihnen gute Sitte und löbliches Ver- 
halten gegen jedermann, Sinn für Recht und Wahrheit, Teilnahme am Wobl 
und Wehe der Mitmenschen und allen lebenden Wesen, eine gesunde christliche 
Moral und eine reine, würdige Gottesverehrung vor Augen stellen und dadurch 
einen fördernden Einfluss auf ihr Denken und Urteilen, ihre Gesinnungs- und 
Handlungsweise auszuüben versprechen. Die geeigneten Stoffe suchten wir in 
dem reichen Schatze der Erzählungen, in Fabeln, in Gedichten und nicht weniger 
in gebräuchlichen Sprichwörtern. Bei den realistischen Stoffen handelt es sich 
um Lesestücke, die sich in den unteren Stufen an den Anschauungsunterricht, 
die Heimat- und Naturkunde, in den oberen Stufen an Geographie und Geschichte 
noch anschliessen. Freilich waren die sich uns darbietenden Stoffe nicht immer 
so zu benutzen, wie sie unmittelbar vorlagen, da sie teils in sprachlicher, teils 
in sachlicher Hinsicht den Standpunkt unserer Kinder überstiegen. Es galt aber, 
verschiedene derselben erst für unsere Zwecke zurecht zu machen. Die An- 
ordnung der Lesestücke geschah im allgemeinen nach der Verwandtschaft ihres 
Inhaltes, so dass also prosaische und poetische Stücke nicht gesondert, sondern 
in abwechselnder Reihenfolge auftreten, je nachdem die Gleichheit des be- 
handelten Stoffes es bedingte, ebenso wurden die Sprichwörter und Denksprüche 
denjenigen Stücken angeschlossen, aus denen sie sich herleiten lassen. Was 


3 
+ 


78 

nun die gesamte Ordnung der Lesestücke betrifft, so schliesst sie sich im ersten, 
für die beiden unteren Stufen bestimmten Teile ganz unserem Lehrplane an, 
nach welchem der Anschauungsunterricht im Mittelpunkte des Sachunterrichts 
steht; und da dieser dem Jahreslaufe nachgeht, so reihen sich die verschiedenen 
Lesestücke einschliesslich der von sittlich-religiöser Art seinem Gange an und 
es entstanden die Abschnitte: I. im Frühlinge, II. im Sommer, IIL im Herbste, 
IV. im Winter. Da der erste Teil des Lesebuchs vor allem der Übung im 
Lesen mit dienen soll, so wurde ihm zur Einübung der lateinischen Schrift noch 
ein Abschnitt vorangestellt, der in methodischer Reihenfolge Wörter, Sätze und 
Lesestücke enthält, die der Lehrer je nach Bedarf benutzen kann. 

In den beiden oberen Stufen gehen die einzelnen Lehrfächer mehr selb- 
ständig nebeneinander her, und wie hier der Mensch in seinen Beziehungen zu 
anderen und zu Gott, zu Natur, Heimat und Vaterland mehr in den Mittel- 
punkt des Unterrichts tritt, so sind auch in dem für jene Stufen bestimmten 
zweiten Teile des Lesebuches die ausgewählten Stücke in vier Gruppen ge- 
gliedert worden: I. Erzählungen aus dem Leben der Menschen; II. Bilder aus 
der Natur; III. Bilder aus dem Vaterlande und IV. Erzählungen aus der vater- 
ländischen Geschichte. Die erste Gruppe fand ihre Ordnung nach den ver- 
schiedenen Beziehungen des Menschen, die zweite nach den Jahreszeiten, die 
dritte nach dem Fortschritte vom Nahen zum Fernen und die letzte nach der 
Zeitfolge, wobei die Erzählungen aus der sächsischen Geschichte denen der 
deutschen eingereiht wurden. — Was endlich die äussere Ausstattung der 
Bücher betrifft, so ist im ersten Teile meist verhältnismässig grosser, im 
übrigen aber deutlicher Druck gewählt worden, um die Augen der Kinder so 
viel als möglich zu schonen, während im zweiten Teile auch mitunter kleinerer 
Satz und in einzelnen Fällen von der gewöhnlichen Schrift abweichende Typen 
zur Verwendung gekommen sind, damit die Kinder auch solche zu lesen ge- 
wöhnt werden. Da von verschiedenen Seiten Wünsche betreffs der heimatlichen 
und vaterländischen Stoffe im II. Teile des Lesebuchs laut geworden sind, so 
ist die Verlagsbuchhandlung (Dürr, Leipzig) gern erbötig, zu diesem Teile einen 
Anhang von 8 Druckseiten Umfang für die Hälfte der Herstellungskosten zu 
liefern. Nur müssten sich die Herren Direktoren und Lehrer eines Landes oder 
einer Provinz über die Lesestücke einigen, welche sie für ihren Bezirk wünschen, 
sie druckfertig abfassen und an die Dürrsche Buchhandlung in Leipzig ein- 
senden. 

Lehrer Wintermann-Bremen erstattete das Korreferat: 

Nach einem Beschlusse des Verbandsvorstandes war schon vor zwei Jahren 
eine Behandlung des Themas in Aussicht genommen. Inzwischen ist das Leipziger 
Hilfsschullesebuch erschienen und durch ganz Deutschland verschickt worden. 
Danach erachtet es der Vorstand für überflüssig mit der Herausgabe eines Lese- 
buches gewissermassen in eine Konkurrenzleistung zu treten. Keinem Autor wird 
es gelingen, die Zufriedenheit aller Abnehmer zu gewinnen. Aber auf der ge- 
schaffenen Grundlage kann weiter gearbeitet werden. Wenn die Verfasser aber 
auf Absatz reflektieren, so müssen sie sich zu wesentlichen Änderungen ent- 


19 

schliessen. Im ersten Teile erscheint die Einführung der lateinischen Schrift 
nicht zweckmässig. Im zinzelnen darauf einzugehen ist nicht möglich, ich 
möchte empfehlen, den Grundsatz zu befolgen: Langsam und lückenlos fort- 
schreiten. Lesestück Nr. 16 Seite 8 zählt Gerätschaften auf, die unseren Kindern 
meist gänzlich unbekannt sind (z. B. Spindeln, Weifen, Spinnerädchen für die 
lieben muntern Mädchen). Die Lesestücke 30 und 74 sind etwas albern und 
naiv gehalten. Ebenso erscheint mir Nr. 48 „Die Spinne an dem Feigenbaume“ 
nicht günstig gewählt. Über die Kartoffel sind vier Abhandlungen aufgenommen, 
im 1. Teil Nr. 141 und 142, im 2. Teil Nr. 108 und 111. Der 2. Teil zählt 
184 Nummern, von diesen 20 sehr lange Stücke, die vorwiegend das Königreich 
Sachsen betreffen, während das grosse Ganze, unser einiges Deutsches Vaterland, 
in den Hintergrund gedrückt ist. Der Verleger erklärt sich zwar bereit, die 
Wünsche der einzelnen Provinzen und Landesteile zu berücksichtigen und für die 
Oberstufe um billigen Preis einen Anhang zu liefern. 

In dem dritten Abschnitt hätte das Lesestück Nr. 56 fehlen können. 
Nr. 75, 77 und 78 geben zu lange Abhandlungen, wenig wertvoll ist Nr. 96. 
Dagegen vermisse ich Mitteilungen über ausländische Tiere und Kulturpflanzen, 
wir finden nichts über Kaffee, Thee, den Löwen, Tiger, Elefant u. s. w. und doch 
bekommen unsere Kinder diese Tiere in zoologischen Gärten und Menagerieen 
zu sehen. Auch vermisse ich kleine Skizzen und Abbildungen, die das Interesse 
der Kinder an den Lesestücken steigern. Mein Endurteil geht dahin: Der erste 
Teil ist auch für aussersächsische Schulen gut verwendbar, er ist besser als 
irgend ein anderes Lesebuch, doch muss dieser Teil bei einer neuen Bearbeitung 
einer gründlichen Revision unterzogen werden. Der zweite Teil entspricht den 
Anforderungen für reifere Schüler nicht, er bietet zu wenig Stoff, die vaterländisch 
deutsche Geschichte ist mehr zu berücksichtigen und weiter ist in eingehende 
Erwägung zu ziehen, ob Illustrationen aufgenommen werden können. 

Schulrat Mahraun-Hamburg konstatiert, dass die Lehrer an den 26 Hilfsklassen 
Hamburgs ein Bedürfnis für ein Lesebuch nicht haben. Es wäre für die Entwicklung 
der Hilfsschule und namentlich in Rücksicht darauf, dass doch immerhin ein kleiner 
Prozentsatz wieder in die Volksschule zurückkommt, von grosser Wichtigkeit, die Lese- 
bücher der Volksschule auch bei uns zu verwenden. 

Schuldirektor Dr. Bartels-Gera. Es ist wohl zu bedenken, dass wir, wenn wir 
ein besonderes Lesebuch einführen, das Band zwischen Volks- und Hilfsschule voll- 
ständig zerschneiden. Wir sind nicht in der Lage heute schon ein endgiltiges Urteil 
abzugeben. Unsere Hilfsschulen sind noch im Entstehen begriffen und erst eine lang- 
jährige Erfahrung wird zeigen, ob wir ein besonderes Lesebuch nötig haben. Gegen 
die Wintermann’schen Ausführungen, mehr Abhandlungen über fremdländische Tiere 
und Pflanzen aufzunehmen, muss ich protestieren. Unsere Kinder kennen oft nicht 
einmal Hund und Katze. 

Hilfsschulleiter Hanke-Görlitz. Wir können die prinzipielle Seite besprechen. 
Ich habe die Empfindung gehabt, aus dem Kontraste zwischen Referat und Korreferat, 
dass die Verhältnisse in den verschiedenen Hilfsschulen sehr verschieden sind. Ich teile 
die Anschauungen, welche von Hamburg aus zum Ausdruck gebracht worden sind. 


mN 


So herrlich schön das Lesebuch ist, so haben wir uns doch gesagt, kommen wir doch 
aus mit dem, was die Volksschule hat. Es ist nicht zu läugnen, dass man trotz alle- 
dem ein Bedürfnis hat nach etwas anderem. Schöne Lesestücke aus anderen Lese- 
büchern wollen wir unseren Kindern nicht hintenanhalten. 

Lehrer Mäurer-Kaiserslautern. Wir sind an die Vorschriften der königlichen 
Regierung gebunden. 

Schulrat Bornemann -Cassel. Wir haben schon oft empfunden, dass es recht 
schwierig ist, die Hilfsschule mit ihren Unterrichtsmitteln an eine Volksschule anzu- 
gliedern. Es geht ja schon aus dem Umstande hervor, dass wir andere Stufen schaffen 
müssen als für die Volksschule Und deshalb glaube ich, dass es nicht richtig ist, 
bei der Auswahl der Lehrmittel für die Hilfsschule darauf Rücksicht zu nehmen, dass 
eventuell auch einmal ein Kind wieder zurück kommen könnte. Diejenigen Kinder, 
die richtig ausgewählt sind für die Hilfsschule, kommen nimmermehr wieder zurück 
und diejenigen, die zurückkommen, sind nicht richtig ausgewählt, das sind zurück- 
gebliebene, aber keine schwachsinnigen Kinder. Ich kann aussagen, die Grundsätze 
des Referenten sind durch und durch zu billigen. Ich könnte mich dafür interessieren, 
dass wir ein Lesebuch für Hilfsschulen bekommen, das den Anforderungen und dem 
Auffassungsvermögen unserer Kinder entspricht. 

Schulrat Mahraun-Hamburg. Ich bin ein grosser Förderer der Hilfeschule, aber 
ich muss ganz entschieden Protest einlegen, dass mein Vorredner sagt, diejenigen 
Kinder, die zurückkommen, sind falsch ausgewählt. Unsere Hilfsschule hat die grosse 
Aufgabe zu individualisieren. Das ist ja ein grosser Vorzug, dass die Kinder in kleiner 
Zahl da sind. Es giebt soviel Kinder, bei denen eine augenblickliche Störung des 
Gehirns stattfindet, die sich aber wieder legt, wenn wir Hand in Hand mit dem 
Arzte arbeiten. Wenn solche Kinder in der Normalschule geblieben wären, dann 
wären sie wahrscheinlich nicht so aufgeweckt geworden. Um auf das Lesebuch zu 
sprechen zu kommen, meine ich, dass es ungeheuer schwierig ist, ein Lesebuch für 
ganz Deutschland zu schaffen. Das hat sich heut schon gezeigt. Wir haben auch kein 
Lesebuch für Normalkinder für ganz Deutschland. Die Verhältnisse sind einmal ganz 
verschieden. Die hanseatische Geschichte ist eine so eigentümliche, dass sie besonders 
behandelt werden muss. Ein Kind in Hamburg, Bremen hört mehr von Amerika als 
eines im Binnenlande. Gerade von dem Grundsatze aus, dass wir individualisieren 
müssen, ist es ein vergebliches Beginnen, ein gemeinsames Lesebuch zu schaffen. 

Referent Ehrig-Leipzig. Wir haben 54000 Schulkinder in Leipzig. Bei uns 
ist ausser der Fibel ein vierfach gegliedertes Lesebuch eingeführt. Unsere Kinder 
könnten nur die Unterstufo benutzen, schon das zweite Heft wäre für sie viel zu hoch, 
darum ist das Lesebuch für unsere Schule ein Bedürfnis geworden. 

Hoffmann-Frankfurt a. M. bemängelt noch, dass, da wir Simultanschulen haben, 
das Lebensbild Luther’s nicht mit in das Lesebuch gehöre. 

1. Vorsitzender Dr. Wehrbabn: 

Anträge sind nicht gestellt, ich kann daher über nichts abstimmen lassen. 
Jeder, der sich für das Leipziger Hilfsschullesebuch interessiert, wird sich damit 
befassen. Einen endgiltigen Beschluss können wir heute nicht herbeiführen. — 

Der nächste Punkt der Tagesordnung, ein Referat des Hauptlehrers 


81 


Kielhorn-Braunschweig über die Hilfsschulfibel wurde einmal wegen der 
vorgerückten Stunde, zum andern, weil der Referent selbst wegen Krankheit am 
Erscheinen verhindert war, abgesetzt. Eine Vertreterin aus Königsberg weist 
darauf hin, dass sie namentlich wegen dieses Gegenstandes von ihrer Stadt zum 
Verbandstage delegiert worden sei. 

Das Wort erhielt sodann Lehrer Basedow-Hannover zur Behandlung 
des Themas: Der Handfertigkeitsunterricht für Knaben in der Hilfs- 
schule. Der sehr gehaltvolle Vortrag wurde vom Referenten leider sehr schnell 
verlesen, so dass die Aufmerksamkeit der Versammlung mehr und mehr abnahm 
und der Vortrag unter grosser Unruhe zu Ende geführt wurde. — In der 
Debatte betont 

Hauptlehrer Lessenich-Bonn: 

Der Handfertigkeitsunterricht gehört in die Hilfsschule, aber nur dann, wenn 
er das Zeichnen, die Formen- und Raumlehre unterstützt. 

Dr. Bartels-Gera. Wir kommen vor lauter Theorie gar nicht zur Praxis. Wir 
müssen unsere Jungen und Mädchen so bilden, dass sie später einmal ihr Brot ver- 
dienen können. Der Handfertigkeits-Unterricht hat die Aufgabe, die Hand des schwach- 
befähigten Kindes so geschickt zu machen, dass der Knabe einmal im stande ist, erwerbs- 
fähig zu werden. Gerade unsere seit kurzer Zeit eingeführte Gartenarbeit macht viele 
unserer Schüler erwerbsfähig. Die Stadt Gera hat der Hilfsschule einen Garten zur 
Verfügung gestellt; die Kinder arbeiten mit Lust, sie frenen sich, wenn alles gedeiht. 

Schulrat Dr. Boodstein-Elberfeld. Ich halte die Aufgabe der Bildung vun Auge 
und Hand für ausserordentlich wichtig. Aber als obligatorisches Fach?! die Botschaft 
hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wir wissen thatsächlich, dass unter 
Umständen schon die Fröbel'schen Arbeiten selbst für Kinder der Oberstufe gewisse 
Schwierigkeiten bereiten. 

Lehrer Schulze-Halle a. S. Die Hauptfrage, welche uns heute beschäftigen muss, 
ist die Methode. Wir arbeiten nach Pestalozzi’s oberstem Grundsatz: die Anschauung 
ist das Fundament aller Erkenntnis. Wir müssen diesen Satz erweitern und sagen: 
die handelnde Anschauung ist das Prinzip aller Erkenntnis. 

Hauptlehrer Grote-Hannover. Wo drei Faktoren zusammenwirken: 1. eine 
geräumige Werkstatt, 2. gute Werkzeuge und 3. tüchtige, ausgebildete Lehrkräfte, da 
kann etwas Gutes geleistet werden. 

Hoffmann-Frankfurt a. M. hebt hervor, dass die Schulbehörden streng darauf 
sehen, dass die Schulstube von Staub befreit ist, die Schreinerei aber viel Staub er- 
zeugt und diese auch sehr schwierig sei, er könne ihr nicht das Wort reden. 

Hauptlehrer Grote-Hannover erwidert, dass die Kinder viel mehr Lust und 
Liebe zar Schreinerei haben und diese nicht so schwierig sei, wie die Papparbeit. 

Es wird zur Abstimmung über die Thesen des Vortrags geschritten. 

I. Gegenüber der Fassung des Referenten: „Der Handfertigkeitsunterricht für 
Knaben ist aus pädagogischen Gründen auf allen Stufen der Hilfsschule als 
obligatorisches Fach aufzunehmen“ wird auf Antrag des Schulrats Mahraun- 
Hamburg die These I wie folgt angenommen: 

Es erscheint aus pädagogischen Gründen sehr wünschenswert, auf allen 


82 


Stufen der Hilfsschule den u u Z einzuführen. Kann dies 
geschehen, so ist: 
1. der Handfertigkeitsunterricht naclı methodischen Grundsätzen und zwar 
von einem Lehrer zu erteilen, 


2. im Handfertigkeitsunterricht ist von der Erzielung materiellen Gewinns, 
sowie von der Vorbereitung auf einen speziellen Beruf abzusehen. 


II. Der Stoff des Handfertigkeitsunterrichts ist so zu verteilen, dass für die 
Unterstufe Fröbelarbeiten, für die Mittelstufe die Arbeiten der Vorstufe (besonders 
Naturholzarbeit) und Papparbeit, für die Oberstufe vorwiegend Holzarbeiten zur 
Verwendung kommen. 

Ilf. Wo die Verhältnisse es irgend gestatten, ist auch die Gartenarbeit in 
den Lehrplan der Hilfsschule aufzunehmen. 

Wegen der vorgerückten Stunde wird der Punkt d) Bericht über die neue 
Hilfsschulstatistik, Referent Hilfsschulleiter Wintermann-Bremen von der 
Tagesordnung abgesetzt. Der Bericht liegt gedruckt vor und wurde am andern 
Tage jedem Teilnehmer ausgehändigt. Wir entnehmen demselben Folgendes: 
Hilfsschulen sind eingerichtet in den Städten: Aachen, Altona, Apolda, Barmen, 
Bernburg, Bonn, Breslau (7), Bremen, Bremerhaven, Brandenburg a. H., Braun- 
schweig, Bromberg, Cassel, Charlottenburg (2), Chemnitz, Cottbus, Darmstadt, 
Dessau, Dortmund, Dresden, Dresden - Löbtau, Düsseldorf, Eisenach, Elberfeld, 
Erfurt, Essen a. d. Ruhr (2), Freiberg ìi. S., Frankfurt a. M., Fürth, Gera (Reuss), 
Giessen, Glauchau, Görlitz, Gotha, Göttingen, Grimma i. S., Hagen i. W., 
Hamburg (6), Hanau, Halle a. S., Halberstadt, Hannover (2), Kaiserslautern, 
Kamenz, Karlsruhe, Königsberg i. Pr. (2), Königshütte O.-S., Köln, Krefeld, 
Leipzig, Leipzig-Plagwitz, Leipzig-Gohlis, Lüneburg, Linden b. Hannover, Lübeck, 
Ludwigsbafen a. Rh., Magdeburg, Mainz, Meiningen, Mühlhausen i. E., Mühl- 
hausen i. Thür., Netzschkau i. V., Nordhausen, Nürnberg, Ölsnitz i. V., Osnabrück, 
Oschatz, Pforzheim, Pirmasens, Plauen i. V., Posen, Reichenbach i. V., Schwelm, 
Strassburg i. E., Stettin, Stolp i. Pom., Steglitz b. Berlin, Stuttgart, Weimar 
Witten, Wilmersdorf b. Berlin, Worms, Zittau, Zwickau i. S. 

In 98 Schulen mit 326 Klassen werden unterricht 3940 Knaben 

3073 Mädchen 
7013 Schüler. 
1898 wurden antericiiiet in 56 Schulen mit 202 Klassen 2400 Knaben 
1881 Mädchen 
4281 Kinder. 

Aus der unter allgemeiner grosser Unruhe vorgetragenen Rechnungs- 
ablage durch den Verbandskassierer Bock- Braunschweig heben wir hervor, 
dass sich die Mitgliederzahl von 100 im ersten Verbandsjahr auf 123 im zweiten 
und auf 147 im dritten erhöht hat. 

Die Vereinsbeiträge erbrachten eine Einnahme von 337 Mark. Die Gesamt- 
einnahmen betragen 913,13 Mark, die Ausgaben 536,72 Mark, so dass sich also 
ein. Kassenbestand von 376 Mark ergiebt. Den Magistraten, welche Zuschüsse 





von zusammen 395 Mark leisteten, wird der berzlichste Dank gesagt und um 
weitere Unterstützung gebeten. Dem Kassierer wird einstimmig Decharge erteilt. 

Der 1. Vorsitzende Dr. Wehrhahn bittet die Vertreter, auf ihre Magistrate 
dahin einzuwirken, dass sie als Mitglieder dem Verbande beitreten möchten. 

Nachdem einige unwesentliche Statutenänderungen einstimmig gut geheissen 
wurden, schritt man zur Vorstandswabl. Es scheiden aus die Herren: 1. Vor- 
sitzender Dr. Wehrhahn, 2. Schriftführer Henze, 1. Kassierer Bock. Schul- 
rat Kuhlgatz-Kiel macht den Vorschlag, den alten Vorstand durch Zuruf 
wieder zu wählen und den Herren für ihre treue Fürsorge und rührige Thätig- 
keit den Dank des Vereins abzustatten. Da kein Widerspruch erfolgt, geschieht 
die Wiederwahl der 3 ausscheidenden Vorstandsmitglieder durch Acclamation 
und nehmen die Gewählten mit Dank an. 


Hauptversammlung 
im Börsensaal am 11. April. 


Auf dem Rednerpodium war im Hintergrunde ein hübsches Pflanzenarrangement 
angebracht, aus dem sich die Büsten Sr. Kgl. Hoheit des Prinz - Regenten und 
Sr. Majestät des deutschen Kaisers erhoben. 

Kurz nach 9 Uhr wurde die Hauptversammlung eröffnet durch den 1. Ver- 
bandsvorsitzenden Dr. Wehrhahn-Hannover: 

Hochgeehrte Damen und Herren! Im Namen des Vorstandes des Verbandes 
der Hilfsschulen Deutschlands eröffne ich den III. Verbandstag und heisse Sie 
herzlich willkommen. Der Verband hat einen doppelten Zweck; er will die 
Organisation und den inneren Ausbau der Hilfsschule und zweitens eine Aus- 
breitung der Hilfsschule über ganz Deutschland verwirklichen. Dass die Zukunft 
uns noch weitere Aufgaben stellen wird, ist zweifellos; jetzt schon ist das Be- 
dürfnis da, darüber zu sprechen, wie die in der Hilfsschule gewesenen Kinder 
weiter zu behandeln sind in Bezug auf Rechtspflege, Militärwesen usw. Als wir 
in Cassel vor zwei Jahren die ausserordentlich freundliche Einladung nach hier 
erbielten, der später noch die schriftliche Einladung des Magistrates erfolgte, 
da waren wir etwas bedenklich, ob es richtig sei, an die äusserste Grenze 
Deutschlands zu ziehen, weil wir fürchten mussten, dass der Besuch beeinträchtigt 
werden würde, wir haben es aber dennoch gethan, um grade den ersten Zweck 
unseres Verbandes zu erreichen, da hier in Süddeutschland die Zahl der Hilfs- 
schulen eine geringe ist. Wenn ich wenige Worte sagen darf über das, was 
erreicht ist, so will ich nur erwähnen, dass in den letzten drei Jahren die Zahl 
der Hilfsschulen sich verdoppelt hat. Mehr als in 90 Städten sind Hilfsschulen. 
Immerhin ist aber noch viel zu thun. Es würden noch über etwa 300 Städte 
mit mehr als 15000 Einwohnern in Frage kommen, die noch Hilfsschulklassen 
errichten könnten. Wir sind überrascht in höchstem Masse über den zahlreichen 
Besuch. Bei den wenigen Hilfsschulen, die bis dahin vorhanden waren, war es 
begreiflich, dass ein Verbandstag nur gering besucht sein würde. Wir haben 
auf diesem Verbandstage aber etwa 196 auswärtige Vertreter zu begrüssen und 
aus der Stadt selbst sind etwa 200 Anmeldungen erfolgt, die uns beweisen» 


84 


welches Interesse die Hilfsschulfrage hier schon gefunden hat. Das haben wir 
vor allem der rührigen und eifrigen Thätigkeit des Ortsausschusses zu verdanken. 
Ich heisse die Vertreter von auswärts und die hiesigen Teilnehmer herzlich will- 
kommen, die Vertreter der hohen Behörden, Se. Excellenz den Herrn Regierungs- 
präsidenten Ritter von Lermann, den Vertreter des bayerischen Ministeriums 
und des preussischen Kultusministeriums, die Vertreter verschiedener anderer 
deutschen Staaten, Vertreter der englischen Regierung, der Stadt Wien, der 
Schweiz, Schweden und vor allen Dingen die Vertreter der deutschen Städte — 
nahezu alle grösseren Städte Deutschlands sind vertreten, entweder durch ihre 
Schulbeamten oder die Lehrer der dortigen Hilfsschulen. — Herzlichen Dank 
für die ausserordentlich rege Beteiligung; sie wird uns eine Anregung sein, zum 
Wohle unserer armen Schulkinder weiter zu arbeiten. (Beifall). 

Königl. Regierungsrat Lindig: 

Excellenz! Hochverehrte Versammlung! Im Namen und Auftrage des 
Königlich Bayerischen Staatsministeriums und im Auftrage der Königlichen 
Regierung von Schwaben und Neuburg habe ich die hohe Ehre die heutige 
Versammlung des dritten Verbandstages der Hilfsschulen zu begrüssen und die 
aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Auslande hierher gekommenen konı- 
munalen und staatlichen Vertretungen herzlich willkommen zu heissen. Der 
dritte Verbandstag hat für seine diesjährige Tagung eine Stadt und einen Kreis 
sich auserwählt, in welchem von jeher alle gemeinnützigen Unternehmungen und 
humanitären Veranstaltungen ein volles und tiefes Verständnis gefunden haben 
und die Mitglieder des Verbandes dürfen versichert sein, dass auch ihre Be- 
strebungen in allen Kreisen der hiesigen Bevölkerung Anklang, Interesse und 
hohe Anerkennung finden werden. Ihre Beratungen gelten ja dem bemitleidens- 
werten Teile unserer Jugend, welcher infolge mangelhafter Erziehung oder durch 
Krankheiten in der geistigen Entwicklung zurückgeblieben ist und der nachber 
einer weitgehenden Fürsorge dringend bedürftig ist. Von der Erfahrung aus- 
gehend, dass die allgemeine Öffentliche Volksschule nicht immer die geeignete 
Bildungsstätte für derartige schwachsinnige und schwachbegabte Kinder ist, hat der 
Verband sich die Aufgabe gestellt, besondere Schulen zu errichten. Auch Süd- 
deutschland sind diese Bestrebungen nicht fern geblieben, auch der Bayerische 
Staat ist in dieser Beziehung nicht zurückgeblieben und insbesondere der Kreis 
Schwaben erfreut sich seit Jahren besonderer Anstalten für schwachsinnige und 
schwachbefähigte Kinder in Deybach und Ursberg, in welchen schon seit Jahren 
schwachsinnige Kinder gepflegt, unterrichtet und herangebildet werden. Ursberg 
ist eine stark besuchte Anstalt. Sie wirkt in verschiedenen Abteilungen, wir 
haben eine Kindererziehungsanstalt und eine Pflegestätte für ältere Personen. 
Also auch wir sind in dieser Beziehung nicht zurückgeblieben. Es ist deshalb 
eine dankenswerte Aufgabe, die sich der Verband gestellt hat, derartige Anstalten 
und Schulen immer weiter zu verbreiten, insbesondere ihre Errichtung in grösseren 
Städten und Plätzen zu ermöglichen. Die Königlich Bayerische Staatsregierung 
und die Königliche Regierung zu Schwaben und Neuburg werden daher den 
Verhandlungen das grösste Interesse entgegenbringen und Sie können sich über- 


85 


zeugt halten, dass diese Anregungen von uns weiter verfolgt werden und dass 
in Bayern nicht nachgelassen wird, diesen Bestrebungen unser Augenmerk zu- 
zuwenden. Wir geben 'daher der Hoffnung und dem Wunsche Ausdruck, dass 
die Beratungen und Beschlüsse dazu beitragen möchten, das Institut der Hilfs- 
schulen immer weiter zu verbreiten, zu entwickeln und auszugestalten, dass die 
heutige Versammlung das Verständnis für die Hilfsschulen in immer weiteren 
Kreisen wecken möge, damit man nicht allein in den Schulen, welche wir schon 
haben, zu wirken in der Lage ist, sondern dass auch in anderen grösseren Städten 
solche Schulen errichtet werden. Ich heisse Sie nochmals im Namen der Baye- 
rischen Staatsregierung und der Königlichen Regierung von Schwaben und Neuburg 
herzlich willkommen und wünsche, dass auch der morgende Tag dazu beitragen 
möge, Sie zu überzeugen, dass wir auch in Süddeutschland gewillt sind, das 
Interesse für die Schwachbefähigten weiter zu verfolgen. (Beifall.) 

Geheimer Oberregierungsrat Brandi-Berlin: 

Hochgeehrte Versammlung. Die preussische Unterrichtsverwaltung, in deren 
Vertretung ich die Ehre habe, ein Wort der Begrüssung an die Versammlung 
zu richten, hat von Anfang an die Bestrebungen dieses Vereins mit ganz be- 
sonderem Interesse verfolgt. Sie hat vor allen Dingen geglaubt, dass diejenigen 
Kinder, die in der Volksschule nicht mit Erfolg mitarbeiten können, die einer- 
seits die Volksschule hindern, den Lehrern die Arbeit übermässig erschweren, 
andererseits im Verkehr mit normalen Kindern nicht nur nicht gedeihen, sondern 
sogar verbittert werden, dass diesen Kindern in besonderen Schulen ihr Recht 
gegeben werden könnte, aber in Schulen, die sie vom Elternhause aus erreichen 
können, damit diese armen Kinder möglichst allgemein in der Sorge der Mutter 
bleiben. Was ich sage, bezieht sich nicht auf Internate für schwachsinnige 
Kinder. Die Internate für schwachsinnige Kinder, die meist auf dem Lande 
liegen, sind sehr häufig kirchliche Gründungen beider Konfessionen, dagegen die 
Schulen, um die es sich hier handelt, sind durchweg städtische Schulen, nicht 
staatliche, aber auch nicht private, sondern Öffentliche, von den Städten gegründet 
und von ihnen verwaltet. Als eine Anzahl von Städten mit Verständnis und 
Opferwilligkeit diesen Bestrebungen beigetreten ist, hat das preussische Ministerium 
die städtischen Behörden und Regierungen gefragt nach den Erfahrungen; denn 
das preussische Ministerium hat von vormmherein keine Bestimmungen treffen 
wollen, sondern auf Grund von Erfahrungen gedeiben lassen wollen. Aus den 
vielen eingegangenen Berichten ergaben sich im Jahre 1894 eine Anzabl von 
Grundsätzen, die man als Majoritätsurteile auffassen dürfte: 1. die Kinder müssen 
zwei Jahre in der Volksschule gewesen sein; 2. da unter diesen Kindern manche 
infolge von Krankheiten zurückgeblieben sind, so ist es zweckmässig, immer den 
Arzt zuzuziehen, bevor das Urteil gesprochen wird; 3. jedes Kind bekommt eine 
fortlaufende Krankheitsgeschichte; 4. die Stellung der Lehrer der Hilfsschule ist 
eine 80 wichtige, dass sie auch durch entsprechende Mehreinnahme hervorgehoben 
zu werden verdient. Während 1894 in Preussen 18 Städte mit 26 Anstalten 
und 700 Kindern waren, nahm die Zahl, nachdem die Grundsätze auch in 
weiteren Kreisen Anerkennung gefunden "hatten, sehr zu, so dass es 1896 


86 


27 Städte mit 38 Anstalten und 2017 Kindern waren. Dank der Einmütigkeit 
und dem Fleisse unseres Vereins ist in diesem Sinne rührig weiter gearbeitet 
worden und gegenwärtig sind 45 preussische Städte mit 91 Schulen und 
4728 Kindern vorhanden, die von 233 Lebrern und Lehrerinnen unterrichtet und 
erzogen werden. Nun, meine Herren, ich glaube im Namen aller, die hierher 
gekommen sind, versichern zu können, dass wir sehr gern nach Augsburg ge- 
kommen sind, eine Stadt mit der grossen geschichtlichen Vergangenheit, eine 
Stadt, welche auch sonst sehr Lehrreiches für die Teilnehmer enthält, deren 
grossartige Brunnen auf der Strasse verkünden, was Augsburg früher in der Kunst 
war und wie die ganze Bürgerschaft für die Kunst begeistert war, eine Stadt, 
die sogar unter Umständen über Krieg und Frieden entschieden hat, in eine 
Stadt, die Gelegenheit geben will, dass sich in den Bestrebungen der Hilfsschule 
Nord- und Süddeutschland näher kommen. So möge der heutige Tag zum Segen 
unseres Vaterlandes gedeihen. Ich wiederhole den Gruss meines Chefs, des 
preussischen Kultusministeriums. (Beifall.) 

Hofrat Wolfram, erster Bürgermeister von Augsburg: 

Die Stadt Augsburg hat anlässlich des II. Verbandstages der Hilfsschulen 
in Cassel Einladung an Sie ergehen lassen, dass Sie den IlI. Verbandstag hier 
abhalten mögen. Zu ganz besonderer Freude kann ich konstatieren, dass diese 
Einladung überaus zahlreich angenommen worden ist. Zu meiner grossen Be- 
friedigung habe ich gehört, dass nicht bloss von allen Teilen Deutschlands Ver- 
tretungen der Regierungen und Städte, dass auch von weiter her Gäste gekommen 
sind, um die Ziele des Verbandes weiter zu fördern. Ich glaube, meine Herren, 
für mich versichern zu dürfen, dass wir bestrebt sein werden, Ihnen herzliche 
Gastfreundschaft zu bieten nach echt schwäbischer Sitte, und wenn es uns ge- 
lingen wird, die Gäste hier heimisch sich fühlen zu lassen, das uns zu ganz 
besonderer Freude gereicht. Namens der Stadtverwaltung heisse ich Sie herzlich 
willkommen. Ich hoffe, dass Ihre Verhandlungen in Augsburg nicht bloss für 
die Hilfsschule im allgemeinen, sondern dass auch für unsere Schule in Augsburg 
Segensreiches erwachsen möge. Meine Herren, ich wünsche diesen Verhand- 
lungen vollen Erfolg. Mögen Sie auch nach der Arbeit in unserer Stadt Erholung 
finden, dass, wenn Sie wieder beim sind, doch noch gern der Stunden gedenken, 
die Sie hier verlebt haben. Das wünsche ich von Herzen. Nochmals herzlich 
willkommen in Augsburg. (Beifall.) 

Oberlehrer, Landtagsabgeordneter Schubert. 

Hochgeehrte Damen und Herren! Die Reihe der Begrüssungen schliessend, 
erlauben Sie mir wenige Worte beizufügen. Beauftragt vom Ortsausschusse komme 
ich sehr gern dem Wunsch nach, herzliche Grüsse zu entbieten. Es ist erwähnt 
worden, dass die hiesige Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit dem Verbandstage grosses 
Interesse entgegengebracht hat, nicht bloss die hiesigen städtischen Behörden, 
sondern auch die Eltern haben den Verhandlungen mit Spannung entgegengesehen. 
Die Aufgabe, die sich der Ortsausschuss gesetzt, bestand darin, das Interesse der 
Eltern für die Sache zu wecken. Wir Schulmänner wissen wohl, dass wir den 
besten und treuesten Bundesgenossen der Schule in der Familie haben. Ich 


—— a U nn a 


glaube nicht erst versichern zu müssen, dass die hiesige Lehrerschaft Sie auf 
das freundlichste begrüsst und die ganze bayrische Lehrerschaft ohne Unterschied 
der Vereinszugehörigkeit und der Konfession den Verhandlungen mit lebhaftem 
Interesse entgegensieht. Und ich glaube, ohne eine besondere Legitimation 
erhalten zu haben, Sie begrüssen zu können im Namen des bayrischen Lehrer- 
vereins, des katholischen Lehrervereins, im Namen des katholischen Lehrerinnen- 
vereins und des bayrischen Lehrerinnenvereins, welche auch Vertreter entsandt 
haben. Wir haben den lebhaften Wunsch, dass die heutigen Verhandlungen, 
wie schon unser erster Bürgermeister, Herr Hofrat Wolfram, angedeutet hat, 
dazu beitragen mögen, dass die Stadt Augsburg in nicht zu ferner Zeit sich 
jenen Städten anreiht, welche sich im Besitz von Hilfsschulen bereits befinden. 
Lassen Sie mich schliessen mit dem Wunsche, dass die heutigen Verhandlungen 
zum Segen unserer deutschen Volksschule, zum Segen unserer Kinder, welche 
arm am Geiste sind, zam Wohl und Heil unseres gesamten deutschen Vater- 
landes sind. Ich begrüsse Sie aufs herzlichste und nehmen Sie den Gruss der 
bayrischen Lehrerschaft in Ihre schöne Heimat zurück. (Beifall.) 

Vorsitzender Dr. Wehrhahn: 

Wir sind im Vorstande vollkommen dessen bewusst, dass wir unausgesetzt 
und ohne Unterlass arbeiten müssen, um unser Ziel zu erreichen. Wir wissen 
wohl, dass wir erst am Anfange unserer Thätigkeit stehen. Von 60000 Kindern, 
die in Hilfsschulen untergebracht werden müssen, sind nur etwa 7000 versorgt. 
Herzlichen Dank den Vertretern des bayrischen und preussischen Kultus- 
ministeriums sowie überhaupt allenVorrednern für die Begrüssungsworte. 

Nach Mitteilungen geschäftlicher Natur seitens des Vorsitzenden des Orts- 
ausschusses wurde nunmehr das Wort dem Referenten Hilfsschullehrer Hanke- 
Görlitz erteilt zu seinem Vortrage: | 


Bedeutung der Hilfsschulen in pädagogischer und volks- 
wirtschaftlicher Hinsicht. 


Hochansehnliche Versammlung! Werte Berufsgenossen und Berufsfreunde'! 
Wenn auch die Hilfsschule seit den ersten Errichtungen in den sechziger Jahren 
eine sehr erfreuliche Entwickelung nach ihrer Zahl und ihrem Ausbau zeigt, 
besonders neuerdings, so kann man immerhin doch sagen, dass sie noch in den 
Kinderschuhen steckt, und niemand weiss, was aus dem Kindlein einmal werden 
kann. Diejenigen aber, denen sie sich zur Beurteilung am nächsten vor die 
Augen stellt, wir selbst, finden nicht immer den freien Blick, den eine gerechte 
und allseitige Beurteilung einer pädagogischen Einrichtung erfordert. Darum 
ist das Thema, welches unser zielbewusst vorgehender Verbandsvorstand mir zum 
Vortrag und uns allen zur Besprechung gestellt hat, gewiss sehr zeitgemäss, 
allerdings auch so umfassend, dass es, um erschöpft zu werden, noch viele 
Verbandstage beschäftigen wird. 

Ich darf wohl von der Voraussetzung ausgehen, dass ein Teil meiner 
geschätzten Zuhörer unserem Beratungsgegenstande mehr oder weniger fremd 
gegenübersteht und sich über seine Freundschaft zur Sache und über die 


88 


Förderung derselben erst entscheiden will. Diesem Charakter der Versammlung 
Rechnung tragend, erlaube ich mir vom Gedankengange meiner Leitsätze ab- 
zuweichen und zunächst über Wesen und Zweck der Hilfsschule einige Aus- 
führungen zu bringen. 

Unter jeder grösseren Schülermenge giebt es eine Anzahl Kinder, Knaben 
und Mädchen, denen das Fortschreiten iım Unterricht ausserordentlich schwer 
fällt und die durch ihr rätselhaftes, unzugängliches Verhalten den Unterricht in 
seinem Fortgange auffallend hemmen, zum Nachteil für die ganze Klasse und 
die mit Bezug auf ihre Bildsamkeit auch im Fühlen und Wollen mancherlei 
Regelwidrigkeit erkennen lassen. Bei dem unvermeidlichen Jagen und Drängen 
in der oft zu stark besetzten Normalschule, die unter dem Einflusse eines scharf 
abgegrenzten und meist recht überfüllten Stoffverteilungsplanes steht und die 
auf die alljährlichen Versetzungsziele hinarbeiten muss, kann der im Durch- 
schnitt gut beanlagte Schüler individuell berücksichtigt werden, am aller- 
wenigsten aber jene Schwachen. Sie bleiben hinter der grossen Menge bald 
weit zurück, ihre geistige Kraft reicht nicht aus für den Schnellschritt im Unter- 
richt, sie erlabmen, versinken in Teilnahmlosigkeit, verfallen dem Hohn und 
Spott der Mitschüler, verlieren das Selbstvertrauen und erfahren wenig oder 
gar keine Förderung. Es fehlt ihnen zwar nicht an Bildsamkeit, aber diese ist 
zu gering, als dass der Lehrer auch beim besten Willen unter den gezeichneten 
Verhältnissen solchen Schülernaturen Rechnung tragen könnte. Solche schwach- 
befähigte und in leichtem Grade schwachsinnige Kinder sind das Schülermaterial 
der Hilfsschule Die Ursachen des Zurückbleibens müssen nachweisbar oder 
aus dem Gesamttypus ersichtlich in Entwicklungshemmungen des Geistes liegen, 
in Krankheiten und Schädigungen der grossen Organe, des Gehirns. Wenn also 
ein Kind durch äussere Umstände, durch viele Schulversäumnisse, durch Öfteren 
Schul- oder Lehrerwechsel, durch offenbare Vernachlässigung von Seiten der 
Familienerzieher u. a. „dumm“ bleibt, so findet es deshalb noch keine Aufnahme 
in der Hilfsschule. Darum ist es Bestimmung, dass in der Regel durch einen 
zweijährigen Besuch einer Normalschule festgestellt wird, dass das schwach- 
befähigte Kind mit seinen Altersgenossen nicht fortzuschreiten vermag, dass es 
in grossen Schülermengen nicht mit Erfolg unterrichtet und mit sicherer 
Voraussicht selbst nach dreijährigem Schulbesuche nicht genügend versetzungs- 
fähig für die nächste Klasse werden kann. Wenn jedoch die krankhafte geistige 
Schwäche und unzureichende Bildungsfähigkeit schon früher zweifellos erkenntlich 
ist, darf auch des Kindes Aufnahme in die Hilfsschule bald erfolgen, doch 
niemals vor dem vollendeten 7. Lebensjahre des Schwächlings. Zurückgewiesen 
werden Idioten oder Blödsinnige, Epileptiker, Blinde und Taubstumme, solchen 
kann nur durch Anstaltserziehung gedient werden. Ebenso sind Kinder, die 
infolge angeborener Regelwidrigkeiten oder durch schlechte Erziehung zur 
sittlichen Verwahrlosung neigen und verführerisch auf ihre Mitschüler wirken, 
von der Hilfsschule auszuschliessen. 

Solange die psychische Elle nicht erfunden wird, solange geistige und 
sittliche Kräfte sich nicht wie die Edelmetalle auf einer Goldwage abwägen 


89 

lassen, können auch die Begriffe schwachbefähigt, schwachsinnig, psychopathisch 
minderwertig und wie die Abnormitäten sonst bezeichnet werden, niemals bestimmt 
gefasst werden. Keine Definition, keine Fragebogen, keine ärztliche Unter- 
suchung kann im einzelnen Falle das Bild eines geistigen Zustandes durch 
Wort oder Schrift klar zur Darstellung bringen, und damit ein sicheres Hilfs- 
mittel für die Beurteilung geben. Nur durch die Erfahrung wird man 
befähigt, die für die Hilfsschule geeigneten Schwächlinge zu erkennen und 
einzig und allein der psychologisch beobachtende Pädagoge kann die Bildsamkeit 
des Kindes als einen Massstab für die geistige Gesundheit oder für eine 
Abnormität anlegen. Natürlich ist es nicht möglich, Grenze und Grad der 
Bildsamkeit eines Kindes genau zu bestimmen, weil der Begriff der Normalität 
nicht feststeht und damit ein Ausgangspunkt für die objektive Abschätzung 
geistiger Kräfte sowohl nach oben wie nach unten fehlt. Auch das Schüler- 
material in der Hilfsschule zeigt vielerlei Abstufungen; jedes einzelne Kind 
ist in seiner eigenen Art schwach und erfordert besondere Rücksichtnahmen. 

Alle Hilfsschulen berichten in ihren statistischen Zusammenstellungen von 
solchen Zurückversetzungen. Aus der Görlitzer Hilfsschule wurden seit deren 
Begründung (1893) 36 Kinder wieder dem Unterrichte der Normalschule 
zugeführt. Diese Fälle werden aber von Jahr zu Jahr seltener, weil die Lehrer 
treffisicherer bei der Schüleraufnahme geworden sind. Meine Meinung gebt dahin, 
dass solche Zurückversetzungen nirgends Zweck und Ziel der Hilfsschule, nur 
Ausnahmen sein können. Selbst wenn einzelne Leistungen eines schwachsinnigen 
Kindes überraschen und an Güte das Mass des Normalen nahezu oder völlig 
erreichen, wird solches doch immer nur unter besonders nachsichtiger Behandlung 
möglich werden. Nicht bloss was das Kind leistet, sondern auch wie es 
arbeitet, muss bei der Beurteilung seiner Bildsamkeit in Betracht kommen. 

Von grösster Bedeutung für eine gerechte Auswahl der schwachbefähigten 
Kinder ist ein zweckmässiges Aufnahmeverfahren. Für die Görlitzer Hilfsschule 
hat die Schuldeputation folgendes Verfahren festgesetzt, das sich vorzüglich 
bewährt. Im Januar stellen die Rektoren der verschiedenen Volksschulen in 
ihren Schulsystemen Erhebungen an über das Vorhandensein schwachbefähigter 
Kinder, reichen bis zum 15. d. M. gemeinsam die Vorschlagslisten mit den 
erforderlichen Personalienangaben an die Schuldeputation ein, diese übergiebt 
die Verzeichnisse dem Leiter der Hilfsschule mit dem Ersuchen, die in Vorschlag 
gebrachten Kinder zu prüfen, sie deshalb in ihren Schulklassen aufzusuchen und 
erforderlichen Falls sich mit den Eltern in Verbindung zu setzen. Ich halte 
die letzte Massnahme für die wichtigste, für durchaus unentbehrlich für unseren 
Zweck und höchstbildend für den Lehrer. Die Klassenbesuche werden dadurch 
fast ganz überflüssig. In der Familie, in seiner elterlichen Wohnung ist das Kind 
viel unbefangener als in der Schulstube, nicht bloss sein schulmässig erworbenes 
Wissen und Können lässt sich hier besser feststellen, sondern auch sein übriges 
Verhalten, seine Geschicklichkeiten und Ungeschicktheiten, seine Tugenden und 
Untugenden, seine körperlichen und geistigen Eigenschaften lassen sich im Hause 
am allerbesten erkennen. Viel ungezwungener lassen sich Fragen nach der 


en 


Entwicklung des Kindes bis in die Zeit vor seiner Geburt stellen, und bei 
Betrachtung des ganzen „milieu“ seiner Eltern und Geschwister wird manche 
heikle Frage, die auf den viel empfohlenen Fragebogen zu finden sind, überflüssig. 
Zugleich ist aber durch solche Hausprüfungen auch das erforderliche Vertrauens- 
verhältnis zwischen Schule und Haus angebahnt, Vorurteile der Schule gegen- 
über lassen sich beseitigen oder kommen garnicht erst auf. Ich behaupte, dass 
keine ärztliche Untersuchung des von seinem „milieu“ getrennten Kindes, auch 
die gewissenhafteste nicht, dem Lehrer bessere Anhaltspunkte für eine gerechte 
Beurteilung des geistigen Zustandes und der Bildsaınkeit geben kann, als eine 
pädagogische und psychologische Beobachtung des Schwächlings in seiner Familie. 
Die Ergebnisse dieser Feststellungen werden schriftlich fixiert und bilden 
Anhaltepunkte für die Gruppierung der Kinder nach dem Grade der geistigen 
Schwäche In der Regel werden viel mehr Kinder zur Versetzung an die Hilfs- 
schule in Vorschlag gebracht, als Aufnahme finden können, so dass die leichtesten 
Fälle von vornherein ausgeschieden werden und der Normalschule zu weiteren 
Versuchen verbleiben müssen. Die meisten aber kommen mit Beginn des Schul- 
jahres an die Hilfsschule, doch zunächst nur probeweise 2—3 Wochen. Nach 
dieser Probezeit erst erfolgt endgiltige Entscheidung über die Auswahl der 
Kinder durch eine Kommission, bestehend aus dem Schuldezernenten als Magistrats- 
mitglied, dem Königl. Kreisschulinspektor, dem Königl. Kreisphysikus oder dem 
Kommunalarzt, 2 Rektoren, von denen einer die Schuldeputation und der andere 
die Rektorenkonferenz vertritt, und dem Leiter der Hilfsschule. Es hält nun 
nicht mehr schwer, die Kinder nach dem Grade ihrer Bildsamkeit vorzuführen 
und diejenigen in erster Linie auszuwählen, denen ein besonderer Unterricht 
am meisten not thut und bei denen er auch Erfolg verspricht. 

Nur das psychologische oder genauer gesagt das pädagogisch-pathalogische 
Moment ist bei der Wesens- und Zweckbestimmung der Hilfsschule und bei der 
Beurteilung der Kinder im Auge zu behalten. Darum verstehe ich nicht, wie 
der Frankfurter Schularzt Dr. Laquer in seiner sehr interessanten und zeit- 
gemässen Broschüre „Über die ärztliche und soziale Bedeutung der Hilfsschule“ 
den Satz aufstellen kann, dass „die Errichtung von Hilfsschulen für schwach- 
befähigte Kinder der Minderbemittelten notwendig ist“ etc, nachdem er 
auf S. 9 ausgesprochen hat, dass die Schwachsinnigen aus den bemittelten 
Ständen verhältnismässig nicht viel geringer an Zahl sind. Die Frage, welche 
Hilfsschul-Einrichtungen den imbecillen Kindern aus höheren Schulen nützlich 
sein könnten, sollte ein Schularzt nie aufwerfen. Die armen Wesen, welche 
gehetzt von der Eitelkeit ihrer Eltern mit Mühe nnd Not durch die Vorschulen 
geschleppt und höchstens bis in die Mittelklassen der höheren Schule geschoben 
werden, bedürfen derselben Schonung und Behandlung wie ihre Leidensgenossen 
in den Volksschulen. Die Hilfsschule muss für alle Schichten der Bevölkerung 
geöffnet sein. Wer auch hier wieder, wie in so vielen anderen Stücken der 
Volkserziehung, die Menschen nach dem zufälligen Moment des Geldbesitzes 
schichtet, würdigt die Hilfsschule nicht recht,. kann unmöglich mit herzlichem 
und sozialen Empfinden und auch nicht mit wissenschaftlichem Ernste der 


Hilfsschule ein Freund sein. Die Hilfsschulen müssen so vollkommen ein- 
gerichtet sein, so gut mit Lehrkräften und Lehrmitteln ausgestattet werden 
und unter so günstigen Vorbedingungen wirken können, dass auch bemittelte 
Eltern ihre Schmerzens- und Herzenskinder diesen Schulen gern anvertrauen. 
Für Kinder ist immer das Beste, für kranke Kinder nur das Allerbeste gerade 
gut genug. Darum sollte auch niemand sein Kind desbalb der Hilfsschule 
fernhalten, weil hier die Mehrzahl der Schüler sozial und wirtschaftlich tiefer 
stehen. Geldbesitz ermöglicht allerdings die Benutzung komfortabler Anstalten, 
doch nicht in allen Fällen ist für die in leichterem Grade schwachsinnigen 
Kinder die Anstaltserziehung das Beste, wenn sie auch in schweren Fällen schon 
im Interesse der Familie des Kindes das Empfehlenswerteste und nicht selten 
eine unbedingte Notwendigkeit ist. Meist begnügen sich bemittelte Eltern mit 
einer Familienpension ausserhalb des Elternsitzes, ohne dabei Garantie zu 
fordern, dass dem gehemmten Geistesleben des Pensionärs auch fachkundige 
Leitung geboten wird. Ganz entschieden erlangt dann die Hilfsschule auch eine 
hohe pädagogische und soziale Bedeutung für einen Ort, wenn durch sie Kinder 
der besprochenen Art ihrer Familie erhalten bleiben können, auch eine mangel- 
hafte Familienerziehung enthält immer noch wertvolle erziebliche Momente, die 
keine Anstalt in sie aufnehmen kann. Gemeindeverwaltungen, die bei der 
Pflege ibrer Hilfsschulen auch solchen Zweck im Auge behalten, verdienen 
höchste Anerkennung. Vielleicht stösst man sich auch an dem Umstande, dass 
die Hilfsschule — ich glaube überall — Freischule ist, für die also kein Schul- 
geld erhoben wird. Aber dieser Stein des Anstosses liesse sich wohl beseitigen. 
Man erhebe von den Eltern der eingeschulten Kinder eine Schulsteuer, die in 
Anlebnung an die verschiedenen Einkommensteuersätze bemessen wird, so dass 
die Unbemittelten nach wie vor die Benutzung der Schule frei haben und die 
Bemittelten in dem Verhältnis zahlen müssen, als ob sie ihre Kinder an eine 
mittlere oder höhere Schule schickten. 

Was will die Hilfsschule ihren Schülern sein? Es wurde bereits angedeutet, 
dass schwachbefähigte Kinder unter den herrscheuden Verhältnissen in Normal- 
schulen keine Förderung erfahren können, sondern in ihrer Natur nur fortgesetzt 
geschädigt werden. Der Unterricht ist dort den Schwachen keine Lust, sondern 
eine Last; die Normalschule erweckt durch zu hohe Anforderungen, die nie selb- 
ständig aus eigner Kraft erfüllt werden können, bei den Schwachen Arbeits- 
abneigung, die sie oft ins Leben mit hinüber nehmen. Die schöne Forderung: 
„Individualisiere im Unterrichte!“ ist für den üblichen Massenunterricht eine 
Strafe. In unseren Normalschulen ist nicht das Kind die Hauptsache, nicht nach 
ihm richtet man sich bei der Feststellung des Unterrichtszieles und nicht auf 
seine Natur nimmt man Rücksicht bei der Auswahl und Darbietung des Unter- 
richtsstoffes und bei der Ausgestaltung erziehlicher Einrichtungen. In der Hilfs- 
schule, wo nur wenig Kinder, 15 bis höchstens 18 eine Klasse bilden, wo die 
Eigentümlichkeiten jedes Kindes vom Lehrer möglichst erforscht werden können, 
wo die Verbindung zwischen Schule und Haus sich inniger gestalten lässt, da 
kommt auch der grösste Schwächling zu seinem Recht; kein Kind, auch nicht 


92 
sein, bleibt ohne fortdauernde Anregung. Hierin liegt der Wert eines gesonderten 
Unterrichts für Schwachbefähigte. Allerdings können auch wir ein geschwächtes 
Gehirn niemals zu einem „rüstigen“ umbilden, aber geschont und vor weiteren 
Schädigungen kann und muss das Kind bewahrt bleiben. Die vorhandenen 
gebundenen Kräfte lassen sich wecken und in naturgemässer Weiterentwicklung 
in richtige Bahnen lenken. 

Was wir wollen ist die psychologische Pädagogik, wie sie uns besonders von 
Strümpell gelehrt wird. Wir schlagen ihren Weg nolens volens ein, denn wenn 
wir auch in die Irrtümer verfallen wollten, an der sonst die Schule im allge- 
meinen leidet, indem sie dem didaktischen Materialismus huldigt, trotz Dörpfeld’s 
unübertrefflichem Mahnwort, trotz der Geisselungen, welche die Unnatur des 
Unterrichts durch Streiter im pädagogischen Kampfe erfahren hat und auf eine 
übermässige Aneignung von Wissensstoff hinarbeitet, bei uns scheitert jeder 
dahin zielende Versuch von selbst an der Natur des Kiudes. Die Ziele der Er- 
ziehung, welche seit Comenius, Pestalozzi, Herbart bis in die Gegenwart der 
Sozialpädagogik in ewig wandelnden Formen und Fassungen für unsere päda- 
gogische Arbeit gesteckt worden sind, setzen durchweg voraus, dass das zu 
erziehende Kind sich ohne weiteres den pädagogischen Massnahmen fügen muss. 
Es sind Ziele, mit denen sich bei uns nichts Rechtes anfangen lässt. Wir 
brauchen ein näherliegendes und feststehendes Ziel. Das Feststehende liegt aber 
in der Menschennatur, in dem gesetzmässigen Ineinandergreifen der geistigen 
Kräfte. Dieser Gesetzmässigkeit nachzugehen ist darum die allererste und wich- 
tigste Aufgabe des Erziehers, ohne deren Lösung keine andere Aufgabe zu erfüllen 
ist. Für unsere Arbeiten der Hilfsschule ist es vielfach die einzige Aufgabe. 
Wenn man erwägt, welch eine unermessliche Fülle geistigen Gewinns ein nor- 
males Kind in den ersten 3 Lebensjahren ohne planmässige Einwirkung in sich 
aufspeichert, dann erscheint der Erfolg einer achtjährigen Schularbeit erschrecklich 
gering. Und wenn man als glücklicher Familienvater oder Lehrer normaler 
Kinder beobachtet, wie in der Familie die geistigen Kräfte von selbst unter den 
Wirkungen der „freien Kausalitäten“ sich herausheben zur gefühlsreichen, 
denkenden, Schönheit geniessenden, sittlich handelnden, sich selbst erkennenden 
Persönlichkeit, wenn auch vielfach nur in kleinen Spuren, so erscheint die Arbeit 
in der Schulstube, wo die Kindermassen in Reih und Glied wie die Knöpfe am 
Soldatenrocke die inneren Regungen zur Selbstentwicklung mehr unterdrücken 
als äussern müssen, recht leer und kalt. Ich meine nun, um kurz zu sein und 
nur um einiges anzudeuten, dass wir in unserer Hilfsschule möglichst viel sitt- 
lich religiösen Familienerziehungsgeist müssen aufkommen lassen, in solchem 
Geiste soll das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler sein. 

Das Fundament der Erziehung bleibt in erhöhtestem Masse die von Pestalozzi 
betonte Anschauung, was aber mehr besagt als Bilderunterricht. An Stelle der 
Kunstkatechese tritt oft eine ungekünstelte Unterhaltung. Dass hierbei die 
Kinder den Lehrer viel zu fragen haben und fragen ist wichtiger, als dass 
sie auf zusammenfassende Fragen des Lehrers lange Vorträge halten. Ein 
unterrichtlicher Gang ins Freie und ein heiterer Gesang dabei, der Besuch einer 


BR. 


Kirche, einer Werkstatt oder eines Panoramas u. ä. ist mehr wert als eine 
Unterrichtsstunde Wo das Kind geht und steht muss es Erzieher treffen, die 
es anregen zum Denken und Urteilen und fröhlichem Wollen. Darum sind die 
Unterrichtsstoffe dem Alltagsleben der Menschen zu entnehmen, denen das Kind 
womöglich auf Schritt und Tritt begegnet und dadurch ausserhalb der Schule 
die Repetitoren seines Wissens werden. Die Hausordnung, welche der Wirt dem 
Mieter vorschreibt, ist besser zur Behandlung des siebenten Gebotes geeignet als 
eine Definition und einige Sprüche übers Stehlen. Was du nicht willst, dass 
man dir thu, das füg’ auch keinem andern zu. Beim Erleben eines starken 
Gewitters, eines Hochwassers, einer gewaltigen Feuersbrunst oder wenn ein 
grosses Unglück oder ein Verbrechen die Gemüter der Bewohner erregt, lassen 
sich tiefere religiöse Gefühle erwecken als bei der Behandlung der meisten 
alttestamentlichen Geschichten. — Den Inhalt der polizeilichen Warnungstafeln 
an Strassen und Plätzen zu verstehen und bei ihrer Besprechung auf die sozialen 
Pflichten jedes Einzelnen hinzuweisen, liegt unseren Kindern näher als Fürsten- 
und Kriegsgeschichten. Gutes Vorlesen schöner Gedichte und Geschichten von 
Seiten des Lehrers bringt den Kindern allemal eine Feiertagsfreude, sie ist 
aber an jedem Wochentage angebracht und mehr wert, als das Zerpflücken 
eines Gedichtes. Die Wanduhr und der Abreisskalender, die Münzen, Masse 
und Gewichte thunlichst bald und sicher zu verstehen und aufs Verkehrsleben, 
Kaufen und Verkaufen stetig anzuwenden, ist von grösserer Bedeutung als Bruch- 
rechnen. Wo kommt der Wind heut her? Wie ist der Himmel bewölkt? Was 
zeigt das Wetterglas oder der Wärmemesser? Solche und ähnliche Fragen 
können täglich gestellt werden, um damit das Interesse für Naturvorgänge zu 
erwecken. Halte deine Kinder stets in guter Stimmung, denn auf 
einem schlecht gestimmten Instrumente kann auch der grösste 
Künstler keine Harmonien erzeugen. Mir ist diese Forderung eine der 
Allerwichtigsten. Sie ermöglicht die so überaus wertvolle psychische Begegnung 
zwischen Erzieher und Zögling. Dass in der Hilfsschule Turnen und Jugend- 
spiel viel gepflegt werden und auch der Handarbeitsunterricht für Knaben sehr 
am Platze ist, liegt auf der Hand. So lernen unsere Kinder die äusseren und 
inneren Sinne gebrauchen, um für das Erwerbsleben nützlich sein und in der 
gesellschaftlichen Eingliederung ihren Platz ausfüllen zu können. Jede arbeitende, 
Güter erzeugende Kraft, und wäre es auch nur ein umsichtiger Strassenreiniger, 
ist von vielfach höherem Werte für die menschliche Gesellschaft als der ver- 
schwenderische Tagedieb. Viele unserer Schüler würden bei steter Vernach- 
lässigung für das Erwerbsleben verloren gehen, der Familie auf dem Halse 
bleiben als nutzlose Brotesser und späterhin den Armenverwaltungen zur Last 
fallen. Wer in sich nur einen Funken Pflichtgefühl hegt, will nicht von Wohl- 
thaten leben, sondern im Getriebe des Staats- und Erwerbslebens einen Wert 
haben, eine Lücke ausfüllen. Es vergehe kein Tag, an dem wir unseren Kindern 
den Satz nicht nahe brächten: „Erfülle deine Pflicht*. Wie die Blinden und 
Taubstummen, die ich allerdings nicht zu den Abnormen im Sinne der Schwach- 
sinnigen rechne, durch eine planmässige Ausbildung ihrer Kräfte ausserordentlich 





un 


an Ansehen in der Gesellschaft gewonnen und viele Vorurteile überwunden haben, 
so wird man bei weiterer Wirksamkeit der Hilfsschule auch den Schwachsinnigen 
nicht bloss als Troddel ansehen. 

Ich meine aber, dass die Aufgaben der Hilfsschule nicht mit den Wänden 
der Schulstube abgeschlossen sind. Ausserhalb derselben bleibt uns noch viel 
zu thun und zu schaffen übrig. Der Lehrer muss den Kindern bei der Beruts- 
wahl behilflich sein, mit den Eltern gemeinsam die geeignete Beschäftigung 
für das Kind wählen und die geeigneten Meister oder Arbeitgeber suchen. 
Das Laufburschenwesen und die frühzeitige Fabrikaibeit ist Gift für unsere 
Schwachen. Wenn irgend möglich, suche ich ihnen Interesse fürs Landleben zu 
erwecken. Lehrt man die ‚Eltern, dass sie ihr Kind als ein krankes, in der 
Entwicklung geistig und körperlich zurückgebliebenes Kind ansehen, dann 
verschliessen sie sich auch nicht der Gründe, die bei der Berufswahl massgebend 
sein müssen; nicht möglichst zeitiger Geldverdienst, sondern Gesunderhaltung 
für Geist und Körper müssen bestimmend wirken. 

Das neue ‚Fürsorgeerziehungsgesetz, welches am 1. April d. J. in Preussen 
in Kraft getreten ist, wird gewiss auch: für unsere Hilfeschulen nicht ohne Segen 
sein. In Görlitz bin.ich als Leiter der Hilfsschule ohne mein Zuthun in den 
Beirat gewählt, ein erfreuliches Zeichen für das Interesse, das die Hilfsschule 
findet. Es berührt den Kenner pathologischer Erscheinungen allemal recht un- 
angenehm, wenn aus den Berichten über Gerichtsverhandlungen klar zu ersehen 
ist, dass man-das Pathologische eines Angeklagten nur in ganz eklatanten Fällen 
erst: beachtet. Sanitätsrat Dr. Berkhahn, der altbewährte Freund der Hilfs- 
schulen, weist in seiner Brochüre über den angebornen und erworbenen Schwach- 
sinn bin auf die Pflichten, die die Gerichtsbehörden hier zu erfüllen haben. 

Ein anderes sehr weites Gebiet, auf welches sich indirekt ein Segen unserer 
Einrichtung ausdehnen kann, ist das Militärwesen. Da in vielen Fällen bei 
schwachbefähigten Kindern die körperlichen Vorbedingungen für- ihre Brauchbar- 
keit zum Militärdienst vorhanden sind und am ehesten sich nachentwickeln, 
wird nicht selten durch die Aushebung zum Soldaten ihnen bitteres Unrecht ge- 
than. Das präcise, peinliche Ausführen militärdienstlicher Aufgaben setzt ein 
gesundes, schnelles Auffassungs- und Entschliessungsvermögen voraus, namentlich 
eine Gesundheit in den zentralen und peripheren Bewegungsorganen, die nur 
selten, wie besonders beim Turn- und Handfertigkeitsunterricht zu erkennen ist, 
vorgefunden wird. Solch ein armer Soldat ist das Angst- und Sorgenkind aller 
Vorgesetzten und der ganzen Kompagnie, die darunter zu leiden hat. Mit Bezug 
auf die Bedeutung der psychopathischen Minderwertigkeiten für den Militärdienst 
hat Koch eine Brochüre verfasst, in der das Gesagte auch mit Bezug auf 
Schwachbefähigte am Platze ist. | 

Ich meine nun, dass unsere Zöglinge nach dieser Richtung hin zu schätzen 
seien, inlem wir den beim Ersatzgeschäfte Helen Civilbehörden Zeugnisse 
und Berichte zugehen lassen. 

Alles in allem kann man behaupten, je Hehe die städtischen und staatlichen 
Behörden die Errichtung und den weiteren Ausbau der Hilfsschulen fördern, 


95 


desto mehr wird sich in allen Kreisen der Bevölkerung das Interesse für die 
Armen am Geiste steigern und sich vorbeugend und helfend bethätigen. Wenn 
wir Lehrer aber gründlich vertraut mit den Ursachen und dem Wesen der 
geistigen Abnormitäten unserer Kinder auch Öffentlich als Anwälte für die 
Erziehungsbefohlenen durch Wort und Schrift auftreten, so werden wir manchen 
Feind der Volkswohlfahrt, wie den Alkobol, die Ausschweifungen auf sexuellen 
Gebiete und manches Andere bekämpfen können. Unser Einfluss ist ja nirgends 
gross, aber Überzeugungstreue, Begeisterung für den Beruf und heiliger Ernst 
um die Sache machen auch den Schwachen kräftig. 


Stürmischer Beifall belohnte den Redner für seine vortrefflichen . Aus- 
führungen. 

‚In der sich anschliessenden Debatte nahm zunächst der Kgl. igien 
Universitätsprofessor Dr. Stumpf- Würzburg das Wort und äusserte sich dahin, dass 
die von dem Vortragenden in pädagogischer Hinsicht gegebene Auffassung von dem 
Wesen des Schwachsinns durchaus der medizinischen wissenschaftlichen Auffassung 
entspräche und dass es medizinische Erfahrung sei, dass, wenn man sich einmal mit 
der Materie eingehender befasst habe, irgend welche Irrungen inbezug auf die Ein- 
reihung der betreffenden Kinder unter die Schwachsinnigen nicht mehr vorkomme, dass 
sich also wissenschaftliche und pädagogisch Drasuseng Erfahrung in dieser Hinsieht 
vollständig decken. 

Der Delegierte des englischen Unterrichtsministeriums Dr. Eichholz- London 
konstatierte, dass auch in England bereits einige Jahre nach Einführung der Hilfs- 
schulen analog den in Norddeutschland gemachten Erfahrungen die Notwendigkeit, als 
schwachsinnig deklarierte Kinder wieder in die Normalschule zurückzuversetzen, sich 
ganz allmählich vollständig ausschliessen lasse, ein Beweis dafür, wie sicher man in der 
Diagnose des Schwachsinns und zwar des hier in betracht kommenden bildungsfähigen 
Schwachsinns bei einiger Uebung werde. 

Schulrat Specht - Karlsruhe stellt den Antrag, über. diesen Vortrag keine Dieknaeich 
weiter zuzulassen, und die vom Vortragenden aufgestellten Leitsätze en bloc anzunehmen. 
Dieser Antrag wird einstimmig angenommen. 

Die Leitsätze des Vortrags lauten: 

I. Die Hilfsschule ist ein notwendiges Glied im Organismus der auf peycho- 

logischem Prinzip aufgebauten Erziehungsschule. 

I. Die Hilfsschule ist in hervorragender Weise berufen, die Lehren je 
pädagogischen Pathologie zu beachten und durch ihre eigenartigen Er- 
fahrungen am weiteren Ausbau der wissenschaftlichen Pädagogik mit- 
zuwirken. 

Hl. Für vollsinnige, geistig geschwächte Kinder mit geringer oder fehler- 
hafter Bildsamkeit, die aber zweckmässiger Weise in Familienerziehung 
verbleiben können, ist die Hilfsschule am besten geeignet zur indivi- 
‚duellen Schulung der Geisteskräfte und zur Erziehung für das nn 
Gesellschafts- und Erwerbsleben. | 


96 


IV. Die öffentlichen Schulen werden dadurch, dass sie schwachbefähigte 
Kinder der Hilfsschule überweisen können, in den Stand gesetzt, ihre 
unterrichtlichen und erziehlichen Aufgaben besser zu erfüllen. 

V. Die Hilfsschule wirkt volkswirtschaftlich, indem sie ihre anormalen 
Kinder vor weiteren Schädigungen zu bewahren sucht, vor falscher Be- 
urteilung und deren Folgen schätzt und sie der Familie wie der Gesell- 
schaft als erwerbende Kräfte erhält. 


Uber den Schwachsinn 
sprach sodann Dr. med. Friedr. Wilh. Müller-Augsburg. 

Der Vortragende giebt auf Grund der medicinischen Litteratur ein Krank- 
heitsbild des Schwachsinns mit besonderer Berücksichtigung des kindlichen Alters. 
Wenn krankhafte Vorgänge vor der Geburt oder in den ersten Lebensjahren das 
Gehirn, welches der Träger unseres Seelenlebens ist, schädigen und die betroffenen 
Teile zur Aufnahme und Verarbeitung neuer Eindrücke unfähig machen, so wird 
auch das Seelenleben in seiner Ausbildung frühzeitig unterbrochen und es ent- 
stebt geistige Schwäche aller Grade, die zwischen der Dummheit und dem 
völligen Blödsinn liegen und ohne Grenzen ineinanderfliessen. Die Schwäche 
zeigt sich nicht nur in der Verstandesthätigkeit, sondern auch im Gefühlsleben 
‘und im Wollen und Handeln. Dabei beobachtet man eine mehr stumpfe und 
eine mehr lebhafte Form. Nach kurzer Anführung der wesentlichen Erschei- 
nungen des Blödsinns (Idiotie) werden die Krankheitsäusserungen des Schwach- 
sinns (Imbecillität) besprochen. Im letzteren werden, wie auf der letzten 
Psychiater-Versammlung zu Frankfurt vorgeschlagen wurde, solche Fälle ge- 
rechnet, bei denen keine gröberen Störungen der Empfindungs- und Bewegungs- 
fähigkeit, speziell der Sprache bestehen und von denen ein gewisser Schatz an 
possitivem Wissen erworben werden kann. In den ersten Lebensjahren, wo das 
Seelenleben im Werden ist, kann man nur in ausgesprochenen Fällen imbecille 
Kinder als solche erkennen. Diese reagieren schwer auf äussere Reize, fangen 
spät an zu lächeln und sprechen und verstehen nicht, sich mit Spielzeug zu 
unterhalten. Auch körperlich entwickeln sie sich langsam. Oft kommt erst 
durch die Anforderungen der Schule ihr Schwachsinn an den Tag. Auf dem 
Gebiete der Verstandesthätigkeit zeigt sich nun bei der sogenannten stumpfen, 
apathischen Form vor allem eine sehr geringe willkürliche Aufmerksamkeit, 
weniger für äussere Dinge, als namentlich für Vorstellungen. Letztere können 
sie auch nicht in gegenseitige Beziehungen bringen und das Gemeinsame daran 
erkennen. Sie nehmen überhaupt wohl nur konkrete Vorstellungen auf und 
klammern sich an jede einzelne derselben, ohne sie zu einer Allgemeinvorstellung 
zu verschmelzen und einen umfassenden abstrakten Begriff dafür finden zu können. 
Auch im späteren Leben vermögen sie nicht Wesentliches von Unwesentlichem 
zu unterscheiden, sehen nur das Naheliegende, ihr Erfahrungsschatz bleibt des- 
halb gering, ihr Gesichtskreis klein. Ganz unmöglich ist es ihnen, mit höher- 
wertigen abstrakten Begriffen zu operieren, Grundsätze zu bilden, nach denen 


97 THE N 
er Popp, w Ken / 
sie ihr Handeln einrichten könnten. Ihr Gedächtnis Ist ungenügend‘ 'und/ die 
aufgenommenen Vorstellungen gehen bald wieder verfore.. „Bei ihrer Kritik- 
losigkeit bleibt oft belangloses Detail haften, während wichtige Tifatsache ver- 
gessen werden. Deshalb ist auch die Wiedergabe des "Brlernten und‘ Erlebten 
eine unverständliche. Dazu kommt noch ein auffallender Hang zum ädstehtlichen 
Lügen, das sich aber meist als deutlich schwachsinnig erweist. Infolge ihrer 
raschen Ermüdbarkeit und schwachen Fassungskraft fehlt ihnen die Lernfreudig- 
keit und ihre Schulkenntnisse, namentlich im Rechnen, bleiben geringe. Viel 
leichter erlernen sie Handfertigkeiten, die ihrer konkreten Denkweise entsprechen. 
Von Gemüt sind sie lau oder stumpf und können sich höherwertige Gefühle, 
wie Dankbarkeit, Ehrfurcht, Mitleid nur äusserlich aneignen. Ihr ganzes Fühlen 
beschäftigt sich mit der eigenen Person und den eigenen Verhältnissen und diesen 
dureh keine Gegengefühle gehemmten Egoismus, der im kindlichen Alter bis zu 
einem gewissen Grade normal ist, behalten sie auch als Erwachsene bei. Ihre 
Stimmung ist gleichgiltig oder von läppischer Heiterkeit, vorausgesetzt dass sie 
gut behandelt werden, und ihr Benehmen im allgemeinen gutmütig. Doch 
werden sie durch unvorsichtige Strafen störrisch und können bei Beeinträchtigung 
ihrer Person in grosse Wut geraten. Mit Geduld und Verständnis lassen sie 
sich zu allerlei Arbeiten anleiten, die ihren geringen Fähigkeiten entsprechen. 
Sollen sie aber einmal auf eigenen Füssen stehen, dann kommt ihre Unfähigkeit, 
selbständig zu handeln und ihre ganze Hilflosigkeit zum Vorschein. War nun 
diese stumpfe, einfache Form durch Mangel an Aufmerksamkeit, durch Armut 
des Vorstellungslebens und Schwerfälligkeit des Denkens und Urteilens gekenn- 
zeichnet, so besteht bei der lebhaften Form eine krankhafte Beweglichkeit der 
Aufmerksamkeit und der Einbildungskraft. Ihre Aufmerksamkeit wird durch 
äussere Reize und innere Vorgänge hin und hergezerrt. Die Eindrücke bleiben 
nicht haften und werden rasch durch andere verdrängt. Sie nehmen eine Menge 
Erinnerungsbilder auf, aber alle ungenau und unvollständig und können sie nicht 
in Einklang mit einander bringen. Dadurch entstehen gefälschte Vorstellungen 
und Begriffe, die nur auf willkürliche Weise in Verbindung gebracht werden 
können, wie es eben der Einbildungskraft gefällt. So entsteht für die Kranken 
ein ganz entstelltes Bild der Aussenwelt, ein Durcheinander von Falschem und 
Wirklichem, überwuchert von den Produkten einer zügellosen Phantasie. Infolge 
davon müssen auch ibre Urteile verkehrt, oft grotesk ausfallen. Bei ihrer Ver- 
anlagung fällt ihnen das Lügen noch leichter als den stumpfsinnigen Imbecillen, 
ihr Gedächtnis ist etwas besser, kann aber das Aufgenommene natärlich nicht 
der Wirklichkeit entsprechend wiedergeben. Auch ihre gemütliche Seite spiegelt 
das Unbeständige und Sprunghafte ihres Wesens wieder; sie sind launisch, fallen 
von einem Extrem ins andere, sind reizbar und empfindlich, namentlich inbezug 
auf ihre Person und ihre Interessen. Auch bei ihnen finden höhberwertige Gefühle 
im Innern keine Resonanz, sie haben ein grosses Selbstgefühl, glauben Alles ver- 
stehen zu können, bringen aber nie etwas Rechtes fertig. Ihre ganze Lebens- 
führung hat, wie ein französischer Irrenarzt sagt, einen Hang zum Verkehrten, 
zum instinktiv Nichtsnutzigen. Bei dieser Form haben sich auf dem Boden der 





98 
angebornen geistigen Schwäche noch einzelne krankhaft geartete Geisteszustände 
entwickelt, so dass zum Schwachsinn noch eine Verschrobenheit hinzukommt. 
Ausser diesen beiden Arten wird noch ein moralischer Schwachsinn, die moral 
insanity beschrieben, bei dem ein völliger Mangel an Gemüt, an moralischen 
und ethischen Eigenschaften bei intakter Intelligenz besteht. Er kann wegen 
seiner schlimmen Krankheitserscheinungen für die Hilfsschule nicht in Frage 
kommen. Als Ursachen der Idiotie und Imbecillität werden in 70 Prozent aller 
Fälle erbliche Belastung durch Geisteskrankheiten oder durch Trunksucht der 
Vorfahren angegeben; in zweiter Reihe kommen Schädlichkeiten, denen das kind- 
liche Gehirn während der Geburt ausgesetzt ist. Nach der Geburt können 
Infektionskrankheiten, Hirnentzündung usw. die Schuld tragen. Das Wesen des 
Schwachsinns als eines abgelaufenen Krankheitsprozesses bringt es mit sich, dass 
er im medizinischen Sinne nicht geheilt werden kann. Die ärztliche Tbätigkeit 
beschränkt sich auf die Behandlung störender, körperlicher Krankheitserscheinungen 
und namentlich auf die Vorbeugung solcher Zustände durch Aufklärung. Die 
psychische Therapie fällt der Pädagogik zu. 

Direktor Kölle-Regensberg bemerkt, er habe den Eindruck, dass die Aerzte 
viel nach Sollier's Buch sprechen und schreiben, er hege daher gegen die Einteilung 
Bedenken. E 

Hilfsschulleiter Hanke- Görlitz. Wir als Pädagogen sollen nicht den Schwerpunkt 
auf das System legen, sondern die Bildsamkeit des Kindes in erster Linie berück- 
sichtigen. Die Bildsamkeit des Kindes bleibt für uns der Ausgangspunkt. Darum 
meine ich, ist es selbstverständlich, dass die Hilfsschullehrer und die Anstaltserzieher 
Hand in Hand gehen. Wir arbeiten nur für verschiedene Verhältnisse, da wo wir 
eine gute Familienerziehung merken, wollen wir darauf dringen, dass das Kind darin 
erhalten bleib. Die Fehler im Kinde sind nicht bloss Steine im Wege, an die 
man stossen kann, sondern etwas Gesetzmässiges, und dieser Gesetzmässigkeit müssen 
wir nachgehen. Unter den Ursachen des Schwachsinns müssen wir die erbliche 
Belastung etwas vorsichtiger ansehen. Es ist für Eltern ausserordentlich deprimierend, 
sich sagen zu müssen: du bist die Ursache für den Schwachsinn deines Kindes. 

Professor Dr. Stumpf- Würzburg weist auf die hohe Bedeutung der Personal- 
bücher, wie sie in der Hilfsschule geführt werden müssen, für den Gerichtsarzt hin. _ 

Schulrat Dr. Boodstein-Elberfeld hat Anlass gefunden, die Polizeibehörden zu 
ersuchen, ihm von jedem Falle einer strafrechtlichen Übertretung seitens eines Schul- 
kindes regelmässig Anzeige zu erstatten. Diese Anzeigen erweckten in ihm die Über- 
zeugung, dass es sich wirklich um soziale Produkte handle, welche in ausserordentlich 
unliebsamer Weise zu Tage treten. Er richtete an seine Lehrerschaft die Aufforderung 
über solche pathologischen Fälle genau Buch zu führen. Nach mancher Richtung kann 
durch genaue Kenntnis eines Kindes vorgebeugt werden, damit nicht erst nach grau- 
samer und das ganze Lebensglück vernichtender Weise eine Heilung oder Schadlos- 
machung erfolgt. 

Oberlehrer, Landtagsabgeordneter Schubert- Augsburg. In Bayern besteht seit 
Jahren die Einrichtung, dass die Verwaltungen beauftragt werden, wenn Minderjährige 
in Untersuchung gezogen sind, die Schulbehörden und Pfarrämter gutachtlich ein- 


99 


zuvernehmen sind. Diese Einrichtung hat schon in vielen Fällen ihr Gutes gethan. 
Ein Mangel liegt seines Frrachtens in den Lehrerbildungsanstalten. Es ist notwendig, 
dass der Unterricht in Pädagogik nach der pathologischen Seite erweitert wird. Man 
muss den jungen Leuten die Mittel in die Hand geben, dass, wenn sie hinausgehen, 
sie auch ein Urteil über die Seelen der ihnen anvertrauten Kinder abgeben können. 
Es ist kein Vorwurf gegen die Lehrerbildungsanstalten, den Redner macht, aber ein 
Mangel, der gehoben werden muss. Es muss zu diesem Unterricht in der Pathologie 
zu dem Pädagogen auch ein tüchtiger erfahrener Arzt hinzutreten. 

Geheimer Oberregierungsrat Brandi - Berlin erwähnt das neue Fürsorgeerziehungs- 
gesetz, nach welchem nicht mehr wie früher ein Kind untergebracht wird, wenn es 
erst ein Vergehen begangen hat, sondern wenn es gefährdet ist durch die Erziehung 
im Hause. Zur Ausführung des Fürsorge-Gesetzes haben die sämtlichen beteiligten 
Abteilungen des Ministeriums allgemeine Verfügungen und Ausführangsbestimmungen 
erlassen. Weiter wünscht Redner, dass wir unsere Schulen als Schulen für Schwach- 
befähigte mit dem möglichst unverfänglichen Namen Hilfsschule weiter bezeichnen, 
und nicht von Schwachsinn sprechen; die Eltern sträuben sich dagegen ihr Kind 
einer Schule anzuvertrauen, von der sie sagen, hier ist ein kleiner Makel. 


Beratung 
über die dem Il. Verbandstage vom Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig vorge- 
legten Leitsätze A bis E iber die Organisation der Hilfsschule, 


An Stelle des erkrankten Referenten übernimmt das Vorstandsmitglied 
Bock-Braunschweig das Referat. Die Leitsätze werden in folgender Fassung 
angenommen: 

A. Der Name, 
Hilfsschule (für schwachbefähigte Kinder). 


B. Allgemeines. 

1. Die Hilfsschule ist als öffentliche selbständige Schule anzuerkennen. 
Nebenklassen, welche die schwachbefähigten Kinder zum weiteren Be- 
suche der Volks- bezw. Bürgerschule vorbereiten sollen — sowie Nach- 
hilfeabteilungen, in denen die schwachbefähigten Kinder nur in einzelnen 
Fächern unterwiesen werden — können die Hiltsschule nicht ersetzen. 

2. Dem entsprechend gelten für sie die Schulgesetze und die Schulordnung, 
unter welchen die Volks- bezw. Bürgerschulen des betreffenden Ortes 
stehen. Nötigenfalls sind für sie besondere Verordnungen zu erlassen. 

3. Es sind gesetzliche Bestimmungen erforderlich, um Kinder, welche zur 
Aufnahme in die Hilfsschule bestimmt sind, aus den Volks- bezw. 
Bürgerschulen überweisen zu können. 


C. Das Schülermaterial. 
Die Hilfsschule ist für diejenigen Kinder bestimmt, die derart geistig 
geschwächt sind, dass sie an dem Unterrichte in einer Volks- bezw. Bürgerschule 
nicht mit Erfolg teilnehmen können. Abzuweisen sind: 


20:2789 





100 





pð 


. Kinder, die an Schwachsinn höheren Grades, sowie an Blödsinn leiden; 

2. blinde und taubstumme Kinder, sowie schwerhörige, wenn die Schwer- 
hörigkeit 8o gross ist, dass sie an dem Unterrichte für hörende Kinder 
nicht teilnehmen können; 

. epileptische Kinder; 

4. geistig normale Kinder, welche wegen ungünstiger Schulverhältnisse, 
wegen mangelhaften Schulbesuches oder wegen Krankheit in der Aus- 
bildung zurück geblieben sind und solche, welche nur in einzelnen 
Unterrichtsfächern schwach sind; 

ö. sittlich verkommene Kinder. 


D. Die Aufnahme. 


1. Die Aufnahme in die Hilfsschule geschieht in der Regel erst nach einem ` 
ein- bis zweijährigen Besuche einer Volks- bezw. Bürgerschule. 

2. Die Aufnahme vollziehlt ein Prüfungsausschuss, bestehend aus einem 
Schulaufsichtsbeamten, einem psychiatrisch gebildeten Arzte bezw. dem 
Schularzte und dem Leiter der Hilfsschule. 

3. Die Aufnahmeprüfung findet vor Beginn des Schuljahres, die Aufnahme 
in der Regel nur bei Beginn desselben statt. 

4. Die Einwilligung der Eltern (bezw. deren Vertreter) zur Überführung 
der Kinder in die Hilfsschule ist thunlichst auf gütlichem Wege zu 
erlangen. 

5. Solche Kinder, über welche bei der Aufnahmeprüfung das Urteil schwankend 
ist, ob sie schwachbefähigt oder höheren Grades schwachsinnig sind, 
sind zur Begutachtung in die Hilfsschule aufzunehmen. 


ca 


E. Die Entlassung. 

1. Die Entlassung der Kinder aus der Hilfsschule geschieht in der Regel 
den Landesgesetzen gemäss nach Beendigung der Schulpflicht. Doch 
können Kinder auf Wunsch der Eltern über die gesetzliche Schulpflicht 
hinaus die Schule besuchen. 

2. Kinder, die sich in der Hilfsschule ausserordentlich entwickelt haben, 
können in die Volks- bezw. Bürgerschule zurück versetzt werden, wenn 
sie noch mehrere Schuljahre vor sich haben. 


Die Bestimmung des nächsten Tagungsortes wurde nicht vor- 
genommen, da Anträge und Einladungen nicht vorlagen. Sie wird dem Vor- 
stande des Verbandes überlassen. 


Der Vorsitzende gab sodann ein Schreiben des erkrankten Schulrats Bauer- 
Augsburg bekannt, auf dessen Anregung der Verband eigentlich in Augsburg 
tagte und dem gestern vom Vorstande eine Depesche geschickt worden war. 
Von auswärts waren Telegramme mit besten Wünschen für gedeihliche Beratungen 


eingegangen von Frenzel-Stolp, Dr. Kallenberger-Wien, Sanitätsrat Dr. Berk- 
han und Kielhorn-Braunschweig und Schenk-Breslau. 

Der erste Vorsitzende Dr. Wehrhahn giebt der Genugthuung Ausdruck, 
dass die Verhandlungen gut verlaufen sind und wir mit grossen Hoffnungen der 
Zukunft entgegensehen können, spricht den üblichen Dank aus und schliesst die 
Verhandlungen mit dem Wunsche auf ein frohes Wiedersehen. 

Auf Aufforderung des Schulrat Kuhlgatz-Kiel giebt die Versammlung 
dem ersten Vorsitzenden für die vorzügliche Leitung der Verhandlungen durch 
Erheben von den Sitzen ibren Dank kund. Schluss 1?/, Uhr nachmittags. 

Das nachmittags 2 Uhr im Hotel „drei Mohren“ veranstaltete Festmahl 
vereinigte eine grosse Anzahl der Teilnehmer des Verbandstages und wurde durch 
die üblichen Toaste belebt. — Nachmittags 5 Uhr fand eine gemeinsame 
Besichtigung der Schwäbisch permanenten Schulausstellung in den 
Räumlichkeiten der ehemaligen Jesuitenkaserne statt. In einem Saale wurden 
während dieser Zeit drei Vorträge gehalten. Es referierten Rektor Müller- 
Zeitz über seinen Rechenapparat, Fuhrmann-Breslau über die Rechtschreib- 
fibel von Missalek und Busch- Magdeburg über den Gindlerschen Lese- und 
Rechtschreiblehrapparat, Verlag „Fibula“ Gross-Lichterfelde b. Berlin. Da letzt- 
genannter Apparat ein wirklich empfehlenswertes Lehrmittel für die Hilfsschule 
ist, bringen wir das Referat des Lehrers Busch in kurzen Zügen wieder: Der 
Apparat besteht aus fünf beweglichen Kästchen, in welchen sich das gesamte, 
methodisch geordnete Buchstabenmaterial befindet. In Kasten I befinden sich 
Vorsilben und Konsonanten (deutsch und lateinisch), in Kasten II Anlaute und 
Anlautverbindungen, in Kasten III Inlaute und Inlautverbindungen, in Kasten IV 
Auslaute und Auslautverbindungen, in Kasten V Endsilben. Die Vorzüge des 
Apparates sind kurz folgende: 1. Die Handhabung ist praktisch, einfach und 
leicht. 2. Die Anordnung der Buchstaben ist übersichtlich. 3. Die Schrift ist 
deutlich und schön. 4. Mit grosser Schnelligkeit können Laute, Silben und 
Wörter dargestellt und verändert werden. 5. Die Übungen können sehr reich- 
haltig gestaltet werden. 6. Der Lehrer hat die Kinder stets im Auge und die- 
selben sehen nur, was sie sehen sollen. Dadurch wird immer eine gute Disziplin 
aufrecht erhalten und die Aufmerksamkeit ist grösser und länger andauernd. 
7. Die Wörter können mit Leichtigkeit in ihre Grundbestandteile zerlegt und 
aus denselben wieder aufgebaut werden. 8. Der Apparat ist unabhängig von 
jeder Lehrmethode, kann ohne und neben jeder Fibel benutzt werden. 9. Einen 
nicht zu unterschätzenden Vorteil bringt der Apparat dadurch, dass, während 
alle Kinder mit Interesse arbeiten, der Lehrer sich schweigend verhalten und 
seine Lunge schonen kann. 


Am Abend fand zu Ehren der Gäste im „Schiessgraben“ eine von der 
Augsburger Liedertafel geleitete Feier statt, die den Teilnehmern nach der harten 
Tagesarbeit Erholung bot. Lebhafteste Zustimmung fand eine von Instituts- 
lehrer Hans Nagel-Augsburg vorgetragene eigene Dichtung, die wir zum 
Schlusse unseres Berichtes anfügen wollen. 


102 E 

Am Freitag, den 12. April wurden die Teilnehmer des Verbandstages 
teils zu Rundgängen durch die altebrwürdige Augusta Vindelicorum, teils zu 
Besuchen der Anstalten in Göggingen und Ursberg vereinigt. 


Nach dem vom Ortsausschusse herausgegebenen „Verzeichnis der Teil- 
nehmer“ wurde der Verbandstag von 157 auswärtigen und 205 einheimischen, 
insgesamt also 362 Teilnehmern besucht. Es waren vertreten das K. preussische 
Kultusministerium durch Geheimen ÖOberregierungsrat Brandi-Berlin, das 
K.sächsische Kultusministerium durch den Bezirksschulinspektor Dr. Lange- 
Dresden, das K. bayrische Kultusministerium durch den Regierungspräsident 
Excellenz von Lermann und den Regierungsrat Lindig, zugleich als Vertreter 
der K. Regierung von Schwaben und Neuburg, die K. englische Re- 
gierung durch den Generalschulinspektor und Universitätsprofessor Dr. Eichholz- 
London, die Unterrichtsverwaltung in Schweden durch den Universitäts- 
professor Dr. Hellström-Stockholm. 


Zum Grusse! 
Dichtung von Hans Nagel- Augsburg. 
Ein Ostergruss ist jubelnd jüngst erklungen: 
Das Licht des Heils, der Seele Morgenrot 
Hat schön und leuchtend sich emporgeschwungen, 
Den Sieg verkündend über Nacht und Tod. 


O Osterzeit, welch liebliches Entfalten 
Verleihst du rings der schlummernden Natur! 
Der zartbesprosste Hain verrät dein Walten; 
Es kündet’s uns die lichtbegrünte Flur. 


Und jeder Blütenkeim in weiter Runde, 
Und jeder Bach, der neu beginnt den Lauf, 
Und jedes Körnlein, das da schläft im Grunde, 
Vernimmt den Ostergruss: Wacht auf! Wacht auf! 


* k 
* 


Wach auf! Wach auf! Entfalte dich und blühe! 
So tönt’s auch über jede Wiege hin, 
In der, noch unberührt von Sorg’ und Mühe, 
Ein Kindlein schläft mit unschuldsvollem Sinn. 


Und siehe da! Der Ruf ist nicht vergebens; 
Die wunderbaren Kräfte werden wach; 
Die jungen Keime eines neuen Lebens 
Entrollen sich zu Blüten allgemach. 


103 


Des Kindes Seele schliesst mit tausend Thoren 
Dem Lenz sich auf, der flutend in sie fällt; 
Es strebt der Geist mit tausend Wurzelporen 
In sich zu saugen eine ganze Welt. 


* * 
* 


Doch ach, wie in des Frühlings holden Tagen 
Gar mancher Keim verfehlt sein schönes Ziel, 
Weil ihn vielleicht ein später Frost geschlagen, 
Weil nächtlich ihn vielleicht ein Reif befiel. — 


So sehn wir auch gar manche Menschenbläte 
Verkümmert, ach, am Lebensbaume stehn, 
So müssen wir mit trauerndem Gemüte 
Manch jungen Geist im Keim vernichtet sehn. 


O arme Eltern, die ihr mit Erbeben 
Die niederschmetternde Entdeckung macht, 
Dass euer Liebstes, was euch Gott gegeben, 
Mit schwachen Sinnen die Natur bedacht! 


Ihr drückt es in den Arm mit leisem Klagen, 
Von bittrem Weh ist eure Brust beschwert. 
Dem schönen Elterntraum müsst ihr entsagen, 
Der euch des Kindes Zukunft froh verklärt. 


Und du, o armes Kind, was musst du leiden! 
Wieviel entbehrst du darch dein hart Geschick! 
Die Lernenden mit Hohn und Spott dich meiden; 
Die Spielonden, sie stossen dich zurück. 


Dir ward versagt das göttliche Vermögen, 
Zu halten fest, was in dein Innres fällt. 
Dein schwacher Sinn nimmt spärlich nur entgegen 
Bewusste Kunde von der geist’gen Welt. 


So gehst du ohne wahre Menschenwürde 
Durchs Leben hin mit blödem Angesicht, 
Zur Last den Deinen und dir selbst zur Bürde: 
Du bist bejammernswert — und weisst es nicht. 


* k 
$ 


Doch eben da, wo Leid und Not am grössten, 
Sucht Menschenliebe ihren stillen Pfad. 

Der fromme Trieb, zu lindern und zu trösten, 
Bei edlen Männern wuchs er auf zur That. 


104 


Sie mühen sich mit liebendem Erbarmen, 
Mit stillem Fleiss und ohne Sueht nach Ruhm, 
Zu euch, die Ärmsten uller Armen, 

Zu wecken ein gesundes Menschentum. 


Sie öffnen euch die Seele, sie geleiten 
Euch mit Geduld ins Reich des Wissens ein, 
Sie lehren beten euch, das Böse meiden 
Und in dem Guten klar und fest zu sein. 


Damit ihr ferner nicht, der Welt zur Bürde, 
Vom kargen Mitleid eure Notdurft stillt, 
Nein, dass auch ihr fortan die Menschenwürde 
Entfalten könnt als Gottes Ebenbild. 


* $ 
* 


Jhr edlen Männer, die ihr diesem Werke 
Die ganze Kraft, die ganze Liebe weiht, 
Euch gebe Gott Geduld und Seelenstärke, 
Dass euer schönes Wirken schön gedeiht! 


Euch schmückt das Höchste, was ich rühmend preise, 
Die echte Menschenliebe klar und rein, 
Die treu sich müht im still bescheidnen Kreise 
Mit Hilf’ und Trost dem Unglück nah zu sein. 


So ruht nun aus von arbeitsschweren Tagen! 
Nehmt hin den Dank, der aus uns allen spricht! 
Lasst's euch beim Klang der Lieder wohlbehagen 
Im Vollgefühl der treu erfüllten Pflicht! 


Zur Osterzeit habt ihr das Werk begonnen, 
Das euch berief zu segensreichem Thun. 
O mög’ ein Strahl der lichten Ostersonnen 
Für immerdar auf eurem Wirken ruhn. 


Denn der, der einst mit namenlosen Wehen 
Für uns am Kreuz vergoss sein heilig Blut, 
Der nimmt es an, als wär's Ihm selbst geschehen, 
Was ihr an den Geringsten Gutes thut. 


„Durch Nacht zum Licht!“ so klang voll Kraft und Leben 
Der Ostergruss jüngst in die Welt hinein. 
„Durch Nacht zum Licht!“ das ist auch euer Streben, 
Und euer Wirken wird gesegnet sein. 


en, 


Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- 
sinnige: J. Landenberger. 


Von K. Kölle-Regensberg. 
(Fortsetzung.) 

Wenn wir uns also vor Augen halten, auf welchem religiösen Standpunkte 
Landenberger war, wie er zweitens in seine Arbeit von einem Mediziner ein- 
geführt wurde und sie später in dessen Sinn weiter führte und wie er drittens 
fortwährend das Wesen der Idioten erforschte, sie ganz nach ihren geistigen 
Anlagen behandelte und demgemäss nach einer klaren Unterrichtsmethode strebte, 
dann werden wir die grossen Vorzüge seiner Arbeit begreifen lernen und ihn 
auch verstehen, wenn wir hie und da auf Anschauungen treffen, die wir nicht 
teilen können. Er giebt nie darüber Auskunft, auf welchem psychologischen 
Boden er steht, aber er zeigt deutlich, dass er nicht Herbartoianero war, sondern 
noch ganz die Wolfsche Ansicht über die Seelenvermögen teilte, wie dies 
damals fast noch allgemein gebräuchlich war und noch heutzutage häufig ge- 
funden wird. Und gerade diese strenge Durchführung einer Aufstellung der 
Vermögen der Intelligenz des Willens und Gemütes (wie er sich ausdrückt) 
müssen wir ernstlich bedauern, denn sie führte ihn auf Abwege, von denen man 
nun doch glücklich zurückgekommen ist. Diese Annahme ist es auch, die ihn 
in der Ansicht bestärkte, dass religiöse Sprüche direkt auf das Gemütsleben des 
Idioten einzuwirken vermögen, und dass dadurch die Intelligenz gehoben werde. 
Es war dies eine Verkenuung der elementarsten psychischen Thatsachen, wie sie 
eben in den Anschauungen der damaligen Zeit begründet war. Praktisch war 
diese Anschauung von keinen nachteiligen Folgen für die Zöglinge, weil 
Landenberger durch die Pflege des Gemütes und des Willens, nie die Pflege 
der Intelligenz versäumte. Ja, diese Theorie hatte geradezu den Vorteil, dass 
alle Seiten des Geisteslebens viel eingehender Berücksichtigung fanden, als es 
jetzt der Fall ist. 

Wie sein Schwager Dr. Müller zur Erforschung des Kretinismus die Schweiz 
und sein eigenes Heimatland bereiste, namentlich auch Dr. Guggenbübl auf 
dem Abendberg besuchte, an dessen Arbeiten er dann eine eingehende Kritik 
übte, so besuchte Landenberger auch die Idiotenanstalten Deutschlands und 
Hollands, um sich in seinen Arbeiten nicht zu isolieren. Die Einrichtung der 
Anstalt Winterbach— Stetten war denn auch von Anfang an bis ins kleinste 
eine zweckmässige, und sie zeigte, dass ein Arzt, dem die Pflege der Zöglinge 
ebenso wichtig war wie der Unterricht und die Erziehung, sie ins Leben rief. 
Landenberger spricht sich über die Einrichtung der Anstalt im 21. Bericht 
vom Jahre 1869 folgenderweise aus: 

„Aus dem Gebiete der Erziehung möchten wir den Segen der bei uns schon 
lang bestehenden Einrichtung, dass wir unsere Zöglinge in kleinere Kreise oder Gruppen 
(6—-12, im Notfalle bei bessern Kindern bis 15 Pflegbefohlene enthaltend) geteilt 
haben, rähmend erwähnen. Ein solcher Kreis stebt unter einer Aufsichts- oder 
Wartperson, hat abgesonderte Wohn- und Schlafräume, wobei aber Tisch- und Haus- 
andacht allen gemeinsam bleibt und die Schule ihre selbständige Einteilung hat. 


Durch diese Einrichtung sind wir in den Stand gesetzt, jedes Kind und jeden Kranken 
nach Alter, Geschlecht, Geistesstufe, Bildungsstand, Krankheitsform, überhaupt nach 
seiner Individualität unterzubringen, genau zu beobachten, zu berücksichtigen und zu 
behandeln, und zu dem Glück und der oft bewunderten Fröhlichkeit unserer Kinder 
giebt diese Einrichtung einen wesentlichen Beitrag. Insbesondere wird dadurch täglich 
der Beweis geliefert, dass ein Kind in dem Kreise am besten gedeiht, dessen Glieder 
seinem Geisteszustand am nächsten stehen, so dass z. B. die Versetzung eines Kindes 
in einen andern Kreis unter Umständen notwendig und von den wohlthätigsten Folgen 
begleitet sein kann. Hierdurch wird das so weit verbreitete Vorurteil, das übrigens 
weder durch Gründe noch durch Erfahrung gestützt wird, als ob für Schwachsinnige 
der Umgang mit geistesgesunden Kindern nützlich, mit Unglücksgenossen dagegen 
nachteilig wäre, gründlich widerlegt. Es werden uns jährlich viele schwache Kinder 
zugeführt, welche unter dem Einfluss normaler Kinder, oft der eigenen Geschwister, 
sehr gelitten haben, wie auch umgekehrt die Geschwister unter ihnen; nie aber 
erfahren wir, dass schwachsinnige Kinder vom Umgang mit geistesgesunden Nutzen 
gehabt haben.“ 

Dass bei dieser sorgfältigen Pflege und Erziehung ein verhältnismässig 
grosses Personal nötig war, versteht sich von selbst, so führt der 15. Bericht 
an, dass sich 63 Zöglinge, 35 Knaben und 28 Mädchen, in der Anstalt befinden, 
denen ausser dem ärztlichen Vorstande 17 Personen ihre Kräfte widmen, nämlich 
die Hauseltern (der Hausvater zugleich Hauptlehrer), 4 weitere Lehrer, 1 Industrie- 
lehrer, 3 Oberwärterinnen, wovon eine sich zugleich am Schulunterricht beteiligt, 
3 Unterwärterinnen, 1 Köchin, 2 Mägde, 1 Haushaltungsgehilfinae. Es war also 
bei dieser Anstalt schon in den fünfziger Jahren die Ansicht vertreten, gegenüber 
ähnlichen Anstalten der Gegenwart, dass am Personal nicht gespart werden dürfe. 

Bei der Neuaufnahme eines Kindes wurde dies immer sorgfältig durch den 
Arzt und den Inspektor untersucht, dann in die passende Familie und Schul- 
klasse eingereiht. Die gymnastischen Übungen, Spaziergänge, Waschungen 
sollten den Körper kräftigen und das psychische Leben wecken. 

Bei dieser fortwährenden individuellen Behandlung der schwachen Zöglinge 
ist es nicht zu verwundern, wenn recht befriedigende Erfolge sich zeigten und 
wenn Landenberger mit jedem Jahr tiefer eindrang in das Verständnis des 
Idiotismus. 

So schreibt er im Jahre 1860, im 12. Bericht der Anstalt über die Ursachen 
des Schwachsinns: 

„Die Erkrankung des Geistes kann nicht bloß in Cirkulationsstörungen, die einer 
Besserung und Heilung fähig sind (anämische Zustände mit partiellen Hyperämien), 
sondern in unheilbaren organischen Veränderungen des Gehirns gegründet sein, infolge- 
dessen entweder die Depression des Gehirns oder die durch Reizzustände desselben 
gesetzte Aufregung so gross ist, dass alle Bemühungen des Arztes und des Lehrers, 
die kranke Seele frei zu machen und zu sammeln, vergeblich sind.“ 

So bemühte er sich stets Ursache und Wesen des Idiotismus zu er- 
gründen und er schliesst sich dabei eng an seinen Schwager an, mit dem er 
im Jahre 1859 den 11. Bericht der Anstalt herausgab. Dr. Müller fügte 


107 


diesem Bericht einen Anhang bei, in dem er sich über das Muskelleben 
schwach- und blödsinniger Kinder äusserte: 

„Das psychisch und geistig normal organisierte und begabte Kind ist munter, 
hüpft und springt und giebt in allen seinen gelenkigen und berechneten Bewegungen 
kund, dass ein freies geistiges Wesen in ihm regiert und thätig. ist, welches alle 
körperlichen Systeme durchdringt, also, dass sie ihm gehorchen müssen. Ganz anders 
ist es beim schwach- und blödsinnigen Kinde. Dasselbe ist mehr oder weniger träge, 
mag sich oft nicht rühren, ist ungeschickt in allen seinen Bewegungen, kann oft nicht 
einmal einen Griffel oder eine Feder halten, geschweige regieren, seine Finger sind 
teils zu schlaff, teils zu steif in den Gelenken. Es ist ungeschickt und tappelig in 
seinem ganzen Thun und Wesen. Bei andern derartigen Kindern ist es eine wider- 
natürliche Hast, ein planloses Bewegen des ganzen Körpers oder einzelner Partien 
desselben. Woher solches? Die Psyche ist gebunden und kann sich nur durch ein 
mangelhaft organisiertes oder krankes Gehirn und Nervenmasse zur Äusserung bringen; 
das Nerven- und Blutleben der Kinder liegt darnieder, daher auch alle diese Kinder 
von einer Schwäche im Muskelsystem heimgesucht sind. Der gesamte Einfluss des 
Geistes, beziehungsweise des Blut- und Nervenlebens auf das Muskelleben zeigt sich 
aber auf verschiedene Weise. 

Schon bei meinen früheren amtlichen Untersuchungen des Kretinismus in der 
Schweiz und in einem grossen Teile von Württemberg machte ich häufig, zumal in 
eigentlichen Kretinenorten, die Beobachtung, dass die Bevölkerung einer ganzen 
Gegend oder eines ganzen Ortes oder nur gewisser Distrikte in einem Orte mehr oder 
weniger an der Krankheit, welche man Kretinismus heisst, Anteil nimmt, auch dann, 
wenn viele oder wenige unter ihnen streng genommen nicht unter die Klasse der 
Kretinen zu rechnen waren. Der Menschenschlag solcher Orte oder Gegenden ist — 
ich möchte sagen — ein auf einer niedern Bildungsstufe stehen gebliebener, ein 
unentwickelter, daher auch die unästhetische Form, die sich gewöhnlich. aufdrückt, 
und welche auf den ersten Blick auffällt; denn die Psyche hat infolge ungünstiger 
somatischer Gestaltungen und Einflüsse sich nicht zur Geltung bringen können. 

Will man aber auch von letzterem absehen, so begegnen dem beobachtenden 
Auge doch gewisse körperliche Gebrechen, welche man in gesunden, kretinenfreien 
Gegenden weit seltener, oder vielleicht nur ausnahmsweise antrift. Teil an diesem 
Gebrechen hat offenbar das eigentümliche, krankhafte Muskelleben, welches sich mehr 
oder weniger bei allen diesen Individuen kund giebt. Um dies darzuthun, könnten 
leicht aus der Nähe und Ferne Data beigebracht werden, allein wir halten uns zunächst 
an die Thatsachen, welche unsere Heilanstalt im Verlaufe von 11 Jahren an die 
Hand giebt; geben wir solche auch nur in statistischer Form, ohne Interesse und 
Wert dürften sie gleichwohl nicht sein. Mit Inbegriff der anwesenden Kinder waren 
in unserer Anstalt bis jetzt 216 Kinder, davon litten 180 an Muskelschwächen 
höheren Grades mit verschiedenen Missbildungen; 86 waren frei von Missbildungen, 
litten aber gleichwohl an Schwäche der Muskeln.* 

Besonders interessant ist, wie Landenberger von den einfachen idiotischen 
Kindern die kranksinnigen unterschied. Er bezeichnete damit denselben Zustand, 
für den Koch später den Namen psychopathische Minderwertigkeit aufbrachte. 





108 


So schreibt er im 12. Bericht vom Jahre 1860: 

„Solche von uns kranksinnig genannten Kinder können wohl dieses und jenes 
lernen, kommen aber aus der Albernheit, der Stumpfheit, der Gebundenheit nicht heraus, 
erheben sich nie zur Vernünftigkeit. Bei dreien war schon vor ihrem Eintritt in unsere 
Anstalt der Höhepunkt ihres Seelenlebens überstiegen. Insbesondere sind es die Hirn- 
armen, bei denen die Entwicklung oft sehr bald stille steht, physiologisch darin be- 
gründet, dass bei ihnen die Schädelnähte viel früher sich schliessen, ja in einzelnen 
Fällen schon verknöchert zur Welt kommen, wodurch selbstverständlich das Wachstum 
des Gehirns gehemmt wird.“ 

Diese Ansicht über die Verwachsung der Schädelnähte, was eine,Verknöcherung 
des Schädels und dadurch eine Verhinderung des Wachstums des Gehirns zur 
Folge habe, findet sich bis in die neueste Zeit. Bekannt sind die Operationen, 
vermittelst deren die Schädel geöffnet wurden, um das Gehirn ungehindert sich 
ausdehnen zu lassen, wie sie in Anstalten und Spitälern vorgenommen wurden. 
Kräpelin nennt diese Operationen zwecklos, da ja das Gehirn das Wachstum 
des Schädels, nicht umgekehrt der Schädel das Wachstum des Gehirns bestimme. 

Im 13. Bericht heisst es: | 

„Immer sind die Fälle, wo das Gemüt stumpf oder krankhaft erregt, der Wille 
infolgedessen unfrei, abnorm ist, von ungünstiger Bedeutung, während für reine Schwäche 
ohne krankhafte Beimischung stets erhebliche Besserung in Aussicht steht.“ — 

„Von den eigentlich Blödsinnigen, deren Wille nur Triebwille ist, unter- 
scheiden wir die Kranksinnigen, nämlich Gemütsstumpfe, Alberne, Aufgeregte, mit 
Willensabnormitäten Behaftete u. s. w., bei welchen sich die Willkür zwar entwickelt 
hat, es aber nicht zum vernünftigen Leben kommt, endlich die Schwachsinnigen, 
welche wirklich Vernunft und Willensfreiheit haben, aber in geringerem Grade, als der 
geistig gesunde Mensch.“ 

Stets legt er grossen Wert darauf, das eigentliche Wesen des ldiotismus 
zu erkennen. So schreibt er im gleichen Bericht: 

„Um den Blödsinn richtig zu erkennen und zu behandeln, genügt es nicht zu 
wissen, es sei eben der niederste Grad von Intelligenz, es muss der eigentümliche 
Stand der Erkenntnis des Blödsinns genauer erforscht und bestimmt werden, um das 
passende Verfahren einschlagen zu können. Auch der Blödsinnige hat Erkenntnisse, 
zeigt nach gewissen Richtungen bisweilen einen feinen Instinkt, beobachtet, macht 
Erfahrungen, erweitert also unter Umständen in der That den Umfang seiner Kennt- 
nisse und Fähigkeiten, ohne jedoch dadurch notwendig in den Stand gesetzt zu werden, 
von der Stufe des Blödsinns auf die nächst höhere Stufe des Seelenlebens zu steigen. 
Was den Blödsinnigen charakterisiert, ist das, dass seine Seele, wie die Tierseele, nur 
ein blindes Triebleben führt und nur für das Sinn hat, was in Beziehung zu den sie 
beherrschenden Trieben steht, hiervon aber ganz so in Beschlag genommen ist, dass 
sie sich selbst fremd bleibt, nicht in sich zurückkehrt, ja von ihrem eigenen Leibe 
nur so wenig Notiz nimmt, als sie von organischen Gefühlen, von Trieben und 
Drängen dazu genötigt ist. Hieraus geht mit Notwendigkeit hervor, dass der Blöd- 
sinnige seinen Körper, der ja nicht Gegenstand seines Erkennens ist, auch nicht be- 
herrschen, nicht willkürlich bewegen kann. Alle Bewegungen des Blödsinnigen, welche 


den Schein der willkürlichen Verfügung haben, sind nur mechanische, instinktartige 
der Seele von Drängen und Trieben aufgenötigte.e Ein kurzes Experiment wird dies 
ins Licht setzen. Man mache einem Blödsinnigen irgend eine Bewegung oder Stellung 
des Körpers oder der Gelenke vor, die er vielleicht soeben aus Veranlassung irgend eines 
Triebes ganz zweckmässig ausgeführt hat; — er wird etwa Aufmerksamkeit schenken, 
in Aufregung geraten, aber nicht dazu kommen, sie nachzuahmen. 

Giebt es nun einen Weg, auf dem der Blödsinnige veranlasst werden kann, in 
sich einzukebren, zunächst seiner leiblichen Persönlichkeit bewusst zu werden, und so 
seinen Körper beherrschen, willkürlich bewegen zu lernen? Entschieden kann es nur 
derselbe Weg sinnlicher Eindrücke sein, auf dem das geistig gesunde Kind aus dem 
Dunkel des Gemeingefühls, aus der Dämmerung eines blossen Weltbewusstseins und 
eines Trieblebens an das Licht des selbstbewussten Lebens und des freien Willens 
gelangt. Während aber beim gesunden Kinde die gewöhnlichen absichtlichen und zu- 
fälligen Einwirkungen und Sinneseindrücke genügen, um ein selbstbewusstes Leben zu 
begründen, so müssen beim Blödsiunigen die erweckenden und anregenden Sinnes- 
eindrücke planmässig und konsequent gemacht werden, um bei der apathischen Form 
des Blödsinns die Seele aus ihrer Stumpfheit und Lethargie wach zu rufen, bei der 
eretischen Form sie aus dem Wirbel ihrer Vorstellungen und Dränge zum ruhigen 
Erkennen und Thun zu sammeln. Es kann sich in erster Linie nicht um einen ge- 
wöhnlichen Anschauungsunterricht handeln, sondern man muss, anschliessend an die 
Neigungen oder Triebe des Blöden, ihn zu Bewegungen veranlassen, die geeignet sind, 
ihn einerseits mit den Dingen der Aussenwelt in mannigfache Berührung zu bringen, 
andererseits aber seine eigene leibliche Persönlichkeit seinem Bewusstsein eindrücklich 
zu machen, seinen Willen zu unterwerfen. Entschieden hat der Muskelsinn, der ung 
über die Lage und Thätigkeit unserer ‘Glieder Rechenschaft giebt, nebst dem Tastsinn 
einen grösseren Anteil an der Genesis des Selbstbewusstseins, als gewöhnlich bedacht 
wird. Während Geruch und Geschmack zur Entwicklung der Intelligenz nur in ent- 
fernter Beziehung stehen und in dieser Hinsicht kaum eine grössere Dignität haben 
dürften, als das Gemeingefühl, dem sie in etwas verwandt sind, Gesicht und Gehör 
aber, sofern sie die Gegenstände als ganz ausser uns darstellen, ohne in Auge und 
Ohr irgend eine durch sie gesetzte Veränderung merkbar werden zu lassen, den Charakter 
reiner Objektivität haben, somit zwar für die Anlage von Vorstellungen das haupt- 
sächlichste Material liefern, dagegen aber wenig sich eignen, den Leib zum Gefühl 
und Bewusstsein zu bringen; so werden durch den Muskel- und Tastsinn beide Zwecke 
erfüllt, sofern diese Sinne die Objekte ausser uns und zugleich die durch sie gesetzten 
Veränderungen des eigenen Leibes zum Gefühl bringen, also den Blick der Seele zu- 
gleich nach Aussen und Innen richten und den Willen zur Thätigkeit anregen.“ 

Die Eigentümlichkeit der Anschauung Landenbergers über den Schwach- 
sinn zeigt sich noch in seinem letzten Bericht vom Jahre 1876. Er steht bis 
zuletzt auf dem Standpunkt, die Seelenvermögen von einander zu trennen. Er 
sagt dort: | 

»„o . . Bestände nun die Schwachsinnigkeit bloss in Schwäche der Erkenntnis, so 
müsste dieses Mädchen geheilt sein; denn es hat die Anstaltsschule mit gutem Erfolg 
durchlaufen und sich mehr Kenntnisse gesammelt, als manche gleichaltrige Geistes- 


110 


gesunde; allein bei der Schwachsinnigkeit ist nicht nur Erkenntnis, sondern auch das 
Gemüt und namentlich der Wille beteiligt, und so hat auch dieses Mädchen die Schwach- 
sinnigkeit noch nicht völlig abgelegt und wird wohl geistig nie ganz selbständig 
werden. ... “ 

Im 14. Bericht teilt er seine Ansicht über die psychische Entwicklung 
der Schwachsinnigen mit: 

„Es dürfte hier die Bemerkung nicht überflüssig sein, dass die Vernünftigkeit, deren 
spätere Entwicklung und Ausbildung allerdings an des Menschen eigene Thätigkeit 
gebunden ist, in ihren Anfängen sich beim Kinde mit Naturnotwendigkeit einstellt, 
wenn die innere Bedingung, d. h. ein gesundes Gehirn als Geistesorgan sich zur 
äusseren Bedingung, dem Umgang mit Menschen, gesellt. Wo aber das Organ des 
Geistes krank ist, da kann ein solches Kind wohl Fortschritte in dieser oder jener 
Richtung machen, ja durch manche Leistungen, z. B. im Gebiete des Zahlsinnes, Ton- 
sinnes, Wortsinnes etc. wirklich excellieren, ohne dass es dadurch der Vernunft näher 
käme Es liegt aber in der Natur der Sache, dass menschliche Macht und Kunst 
die Vernunft, diese Gabe Gottes, da nicht wecken kann, wo sie nicht gegeben ist. 
Nach unserer Beobachtung ist die psychische Bedingung und Grundlage des Vernänftig- 
seins die Entwicklung des höheren Gemütes, die physische ein gesundes Organ des 
höheren Fühlens, mag dieses nun in einem besonderen Gehirnteile gesucht oder das 
Fühlen als Funktion des Gehirns überhaupt angesehen werden.“ 

Bei seiner mühevollen Arbeit ruft er im 23, Bericht vom Jahre 1871 aus: 

„Ein kleines Resultat,“ wird man sagen und wir bethätigen es, fügen aber bei: 
„ein Resultat von ernster Mühe und Geduld und redlicher Arbeit. Doch ist die Be- 
wahrung, wenn auch nur einer Menschenseele vor dem Versinken in die Nacht des 
Blödsinns schon ein wertvolles, schönes Werk, und der Einfluss unserer Bemühung 
auf Erziehung von Gemüt, Gesinnung und Willen der Kranken ist doch nicht ganz 
vergebens.“ (Fortsetzung folgt.) 


Mitteilungen. 


Berlin. (Ministerieller Erlass) Dem Vorstande der Vereinigung für das 
Idiotenwesen, Herrn Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, ging unter dem 25. März 
folgendes Schreiben zu: „Dem Vorstande erwidern wir auf die gefälligen Eingaben 
vom November und 15. Dezember v. J. ergebenst, dass die besonderen Verbältnisse 
der Anstalten für jugendliche Idioten und Epileptiker in der bevorstehenden Erweiterung 
der Anweisung über die Aufnahme von Geisteskranken etc. in Privatanstalten in einem 
besonderen Abschnitte genügende Berücksichtigung finden werden. Zugleich habe ich, 
der mitunterzeichnete Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten, durch Erlass vom 
heutigen Tage die Regierungs-Präsidenten mit Anweisung versehen, dass sie die 
pädagogischen Verhältnisse derjenigen Idiotenanstalten, in welchen ein geordneter Schul- 
unterricht erteilt wird, durch die schultechnischen Organe der Regierung überwachen 
lassen. Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Studt. 

Der Minister des Innern. In Vertretung: Bischoffshausen.“ 


111 


Gotha. (Herzogin-Marien-Stiftung.) Vor kurzem wurde unsere Idioten- 
anstalt von Sr. Durchlaucht dem Herrn Regierungsverweser besucht. In seiner Be- 
gleitung befanden sich der Herr Staatsminister Hentig, der Flügeladjutant 
von Wangenheim, Geh. Staatsrat Schmidt und noch einige andere Herren. Alle 
Räume der Anstalt wurden einer eingehenden Besichtigung unterzogen und als nach 
jeder Seite hin der Neuzeit und dem bestimmten Zwecke entsprechend gefunden. In 
leutseligster Weise unterhielt sich der Herr Regierungsverweser mit jedem einzelnen 
des Anstaltspersonals, hier die Arbeiten und Einrichtungen lobend, dort zum weiteren 
Ausharren in dem schweren Amte der Idiotenpflege ermunternd.. Ganz besonderes 
Interesse brachte er der Schulabteilung entgegen, und ein grusses Vergnügen bereitete 
ihm eine auf seinen Wunsch abgehaltene Unterrichtsstunde.e Am Schlusge derselben 
sprach er dem Lehrer seinen besonderen Dank und seine Anerkennung für dessen 
bisherige Thätigkeit aus. In der darauffolgenden Unterredung wurden sodann ver- 
schiedene Fragen der Idiotenbehandlung u. s. w. eingehend besprochen. 


Litteratur. 


Rechenbuch in 4 Heften von J. Giese, Hauptlehrer in Magdeburg und 
F. Loeper, Rektor in Barmen. Preis eines jeden Heftes 25 Pfg. Zu beziehen 
durch Hauptlehrer Giese, Magdeburg. 

Nach den Vorbemerkungen in Heft 1 ist das BRechenbuch für den Unterricht 
bei schwachbefähigten Kindern bestimmt. Es behandelt Heft 1 den Zahlenraum 1—20, 
Heft 2 Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1—100, Heft 3 Multiplikation und 
Division im Zahlenraum 1—100, Heft 4 den Zahlenraum 1—1000. Heft 4 ist noch 
nicht erschienen. — Was zunächst das Äussere des Rechenbuches anbelangt, so ist 
der dauerhafte Einband und der grosse klare Druck auf gutem Papiere rühmend 
hervorzuheben. Die Anordnung des Übungsstoffes schreitet lückenlos fort, Übungs- 
beispiele sind in grosser Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit aufgenommen. Die 
Aufgaben mit benannten Zahlen werden von Heft 2 an fleissig benutzt und zwar 
werden die amtlich vorgeschriebenen Abkürzungen in ausgiebigem Masse durch öfteren 
Gebrauch den Kindern vertraut gemacht. Da die Klassen für Schwachbefähigte im 
Rechnen meist mehrere Abteilungen aufweisen, der Lehrer sich aber naturgemäss 
nicht mit allen zugleich abgeben kann, so müssen die einzelnen Abteilungen abwechselnd 
schriftlich arbeiten, und da bietet das vorliegende Rechenwerk in seinen Heften ge- 
nügend Übungsstoff zur stillen Beschäftigung. Unser Endurteil geht dahin, dass die 
Verfasser mit Herausgabe dieser Hefte den Lernmitteln der Hilfsschule einen schätzens- 
werten Beitrag geliefert haben. Wir empfehlen allen Kollegen an schwachsinnigen 
Schulen — seien es Anstalts- oder Hilfsschulen — die Einführung der Hefte. W. 


112 


Zur Beachtung. 


Herr Pastor Stritter, Direktor der Alsterdorfer Anstalten, bittet die 
Leiter derjenigen Anstalten, welche die Fragebogen noch nicht zurückgesandt 


haben, diese umgehend an ihn gelangen zu lassen. 


Falls einzelne Anstalten 


übersehen sein sollten, ıst Herr Pastor Stritter bereit, auf Wunsch der Herren 


Anstaltsleiter die Fragebogen sofort zu senden. 


Aufruf. 


Der schleswig - holsteinische „Verein zur 
Bekämpfung von Sprachstörungen unter der 
Schuljugend‘“. hat in seiner letzten General- 
versammlung beschlossen, durch Erweiterung 
der bestehenden Organisation einen „Deutschen 
Verein z. B. v. Spr. u. d. Soh.“, sowie ein 
entsprechendes periodisch erscheinendes Ver- 
einsorgan zum Austausch über praktische 
Fragen dcs Heilunterrichts ins Leben zu rufen. 
Die für diese Sache sich interessierenden 
Kollegen werden gebeten, ihre Adresse einem 
der Unterzeichneten einsenden zu wollen. 


Der Vorstand des schlesw.-holst. 
Vereins z. B. v. Spr. u. d. Sch. 


Lehrer Godtfring-Kiel, Rektor Struve-Preetz, 
Lehrer Voss. H. Kaack und Tempke in Kiel. 
Lehrer Dobers-Posen, Lehrer Frenzel-Stolp, 
i. P., Lehrer Harbeck-Hamburg, Taubstummen- 
lehrer Huschens-Trier, Rektor Königs - Köln, 
Rektor Lotz-Elberfeld, Lehrer Mutke-Breslau, 
Lehrer P. Paulsen-Flensburg, Lehrer Rogge- 
Königsberg i. Pr., Lehrer Scharr-Magdeburg, 
Lehrer Stolze-Bremen, Hauptlehrer Straoker- 
ahn-L,übeck, Lehrer Thiel- Breslau. Rektor 
olgt- Charlottenburg, Lehrer M. Weniger- 
Schwelm i. Westf., Lehrer Wiehr-Altona. 
Anmeldungen von Lesern dieser Zeitschrift 
werden unter der Adresse des mitunterzeich- 
neten Lehrer Fr. Frenzel-Stolp i. Pom. 
erbeten. 


Piper (Dalldorf). 


Erzieher 


(Christ) wird gesucht für einen in Ent- 
wicklung etwas zurückgebliebenen nervös ver- 
anlagten l5jährigen Knaben in einem Städtchen 
bei Brünn. Pädagogische Vorbildung und 
Erfahrung namentlich im Unterrichte geistig 
zurückgebliebener Kinder notwendig. Unter- 
richtsgegenstände erstrecken sich auf jene der 
Volksschule bis zu einzelnen der Bürgerschule. 
Der Posten steht für mehrere Jahre (5 und 
darüber) in Aussicht. Honorar anfangs 
100 Kronen, nach zweimonatlichem Befähi- 
gungsnachweise 200 Kronen monatlich nebst 
vollkommen freier Station. 

Anträge zu richten an Dr. K. Franz, 
Wien VIII B. Schlösselgasse Nr. 22. 


Sanatorium passend, 


prachtvoller Besitz in Thüringen, incl. Hötel 
und Inventar, für 200 Mille Mk. zu ver- 
kaufen, event. Tausch gegen Zinshaus. 
Guthaben 70 Mille Mk. Näheres 


Rob. Rein, 


Friedenau bei Berlin. 





Briefkasten. 


G. S. i. R. 


teilung gebracht wurde, hörten wir schon von anderer Seite. — K. 


Dass unsere Zeitschrift in Augsburg nicht in der erbetenen Weise zur Ver- 


M. i. L. In nächster Nr. 


hoffen wir mit Sicherheit das Programm der Konferenz bringen zu können. — K. R. l. L. — 
H. i. D. Mit Dank erhalten. — F. Sch. i. B. Auch wir hofften, der Bericht über die Dresdner 
Schule für P N E würde bald Nachfolger finden, bis heute aber war unser Warten 


ein vergebliches. — C. F. i. K. 


werden wird, wer kann das wissen? Wir hoffen es aber und zwar umsomebr, als 


Ob uns der offizielle Bericht über den Verbandstag zugeschickt 


ie Zeit- 


schrift dem Verbandstage ja auch gefällig gewesen ist. — 











i Haa =R EEE 


Inhalt: Bericht über den III. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. (M, Weniger.) 


— Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge. 


(K. Kölle.) — Mitteilungen: Berlin, Gotha. 





— Litteratur: Rechenbuch in 4 Heften. — Zur Beachtung und Anzeigen. — Briefkasten. 





Für die Schriftleitun 
Kommissinons-Verlag von 


verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, 


Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Dh | _ [THE NEW YORK 





2 PUBLIC L.BRA:, T 
b | 
2° Nr. 7 u. 8. ritoen Founpations. | XVIL I) Jahrg. 
® & 
Zeitsehrift 
für die 


Behandlung schwachsinniger und Fpilepüscher. 


Organ der Konferenz Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden -Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. in Stuttgart. 
Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. Anzeigen für J li 1901 und Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- un ° Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 


rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





X. Konferenz für das Idiotenwesen und die Schulen 
für schwachsinnige Kinder 
am 17. bis 20. September 1901 in Elberfeld. 


Programm. 


I. Dienstag, den 17. September, abends 7 Uhr Vorversammlung in 
der Stadthalle, Speisesaal. 

Begrüssung durch den Vorsitzenden der IX. Konferenz, Bericht über das 
verflossene Triennium, Rechnungslegung und Entlastung des Rechners, Wahl 
des Präsidiums für die X. Konferenz. 

Bemerkung. Mitgliederkarten für 6 Mark, Teilnehmerkarten für 2 Mark sind in 


demselben Lokale in Empfang zu nehmen. Letztere berechtigen nicht zur Stimmenabgabe, 
wohl aber erhalten die Teilnehmer einen Konferenzbericht. 


II. Mittwoch, den 18. September, von 9 bis 1'!/, Uhr. 


Erste Hauptversammlung in dem Kuppelsaale des Rathauses. 
a) Begrüssung durch die Behörden. 
b) Vorträge. 
91/, bis 104/, Uhr: „Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine 
Grenzregulierung.* Direktor Barthold- München -Gladbach. 
101/, bis 111/, Uhr: „Versuch einer Einteilung der Idioten.“ Direktor 
Kölle-Regensberg (Schweiz). 
11'/, bis 12 Uhr Pause (Frühstück im Ratskeller). 
Von 12 bis 1 Uhr Nebenversammlungen in demselben Hause 
a) für die Vertreter der Idiotenanstalten: 


Ei 


„Die Beschäftigung der Schwachsinnigen.“ Direktor Pastor Bernhard- 
Stettin - Grünhof. 
b) für die Vertreter der Hilfsschulen (Zimmer 19 des Rathauses): 
„Fromme Wünsche für den weiteren Ausbau der Hilfsschulen.“ Schul- 
rat Dr. Boodstein-Elberfeld. 

Von 1 bis 1!/, Uhr: „Übersicht über die Entwicklung und den jetzigen 
Zustand des Idiotenwesens in Dänemark. Direktor Rolsted-Kopenhagen. 

21/, Uhr Festessen in der Stadthalle (Preis 3 Mark ohne Wein). 
Abends von 8 Uhr ab: Geselliges Zusammensein im grossen Saale der Stadt- 
halle und bei gutem Wetter im Stadthallengarten. Vorträge des Elberfelder 
Lehrergesangvereins. 


III. Donnerstag, den 19. September, von 9 bis 1!/, Uhr. 


Zweite Hauptversammlung in der Stadthalle im roten Saal. 
a) Vorträge. | 


9 bis 10 Uhr: „Die ideale Seite der Idiotenpflege. Direktor Herberich- 
Gemünden. 
10 bis 101/, Uhr: „Über einige besondere Gruppen unter den Idioten.“ 
Sanitätsrat Dr. Berkhan-Braunschweig. 
10%/, bis 111/, Uhr: „Die Anfänge des Schwachsinns“ Direktor 
Trüper-Jena. 
11!/, bis 12 Uhr Pause (Frühstück im Restaurant der Stadthalle.) 
12 bis 1 Uhr Nebenversammlungen: 
a) für die Vertreter der Idiotenanstalten (im Nebensaal). 
„Die Bestimmungen vom 26. März 1901.“ Direktor Schwenk - Idstein. 
b) für die Vertreter der Hilfsschulen (im roten Saale). 
„Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitet zur Arbeit an den 
Schwachen.“ Hauptlehrer Horrix-Düsseldorf. 


Von 1 bis 14/, Uhr: „Der gegenwärtige Stand der Idiotenpflege in Öster- 
reich.“ Direktor Antensteiner-Biedermannsdorf bei Wien. 

Wahl des Versammlungsortes für die XI. Konferenz. 

Am Nachmittag: Ausflüge nach Müngsten, den Barmer Anlagen oder 
durch das Burgholz. 

Abends Zusammenkunft im Zoologischen Garten oder im Restaurant der 
städtischen Hardt-Anlage (Fahrten mit der Schwebebahn nach dem ersteren). 


IV. Freitag, den 20. September, Fahrt nach München-Gladbach, 
Besuch der dortigen Idiotenanstalt Hephata. 


(Für diejenigen Damen und Herren, welche von der Fahrt nach München- 
Gladbach absehen, werden Gelegenheiten geboten werden, die grosse Brücke 
in Müngsten, das Schloss Burg und die Remscheider Thalsperren unter 
Führung kennen zu lernen.) 

Empfehlenswerte Hötels werden durch den ÖOrtsausschuss nachgewiesen 
und wolle man seine Wünsche an den Vorsitzenden des Ortsausschusses, Herrn 


ur 
Dr. Boodstein, Beigeordneter und Schulrat zu Elberfeld (Schuldeputation) 
rechtzeitig richten. 


Alle, welche sich für das Idiotenwesen interessieren, die Herren 
Juristen, Ärzte, Geistlichen, Lehrer etc. werden zur Teilnahme an 
der Konferenz ergebenst eingeladen. 


Es wird gebeten, die Teilnahme dem Vorsitzenden des Vorstandes, Herrn 
Piper, oder dem Vorsitzenden des Ortsausschusses, Herrn Dr. Boodstein, vorher 
mitteilen zu wollen. 


Der Vorstand der IX. Konferenz. 


Direktor Barthold-M. Gladbach, Ehren-Vorsitzender. 
Erziehungs -Inspektor Piper-Dalldorf, Vorsitzender. 

Pfarrer Geiger-Mosbach, stellvertretender Vorsitzender. 
Sanitätsrat Dr. Berkhan-Braunschweig. 

Schuldirektor Richter-Leipzig. 

Kreisschulinspektor und Anstalts-Direktor W eichert -Leschnitz. 


Der Ortsausschuss. 


Für denselben Dr. Boodstein, 
Beigeordneter und Schulrat. 


An den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld! 


Durch die Vereinigung der Leiter privater Anstalten für Idioten und Epilep- 
tische wurde im Laufe der letzten Jahre eine Reihe von Bittschriften betreffend 
die Abänderung der „Anweisung vom 20. September 1895" an die zuständigen 
Ministerien eingereicht, und es haben bei dieser Gelegenheit die Leiter der be- 
zeichneten Anstalten einen recht regen Eifer zur Wahrung ihrer diesbezüglichen 
Interessen an den Tag gelegt. Vielleicht ist es einem jüngeren Lehrer gestattet, 
die Aufmerksamkeit der Leiter noch auf eine andere Bestimmung zu lenken, die nicht 
minder die pädagogische Wirksaınkeit der Privatanstalten nachteilig beeinflusst 
und die darum ein ebenso eifriges Vorgehen der Anstaltsvertreter erforderte. Es 
handelt sich nämlich um die im preussischen Lehrerbesoldungsgesetz vom 
3. März 1897 bestehende Bestimmung über die Anrechnung der Dienstzeit 
in Privatschulen. Es heisst dort $ 11: 


„Für diejenigen Lehrer und Lehrerinnen, die vor ihrem Eintritt in den 
öffentlichen Volksschuldienst an Privatschulen, in denen nach dem Lehrplan 
einer Öffentlichen Volksschule unterrichtet wird, voll beschäftigt waren, gelten 
bei Bemessung der Alterszulagen folgende Vorschriften: 


1. Sofern sie sich beim Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits im öffentlichen 
Volksschuldienst befinden, sind ihnen die an derartigen Privatschulen zu- 
gebrachten Dienstjahre anzurechnen. 


2. Sofern sie erst nach Inkrafttreten dieses Gesetzes in den öffentlichen Volks- 





116 


schuldienst übertreten, erlangen sie bis zum Höchstmass von zehn Jahren 
eine Anrechnung dieser Dienstzeit oder eines Teils derselben soweit, als ein 
Beitrag von jäbrlich 270 Mark für Lehrer und 120 Mark für Lehrerinnen 
für diese Zeit an die Alterszulagekasse, in Berlin an die Schulkasse, nach- 
gezahlt wird. Für die vor dem 1. April 1897 zurückgelegene Zeit er- 
mässigen sich die vorstehenden Sätze auf ein Dritteil. Die Stadt Berlin ist 
befugt, bei der Anrechnung jener Dienstzeit über das Höchstmass von 
10 Jahren hinauszugehen und auf die Einzahlungen an die Schulkasse ganz 
oder teilweise zu verzichten. 

3. Die Beschäftigung, welche vor den Beginn des 21. Lebensjahrs oder vor 
die erlangte Befähigung zur Anstellung im öffentlichen Volksschuldienst fällt, 
bleibt ausser Berechnung. 

Der Beschäftigung an einer preussischen Privatschule im 
Sinne des ersten Absatzes steht gleich, wenn ein Lehrer oder 
eine Lehrerin, sei es als Lehrer oder Lehrerin, sei es als Er- 
zieher oder Erzieherin an einer privaten Taubstummen-, Blinden-, 
Idioten-, Waisen-, Rettungs- oder ähnlichen Anstalt beschäftigt 
ist. Die auf Grund der vorstehenden Bestimmungen erfolgte Anrechnung 
ist auch für den Anspruch auf Ruhegehalt massgebend.“ 

Durch diese Bestimmungen ist den Lehrern, die nach dem Inkrafttreten 
des Gesetzes (1. April 1897) in dem Dienst der Privatanstalten verblieben, der 
Austritt aus denselben resp. der Eintritt in den öffentlichen Volksschuldienst in 
einer Weise erschwert, dass sie sich nur in den allerseltensten Fällen zu einem 
solchen werden entschliessen können. Denn es ist für einen Lehrer, zumal für 
einen solchen an Privat-Idiotenanstalten, die zum weitaus grössten Teil auf 
öffentlicher Wohlthätigkeit beruhen und schon aus diesem Grund keine allzu 
glänzenden Gehaltsverhältnisse einführen können, gewiss nichts Leichtes, eine 
Summe an eine staatliche Kasse einzuzahlen, die bis zu 2700 Mark reichen kann 
und zwar nur deshalb, um sich damit ein Recht zu erkaufen, das bei seinen 
Kollegen im öffentlichen Schuldienst als etwas ganz Selbstverständliches an- 
gesehen wird. Andererseits dürfte sich in Preussen auch kaum mehr ein Lehrer 
finden, der geneigt wäre, unter diesen Umständen eine Stelle zu übernehmen, 
die im Gegensatz zu einer Öffentlichen Anstellung mit solch handgreiflichen 
Nachteilen verbunden ist. Wundern muss man sich nur, wie die Folgen, welche 
gerade aus der letzten Thatsache den geordneten Schulorganismen unserer Idioten- 
anstalten erwachsen müssen, sich den Anstaltsleitern bis jetzt in so geringem 
Masse fühlbar machten, dass sie sich seit dem Inkrafttreten des Lehrerbesoldungs- 
gesetzes noch nicht zu einem entsprechenden Vorgehen veranlasst sahen. Es 
wäre sicher interessant zu erfahren, woher die preussischen Idiotenanstalten, die 
laut der statistischen Zusammenstellungen teilweise recht ausgebaute, mehr- 
klassige Schuleinrichtungen besitzen, in den letzten Jahren ihr Lehrerpersonal 
herbezogen haben. Aus Preussen sicher nicht oder nur in einzelnen Fällen, wo 
vielleicht der eintretende (meist junge) Lehrer sich über die Bedeutung eines 
solchen Schrittes nicht völlig im klaren gewesen ist. In welcher Weise sorgen 


117 


die Anstalten aber dann für geeignete Lehrkräfte?*) 

Soviel von einzelnen Anstalten bekannt ist, sind es häufig Nichtpreussen 
(namentlich Württemberger), die sich auf freiwerdende Stellen melden und bei 
denen die Frage der Anrechnung der Dienstjahre insofern wegfällt, als (wie z. B. 
in Württemberg) die Jahre vor dem 25. Lebensjahr für ihre Heimat bei der 
dortigen Gehaltsregelung überhaupt belanglos sind. Aber schliesslich sehen sich 
diese genötigt, nach wenigen Jahren die Anstalten wieder zu verlassen, wenn 
sie sich in ihrer Heimat nicht denselben Nachteilen aussetzen wollen, wie 
sie das preussische Lehrerbesoldungsgesetz den preussischen Lehrern an Privat- 
anstalten auferlegt. 

Dadurch entsteht nun den Anstalten, die für den Unterricht ihrer Zöglinge 
mehrerer Lehrer bedürfen, ein fortdauernder Wechsel des Lehrpersonals, der 
einem steten und planmässigen Erziehungsgeschäft auf keinen Fall zum Vorteil 
gereichen kann. Denn einerseits erfordert es in unsern Klassen immer sehr 
lange Zeit und viele sorgfältige Beobachtung, bis sich ein neuer Lehrer mit den 
geistigen, gemütlichen und sittlichen Anlagen, Eigenarten und besonderen Ge- 
wohnheiten seiner schwachsinnigen Kinder soweit vertraut gemacht hat, dass er 
mit Erfolg in die individuelle Behandlung derselben eingreifen kann, und anderer- 
seits spielt wohl auf keinem andern Gebiet der Pädagogik die durch jahrelange 
Erfahrungen erzielte praktische Tüchtigkeit eine so wichtige Rolle, wie gerade 
beim Unterricht und bei der Erziehung geistig abnormer Kinder. Jedenfalls 
kann in einer Anstalt kaum von einer zielbewussten, harmonischen Erziehungs- 
arbeit geredet werden, wenn dieselbe zum grössten Teil in den Händen von 
jüngeren, kaum dem Seminar entlassenen Schulkandidaten liegt, die alle 
2—3 Jahre wieder ihre Stellung wechseln. 

Das haben auch einzelne der pädagogischen Anstanltsleiter schon lange ein- 
gesehen und deshalb darauf hingearbeitet, durch Erhöhung der Gehälter und 
durch Sicherstellung der Pension im Einverständnis mit ihren betreffenden Vor- 
ständen ihren Anstalten ein dauerndes Lehrpersonal zu erhalten. Allein so sehr 
dieses Entgegenkommen der Anstalten ihren Lehrern gegenüber anzuerkennen 
ist, so kann es doch nicht alle Bedenken beseitigen. Ein Beispiel möge dies 


*) Im Interesse unserer Anstalten ist zu hoffen, dass heutzutage jene Fälle immer seltener 
werden, da die Anstaltsleiter die Erziehungsarbeit an den geistig abnormen Kindern für gering 
genug achten, um sie solchen Lehrern anzuvertrauen, denen aus irgend einem Grunde eine 
weitere Anstellung im öffentlichen Schuldienst versagt ist oder welche nie die Berechtigung 
dazu erlangt haben. Als ob Persönlichkeiten, die von dem öffentlichen Erziehungswesen fern 
zu halten die Behörde für angezeigt findet, für den Unterricht schwachsinniger Kinder gerade 
noch gut genug wären! Es wird ja nicht ausgeschlossen sein, dass unter der Zahl dieser 
Lehrer mitunter Kräfte sind, die sich bei entsprechender Einführung und Überwachung viel- 
leicht ebenso tüchtig erweisen können, wie mancher ihrer „geprüften“ und in „Amt und 
Würde“ stehender Kollegen. Jedoch abgesehen davon, dass solche Beispiele immer nur seltene 
Ausnahmen sein werden, sind es die Anstalten vor allem sich selbst, d. h. dem Ansehen, das 
ihre heilpädagogische Thätigkeit in den entsprechenden Kreisen geniesst, schuldig, von ihrem 
Arbeitsfelde solche zweifelhafte Elemente fernzuhalten, durch welche die Anstaltsbestrebungen 
in Misskredit geraten könnten. Dasselbe gilt auch von den sogenannten Lehrerwärtern, die 
namentlich früher eine charakteristische Erscheinung in den Idioten-Anstalten waren. 


118 
zeigen. Angenommen, ein Lehrer hätte sich von einer Privatanstalt definitiv 
und unter Zusicherung späterer Pension anstellen lassen. Nun treten nach Jahren 
unvorhergesehene Verhältnisse ein, die dem Lehrer aus irgend welchen Gründen 
einen längeren Aufenthalt in der Anstalt absolut unmöglich machen.*) Wenn 
es aber einmal so weit ist, was dann? Jeder im öffentlichen Schuldienst 
stehende Lehrer kann sich durch eine Versetzung mit einem Schlage aller Un- 
annehmlichkeiten seiner bisherigen Stellung entziehen; dazu steht ihm nicht nur 
der ganze preussische Staat offen, sondern er kann sich dabei, wenu ihm das 
Glück günstig ist, sogar noch eine pekuniäre Verbesserung verschaffen. Nicht 
so bei dem definitiv angestellten Privatanstaltslehrer. Findet er nicht in einem 
andern privaten Institut Anstellung, und dies wird wohl für gewöhnlich der Fall 
sein, da solche Anstalten nur sehr selten ältere Lehrer anstellen, so bleibt ihm 
nur die Rückkehr in den öffentlichen Schuldienst übrig, und in welch freund- 
licher Weise da der Lehrer vom preussischen Besoldungsgesetz empfangen wird, 
haben wir oben gesehen. 

Vielleicht genügen diese Zeilen, um zu zeigen, wie sehr eine Änderung 
jener Bestimmungen des Lehrerbesoldungsgesetzes nicht nur im Interesse der 
privaten Anstaltslehrer, sondern vor allen Dingen auch im Interesse der Anstalten 
selbst, d. h. der freien, ungehinderten Entwicklung ihrer Schulorganismen liegt, 
und dass es darum Pflicht der Anstaltsvorsteher wäre, auf der bevorstehenden 
Konferenz dieser Frage näher zu treten. | 

Zum Schlusse sei es gestattet, hieher noch die gewiss objektiven Aus- 
führungen einer politischen Tageszeitung zu setzen, welche aus einer Zeit stammen, 
da das Gesetz noch Vorlage war, und in denen die besprochene Angelegenheit 
unter mehr allgemeinen Gesichtspunkten beleuchtet wird. Es heisst da: „Wie 
wohlwollend dieser Passus ($ 11 Schluss) auch erscheinen mag, so ist doch da- 
mit für alle seminaristisch gebildeten und staatlich geprüften Lehrer an den 
Privatanstalten, die dem Zweck der innern Mission dienen, nichts erreicht. Seit 
Jahren empfinden gerade diese Lehrer (denn nur solche sollen nach dem Willen 
der Regierung an genannten Privatanstalten thätig sein) es als eine Härte, dass 
sie den direkt dem Staate dienenden Lehrern nicht gleichgestellt werden können 
Jene Anstalten sind nämlich nicht in dem Sinne privat zu nennen, als ob sie 
nur rein privaten Zwecken dienten und von Privaten, welche eigenen Gewinn etc. 
verfolgen, geleitet und unterhalten würden. Im Gegenteil, diese Anstalten, welche 
von der öffentlichen Wohlthätigkeit gegründet wurden und auch von den kommu- 
nalen Verbänden häufig unterstützt werden, leisten dem Staat mindestens den- 
selben Dienst, wie die öffentlichen, da die ihnen übergebenen Zöglinge in den 
öffentlichen Schulen nicht mehr mit Erfolg unterrichtet und erzogen werden 
könnten, diese vielmehr in ihrer Wirksamkeit wesentlich hemmen und schädigen 








*) Wer das interne Anstaltsleben näher kennt, und wer weiss, wie leicht bei einem 
solch engen Zusammenleben das politische Gleichgewicht für immer gestört werden kann, der 
begreift auch, dass es durchaus nicht übertriebene Schwarzseherei ist, wenn man mit solch 
„unvorhergesehenen Umständen“ ernstlich rechnet, auch wenn man dazu vorläufig nicht die 
geringste Ursache hat. 


119 


würden. Soll aber den Lehrern, welche an jenen Anstalten mit ausdrücklicher 
Genehmigung der Regierung in jedem einzelnen Falle und zudem unter den be- 
sonders schwierigen Verhältnissen im öffentlichen Interesse thätig sind, diese 
Arbeit nicht als Dienstzeit angerechnet werden, so erwachsen für die Anstalten 
sowohl, als auch für den Staat daraus bedeutende Nachteile. Es wird in diesem 
Falle sehr schwer halten, geeignete Kräfte für jene Zwecke zu gewinnen. Die 
Rettungshäuser etc. würden in ihrer bisherigen, um die menschliche Gesellschaft 
so sehr verdienstlichen Thätigkeit bedeutend beeinträchtigt, und damit der Staat 
in seinem eminenten Interesse an einer möglichst guten Heranbildung, Erziehung 
und Besserung der am meisten sittlich gefährdeten Kinder geschädigt. Wünschens- 
wert wäre es deshalb, dass den Anstalten, welche nicht unter die öffentlichen 
gerechnet werden, und deren Lehrer auch seither bei ihrem etwaigen Übertritt 
an eine Öffentliche Schule häufig die bisherige private Dienstzeit seitens der 
Regierungen in Anbetracht der Verhältnisse angerechnet bekamen, dieselben 
bezüglichen Rechte gewährt würden, wie jenen. Dieser Wunsch ist um 30 
berechtigter, als ausserpreussische Staaten, wie z. B. Bayern, Würt- 
temberg, Baden und Hessen längst in diesem Sinne Bestimmungen 
getroffen haben. Es unterliegt wohl keinem ernsten Bedenken, auch ein- 
schlägigen, nicht Öffentlichen Anstalten mit Genehmigung der Regierung weiter- 
gehende Rechte zu gewähren, als sie der neue Gesetzesentwurf gestattet.“ 

In der Hoffnung, dass sich bei einem gemeinsamen Vorgehen aller Privat- 
anstalten (auch Waisen-Rettungshäuser etc.) vielleicht doch die ungerechte Härte 
des $ 11 beseitigen liesse, sei diese Angelegenheit nochmals aufs dringenste der 
Elberfelder Konferenz zur Beratung empfohlen. 


Die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung 


schwachsinniger Kinder in Italien. 
Von Karl Richter in Leipzig. 
„Willst du dich selber erkennen, 

so sieh, wie die andern es treiben.“ 
Schiller. 
Man pflegt unsere Zeit mit einem gewissen Rechte eine materialistische zu 
nennen, und es ist nicht zu leugnen, dass infolge der grossartigen Entwickelungen 
in Industrie, Handel und Verkehr die abgeschlossene Beschaulichkeit früherer 
Zeit für immer zerstört und der Siun unwillkürlich auf die materielle Seite des 
Lebens gelenkt worden ist; dass das Hasten und Jagen nach vermehrtem Besitze 
und — Genusse mehr und mehr die Massen ergriffen und ihnen die Behaglichkeit 
des Daseins, die Zufriedenheit mit ihrem Lose und den Sinn für höhere Interessen 
verkümmert, ja geraubt hat. Aber neben diesem wachsenden materiellen Zuge 
der Zeit hat sich auch in gleichem Grade bei den besitzenden Klassen eine 
Opterwilligkeit und Hiülfsbereitschaft in Fällen eintretender örtlicher oder all- 
gemeiner Not und Linderung heischenden menschlichen Elendes überhaupt ent- 
wickelt, wie das kaum in früheren Zeiten je vorgekommen ist. Es genügt da 


-nicht bloss, an die neueren Gesetzgebungen zu erinnern, die auf den Schutz der 
Arbeiter bei ihrer Beschäftigung, zu ihrer Unterstützung in Fällen der Krank- 
heit oder Erwerbsunfähigkeit abzielen und von staatlicher Seite zur Besserung 
des Loses der sogenannten „Enterbten“ erlassen worden und von einer aus- 
eleichenden Gerechtigkeit eingegeben sind, sondern es muss noch viel mehr auf 
die privaten Veranstaltungen verschiedener Art hingewiesen werden, die, auf 
das Wohl der heranwachsenden Jugend der ärmeren Volksklassen, namentlich in 
grösseren Städten, gerichtet, lediglich dem allgemeinen Wohltbätigkeitssinne ihre 
Entstehung und Unterhaltung verdanken, als da sind die Ferien- und Milch- 
kolonien für bedürftige und schwächliche Kinder, die Knaben- und Mädchenborte 
zur Bewahrung der Kinder vor den sittlichen Gefahren des ungezügelten Strassen- 
lebens u. dgl. m. Nicht minder tritt der Zug erbarmender Liebe da zutage, wo 
es sich um die Fürsorge für die ärmsten und bedauernswertesten Menschenkinder, 
wie Sieche, Geisteskranke und Idioten handelt. Mit welchem Aufwande von 
Mitteln hat man deren trauriges Los nicht freundlicher zu gestalten und in 
Behandlung, Verpflegung und Unterweisung ihnen ein menschenwürdiges Dasein 
zu bereiten gesucht als früher! — Was insbesondere die Idiotenpflege anbelangt, 
so ist seit dem weithin klingenden Rufe Dr. Guggenbühls 1840 durch all- 
mählich wachsende Gründung besonderer Anstalten, die meist auf dem Wege 
allgemeiner Wohltbätigkeit entstanden, in immer weiteren Kreisen für diese 
Unglücklichen gesorgt worden, und seit 30 Jahren hat man auch in grösseren, 
ja sogar in mittleren Städten den schwachsinnigen Kindern, die bis dahin 
mit normal begabten die gewöhnliche Volksschule besuchen mussten — ein 
Hemmschuh für ihre Klasse, eine Last für den Lehrer, eine Zielscheibe des 
Spottes ihrer Mitschüler und sich selbst zur Plage — durch besondere Ein- 
richtungen ihren bescheidenen Anlagen entsprechende Förderung zu geben ver- 
sucht, um sie zu einigermassen brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesell- 
schaft zu bilden. So sind in Deutschland und namentlich in Sachsen — hier 
angeregt durch das Schulgesetz von 1874 — in immer zahlreicheren, selbst 
kleineren Städten solche Kinder in besonderen Klassen und Schulen zu einer 
ihrer Geistesverfassung angemessenen Bildung vereinigt worden, und ihre Zahl 
wächst von Jahr zu Jahr. 

Auch ausserhalb Deutschlands hat man diesem jüngsten Zweige der Erziehungs- 
thätigkeit eine Stätte zu bereiten angefangen, ja selbst in Ländern, deren ge- 
samtes Volksschulwesen sich mit dem Stande des deutschen nicht messen kann, 
hat die Fürsorge für Bildung und Erziehung armer schwachsinniger Kinder 
begonnen Wurzel zu schlagen. Wir sind imstande, heute über die Bestrebungen 
zu berichten, die in dem sonnigen, geschichtlich bedeutungsvollen, jeden Reisenden 
anmutenden und dazu uns politisch bundesfreundlichen Italien nach dieser 
Seite hin im Gange sind, und wir glauben das Interesse unserer Leser dafür 
umsomehr voraussetzen zu dürfen, als die Eigenartigkeit dieser Bestrebungen zu 
einem höchst lehrreichen Vergleiche mit unseren Einrichtungen unwillkürlich 
herausfordert. 


121 


Die nachfolgenden Darbietungen haben Quellen sehr verschiedener Art zur 
Grundlage. Zunächst fussen sie auf müudlichen Mitteilungen einer liebens- 
würdigen Dame aus Rom, Fräulein Le Maire, bei Gelegenheit ihres Besuches 
unserer Leipziger Hilfsschule im August 1899 über die Asylschule für mittel- 
lose schwachsinnige Kinder in Rom, an der sie als Vorsteherin thätig ist; — 
Mitteilungen, die durch den mir später von ihr übersandten ersten Halbjahres- 
bericht des Dr. Sante de Sanctis über diese Schule in ausführlicherer Weise 
ergänzt wurden. Weitere Nachforschungen wurden angeregt durch einen Artikel 
des Dr. Zibrie in Turin über „die Geistesschwachen“ in der angesehenen Turmer 
Zeitung „La Stampa“, auf den ich durch eine redaktionelle Bemerkung zu einem 
überaus freundlichen Berichte der genannten Dame über die Leipziger Hilfsschule 
in derselben Zeitung aufmerksam gemacht wurde. Ferner entstammen meines 
Kenntnisse den Berichten, die mir durch Gegenfragen auf mehrere an mich 
gerichtete Anfragen, wie des Fräulein Grassi in Rom und des Dr. Bioggi in 
Mailand zugegangen sind. Endlich gelangte ich zu einer Reihe schätzbarer 
Nachrichten teils durch briefliche Mitteilungen des Fräulein Le Maire, teils 
durch die von ihr in überaus zuvorkommender Weise veranlassten Zuschriften 
und Zusendungen aus Florenz und Turin, wofür ich der für die Bildung der 
nnglücklichen schwachsinnigen Kinder hochbegeisterten Dame zu ganz besonderem 
Danke verpflichtet bin. 


Ich beginne meinen Bericht mit einem kurzen Auszuge aus dem Artikel 
des Dr. Zibrio in der Turiner Zeitung „La Stampa“ (die Presse) vom 26. Juli 1899, 
der die Ueberschrift „I Frenastenici“ (die Geistesschwachen) trägt. Nachdem 
der Verfasser einen jener Unglücklichen niedrigster Stufe, den er zu beobachten 
Gelegenheit haite, in seinem Thun und Treiben beschrieben hat, kommt er auf 
die Unterschiede der geistigen Belastung zu sprechen und unterscheidet drei Haupt- 
gruppen: 1. die Idioten, die jedes Intellektes entbehren' und bei denen von 
allen Funktionen des Organismus nur die der Verdauung und Atmung zuütage 
treten; 2. die Blöden (imbeecilli), die bei eigentümlicher Schädelbildung and 
anderen Abnormitäten leicht erregbar, leidenschaftlich, jedes inneren Haltes bar 
ohne geeignete Erziehung und Gewöhnung: als Opfer ihrer Fehler zu grunde gehen; 
endlich 3. die Langsamen oder Schwachsinnigen (i tardivi 0 poveri di 
mente), die ebenfalls mit mancherlei körperlichen Eigentümlichkeiten behaftet, 
doch Individuen von begrenzten intellektuellen Fähigkeiten sind, bei stattfindender 
Vernachlässigung leicht gefährlich’ und Verbrecher, bei ernster Überwachung und 
Erziehung aber immerhin ehrenhafte und bürgerlich brauchbare Menschen werden 
können. An zwei Beispielen zeigt der Verfasser, dass letzteres möglich ist, und 
erwähnt, wie man mit Rücksicht hierauf in England und der Schweiz die 
Erziehung der Geistesschwachen gesetzlich vorgesehen und auch in Frankreich, 
Deutschland, Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika „Riesenschritte 
in der Erziehung der Schwachsinnigen gemacht“ habe. Zuletzt gedenkt er noch 
der Bestrebungen und Erfolge, die in der gleichen Sache Italien zu ver- 
zeichnen hat. 





Unter denen, die sich mit den Veranstaltungen zum Besten verbrecherisch 
beanlagter und verwaister Kinder mit ererbten geistigen Defekten beschäftigten, 
ist der Abt Spagliardi in Mailand zu nennen, der die Errichtung von Reform- 
häusern für jene Unglücklichen empfahl nach dem Muster der in England 
blühenden Ragged Schooles (Lumpenschulen), für welche das Mitleid Schüler 
und Schülerinnen auf der Strasse aufliest — ganz verwabrloste oder auch ganz 
verlassene Kinder, deren Eltern entweder unbekannt oder gestorben sind, und die 
hier Unterricht und Obdach zugleich finden. Wie man schon hieraus ersieht, 
waren die gedachten Rettungshäuser gemischte Anstalten für verwaiste, ver- 
wahrloste, verbrecherisch angelegte, idiotische und andere Kinder, und solcher 
gemischten Fürsorge haben viele andere: Geistliche, Lehrer, Ärzte, Frauen edler 
Herkunft das Wort geredet, wie Cattalengo, Don Bosco, Ravaschieri u. a. m. 
Auch die von Dr. Zibrio erwähnte „Villa Tomassini“ in Rom, mit: etwa 
30 Geistesschwachen, 1880 gegründet und von Bonfigli, dem Direktor der 
Irrenanstalt geleitet, dürfte kaum unter die besonderen Veranstaltungen zu rechnen 
sein; denn nach Privatmitteilungen aus Rom ist diese Villa nur ein Teil der 
römischen Irrenanstalt und von dem früheren Besitzer Tomassini sterbend zu 
dem Zwecke gestiftet worden, dass die bisher in der Irrenanstalt mit unter- 
gebrachten Idioten ein von den Irren getrenntes Heim erhalten sollten, doch 
bestehen hier keinerlei besondere Veranstaltungen für Unterricht und Erziehung 
der Insassen. — Der erste, dessen Name, wie Professor Sante de Sanctis in 
Rom sich äussert,*) mit der ausschliesslichen Fürsorge für schwachsinnige 
Kinder in Italien unauflöslich verbunden bleibt, war der Professor Gonnelli- 
Cioni, .ein Lehrer, „der voilständig die Erziehungsfähigkeit schwachsinniger 
Kinder begriff und mutvoll den rauhen Weg der praktischen Verwirklichung 
beschritt“ und im Jahre 1888 oder 89 in Chiavari (Ligurien) die erste Schwach- 
siunigenanstalt gründete und die Schwierigkeiten aller Art überwand. Sie 
wurde dann nach Vercurago (Bergamo) verlegt, wo sie noch jetzt blüht „dank 
der Entsagung und der unermüdlichen und intelligenten Arbeit ihres Gründers 
und seiner edlen Tochter“, wie de Sanctis bemerkt. Es ist eine private Lehr- 
und Erziehungsanstalt mit Internat, in der nur schwachsinnige Knaben und 
Mädchen gegen Bezahlung Aufnahme finden und die Dr. Zibrio als zwar be- 
scheiden, aber als ein wahres Muster ihrer Art bezeichnet. Derselbe Gonnelli 
wurde 1894--95 vom Minister beauftragt, in Mailand einen Kursus über „Orto- 
frenia“ (normale Geistesbeschaffenheit) für Lehrer abzuhalten. Ein ähnliches 
Institut wie Gonnelli gründete Olivero 1892 in Nervi, das „Pädagogium“, 
das der Professor Morselli leitete, das aber unglücklicherweise ein gar zu kurzes 
Leben hatte. 

Für die weitere Förderung der Sache darf man — wie de Sanctis schreibt — 


*) Es geschieht dies in der „Vita nuova“, einer in Rom erscheinenden halbmonatlichen 
illustrierten Rundschau, Jahrg. 1, Nr. 9 u 10 vom 1. Oktober 1899. Die ganze Doppel- 
nummer, die zum Besten der Asylschule in Rom herausgegeben worden ist, handelt von der 
Erziehung Schwachsinniger, wozu Prof. S. de Sanctis den Leitartikel: „Die Fürsorge für 
schwachsinnige Kinder. Etwas Geschichtliches‘ geschrieben hat. 


198 


den Einfluss nicht vergessen, den die italienischen Irrenärzte durch Hinweise 
auf dergleichen Anstalten, durch Anregung der Öffentlichen Wohlthätigkeit zu 
diesem Zwecke, durch Aufsätze in ihren Zeitschriften und Vorträgen in ihren 
Versammlungen ausgeübt haben. Auch die Tagespresse hat wiederholt sympatische 
Artikel dem wohlthätigen Werke gewidmet, und von Fräulein Dr. Montessori 
sind in verschiedenen Städten über diesen Gegenstand Vorträge gehalten und 
mit grossem Beifall aufgenommen worden. — Ein Rundschreiben, das der 
Unterrichtsminister Baccelli erliess und in dem er seine Beihilfe zur Lösung 
des wichtigen Problems zusagte, unterstützte die Bewegung, und nachdem auf 
dem pädagogischen Kongresse in Turin im September 1898 Fräulein Dr. Mon- 
tessori auf Veranlassung des Direktors Bonfigli einen Vortrag über die den 
Idioten zu leistende Hilfe gehalten hatte, schritt Bonfigli Ende des Jahres 1898 
zur Gründung eines „Nationalverbandes für den Schutz schwachsinniger 
Kinder” (Lega nationale per la protezione dei fanciulli deficienti). Unter seinem 
Vorsitze bildete sich ein vorläufiges Komitee von 22 angesehenen Männern Roms, 
darunter der mehrmalige Ministerpräsident Graf di Rudini, um für den angegebenen 
Zweck zu wirken und im ganzen Königreiche Propaganda zu machen. In einem 
nach allen Seiten hin versandten Aufrufe wurde die traurige Lage der schwach- 
sinnigen Kinder Italiens, die Möglichkeit und Wichtigkeit ihrer geistigen und 
sittlichen Erziehung nach dem Vorgange anderer Staaten, sowie der Zweck des 
Verbandes: die Gründung von medizinisch - pädagogischen Anstalten für die 
geistige und sittliche Erziehung der Idioten und von Hilfsklassen zu fördern, 
die mit den elementaren Gemeindeschulen vereinigt dazu dienen sollten, die 
schwachbegabten Kinder unter strenger Anpassung an die Methoden der gewöhn- 
lichen Schulen zu unterrichten, in warmen Worten dargelegt und unter Appell 
an das Nationalgefühl, dass Italien so gut wie nichts dergleichen aufzuweisen 
habe und diesen traurigen Vorzug in Europa nur mit Spanien und der Türkei 
teile, zur Mitwirkung bei diesem hilfreichen und bürgerlichen Werke aufgefordert, 
welches eins der wirksamsten Mittel sozialer Prophylaxis sei, indem es eine 
Gruppe der Verworfenen versorge. 

Mittlerweile hatte man auch die Statuten des Verbandes entworfen, die 
im März 1899 veröffentlicht und ebenfalls weithin verbreitet wurden. In einem 
vom 29. März 1899 datierten Begleitschreibeu, das zur Zeichnung von Beiträgen 
aufforderte, konnte man mit Genugthuung melden, dass der vor kaum zwei 
Monaten erlassene Aufruf überall das lebhafteste Interesse und die grössten 
Sympathien gefunden habe, dass Minister, Staatssekretäre, Senatoren, Deputierte, 
Universitätsprofessoren, Bürgermeister und was es in Italien an hervorragenden 
Geistern auf dem Felde der Politik und der Wissenschaft überhaupt gäbe, für 
die schleunige Verwirklichung des Ideales gestimmt hättten, dass in den wich- 
tigsten italienischen Städten bereits Komitees zur Verbreitung der Idee und zur 
Unterstützung ihrer Ausführung entstanden und alle hervorragenden Zeitungen 
mit Begeisterung dafür eingetreten seien. Und in der That bestätigt das ein 
ebenfalls veröffentlichtes Verzeichnis, das ausser den schon erwähnten 22 Herren 
des ersten Komitees 18 Damen aus den vornehmsten Häusern Roms als „Förderer“ 


124 


und 302 „Anhänger“, Herren und Damen der verschiedensten Gesellschaftsklassen 
und Stände aus ganz Italien, vom Norden bis zum Süden aufzählt. 

Besonderes Interesse haben für uns natürlicherweise die Statuten des Ver- 
bandes, die in 5 Kapitel zerfallen mit einigen Übergangsbestimmungen am 
Schlusse. 

Das erste Kapitel besagt, dass die nationale Vereinigung „für Erziehung 
und Unterricht schwachsinniger Kinder“ nach dem Masse ihrer Mittel folgendes 
anstrebe: 

1. in Italien die Einrichtung von besonderen Erziehungsanstalten für schwach- 
sinnige Kinder auf den wissenschaftlichen Grundlagen der medizinisch-päda- 
gogischen Methode zu betreiben und anzuregen; 

2. in Rom ein grosses nationales medizinisch - pädagogisches Institut zu 
gründen, wo Kinder von geringer geistiger Befähigung (intellektuell und sittlich 
idiotische, epileptische) beherbergt werden können, die deshalb für ihre Erziehung 
ausser einer pädagogischen Methode auch einer besonderen medizinischen Auf- 
sicht und einer fortgesetzten Überwachung bedürfen, damit sie nicht sich selbst 
und anderen schädlich werden; 

3. möglichst auch Asylklassen für Auswärtige an das erwähnte Institut mit 
verlängertem Stundenplane anzuschliessen, wo die Schwachsinnigen von besonderen 
Lehrern erzogen werden und von dem erzieberischen und medizinischen Materiale 
des Institutes Nutzen ziehen können; 

4. die Einrichtung von Hilfsklassen bei den gewöhnlichen Elementarschulen 
zu betreiben, wo solche Kinder, die an geistiger Begabung nicht allzutief unter 
dem Normalmasse stehen (ausgeartete [squilibrati], faule, ungezogene) einen 
Unterricht finden, der ihren Verhältnissen angepasst ist, selbstverständlich auf 
grund der medizinisch-pädagogischen Methode. 

Das zweite Kapitel, das von den Mitgliedern handelt, bestimmt, dass 
jeder ohne Unterschied des Geschlechtes, der Religion, der politischen Partei, der 
sozialen Stellung oder der Nationalität Mitglied der Gesellschaft werden kann. 
Wer in dieselbe eintreten will, muss sein Gesuch von mindestens zwei Mit- 
gliedern unterstützen lassen, worauf vom Vorstande die Aufnahme beschlossen 
wird. Die Mitglieder werden unterschieden a) in gewöhnliche Mitglieder, die 
einen Jahresbeitrag von 12 Lire wenigstens auf 3 Jahre zeichnen; für Lehrer 
an Elementarschulen wird derselbe auf 6 Lire ermässigt; b) in lebenslängliche 
Mitglieder, die auf einmal bis zu 200 Lire zeichnen; c) in Patrone, die auf einmal 


500 Lire zeichnen. — Die noch grössere Summen zeichnen, werden mit be- 
sonderen Wohlthätigkeitstiteln ausgezeichnet. Wer 100000 Lire stiften sollte, 
würde dem Institute seinen Namen geben. — Als einfache Gönner oder An- 


hänger (aderenti) werden diejenigen betrachtet, die einen Beitrag von weniger 
als 12 Lire (oder bei Elementarlehrern 6 Lire) zahlen, oder die auch bei Zahlung 
eines höheren Betrages ausdrücklich erklären, dass sie nur ein einfaches Geschenk 
machen und nicht als Mitglieder betrachtet werden wollen. Die General- 
versammlung kann auf Vorschlag des Vorstandes solche, die durch ihre Be- 
mühungen der Gesellschaft besondere Dienste geleistet haben, als besondere 


125 


Wohlthäter erklären. — Im übrigen werden noch die Rechte der Mitglieder 
festgesetzt. 

Das dritte Kapitel bestimmt, dass der Verband seinen Sitz in Rom hat, 
dass sich aber in den Provinzen des Königreiches oder in den auswärtigen 
italienischen Kolonien Sektionen bilden können, und regelt die Gründung der- 
selben, ihre Rechte und Verbindlichkeiten und ihr Verhältnis zam Verbande. — 
Das vierte Kapitel handelt vom Vorstande, seinen Mitgliedern, deren Wahl und 
Amtsdauer etc., das fünfte Kapitel von den ausführenden Kommissionen, und 
ein Anhang enthält die Übergangsbestimmungen. 

So vielversprechend auch nach den obigen Mitteilungen die ersten Anläufe 
der Lega nationale waren, so gering sind doch im grunde die Erfolge gewesen, 
die ihren weitausschauenden Plänen zuteil geworden sind. Weder ist es bis 
jetzt zur Gründung einer grossen nationalen Anstalt in Rom gekommen, noch 
auch zur Bildung von Sektionen in den wichtigsten Städten Italiens in Ver- 
bindung mit der Lega. Statt der in Rom geplanten Nationalanstalt hat die 
Lega im Jahre 1900 eine Art Lehrerseminar gegründet, worin Lehrer und 
Lehrerinnen mit der Bebandlung Schwachsinniger und der ihnen zu leistenden 
Hilfe und Förderung bekannt und vertraut gemacht werden sollen. Ausserdem 
ist seit Anfang dieses Jahres (1901) zwischen der Irrenanstalt in Rom und der 
Lega ein Übereinkommen getroffen worden, wonoch die erstere ihre Idioten der 
letzteren unter Gewährung einer entsprechenden Entschädigung zur Erziehung 
überlässt. Nicht weiter als auf diese beiden Anstalten erstreckt sich gegenwärtig 
der ganze Einfluss der Lega. 

Etwas Gutes hat aber doch die von der Lega ausgegangene Propaganda für 
Italien gehabt: es haben sich nämlich in verschiedenen Städten, wie Florenz, 
Turin, Mailand, Reggio (und irre ich nicht auch in Palermo), freilich unabhängig 
von der Lega, Vereinigungen zur Gründung von Schulen und Pflegstätten für 
schwachsinnige Kinder gebildet. 


Ich beginne mit der Anstalt in Florenz, über die mir ausser einer ge- 
fälligen brieflichen Mitteilung des Vorstehers der medizinischen (sanitären) 
Leitung, Herrn Dr. E. Modigliano, Spezialarztes für Kinderkrankheiten, vom 
15. Februar d. J. das unterm 31. Mai und 11. Juli 1900 genehmigte Statut 
nebst Regulativ, sowie eine kürzere, zusammenfassende Veröffentlichung zur Ver- 
fügung stehen. 

Die Anstalt ist im August 1899 unter dem Namen Istituto Toscana pei 
bambini tardivi (Toskanische Anstalt für geistesschwache Kinder) nahe bei 
Florenz in der in offenem Lande am Fusse des lachenden Hügels von Vineigliata 
gelegenen Villa Francois eröffnet und dem Könige zu Ehren Istituto Umberto I. 
per fanciulli tardivi o nervosi (Anstalt Humbert I. für geistesschwache oder 
nervöse Kinder) genannt worden. Ihre Organisation ist ähnlich derjenigen der 
besseren medizinisch-pädagogischen Anstalten, wie man sie in den Hauptstädten 
anderer europäischer Staaten und insbesondere in der von Vitry-sur-Seine findet, 
mit allen nötigen Vervollkommnungen, um sich den Gebräuchen und Gewohn- 


126 
heiten, inmitten deren sie entstanden ist, besser anzupassen. Der Hauptzweck 
der Anstalt ist, alle jene Kinder, die wegen rückständiger oder mangelbafter 
intellektueller Entwickelung oder wegen nervöser Zufälle weder in der Familie 
verpflegt, noch nach den gewöhnlichen Methoden in Gemeinschaft mit normalen 
Kindern erzogen und unterrichtet werden können, nach besonderen Methoden, 
die sich den individuellen Bedürfnissen eines jeden Zöglings anpassen, zu pflegen, 
zu erziehen und zu unterrichten, um sie in physischer und moralischer Beziehung 
soweit zu bringen, dass sie entweder fähig werden, dem Unterrichte in den 
gewöhnlichen Schulen zu folgen, oder ein ihren Fähigkeiten entsprechendes 
Handwerk auszuüben, oder sofern sie wohlhabend sind, in der Familie und 
Gesellschaft als nicht ganz unfähige, aber doch bescheidene Mitarbeiter am 
Gemeinwohle zu leben. Die Mängel, deren Besserung man ins Auge fasst, sind 
Sprachfehler bis zur vollständigen Sprachlosigkeit (Taubstummheit ausgeschlossen), 
nächtliches Bettnässen, Lähmungen, sofern sie heilbar und nicht mit auffälligen 
Gebrechen verbunden sind, Hysterie, Tik und andere Symptome von Nerven- 
störung, unruhiges Wesen und Zerstreutheit.e. Als interne Zöglinge werden 
aufgenommen Kinder beiderlei Geschlechtes von 4—12 Jahren und als aus- 
wärtige Kinder von 6—16 Jahren, vorausgesetzt, dass sie für Erziehung und 
Pflege empfänglich, also bildungsfähig sind, anderenfälls werden sie zurück- 
gewiesen, oder sobald sich ihre Bildungsunfähigkeit herausstellt, ihren Eltern 
zurückgegeben. Auch Kinder mit auffallenden Gebrechen werden nicht auf- 
genommen. — Für die Aufnahme wird ausser den nötigen Papieren etc. die 
Ausfüllung eines vorgedruckten Fragebogens verlangt, die teils von der Familie, 
teils von dem Hausarzte oder von einem Anstaltsarzte zu erfolgen hat. Die 
32 Fragen, die sich auf Personalien und Familienverhältnisse, Charakter, Lebens- 
und Entwickelungsgeschichte des betreffenden Kindes von der Geburt an etc. 
beziehen, entsprechen genau den in unseren sächsischen Landesanstalten üblichen 
Formularen. 

Zur Erreichung des Zweckes sollen sich Erziehung und Verpflegung möglichst 
individuell gestalten. Letztere umfasst auch eine zeitweilige ärztliche Behand- 
lung durch Arznei, Wassertherapie, Massage, Orthopädie, Elektrotherapie, gelegent- 
lich auch chirurgische Eingriffe (la chirurgia cerebrale). Erziehung und Unter- 
richt richten sich auf Besserang des Verhaltens, der Sitten und täglichen 
Gewohnheiten. Die internen Zöglinge müssen den ganzen Tag über beschäftigt 
werden. Früh morgens werden sie zunächst über die Art sich zu waschen, 
anzukleiden etc. unterwiesen, dann frühstücken sie, und später wechseln nach 
dem aufgestellten Stundenplane Unterrichts- und Erholungsstunden mit einander 
ab. Es giebt Unterricht in Moral und Religion, Übungen zur Ausbildung der 
Muskeln und der Sinne, und endlich besonderen Unterricht in den Lehrgegen- 
ständen der gewöhnlichen Schulen, aber angepasst der natürlichen Fähigkeit 
des einzelnen Schülers, so dass die Kinder nicht mit Dingen beschäftigt werden, 
die ihrer Intelligenz unzugänglich und deshalb nutzlos sind. In den Unterrichts- 
stunden werden nur mehrere, bis zu 5 Zöglingen vereinigt, die nach ihrer ganzen 
Geistesverfassung und ihren Bedürfnissen zu einander passen. Für Zöglinge von 


127 

grösserer Geschicklichkeit werden auch besondere Stunden in Zeichnen und Ge- 
sang abgehalten und überhaupt die besonderen natürlichen Anlagen der einzelnen, 
die man zu erforschen bestrebt ist, zu fördern gesucht. Ein grosser Raum wird 
im Unterrichte farbigen Wandbildern, stereoskopischen Bildern und Modellen in 
Karton oder Holz eingeräumt. Der Schulunterricht soll nur wenige Stunden des 
Tages in einer Zeitdauer von !/,—1 Stunde in Anspruch nehmen, mindestens 
aber eine Stunde betragen, wonach jedesmal andere Beschäftigungen eintreten 
die teils der freien, teils der disziplinierten Erholung gewidmet sind: Lauf- 
übungen, gymnastische Spiele, Geschicklichkeits- und Intelligenzspiele. Zu 
letzteren zählt man auch die Handarbeiten, die sich auf Arbeiten in Pappe, 
Holz, Leder, Stroh, plastischbem Thon und Gartenarbeiten erstrecken und zunächst 
für die Zöglinge der dritten Verpflegungsklasse eingerichtet sind, aber auch denen 
anderer Klassen auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern zur Teilnahme offen 
stehen. Auch in den Stunden der freien Erholung, der Spaziergänge etc. werden 
die Kinder von geeigneten Personen überwacht, die sie etwas lehren und von 
schlechten Gewohnheiten abbringen können. Solche Kinder, deren Umgang den 
anderen schaden könnte, werden überhaupt abgesondert gehalten, so lange sie 
sich nicht gebessert haben. 

Eine eben bei Erwähnung der Handarbeiten gefallene Bemerkung lenkt 
unsere Aufmerksamkeit auf die Einteilung der Zöglinge, deren es drei Klassen 
giebt. In die dritte Klasse werden Kinder wenig bemittelter Eltern aufgenommen. 
Für sie ist ein jährliches Verpflegungsgeld von 480 Lire und ausserdem beim 
Eintritte ein einmaliger Betrag von 100 Lire für die Ausstattung an Kleidern, 
Wäsche etc. zu entrichten, falls sie diese nicht mitbringen. Je nach den ver- 
fügbaren Mitteln können ganze oder halbe Freistellen gewährt werden. Für 
notorisch Arme zahlt die Provinz. Für Kinder bemittelter Eltern giebt es zwei 
Klassen, die erste zahlt täglich 4, die zweite 3 Lire; beide essen und schlafen 
für sich, werden besonders beaufsichtigt und Unterricht wie Erziehung ihrer 
sozialen Stellung möglichst angepasst. Auch als auswärtige haben sie das gleiche 
Schulgeld zu zahlen, können aber, wenn die Eltern sie bringen und abholen, den 
ganzen Tag in der Anstalt bleiben; besuchen sie nur die Unterrichtsstunden, so 
werden sie seitens der Anstalt dazu abgeholt und nach Schluss derselben wieder 
nach Hause gebracht. Die für alle Klassen reichliche Verpflegung wird je nach 
den Forderungen der Hygiene in 3—4 Mahlzeiten eingeteilt. Kinder der ersten 
und zweiten Klasse können täglich zu jeder beliebigen Zeit besucht werden, so- 
fern keine Bedenken dagegen vorliegen, die der dritten Klasse aber nur Sonntags 
im Sommer von 3—4, im Winter von 2—3 Uhr. Ferien giebt es nicht, doch 
können aus Gesundheitsrücksichten Urlaube erteilt werden, die aber einen Monat 
im Jahre nicht überschreiten dürfen. 

Die Anstalt wurde gegründet und wird unterhalten durch die öffentliche 
Wohlthätigkeit und durch freiwillige Beiträge. Man unterscheidet 3 Klassen 
von Mitgliedern: 1. grosse Wohlthäter, die wenigstens tausend Lire in Geld 
oder in Naturalobjekten stiften und deren Name auf einer Marmortafel in der 
Vorhalle der Anstalt eingegraben werden; 2. lebenslängliche Mitglieder, 


Fe.) 


die auf einmal 100 Lire zahlen und deren Namen in einem in der Vorhalle 
ausgehängten Verzeichnisse eingetragen werden, und 3. gewöhnliche Mitglieder, 
die jährlich mindestens 12 Lire zahlen. Diejenigen grossen Wohlthäter, die 
mindestens 5000 Lire stiften, baben auf zwei Jahre freies Bestimmungsrecht 
über ein Bett und geben diesem ihren Namen, und wer mindestens 15000 Lire 
spendet, hat auf je 5000 Lire über ein Bett (also über drei Betten) zu verfügen, 
und zwar auf 3 Jabre lang, und ein solches wird für alle Zeiten nach seinem 
Namen genannt. Auch haben die grossen Wohlthäter das Recht, unter sich 
3 Mitglieder in den Verwaltungsrat zu wählen. 

Die Anstalt wird durch ein Direktorium von 11 Mitgliedern unter dem 
Vorsitze des Herzogs Leone Strozzi und seines Stellvertreters des Fürsten 
Ginori Conti geleitet. Unter ihm stehen das Sanitätspersonal, das aus 
5 Ärzten besteht: einem Leiter (Dr. Modigliano), dessen Stellvertreter und 
einem mit psychiatrischen Kenntnissen ausgestatteten Arzte (unter Umständen 
auch mehreren), sowie zwei besoldeten Ärzten, von denen der eine Psychiater, 
der andere Chirurg sein muss; ferner das Lehrerpersonal, das einen mit der 
Schwachsinnigenerziehung vertrauten Leiter (Prof. P. Parise)*) und zur Zeit 
eine Lehrerin (je nach der Zahl der Zöglinge aber auch mehrere Lehrer oder 
Lehrerinnen) umfasst, und das Dienstpersonal, bauptsächlich Frauen, die den 
Namen Helferinnen (assistenti) führen. Die Aufsicht über letztere, sowie die Leitung 
des gesamten häuslichen Betriebes ist barmherzigen Schwestern anvertraut, die 
unter einer Oberin stehen. Ausserdem hat ein Komitee von Damen, die vom 
Vorsitzenden ernannt werden, die moralische u disziplinelle Überwachung der 
Anstalt auszuüben. Täglich hat ein Arzt die Anstalt zu besuchen, der Psychiater 
aber in regelmässigen Zwischenräumen in Begleitung des medizinischen und 
pädagogischen Leiters, und sein Gutachten sowohl über die sanitären, als über 
die pädagogischen und disziplinsren Einrichtungen entweder sofort an die be- 
treffenden Leiter, oder an das Direktorium abzugeben. 

Naeh der brieflichen Mitteilung des Herm Dr. Modigliano wurde die 
Anstalt mit nur 6 Zöglingen eröffnet, deren Zahl aber bald wuchs. Doch sind 
auch 7 oder 8 schon wieder ausgeschieden, nachdem sich ihr Zustand merklich 
gebessert hatte. Gegenwärtig zählt sie 25 Zöglinge, 22 im Internate und 3 aus- 
wärtige, und zwar 18 Knaben und 7 Mädchen. Die Resultate sind sehr er- 
mutigend gewesen, so dass sie oft die Erwartung übertroffen haben. Die klinischen 
Fälle sind ungemein verschieden und schwierig. 


Eine zweite Anstalt, über die ich zu berichten in der Lage bin, ist die in 
Turin. Sie besteht seit Oktober 1900 unter dem Namen „Istituto medico- 


*) Dr. Zibrio führt in dem oben erwähnten Aufsatze der Turiner „Presse‘‘ eine Schrift 
des genannten Pietro Parise an: Manuale di ortofrenia (Milano, Ulrico Hoepli 1899), die er 
mit folgenden Worten charakterisiert: „Es ist eine von jenen Arbeiten, ‚lie man als höchst be- 
deutend (veramente di polso) bezeichnen kann. Eine lange pädagogische Erfahrung vereinigt 
sich mit einer umfassenden wissenschaftlichen Kenntnis; der Verfasser ist ein Lehrer, der zum 
Psychiater geworden ist. Dieses Handbuch ... . wird ein neuer Ehrentitel für den glänzenden 
Schriftsteller und den hochverdienten Lehrer sein.“ 


129 
pedagogico Torinese pei fanciulli deficienti“ und ist hauptsächlich durch die Be- 
mühungen des Fräulein Ida Faggiani ins Leben gerufen worden, deren Freund- 
lichkeit ich ausser einem schätzbaren Handschreiben vom 2. März d. J. auch 
verschiedene Drucksachen: ein Zirkular und das Statut nebst dem Regulative 
verdanke. Über die Entstehung der Anstalt schreibt sie zunächst: „Unterstützt 
von Professor Marro, Direktor der Turiner Irrenanstalt, wurde es mir möglich, 
ein Komitee aus angesehenen Bürgern zusammenzubringen.*) Nach Überwindung 
nicht weniger und geringer Schwierigkeiten gelang es mir, in Turin in einem 
angenehmen und gesunden Lokale die medizinisch -pädagogische Anstalt zu er- 
öffnen, die erste in Piemont.“**) Dieselbe soll für die physische, moralische 
und.intellektuelle Entwickelung und Erziehung derjenigen Kinder beiderleiGeschlechts 
sorgen, die wegen Charakterfehlern oder mangelhafter geistiger Entwickelung 
nicht im stande sind, von dem nach den gewöhnlichen Methoden erteilten Unter- 
richte Nutzen zu ziehen; zur Anwendung sollen alle hygienischen und pädago- 
gischen Mittel kommen, die die moderne Wissenschaft an die Hand giebt. Die 
Zöglinge sollen in nützlichen Arbeiten unterwiesen werden, um sie möglichst zu 
befähigen, sich später ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb werden sie 
mit landwirtschaftlichen und Gartenarbeiten, mit Obstbau etc. beschäftigt und 
dazu herangebildet, ebenso zu einfacheren Handarbeiten, die Mädchen insbesondere 
zu häuslichen Beschäftigungen (Wäsche waschen und plätten, Zimmer reinigen etc.). 
Alle werden vor der Aufnahme durch den Aufsichtsrat (ärztlich) untersucht und 
geprüft, diejenigen aber ausgeschlossen, die mit ansteckenden Krankheiten be- 
haftet oder so geisteskrank sind, dass sie in eine Irrenanstalt gehören. Als 
Alter für die Aufnahme gilt das 5 —12. Lebensjahr, und die Kinder sollen so 
lauge in der Anstalt bleiben, bis der Erziehungszweck bei ihnen erreicht ist. 
Doch werden auch Pensionäre aufgenommen nach Zahlung eines Eintritts- 
geldes und eines monatlichen Verpflegungsbeitrages. Für sie giebt es ein Iuternat 
und ein Externat (letzteres jedenfalls als Tagesschule zu denken). Als Interne 
können Knaben und Mädchen von 5—10 Jahren, als Externe solche von 
7—15 Jahren aufgenommen werden. Unterricht und Erziehung wird individuell 
. gehandhabt, je nach den Bedürfnissen des einzelnen Falles, jedoch auf Grundlage 
der oben mitgeteilten Normen. Im Internate haben die Pensionäre ein Eintritts- 


*) Nach Dr. Zibrio a. a. O. geschah dies im Sommer 1900. Als Ehrenpräsident des 
Komitees stand an der Spitze der Bürgermeister von Turin, Severino Casana, als wirk- 
licher Vorsitzender Prof. Dr. Antonio Marro, Direktor der Irrenanstalt in Turin. 

**) In dem zur Gründung der Anstalt erlassenen Aufrufe heisst es: „Die menschliche 
Gesellschaft würde ohne Zweifel von der Erziehungsanstalt die allergrössten Vorteile haben. 
Vor allen Dingen würde man den öffentlichen Schulen alle diejenigen Kinder entziehen, die, 
ohne etwas zu lernen, eine fortgesetzte Störung für ihre Mitschüler bilden. Ausserdem würde 
man dafür sorgen können, die Gesellschaft von solchen gefährlichen Elementen zu befreien, da 
eg gerade diese Kinder sind, die, wenn sie heranwachsen und ohne Unterricht und Fähigkeit 
zu selbständiger Arbeit in die Welt hinaustreten, fast immer ihren eigenen Instinkten und 
der Bosheit anderer zum Opfer fallen, während, wenn sie noch als Kinder vereinigt unterrichtet 
und erzogen werden mit den Mitteln, die die Wissenschaft an die Hand giebt, sie noch arbeit- 
same, anständige und tüchtige Menschen werden können.“ 


130 


geld von 100 Lire und monatlich 45 Lire, im Externate ein Eintrittsgeld von 
50 Lire und monatlich 30 Lire zu zahlen. Gesellschaften, Gemeinden und 
Provinzialbehörden können gegen Zahlung von 400 Lire jährlich einzelne Plätze 
belegen, vorausgesetzt, dass die Kinder den für die Aufnahme gestellten all- 
gemeinen Bedingungen genügen. Private können gegen Zahlung von 10000 Lire 
ein Bett für alle Zeiten nach ihrem Namen benennen, gegen Zahlung von 
500 Lire für ein Jahr. 

Die Mittel zur Erhaltung und Verwaltung der Anstalt fliessen teils aus 
Spenden wohlgesinnter Vereine (Enti morali), teils aus freiwilligen Gaben von 
Privaten, ferner aus den Beiträgen der Mitglieder und den Verpflegungsgeldern 
der Pensionäre. Man unterscheidet drei Arten von Mitgliedern: 1. gewöhbn- 
liche, die sich für 3 Jahre zur Zahlung von jährlich 5 Lire verpflichten, 
2. wohlverdiente, die 50 Lire stiften, und 3. Gründer, welchen Titel die- 
jenigen erhalten, die als „wohlverdiente“ noch vor Ende des Jahres 1900 50 Lire 
zeichnen, sowie diejenigen, die sich für 3 Jahre zu einem jährlichen Beitrage 
von 100 Lire verpflichten. 

Für die Verwaltung und den Betrieb sorgt ein Verwaltungs- und ein 
Aufsichtsrat. Ersterer setzt sich ausser dem Vorsitzenden aus 8 Mitgliedern 
zusammen: 2 Mitgliedern des Stadtrates von Turin, einem Regierungsrate der 
Provinzialbehörde, einem Mitgliede der städtischen Sparkasse und 5 von der 
Generalversammlung der Mitglieder gewählten Personen. Der Aufsichtsrat be- 
steht aus 3 Ärzten und 2 Lehrern; einer der Ärzte wird von der Stadtverwaltung, 
einer von der Provinzialbehörde, einer vom Verwaltungsrate ernannt; die zwei 
übrigen Mitglieder werden aus den reiferen (provetti) Lehrern und den Direktoren 
der städtischen Schulen durch den Gemeinderat gewählt. Der Aufsichtsrat wacht 
über den didaktischen und hygienischen Fortschritt der Anstalt und hat dem 
Verwaltungsrate geeignete Vorschläge zu unterbreiten. 

Über den Bestand und bisherigen Erfolg der jungen Anstalt berichtet 
Fräulein Faggiani brieflich noch, dass der Zöglinge noch nicht viele seien 
(ihre Zahl ist nicht angegeben), aber umso zahlreicher die Aufnabmegesuche, 
da die Provinz (Piemont) diejenige in Italien sei, die die zahlreichsten solcher 
Unglücklichen aufweise. Trotz der kurzen Zeit von 4 Monaten seien aber die 
Erfolge immerhin schon bemerkenswert und in jedem Falle so, dass sie das 
beste Vertrauen für die Zukunft einflössten. Ganz auffällig sei die Besserung 
bei einem siebenjährigen höchst nervösen und aufgeregten Knaben, der alles 
zerrissen habe und kein Geräusch und keinen Ton habe erhören können, aber 
nach 4 Wochen von jener Unart geheilt sei und ruhig Gesang etc. anhöre, und 
bei einem siebenjährigen völlig undeutlich sprechenden Mädchen, das nach 
3 Monaten sich jedermann sprachlich verständlich zu machen, sowie lesen und 
schreiben gelernt habe. Auch bei den erst kurze Zeit in die Anstalt auf- 
genommenen Kindern sei eine gewisse leichte Besserung eingetreten. 


Auch in Mailand hat sich nach einer an mich gelangten Anfrage des 
Herrn Dr. Carlo Bioggi, Presidente della Associazione Milanese pei deficienti, 


131 
vom 22. Juni 1900 ein Komitee zur Fürsorge für Schwachbefähigte gebildet. 
Aber auf meine umfänglicheren Gegenfragen bin ich leider ohne Antwort geblieben, 
und so kann ich nur aus der Fassung jener Anfrage vermuten, dass man es 
dort nicht bloss auf Gründung einer Anstalt für schwachsinnige Kinder, sondern 
auch auf Errichtung einer Anstalt zur Unterweisung für Lehrer über Erziehung 
und Unterricht schwachsinniger Kinder abgesehen habe. 


Über Errichtung weiterer Anstalten für schwachsinnige Kinder in anderen 
Städten Italiens fehlen mir alle sicheren Nachrichten. Dagegen fliessen mir die 
Quellen reichlicher über eine andere Anstalt, die unabhängig von der Lega 
nationale entstand und wohl die erste und einzige ihrer Art in Italien ist: die 
seit Anfang 1899 bestehende „Asylschule für arme schwachsinnige Kinder‘ 
in Rom. Ile Entstehung verdankt sie hauptsächlich den unausgesetzten Be- 
mühungen des schon erwähnten Psychiaters Dr. Sante de Sanctis, der — wie 
man mir von Rom aus schreibt — „ein wahrer Apostel für die Sache ist," — 
„dem genialen Autor des Buches über die Träume, dem vortrefflichen Redner, 
dem Menschen von- Herz, der mit einer über alles Lob erhabenen Entsaguug und 
Zähigkeit der neuen Anstalt eine so praktische und dabei ernst wissenschaftliche 
Richtung zu geben verstanden hat“ — wie Dr. Zibrio in dem erwähnten Artikel 
den Mann charakterisiert, der auch der Verfasser des mir vorliegenden Halbjahres- 
berichtes ist.*) Derselbe ist nicht müde geworden, durch Vorträge, die er ge- 
halten, und durch Abhandlungen, die er verfasst hat, für seine Idee zu wirken 
und in den besten Kreisen der Gesellschaft dafür zu werben. Den aus 13 Mit- 
gliedern bestehenden Vorstand der Anstalt bilden denn auch Mitglieder der an- 
gesehensten Familien, Grafen und Gräfinnen, darunter die Gattin des früheren 
Ministers Depretis. Das Anstaltspersonal setzt sich ausser dem Dr. Sante de 
Sanctis für den psychisch-anthropologischen und psychiatrischen Teil und einem 
Assistenten zusammen aus einem Arzte für die Sprachorgane und einem Lehrer 
für die Ausbildung derselben, einer Lehrerin für Ausbildung der Sinne, der Be- 
wegung und des Elementarunterrichtes nebst einer Gehilfin, ferner aus zwei 
Wärterinnen, einer Vorsteberin und zwei Ärzten (Consulenti ordinari), die ge- 
legentlich Hilfe leisten. 

Über die Gründung der Asylschule berichtet Prof. de Sanctis in dem an- 
geführten Aufsatze der Vita nuova folgendes: „Es ist gewissermassen ein Mittel- 
ding zwischen Anstalt und Schule, — eine Erziehungsanstalt im weitesten 
Sinne des Wortes. Die Vorbereitung war sehr langdauernd und schwierig. In 
der That schien schon seit 1895 die Verwirklichung eines Projektes wichtig, das 
zwischen mir, Fräulein G. Le Maire und dem Professor G. Sergi besprochen 
wurde, nämlich die Gründung eines kleinen Versorgungs- und Erziehungshauses 
für arme schwachsinnige Kinder. Dann aber fehlte uns die erhoffte Beihilfe, 





*) Sein vollständiger Titel lautet: Sante de Sanctis, la cura e la educazione dej 
fanciulli deficienti col sistema degli educatorii. Prima relazione (semestrale) sull’ Asilo-Scuola 
per fanciulli deficienti di povera condizione, via Tasso 24 — Roma. (Roma, Tipografia 
economica 1899.) 


132 


und das Projekt scheiterte. Unterdessen beschäftigten sich der Dr. Egidi und 
der Taubstummenlehrer Professor Dr. Bianchi unabhängig von uns mit der 
Gründung eines Schwachsinnigeninstitutes in Rom, und 1897 oder Anfang 98 
waren sie so weit, es in Verbindung mit Professor Gonnelli-Cioni in Vercurago 
zu eröffnen. Nachdem ich inzwischen 1897 mein Projekt von vor zwei Jahren 
wieder aufgenommen hatte, wurde es nicht wieder losgelassen, bis sich auf die 
Anregung einer vornehmen Dame im April 1898 ein (Damen-) Komitee bildete, 
das sehr rasch Sympathien fand, Geld zusammenbrachte und (Mai bis Juni 1898) 
beschloss, rasch etwas Praktisches für diese armen Kinder zu thun, die wegen 
der Stumpfheit ihres Geistes auf keine andere Art Hilfe und Erziehung finden 
konnten. Mein kleines Projekt einer Asylschule oder Erziehungsanstalt konnte 
jedoch im Sommer 1898 noch nicht verwirklicht werden, obwobl es der Wunsch 
von mir, vom Dr. Egidi und Dr. Bianchi gewesen wäre, die sich mit mir zu 
gemeinsamem Vorgeben vereinigt hatten. Im November aber wurden die letzten 
Hindernisse überwunden und am 15. Januar 1899 wurde die Asylschule unter 
dem einstimmigen Beifalle aller Guten eröffnet.“ 

Der erwähnte Halbjahresbericht über die Schule, der nach mehr als einer 
Seite hin auch für uns beherzigenswerte Gesichtspuukte darbietet, beginnt mit 
folgenden Worten: 

„Neue Einrichtungen müssen sich, damit sie in gerechter und vernünftiger 
Weise, d. h. in Rücksicht auf ihren Nutzen für die Einzelnen und die Gesamt- 
heit beurteilt werden, dem gebildeten Publikum soweit möglich bekannt machen. 
Es ist nicht wahr, dass jemand, der sich Einrichtungen privater Wohlthätigkeit 
widmet, nicht moralisch genötigt sei, über seine Arbeit Rechenschaft abzulegen. 
Über alle und über alles muss das Urteil der Menschen ergehen, die die Not 
der gegenwärtigen Zeit fühlen. Und das ist heilsam für diejenigen Anstalten, 
die, wenn sie als nützlich anerkannt sind, geradezu ihren notwendigen Lebens- 
unterhalt aus den materiellen und moralischen Unterstützungen jener ziehen, die 
die Sache kennen, und die, weil sie Kenner sind, mit Liebe und Bewusstsein 
beobachten und urteilen.“ 

Die Wahrheit dieser Worte haben wir in Leipzig zu erfahren reiche Gelegen- 
heit gehabt. Wenn auch unsere Schwachsinnigenschule nicht auf privater Wohl- 
thätigkeit beruhte, sondern eine städtische Anstalt war, so hat sich doch, so- 
lange wir in der Stille wirkten, ohne nach aussen hin etwas verlauten zu lassen, 
keine Seele aus der Bürgerschaft um sie gekümmert, und es konnte geschehen, 
dass noch im Jahre 1889 ein Leipziger Lokalblatt in einem einer Braun- 
schweigischen Zeitung entlehnten Berichte über die dortige Hilfsschule diese 
Einrichtung als etwas ganz eigenartiges und neues rühmte und zur Nachahmung 
empfahl, während duch die gleiche Einrichtung bereits 8 Jahre lang in unmittel- 
barer Nähe bestand und das Leipziger Adressbuch seit 1882 alljährlich wenigstens 
von ihrem Dasein Kunde gab. Erst als wir uns seit 1893 zur Veröffentlichung 
und Verteiluug besonderer Berichte entschlossen, gewannen wir, was wir so not- 
wendig für unsere armen, bedürftigen Kinder brauchten: teilnehmende und mild- 
thätige Herzen. 


133 


Der vorliegende Bericht zerfällt in vier Abschnitte: die Erziehungs- 
anstalt, die wissenschaftliche Organisation, die erzieherische Organi- 
sation und die ersten Ergebnisse. 

Die Erziehungsanstalt. Gegenüber den bisher üblichen zwei Arten der 
Hilfeleistung für idiotische Kinder verschiedener Grade: der Anstalt, die durch 
das Irrenhaus vertreten war, und der Spezialschule wollte man eine dritte 
Art verwirklichen, die Erziehungsanstalt. „Ich glaube — im grossen und 
ganzen —'’ schreibt der Verfasser, „nicht an den Nutzen der einfachen Sonder- 
schulen (Spezial- oder Nebenklassen, Hilfsklassen und dgl.). Für Schwachsinnige 
bedarf es physischer und moralischer Erziehung, aber nicht blossen Unterrichtes. 
Andererseits, welcher Art die Schule auch sei, sie kann nicht erziehend sein, 
wenn sie sich nicht soviel als möglich der Familie nähert.“ Die Anstalten für 
Geisteskranke aber, so nützlich sie bei guter Organisation und Leitung auch 
sind, müssten für eine besondere Art der Idioten aufgespart werden: für die 
schwersten und die gefährlichen. „Warum der Familie alle in der geistigen 
Entwickelung zurückgebliebenen oder nervösen Kinder entziehen, um sie in einer 
Anstalt einzuschliessen, wenn sie nicht schwer krank oder gefährlich sind? Ich 
verstehe es, es ist vielleicht zu Ehren der alten Tradition vom Internate: aber 
das Internat als Erziehungsmittel ist absolut zu verdammen. Nur allzusehr gilt, 
dass es mehr bequem für die Eltern als nützlich für die Kinder ist. Nur solche 
Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Familie bleiben können, 
sollten in ein Internat gegeben werden. Daher darf das Internat nur ein Aus- 
bilfsmittel (rimedio), eine „Medizin“ sein. So denkt der grösste Teil der modernen 
Pädagogen .... Aber nehmen wir einmal an, dass die geschlossene Anstalt 
die beste Art der Hilfeleistung für schwachsinnige Kinder wäre: wie will man 
so viele Anstalten gründen, dass sie die Zahl dieser Unglücklichen fassen können? 
Nur in Rom giebt es wenigstens 1000 arme schwachsinnige Kinder; dazu 
würden 10 Anstalten erforderlich sein! Daher kann nur die Erziehungsanstalt 
(Educatorio) das Problem ernsthaft lösen, sei es vom erzieherischen, sei e3 vom 
ökonomischen Standpunkte — das ist unsere Überzeugung.“ 

Nachdem der Verfasser im folgenden sowohl der Zustimmungen als der 
Förderungen des Planes einer „Asylschule nach Art einer Erziehungsanstalt“ 
gedacht und bemerkt hat, dass sich dieses System auch auf die Fürsorge für 
jugendliche Hysterische, Epileptische und solche mit (ungefährlichen) Formen 
von Geistesstörungen Behaftete ausdehnen lassen dürfte, wobei er noch auf die 
Irrenanstalten in Kolonienform hinweist, wie solche in Altscherbitz bei Schkeuditz 
(und — fügen wir für Sachsef hinzu: in Zschadrass bei Kolditz und Untergöltzsch 
bei Auerbach i. V.) bestehen, — kommt er auf die Asylschule selbst zurück und 
bekennt, dass sich die theoretische Überzeugung von ihrer Nützlichkeit nach 
halbjähriger Erfahrung bestätigt habe. Als eines besonderen Übelstandes gedenkt 
er der häufigen ungerechtfertigten und absichtlichen Schulversäumnisse ein- 
zelner Schüler, wodurch der intellektuelle und moralische Nutzen der Anstalt 
für diese Geistesschwachen verzögert werde. Die Ursache liege nicht so sehr 
bei den Kindern, als in der Nachlässigkeit der Eltern, ihre Kinder in die Asyl- 


134 


schule za hegleiten, da es ihnen nicht passe, „zweimal täglich sich diese Mühe 
zu machen“, odez „daran zu denken“, oder „bei schlechtem Wetter für den Jungen 
herumzulaufen“, wie die gewöhnlichen Redensarten lauteten. Solche Väter hätten 
in Wirklichkeit nur den eigen Wunsch, ihre Kinder los zu werden. Einer habe 
flebentlich gebeten, ihn „von der Last seines Sohnes“ zu befreien, ein anderer 
frech verlangt, dass man seinen Sohr „eiusperre“, zwei andere hätten alles mög- 
liche versucht, ihre armen Kleinen ins Kozrektionshaus zu bringen. Der unaus- 
gesetzte Kampf mit solcher moralischen Gefükllasigkeit und Herzensverhärtung 
durch eindringliche Vorstellungen und durch möglichste Erleichterung der elter- 
lichen Pflichten habe es dahin gebracht, dass nur noch ein Zögling ungerecht- 
fertigt fehle So hoffe man mit der Zeit zu siegen, und das werde der Sieg 
der Erziehungsanstalt sein, dass sie beweise, sie erziehe zu gleicher Zeit sowohl 
die Kinder wie die Eltern. 

Seit ihrer Eröffnung hat die Asylschule zahlreiche Verbesserungen erfahren, 
die sich teils auf die wissenschaftliche, teils auf die erzieherische Organi- 
sation beziehen. 

Die wissenschaftliche Organisation umfasst fünf Verrichtungen, die vor- 
nelmlich der Anstaltsarzt überwacht. | 

1. Die Photographie jedes neu aufgenommenen Zöglings, die in 
zwei Stellungen, von vorn und von der Seite ausgeführt wird und den Zweck 
hat, „nicht nur die anthropologische Beschreibung zu veranschaulichen, sondern 
auch die Gesichtszüge festzuhalten, so dass in einer späteren Photographie, die 
beim Austritte des Zöglings aufzunehmen ist, die physiognomischen Unterschiede 
festgestellt werden können, die durch die Erziehung und die Fürsorge hervor- 
gebracht worden sind.“ Namentlich treten durch solche zeitweilige Aufnahmen 
die überraschenden Einflüsse auf die Veränderungen in der Physiognomie zutage, 
die gewisse Spezialkuren auf Idioten äussern, welche an Gesichtszuckungen leiden etc. 

2. Die Zusammenstellung des Personalbogens (Carta biografica), 
die wegen des sehr detaillierten Formulars eine ziemlich schwierige Aufgabe ist. 
Es handelt sich hier darum, eine vollständige Untersuchung der familiären und 
persönlichen Antezedentien jedes Zöglings zu veranstalten und diesen vom anthro- 
pologischen, physiologischen, neurologischen und psychologischen Standpunkte 
aus zu studieren. Die Hauptthatsachen, die an ihm gefunden worden sind, 
werden zusammengefasst, und mit einem diagnostischen Entwurfe schliesst der 
Personalbogen ab. 

Ein notwendiges Bedürfnis hierzu war ein psychisch - anthropologisches 
Kabinet, das alle die Hilfsmittel darbot, die für eine Prüfung, wie sie die moderne 
Wissenschaft fordert, notwendig sind. Ausser der Brückenwage kommen in An- 
wendung Instrumente zum Messen der Körperlänge im Stehen und Sitzen, der 
Schulterhöbe und Spannweite, des Brustumfanges, der Proportionen der einzelnen 
Gesichtsteile; Zirkel für Dickenmessungen, desgl. zur Feststellung der Raum- 
schwelle an verschiedenen Teilen der äusseren Haut; ein Stangenzirkel (womit 
bei uns Wagner seine Ermüdungsmessungen vornahm); Vorrichtungen zur 
Untersuchung etwaiger Einengungen des Sehfeldes und zur Prüfung der Farben- 


135 


tüchtigkeit der Netzhaut in ihren Seitenteilen; farbige Tafeln zur Konstatierung 
der Farbenblindheit, sowie farbige Wollstreifen; Flüssigkeiten zur Prüfung des 
Geschmackes; ein Kraftmesser; ein elektrischer Signalapparat (Chronoskop) zum 
Messen kleinster Zeitteile; ein Instrument zu psychophysischen Messungen inner- 
halb des Geruchsinnes; ein anderes zur Ermittelung der Druck- und Schmerz- 
punkte nach dem Grade ihrer Sensibilität etc., sowie noch all das kleinere Material, 
das erforderlich ist, um die gewöhnlichsten Äusserungen der Aufmerksamkeit, 
des Gesichts-, Gehörs- und Muskelgedächtnisses, der Assoziation von Vor- 
stellungen u. dgl. aufzunehmen.*) 

3. Die Angaben nervenpsychologischer und medizinischer Art. 
„Wer die Personalbogen anfertigt, bekommt ohne Zweifel eine. klare Einsicht 
nicht nur in den geistigen Zustand, in die Neigungen und den Charakter des 
Zöglings, sondern auch über Krankheiten (im Mutterleibe oder in der Kindheit) 
oder biologische Unregelmässigkeiten, die seinen geistigen Zustand verursacht 
haben oder noch begleiten. Daber würde niemand besser als der Arzt dem Er- 
zieher und Lehrer die allgemeine erzieherische Richtung für jeden Zögling und 
die etwa notwendige Fürsorge (physische oder chemische) angeben können. 


*) Nach dem Berichte über das Erziehungswesen in den Vereinigten Staaten 
auf das Jahr 1897/98 (Report of the Commissioner of education ete. Washington 1899) 
sind ähnliche Untersuchungen wie die hier angedeuteten in Washington an 1074 Schul- 
kindern vorgenommen worden. Im 21. Kapitel, S. 985 — 1204 des genannten Werkes erstattet 
der Spezialist des Erziehungsbureaus, Artur Mac Donald, einen eingehenden, überaus 
interessanten Bericht darüber. Der Grundgedanke dabei war, dass beim Studium des modernen 
zivilisierten Normalmenschen der wichtigste Teil das Studium der Kinder sei. Physische 
Messungen seien deswegen wichtig, weil sie als Zeugen der Art und Weise der Körperpflege 
betrachtet werden könnten. Ebenso wie die Schüler periodisch auf geistiges Wachstum und 
Vervollkommnung hin geprüft wtirden, sei es für ihre Wohlfahrt notwendig, dass auch ihre 
physische Beschaffenheit und Entwickelung festgestellt und so ein Einblick in den Fortschritt 
sowohl in körperlicher als in geistiger Beziehung gewonnen werde. Ein fester Maßstab aber 
für die physische Entwickelung sei nur durch Messung einer grossen Zahl von Schul- 
kindern jedes Alters zu gewinnen. — Die Untersuchungen selbst erstreckten sich zunächst 
auf die Kopfbildung und die Empfindlichkeit der Haut gegen Wärme und Eindrücke unter 
Berücksichtung des Geschlechtes, der geistigen Fähigkeit und sozialer Bedingungen; ferner 
auf Körpermessungen etc., auf die geistigen Fähigkeiten in den verschiedenen Lehrfächern und 
endlich auf die anormalen Kinder, die mit auffallenden Mängeln im Sehen, Hören, Sprechen 
oder mit Krämpfen behaftet, kränklich, nervös, träge, unlenksam etc. sind. Schliesslich werden 
auf grund der gleichartigen Ergebnisse sowohl in physischer als psychischer Hinsicht noch 
eine Reihe allgemeiner Schlussfolgerungen gezogen, die zwar sehr interessant sind, aber wegen 
der Beschränkung der Untersuchung auf eine einzige Stadt und auf eine immerhin nicht grosse 
Kinderzahl noch keinen Anspruch auf allgemeine Giltigkeit erheben dürften. — Beigegeben 
sind dem Berichte noch zahlreiche Abbildungen der benutzten Instrumente, zum Teil in ihrer 
Anwendungsweise: Apparate zu Körpermessungen der verschiedensten Art, einschliesslich des 
Körpergewichtes, zum Messen der Wärmeempfindung, der Druckkraft der Hand, der Lippen, 
der Zunge, der Unterschiede der Stärke der Muskeln und der Dauer und Veränderungen ihrer 
Bewegung, der Erhebung und Senkung der Brust und des Bauches bei verschiedenen Zuständen, 
wie Aufmerksamkeit, Erregung etc., der unbewussten Bewegungen der Finger oder der Hand 
(Zittern), zum Aufzeichnen der Lippenbewegungen beim Aussprechen der Laute, desgleichen 
der Bewegungen des Gaumens und Kehlkopfes beim Sprechen, zum Messen des Pulses und 
der Herzthätigkeit, zur Beobachtung der Klangerscheinungen im Körper etc. 





136 





Von dieser Art ist der Bereich des Arztes gegenüber dem des Pädagogen. Kein 
Zwiespalt kann zwischen ihnen entstehen, wenn sie beide von dem reinen Gefühle 
fürs Gute und von Begeisterung für die Kunst beseelt sind. Der Nervenarzt 
redissiert den Personalbogen und giebt die allgemeine erzieherische Linie an, die 
für jeden Zögling zu befolgen ist; der Pädagog liest den Bogen und die psycho- 
logische Vorschrift und lernt so den Zögling vorläufig kennen, darnach hat er 
für jeden individuell die besten Erziehungsmittel auszuwählen und anzuwenden, 
die er allein (nicht der Arzt) kennen kann und muss.“ Nebenbei wird noch 
bemerkt, dass man ein Buch führt für nervenpsychologische Vorschriften und 
ein Rezeptbuch für die entsprechenden Arzneimittel (Kuren gegen Syphilis, Blut- 
armut, Nervenschwäche etc.). 

4. Die Diagnose und Klassifikation der Zöglinge. Die Klassifikation 
der Geistesschwachen bezeichnet der Verfasser mit Recht als sehr schwierig 
unter den Ärzten. Die von ihm einmal vom sozialen Standpunkte aus vorge- 
schlagene einfache Einteilung in ungefährliche und gefährliche Nicht- 
bildungsfähige und in ungefährliche und gefährliche Bildungsfähige 
betrachtet er als ungenügend für den Arzt. Nachdem er die von mehreren 
Psychiatern von verschiedenen Gesichtspunkten aus aufgestellten Unterschiede, 
darunter auch die von den meisten, sich mit Recht auf die Schwere des intellek- 
tuellen Defektes stützenden Psyehiatern angenommene Einteilung in Idioten 
(die schwersten), in Schwache (Imbecilli) und in einfach Mangelhafte oder 
Langsame erwähnt hat, bemerkt er, man habe für jetzt in der Asylschule 
folgende Einteilung angenommen: 


Schwache hohen Grades — Imbezilli”, 
5 mittleren Grades —= Imbezilli”, 
À leichten Grades = Imbezilli’, 

Mangelhafte = Deficienti, 

Langsame — Tardivi. 


Dabei aber trage man Sorge, in jedem Falle noch weitere Spezifikationen zuzu- 
fügen, z. B. moralische Schwäche oder Mangelhaftigkeit, Epilepsie, Kinderkrankheit, 
Nachwirkung von Gehirnschlag, Schwachheit von der Geburt her etc., je nach 
der Art der Fälle. 

5. Die Konstatierung der fortschreitenden Besserung des Zöglings 
vom Standpunkte des physischen Befindens, des Verstandes und der 
sittlichen Fübrung. Für jeden Zögling führt der Arzt eine Art Tagebuch; 
so vervollkommnet er die Kenntnis eines jeden, stellt die Wirkungen der eigenen 
Vorschriften fest, kann die ersten Urteile korrigieren oder ergänzen und sich bei 
späteren Anordnungen darnach richten. Ausserdem werden noch drei andere 
Bücher mit täglichen Berichten geführt: eins von der Lehrerin, eins vom Sprach- 
lehrer und eins von den Krankenwärterinnen. „Diese 4 Bücher erzählen fast 
Tag für Tag die Geschichte jedes Einzelnen, so dass es genügt einen Auszug 
zu machen, um sich sofort von dem intellektuellen und moralischen Fortschritte 
eines einzelnen Zöglings Rechenschaft zu geben.“ (Schluss i. nächster Nr.) 


1 


Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- 


sinnige: J. Landenberger. 
Von Dr. Kölle- Regensberg. 
(Fortsetzung.) 

Besonders beherzigenswert ist, was Landenberger über die Entwicklung 
der Intelligenz sagt. Er geht nicht mit den bekannten Phrasen darüber 
hinweg, die man leider immer wieder in so vielen Aufsätzen und Abhandlungen 
über Schwachsinnige findet, in denen man zum Überdruss oft hören muss, man 
müsse anschaulich unterrichten, zum Begriffsvermögen der Kinder herabsteigen, 
individualisieren ete. Ja, wer dies liest, was kann er damit anfangen? Sind 
ihm nicht Steine für Brot gegeben worden? Freilich, Mephistopheles behält 
ewig recht: 

„Nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen; 

Denn eben, wo Begriffe fehlen, 

Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ 
Landenberger ist stets bemüht, der Sache auf den Grund zu kommen. Im 
17. Bericht äussert er sich: 

„Wenn man mit einer Reihe von Zöglingen, wie sie in Anstalten für schwach- 
sinnige Kinder sich häufig zusammenfinden, etwas eingehender sich bekannt macht, so 
findet man, dass die Schwäche derselben sich keineswegs auf alle Gaben und Gebiete 
der Seele erstreckt, sondern dass manches tiefstehende Kind sich vielleicht nach der 
einen oder andern Richtung hin wirklich auszeichnet. Ein 6jähriges, lieblich 
aussehendes, unheilbar blödsinniges Mädchen unserer Anstalt, das fast kein Wort ver- 
steht und nie eines wird sprechen lernen, singt dessen ungeachtet Melodien leicht und 
schnell nach. Jener alberne Jüngling, der schon in einer kurzen Unterhaltung seinen 
Mangel an Vernunft kund giebt, hat dennoch einen Wortsinn und einen Zahlensinn, 
der über das mittlere Maass, wie es geistesgesunde Menschen gewöhnlich haben, hinaus- 
geht. Und jener Knabe, dessen Intelligenz noch auf einer ganz tiefen Stufe steht 
dessen Seelenleben noch fast ein träumendes genannt werden muss, der die kürzeste 
und leichteste Kindergeschichte noch nicht fasst, setzt uns durch seinen Wortsinn, der 
ihm das Erlernen unserer ihm fremden Sprache leicht gemacht hat, in Erstaunen; auch 
sind Form- und Ordnungssinn gehörig entwickelt. Was aber allen diesen Zöglingen 
gemeinsam ist, das ist bei aller Kräftigkeit der niedern Erkenntnisse die schwierige, 
langsame und schwache Bethätigung des eigentlichen Denkvermögens. Der noch an 
organische Grundlage gefesselte Vorgang des Vorstellens vollzieht sich langsam und 
unkräftig; den einzelnen Vorstellungen fehlt es an Bestimmtheit, Leben, Farbe, Be- 
weglichkeit, so dass die innere Vorstellungswelt des Blöden einer Wüste gleicht, deren 
Einförmigkeit nur von einzelnen vorüberziehenden nebelhaften Gestalten sparsam unter- 
brochen ist, und wo nur wenige zur leiblichen Existenz in Beziehung stehende Vor- 
stellungen kräftig herrschend im Vordergrund stehen. Der Grund liegt in der Schwäche 
des Gehirns. Entweder ist das Gehirn im Zustande der Depression, so dass alle 
Funktionen desselben träge und unvollkommen, die höheren gar nicht von statten 
gehen (apathischer Blödsinn, etwa erinnernd an den Hirmzustand der Schläfrigkeit); 
oder sind krankhafte Reize und Erregungszustände vorhanden, welche der Seele ganz 


138 

ohne alle ihre willkürliche Beteiligung einen beschränkten Kreis und Wirbel von 
Bildern und Vorstellungen aufdrängen (eretischer Blödsinn, ähnlich der Erregtheit 
eines beginnenden Rausches). Ist aber das Gehirn, als das Organ der Seele, derart 
krank, so begreift sich leicht die Schwäche und Unfähigkeit der Seele selbst, welche 
ja die Wurzeln ihrer Entwicklung im Gehirn hat und nun ihrem Beruf nicht nach- 
kommen kann. Ihr Beruf aber besteht darin, sich nicht dem Spiel der Vorstellungen 
willenlos zu überlassen (zu träumen), sondern dieselben zu vernünftigem Lebenszwecke 
zu beherrschen. Dies thut sie, indem sie die Vorstellungen sich vorstellen lässt, 
ungehörige abweist, andere herbei ruft, sie in Beziehung zu einander setzt, vergleicht, 
unterscheidet, neue Vorstellungen, Begriffe, Urteile, Schlüsse daraus bildet, kurz — 
indem sie denkt. Da nun der Schwachsinnige gerade hierin seine Schwäche hat, so 
ergiebt sich auch klar die Aufgabe, die man ihm gegenüber hat: man muss ihn 
denken lehren. 

Bei ihm darf man nicht erwarten, die zufälligen Einwirkungen des um- 
gebonden Natur- und Menschenlebens werden ohne Schulunterricht die schwachen 
Kräfte stärken. Dies ist beim geistig gesunden Kinde der Fall, das ja auch ohne 
Schule zum Verstand kommt, wie man es an vielen Völkern sieht, bei denen noch 
keine Schulen eingerichtet sind. Ebenso täuscht die weitverbreitete Erwartung, mit 
irgend einer leiblichen Entwicklungsperiode werde auch der Verstand von selbst kommen. 
Es darf der Lehrer aber anch nicht erwarten, es genüge die Einübung der sogenannten 
Schulfertigkeiten, des Lesens, Schönschreibens und Rechtschreibens, des Ziffern- und 
Kopfrechnens, des Singens, und die Einprägung einer gewissen Monge von religiösen 
Memorierstoff, biblischen Geschichten und Realstoff. Allerdings wird auch bei mechanischem 
Betrieb der Schulfertigkeiten immerhin die Denkkraft in etwas in Anspruch genommen 
und es erwirbt der junge Mensch in den Schulfertigkeiten ein Mittel, das ihm die 
Weiterbildung möglich, wenn auch nicht zum innern Bedürfnis macht, und für sein 
Gedächtnis einen Schatz, der vielleicht nicht immer tot bleibt, und schliesslich kommt 
das geistig gesunde Kind wie ohne Schule, so auch trotz schlechter Schule und geist- 
losen Unterrichts doch zum Gebrauche des Verstandes, freilich oft in sehr bescheidenem 
Masse, leidlich ausreichend zum niedern Lebensbetrieb, aber nicht genügend zur Dar- 
stellung eines gottes- und menschenwürdigen Lebens, so dass auf gar viele unserer 
Mitmenschen der Spruch des Dichters volle Anwendung findet: 

„O Mensch, unselig Mittelding vom Engel und vom Vieh! 

Wohl hast du die Vernunft, doch du gebrauchst sie nie!“ 
Beim Schwachsinnigen dürfen wir übrigens auch auf solche geringe Erfolge nicht 
hoffen, da sein ganzer Zustand dringend ein mit Rücksicht auf seine eigentümliche 
Geistesorganisation berechnetes methodisches Lehrverfahren erfordert. 

Wenn auch hier als oberster Grundsatz festzustellen ist, dass der Lehrer eben 
bei allem, was er mit dem Kinde treibt, dessen selbstthätiges Geistesbewegen in An- 
spruch nehme, dass er es nötige anzuschauen, zu vergleichen, aufzumerken, wieder- 
zugeben, darzustellen u. s. w., so ist doch nicht minder wichtig die Frage nach dem 
Bildungs- und Übungsstoff. 

Gott hat dem Menschen zur Entwicklung seines Geistes einerseits die ihn um- 
gebende Natur mit ihren unzähligen Gestalten, Wandlungen, Wesen und Kräften 


139 
angewiesen, andererseits ihm seine Geisteswelt eröffnet, von welcher aus die Welt der 
Sichtbarkeit getragen wird, und in welcher der Mensch selbst Stellung, Bestimmung 
und Ziel finden soll. 

Aus diesem unendlichen Material findet sich gerade in dem, was jeder Mensch 
und Christ wissen soll, auch die Kinderspeise, die Milch, welche den blöden Geist 
des Schwachsinnigen nähren und kräftigen soll. 

Es ist zunächst der Anschauungsunterricht, der zur eigentlichen Natur- 
kunde fortschreiten und die Geschichte, vor allem dio heilige Geschichte, welche dem 
Schwachsinnigen den Übungs- und Bildungsstoff für seine Intelligenz, das Material für 
sein Erkennen and Denken geben soll. Ein Zweig des Anschauungsunterrichtes, der 
Formunterricht, ist wie berechnet für die eigentümliche Schwäche des Blöden, für 
sein mangelhaftes Anschauen und Auffassen. Das Reich der Formen, das mit seiner 
strengen Gesetzmässigkeit von jeher den menschlichen Geist beschäftigte und übte, 
liefert auch für den Blöden einen Stoff, der einen allmählichen lückenlosen Fortschritt 
vom Leichtesten bis zum Schweren ermöglicht, wie kein anderes Unterrichtsfach, was 
allein schon dem Formunterricht die ihm gebührende selbständige Stellung im Unter- 
richt der Blöden erringen wird. 

Wir behandeln den Formuuterricht oder den geometrischen Anschaunngsunterricht 
in zwei Kursen, denen sich als drittor Kursus die eigentliche Geometrie anreiht. Wir 
betrachten in beiden Kursen mit den Schülern Punkte, Linien, Verbindung von Linien, 
Winkel, geschlossene Figuren, Flächen und Körper — im zweiten Kursus nur ein- 
gehender und vollständiger als im ersten. 

Überall handelt es sich darum, dass der Schüler zunächst bestimmt anschaue, 
sodann sich über das Angeschaute genügend ausdrücke, endlich es entsprechend mit 
dem Griffel u. s. w. darstelle. Beim Geometrieunterricht, zu dem der Schüler befähigt 
ist, wenn er die beiden Kurse des Formunterrichts mit Erfolg durchlaufen hat, muss 
vor allem die heuristische Methode angewendet werden: der Schüler muss unter der 
Leitung des Lehrers möglichst alles selbst finden. 

Dem Zweifler, ob für ein solch rein formelles Fach nicht lieber ein anderes zu 
finden sei, das Formelles und Materielles verbände, möchte ich, indem ich versichere, 
dass wir das eine thun und das andere nicht lassen, mit folgendem Bild antworten: 
zur Entwicklung und Übung der Körperkräfte ist allerdings Arbeit und vielseitige 
Bewegung das Mittel. Allein, wenn die Kräfte zu tief stehen, wenn lähmungsartige 
Schwäche da ist, ist die Arbeit teils nicht möglich, teils hat sie nicht den erwünschten 
Erfolg, erschöpft wohl gar, statt zu kräftigen. Hier greift nun der Arzt zu Heil- 
bewegungen, die er physiologisch ermittelt und dem Falle anpasst, reizt und übt durch 
Widerstand die schwachen Kräfte (schwedische Heilgymnastik) und erlangt bisweilen 
in verzweifelten Fällen noch unerwartet günstige Erfolge. Ähnlich ist der Form- 
unterricht eine eigentliche Heilsymnastik für die blöde, zerfahrene, träumende und 
träge Seele, ein wahres Gegengift für ihre Schwächen, für gewisse Fälle geradezu 
unentbehrlich, in allen Fällen so ausgezeichnet hilfreich, dass keiner, der einmal eine 
ernste Probe gemacht hat, ihn wieder wird missen wollen. 

Der Zeichenunterricht, den wir schon in der Versuchs- und Vorschule ernst- 
haft treiben, ermangelt keineswegs der Beziehung zur Eutwicklung der Intelligenz; 


140 
er ist ein unschätzbares Mittel, das träge oder unrohige, plaulos bewegliche Kind zur 
Herrschaft über seinen Körper zu führen, seine Seele aus der Flüchtigkeit zu sammeln, 
seine geistige Kraft zn konzentrieren zur rubigen Thätigkeit und überdachten Arbeit, 
endlich Reinlichkeit und Genauigkeit zu erzwingen, Handgeschicklichkeit und Schönheits- 
sinn auszubilden. 

Die Zahl giebt gleichfalls Gelegenheit zur Übung des Verstandes. Indes ist 
vieles Rechnen (besonders auch das Kopfrechnen) oft mebr Übung des Zablsinnes als 
des Verstandes, was der Lehrer wohl zu unterscheiden bat. Der schwachsinnige Schüler 
mit gutem Zahlsinn macht, wenn sein Verstand noch wenig geübt ist, die Zahlen- 
operationen richtig, wendet sie aber unrichtig an, addiert z. B. wo er zu subtrahieren 
hat etc.; es muss deshalb neben der mechanischen Einübung der Zahlenreihen und 
Operationen das verständige Zählen und Rechnen mit besonderem Nachdrucke ge- 
übt werden. 

Über den Anschauungsunterricht, den wir in unsern Schulen in vier Kursen 
treiben, sei hier nur so viel bemerkt, dass dieser Unterricht keineswegs der langweilige 
und unfruchtbare ist, wie er schon in Volksschulen getrieben wurde, wo dem Kinde 
gesagt wird, was es schon längst weiss; vielmehr stellt dieser Unterricht auf jeder 
Stufe dem Kinde Aufgaben, welche seine Selbstthätigkeit in Anspruch nehmen, seine 
Denkkraft anregen, die Langeweile also ganz ausschliessen. 

Mit diesem Bildungsstoff ist der letzte und wirksamste Hebel noch nicht angesetzt, 
um die Seele des Schwachsinnigen aus ihrer Schwäche zu heben. Wie der Diamant 
nur durch seinen eigenen Staub geschliffen wird, so bildet sich der Mensch nur am 
Menschen, und Gott selbst nahm, um die Menschheit zu erlösen, menschliche Natur an. 
In der biblischen Geschichte haben wir den höchsten Bildungsstoff, der sich nicht ein- 
seitig an den Verstand wendet, sondern auf Verstand und Vernunft, Phantasie, Gemüt 
und Willen wirkt, den Menschen in seinem ganzen Wesen zu erfassen und umzubilden 
im stande ist.“ 

Im 27. Bericht vom Jahre 1873 äussert er sich über dasselbe Thema: 

„Es ist eine weise Einrichtung Gottes, dass sich die menschliche Intelligenz bei 
Kindern mit gesundem Gehirn mit einer gewissen Naturnotwendigkeit von selbst ent- 
wickelt, auch wenn weder von Eltern noch von Schulen darauf hingearbeitet wird; es 
genügt, dass die Kinder unter Menschen mit gesunder Geistesbeschaffenheit aufwachsen. 
Deshalb entwickelt sich der Verstand der Kinder auch bei solchen Völkerschaften, wo 
es noch keine Schulen giebt, entwickelt sich auch in andern Völkern trotz schlechter 
Schulen, in welchen dem starren Mechanismus gefröhnt wird, in solchen Fällen natürlich 
in sehr bescheidenem Masse. Diesen Vorteil der freiwilligen Entwicklung der Intelligenz, 
der den Volksschulen zu gute kommt, haben wir bei dem Schwachsinnigen nicht; denn 
ohne besonderen, seinem Bedürfnis angepassten Unterricht entwickelt sich seine Intelligenz 
nie so weit, dass er über die Stellung eines unselbständigen Pfleglings je sich erheben 
könnte. Es muss deshalb unsere Aufgabe sein, den Unterricht so einzurichten, dass 
der Verstand erwache und wachse. Dies ist freilich eine Binsenwahrheit; allein nach 
unserer nicht ganz beschränkten Erfahrung scheiut dieselbe selten genug anerkannt zu 
werden, oder scheint man nicht zu wissen, auf welchem Wege auch die blöde Seele 
zum Verstand zu bringen sei. Es kommen nicht nur Kinder zu uns, an denen 





141 i 


inbetreff ihrer Bildung noch nichts Nennenswertes geschehen ist, sondern es traten 
auch manche Schwachsinnige, namentlich aus bessern Häusern, bei uns ein, an denen 
weder Zeit noch Mühe gespart wurde, um sie durch Privatunterricht vorwärts zu bringen. 
Aber während noch wenig geschehen ist, um den schlummernden Geist zu wecken, hat 
man nun sich bemüht, dem schwachsinnigen Kinde die Fertigkeiten des Lesens und 
Schreibens beizubringen, ohne zu bedenken, dass das schwachsinnige Kind vielleicht 
zum Lesen gebracht werden kann, aber dann nicht so viel Licht hat, um das Gelesene 
zu verstehen; dass ferner der Schwachsinnige schreiben lernen kann, aber damit noch 
nicht befähigt ist, die eigenen Gedanken niederzuschreiben. Es ist also entschieden 
wichtiger, dass die Intelligenz des Schwachsinnigen geweckt und genährt werde, als dass 
ihm die Fertigkeit des Lesens und Schreibens beigebracht werde, und wenn es nichts 
wäre, als dass der gut unterrichtete Schwachsinnige sich verständigen und verständ- 
licher mitteilen, im Notfalle etwa über Misshandlung oder mangelhafte Pflege Klage 
führen könnte. Begreiflich aber darf die Absicht, den Verstand zu wecken, nicht bloss 
zum Anfang vorliegen, sondern sie muss immer verfolgt werden, nicht nur durch das 
ein und das andere Fach, sondern durch alle Fächer und die ganze Schulzeit hindurch 
soll auf den Geist gewirkt werden; ebenso darf nicht einseitig nur die intellektuelle 
Seite des Menschen in Angriff genommen, sondern der ganze Mensch, auch nach Gemüt, 
Phantasie und Willen soll vom Unterricht angeregt und gefördert werden.“ 

(Forts. i. nächster Nr.) 


Mitteilungen. 


Dresden. (Neustädter Schwachsinnigen-Schule). Für Ostern nächsten 
Jahres ist eine Erweiterung der hiesigen Schule der Neustadt dergestalt in Aussicht ge- 
nommen, dass sie um eine Klasse vermehrt und ein 2. Lehrer für sie angestellt werden soll. 

Sachsen. (Unterbringung Schwachsinniger in Erziehungsanstalten.) 
Eine Bezirksschulinspektion hatte die Unterbringung eines schwachsinnigen Knaben 
in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder verfügt und, da der Vater des Knaben 
hiergegen Widerspruch erhob, die Entschliessung des Vormundschaftsgerichts beantragt. 
Dieses hatte den Antrag abgelehnt und an Stelle der Unterbringung lediglich ver- 
ordnet, dass der Vater des Knaben diesem neben dem Schulunterrichte noch Nach- 
hilfeunterricht erteilen lasse. Hiergegen hat die Bezirksschulinspektion Beschwerde 
erhoben. Das zuständige Landgericht bat dieser Beschwerde stattgegeben mit folgender 
Begründuug: Der Knabe ist nach den ärztlichen Gutachten in ausgeprägtem Masse 
schwachsinnig. Die in der Volksschule mit ihm erzielten Resultate sind so dürftige 
und bleiben so sehr hinter demjenigen zurück, was auch bei geringer Begabung nach 
dem Alter des Knaben als Mindestleistung erwartet werden konnte, dass der Weiter- 
besuch der Volksschule voraussichtlich nutzlos sein wird und auclı der Versuch, das 
Kind durch Nachhilfestunden ausreichend zu fördern, keine Aussicht auf Erfolg bietet. 
Nach den wiederholten Gutachten der Ärzte und der Lehrer erscheint es, wenn das 
geistige Wohl des Knaben nicht gefährdet werden soll, als dringend notwendig, ihn 
in einer Anstalt unterzubriugen, in der durch Anwendung einer seinem Geisteszustand 
entsprechenden Erziehungsmethode für eine sachgemässe Ausbildung Gewähr geboten 


ist. Eine solche ist die Landeserziehungsanstalt Grosshennersdorf. Wenn demnach 
der Vater des Kindes die Unterbringung des Letzteren unterlässt und den darauf 
abzielendon behördlichen Massnahmen entgegentritt, so erscheint dies als eine Ver- 
nachlässigung seiner Erziebungspflicht. Der Umstand, dass er angeblich nicht in der 
Lage ist, den Aufwand für die Verpflegung des Kindes in der Anstalt zu bezahlen, 
befreit ihn nicht von diesem Vorwurfe, da im Falle seiner Mittellosigkeit der unter- 
stützuugspflichtige Armenverband für die Kosten aufzukommen hat. Diesen Aus- 
führungen hat sich auch das Königl. Oberlandesgericht allenthalben angeschlossen. 
(S. Schlztg.) 

Hamburg. (Die Alsterdorfer Anstalten) Auf dem Wege von Hamburg 
nach dem Zentralfriedhofe, mit dem Wagen der Ohlsdorfer Strassenbahn von Hamburg 
aus in etwa °/, Stunde zu erreichen, liegen die Alsterdorfer Anstalten. Sie bestehen 
aus dein St. Nicolai-Stift (gegründet zu Moorfleth 1850, verpflanzt nach Alsterdorf 
1860), dem Asyl für schwach- und blödsinnige Kinder (seit 1863), dem 
Kinderheim (seit 1871) und dem Pensionat für geistig Gebrechliche aus 
den höheren Ständen (seit 1382). — Diese aus einander hervorgewachsenen und 
mit einander eng verbundenen Stiftungen nahmen ihren Ausgang von der Arbeits- 
schule zu Moorfletb, die in dem dortigen Pfarrhaus am 16. April 1850 mit vier 
Zöglingen eröffnet wurde, und bilden jetzt eine Kolonie von 23 Haupt- und 16 Neben- 
Gebäuden, die eine Einwohnerschaft von 809 Insassen (am 1. Januar 1901) um- 
schliessen. — Die Bestimmung der Anstalten ist folgende: Die älteste, das 
St. Nicolai-Stift, ist für Kinder, die geistig und leiblich gesund sind. Solche 
Kinder, die in Gefahr der Verwahrlosung schweben, aber noch nicht verwahrlost sind, 
sollen hier eine christliche Bewalıranstalt finden. — Diesen Zöglingen stehen 
zunächst die geistig gesunden, die aber leiblich gebrechlich sind, für welche 
das Kinderheim eröffnet wurde. Hierher gehören die mit körperlichen Defekten Ver- 
sehenen, deren die gewöhnliche Volksschule sich nicht annehmen kann und die zur 
Kräftigung ihrer Gesundheit der erfrischenden Landluft bedürfen. — Die dritte 
Kategorie bilden die leiblich Gesunden, welche geistig gebrechlich sind. 
Sie und die vierte — die leiblich und geistig Gebrechlichen umfassend — 
sind die Idiotenanstalt (das Asyl für schwach- und blödsinnige Kinder); die den 
höheren Ständen angehörigen Zöglinge finden Aufnahme im Pensionat. — Die 
Summe aller Zöglinge und Kostgänger belief sich am 1. Januar 1901 auf 639. 
Für dieselben ist thätig ein aus 146 Angestellten bestehendes Personal. — Soweit 
nicht die Verwaltung und der ökonomische Betrieb es erheischt, haben diese An- 
gestellten es zu thun mit dem Unterricht, der Arbeit und der Pflege der Zöglinge. — 
Das Feld des Unterrichts ist die 8 Klassen umfassende Schule (mit 99 Schülern 
und Schülerinnen). — Die Arbeit, zu welcher die Arbeitsfähigen (227 ohne Schul- 
kinder) herangezogen werden, sind teils bäusliche Verrichtungen, teils Arbeiten in 
irgend einem ihrer Intelligenz entsprechenden Geschäft. Gelegenheit dazu findet sich 
für die weiblichen Zöglinge in der Garderobe, Nähstube, Wäscherei, Zentralküche; für 
die Schulkinder besteht ein besonderer Unterricht in weiblichen Handarbeiten. Die männ- 
lichen Zöglinge werden in den Werkstätten (Tischlerei, Malerei, Buchbinderei, Rohr- 
flechterei, Bürstenbinderei, Korbwmacherei, Mattenflechterei, Matratzen- und Pantoffel- 








143 


macherei, Schneiderei, Schuhmacherei, Maurerei) verwendet oder sind in der Gärtnerei 
nnd bei der Landwirtschaft beschäftigt. Die letztere, teils auf eignem Grundbesitz, 
etwa 23 Hektar, teils auf dem Ohlsdorfer Pachthof betrieben, bearbeitet ein Areal 
von 125 Hektaren, und hat einen Viehstand von 10 Pferden, 29 Kühen, 3 Stück 
Jungvieh, 1 Kalb, 2 Zugochsen, 2 Mastochsen und 47 Schweinen. — Welch einen 
Umfang die Pflege-Arbeit einnimmt ist daraus zu ermessen, dass unter den Zög- 
lingen 181 Epileptische, 13 mit Veitstanz Behaftete, 87 au Lähmungen und Kon- 
trakturen Leidende, 235 Bettnässer, 11 Taubstumme, 107 Sprachlose und 5 Blinde 
sind, und dass 63 gefüttert, 44 getragen, 168 an- und ausgekleidet werden müssen. 
— Für die geistige Auregung und Erfrischung des Personals sorgen Gottesdienste in 
der 1899 erbauten Kirche, populäre Vorträge unterhaltenden und belehrenden Inhalts, 
Gesangvereine, ein Bläserchor, woran sich als Mitwirkende oder Zuhörer auch die 
qualißicierten Zöglinge beteiligen. — Dies viel Menschenkraft erfordernde, schwierig 
zu bearbeitende Elendsfeld erheischt auch nicht geringe pekuniäre Mittel. Jährlich 
werden über Mk. 300 000 verausgabt. Was durch Kostgelder und durch Arbeits- 
leistungen der Anstalten uicht aufgebracht wird, trägt die freie Liebe zusammen. 
Der Staat gewährt den Anstalten keinerlei pekuniäre Hülfe. 

Mühlhausen i. Th, (Hilfsschule.) Seit dem 1. September v. J. besteht auch 
hier eine Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. Dieselbe wurde eröffnet mit 24 Kindern 
und zwar 17 Knaben und 7 Mädchen. Die Leitung derselben hat der derzeitige 
Rektor der Volksschule I Baltruweit und den Unterricht der Lehrer Burghardt über- 
nommen. Die wöchentliche Stundenzahl beträgt 26 und verteilt sich folgendermassen : 
Religion 3, Anschauungsunterricht 5, Schreiblesen 7, Rechnen 5, Singen 2, Knaben- 
handarbeit bez. Nadelarbeiten 2 und Turnen 2. Geteilt sind die Stunden in Religion, 
Rechnen, Singen und 2 vom Anschauungsunterrichte. Der Unterricht findet nur in 
den Vormittagsstunden statt. — Die Befürchtung, bei der Einrichtung der Hilfsklasse 
auf Widerstand bei den Eltern zu stossen, hat sich glücklicherweise als unbegründet 
erwiesen, denn dieselben haben sich nicht nur vollkommen damit einverstanden erklärt, 
sondern sie haben dieselbe auch mit Freuden begrüsst. — Als Funktionszulage hat 
die Stadt 300 Mk. jährlich bewilligt. Zu Ostern d. J. ist ein Knabe konfirmiert 
worden, und am 15. Mai musste einer wegen Bildungsunfähigkeit entlassen werden. 
Neu hinzugekommen sind 12 Kinder, 7 Mädchen und 5 Knaben, sodass die gegen- 
wärtige Schülerzahl 34 beträgt, eine Zahl, welche die Errichtung einer 2. Klasse 
über kurz oder lang notwendig macht. B. 


Litteratur. 


Die Hilfsschule in Bremen. Von A. Wintermann. Im Selbstverlage 
des Verfassers. Preis 50 Pf. Bremen 1901. 

Auf 22 Seiten berichtet die treffliche Broschüre über die Entstehung und erste 
Einrichtung der bremischen Hilfsschule, die Entwicklung und Organisation derselben und 
über das Schulgebäude. Sie verbreitet sich sodann über die Schüler, deren Aufnahme 
und Entlassung, sowie über die Erziehung und den Unterricht. Zum Schluss schlägt 
der Verfasser die Begründung eines Heimes für die entlassenen Schüler der Hilfsschule 


14 


— —_-- 


vor. Obwohl dieser grossherzige Gedanke zunächst nur ein lokales Interesse zu haben 
scheint, möchten wir dem Verfasser, der s. Z. durch Wort und Schrift den Anstoss 
für die Entstehung der musterhaft eingerichteten Idiotenanstalt in Horn gab, die 
Freude wünschen, auch diesen Plan zur Durchführung gebracht zu sehen. — Aus 
dem lebendig und frisch geschriebenen Schriftchen erfahren wir, dass die bremische 
Hilfsschule z. Z. von 126 Kindern besucht wird, und dass diese in 6 Klassen unter- 
richtet werden, während 114 Kinder aus ihr in den 11 Jahren ihres Bestehens ent- 
lassen wurden, von denen 65 als erwerbsfähig zu bezeichnen waren. — Möge das 
Büchlein, so wünschen wir mit dem Verfasser, denen zu gute kommen, die ganz vor- 
nehmlich unseren Beistand hıerausfordern : „den Schwachbegabten und Geistesschwachen‘“. 
E p 

Die Grundlinien des Seelenlebens, dargestellt unter steter Berück- 
sichtigung der Schnlpraxis von Rektor Hohmann in Berlin. Gotha. Verlag 
von E. F. Thienemann. 27 Seiten. Preis Mk. 0,40. — 

Wir finden in der kleinen Arbeit die Grundlinien des Seelenlebens wohl dargestellt, 
aber wie es scheint, häufig in etwas gewählter hochklingender Ausdrucksweise, die 
den Leser beim Studium der Schrift leicht zu ermüden vermag. Die im Laufe der 
Darstellung gewonnenen Vorschläge und Imperative werden in den Dienst der Schul- 
praxis gestellt. Wir erhalten deshalb an vielen Stellen manche anregende Gedanken 
und wertvolle Richtlinien für Erziehung und Unterricht. Das Schriftchen wird jedem 
denkenden Lehrer ein willkommene Gabe sein, es sei deshalb unsern Lesern zur 
prüfenden Erwägung empfohlen, Fr. 


Rektorstelle. 


An der Hölderlinschule, „Schule für schwachbefähigte Kinder“, ist zum 
1. Oktober ds. Js. die Rektorstelle zu besetzen. Das Diensteinkommen beträgt an 
Grundgehalt 3000 Mark, Mietsentschädigung 820 Mark und Alterszulage neun gleich 
hohe & 220 Mark. 

Meldungen sind unter Beifügung eines Lebenslaufes und der erforderlichen Zeug- 
nisse bis zum 31. Juli ds. Js. an die unterzeichnete Behörde einzureichen. 


Frankfurt a. M., den 28. Juni 1901. Städtische Schuldeputation. 


Zum Sanatorium passend, 


prachtvoller Besitz in Thüringen, incl. Hötel und Inventar, für 200 Mille Mk. zu ver- 
kaufen, event. Tausch gegen Zinshaus. Guthaben 70 Mille Mk. Näheres 


Rob. Rein, Friedenau bei Berlin. 
Briefkasten. 


Dir. Sch. I. J. Vielen Dank für Übersendung der Einladung. Derselben zu folgen, ist 
mir unmöglich. Besten Erfolg. — Dr.6. i. R. Für Zusendung Ihres ersten Berichtes besten 
Dank! Werden wir uns in E. sehen? — H.C.i. R. Für Übersendung der Zeitung besten Dank ! 

















Anhalt: X. Konferenz für das Idiotenwesen. — An den Vorstand der Konferenz zu 
Elberfeld. — Die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung schwachsinniger Kinder in 
Italien. (Von Karl Richter-Leipzig) — Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für 
Schwachsinnige: J. Landenberger. (Von Dr. Kölle-Regensberg). — Mitteilungen: Dresden, 
Sachsen, Hamburg, Mühlhausen i. Th. — Litteratur: Die Hilfsschule in Bremen. — Die 
Grundlinien des Seelenlebens — Anzeigen. — Briefkasten. 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hufbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Nr.9 u. 10. zu. (Al) Jahrg. 


ar 


Zeitsehrift‘ 


für die 


Behandlung sehwachsinniger und Epileptischer. 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 








Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 
herausgegeben von 
Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden - Strehlen „Dezin araı 
' für Nervenkrankhelten 
Residenzstrasse 27. in Stattgart. 


Hrsoheint jährlich in 12 Nummern von | | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der 

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- September 1901. Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung 


schwachsinniger Kinder in Italien. 
Von Karl Richter in Leipzig. 
(Schluss.) 

Der folgende Abschnitt des Berichtes, der die erzieherische Organisation 
der Asylschule behandelt, betont zunächst, dass man sich vor allem mit der 
physischen Erziehung beschäftige, die, so weit möglich, den Zöglingen individuell 
zuteil werde. „Es ist daher Vorschrift, dass, wohin auch der Zögling sich wende, 
was er auch sehe oder thue, man von allem und iımmer eine gesunde erzieherische 
Nutzung ziehen könne. Kein Zwang auf seiten der Zöglinge, überall Zwang auf 
seiten der Erzieher. Er muss sich nach und nach unwillkürlich Korrektheit der 
Bewegungen und Regelmässigkeit der Führung angewöhnen, ebenso eine leichte 
Anregung und richtige Verteilung der Aufmerksamkeit, wie Übungen des Gedächt- 
nisses (hinsichtlich des Auges, des Ohres, der Körperbewegungen), ohne es ge- 
wahr zu werden, ohne zu ermüden, ohne sich zu langweilen, vielmehr soll 
er sich fortwährend unterhalten.“ 

Von den Sinnen wendet man hauptsächliche Sorge dem Gesichts- und 
Tastsinne zu. Ein umfangreiches Fröbelsches Material, plastischer Thon, be- 
sondere Spiele, methodische Gymnastik, Spaziergänge ins Freie, instruktive Turn- 
spiele, Chorgesang, Handarbeiten etc. — alles das dient dem genannten Zwecke, 
wobei aber alles dem Alter, dem Geschlechte, dem geistigen Zustande und den 
Neigungen jedes Zöglings angepasst sein muss. An der Handarbeit beteiligen 
sich die Knaben, während sich die Mädchen mit der Reinhaltung des Lokales, 
mit Ausbessern der Schürzen und der Wäsche und mit Küchenarbeiten beschäf- 


146 

tigen. Um die Mädchen mit den häuslichen Beschäftigungen bekannt und nach 
und nach mit allen Thätigkeiten der Küche vertraut zu machen, hat man auch 
davon abgesehen, das Essen aus der Garküche kommen zu lassen und bereitet 
es im Asyle selbst, und man hält das alles für so wichtig, dass jetzt die Lieder, 
die den kleinen Kindern gelehrt werden, sich auf Gegenstände des Haushaltes 
beziehen, wie die Arbeiten beim Waschen, Plätten, beim Reinmachen des 
Hauses etc. 

Beklagt wird der Mangel jedes musikalischen Instrumentes zur Begleitung 
des Gesanges und der Turnübungen, da man überzeugt ist, dass die Musik einen 
günstigen Einfluss auf das organische Gefühl und die bewusste Thätigkeit der 
geistig Schwachen ausübt, und sie für ein wertvolles therapeutisches Hilfsmittel 
hält, wenn man auch in besonderen Fällen die Wirkung davon nicht wahrnimmt. 

Einer der Zeitvertreibe, die man mit Vorliebe den geistig Schwachen dar- 
bietet, ist. das Stereoskop, das in hohem Grade die Neugier erregt, sehr gut 
den Gesichtssinn erzieht (plastisches Sehen, Auffassung der Entfernungen etc.) 
und die Fixierung der sichtbaren Bilder der Objekte erleichtert. „Es genügt, 
dass man die Ansichten auszuwählen verstebt und eine Ansicht nicht eher wechselt, 
als bis die vorhergehende in allen ihren Einzelheiten gut verstanden worden ist.“ 
Man hat da mit einfachen Ansichten begonnen, die bereits bekannte Objekte und 
Dinge wiedergeben, z. B. die Treppe zu einer Kirche, eine Strasse, einen Brunnen 
in Rom, und will dann zu solchen übergehen, die das Meer, einen See, einen Fluss, 
ein Gebirge, eine Insel und andere Naturbilder darstellen. „Wir haben bemerkt,‘ 
sagt der Verfasser darüber noch, „dass die Kinder sehr leicht den Unterschied 
begreifen, den die Betrachtung des Bildes mit blossen Augen und durch die Linsen 
des Stereoskopes bietet, und daher gelangen sie ohne grosse Schwierigkeiten dazu, 
sich ein gewisses Urteil über die Verbältnisse der Entfernungen zwischen den 
verschiedenen Objekten der Ansicht zu bilden. Ich glaube, dass diese Übung 
im stereoskopischen Sehen ein wichtiges Erziehungsmittel ist für das körper- 
liche und geistige Sehen“ (della visione oculare e mentale). 

Die wichtigste Neuigkeit, die die Asylschule darbietet, sieht der Verfasser 
in der grossen Wichtigkeit, die man der sprachlichen Erziehung zuschreibt. 
Hierzu ist zunächst ein Spezialarzt für Krankheiten der Rachen- und Nasenhöhle 
und des Ohres da, der jeden Zögling besucht und auch chirurgisch eingreift 
(Entfernung von Drüsengeschwülsten, Beschneidung des Zäpfchens, Behandlung 
von Nasenwucherungen etc), wenn sich krankhafte Veränderungen zeigen. 
Ausserdem giebt es einen Lehrer, der — unterstützt von einem Taubstummen- 
lehrer — jeden Tag 1!/, Stunde der Unterweisung im Sprechen widmet. 
„Sprachfehler,* äussert der Verfasser, „sind bei den Idioten beinahe die Regel 
(Hugo Kreilsheimer — 1897 — fand 71,8°/, solcher), und doch ist in den An- 
stalten bisher die Verbesserung der Sprachfehler und die intensive Erregung der 
Sprachzentren von seiten der Erzieher und Speziallehrer sehr vernachlässigt 
worden. Ich muss gesteben, dass ich eine wie auch sonst geartete Anstalt für 
schwachsinnige Kinder nicht verstehen würde, wenn in ihr die spezielle Sprach- 
bildung mit allen den Verfahrungsweisen, die die moderne Wissenschaft und 


147 


Liebe an die Hand geben, fehlten. Die Freischule für arme Stotternde, die an 
unsere Asylschule angeschlossen ist, vermag zu zeigen, dass die Sprachfehler sich 
alle bessern lassen und verhältnismässig ziemlich schnell; es ist nur nötig, 
dass der Erzieher einen ausserordentlichen Eifer und eine unerschöpfliche Ge- 
duld besitzt.“ 

Der Verfasser hofft, sofern ihn die Öffentliche Wohlthätigkeit nicht im 
Stiche lässt, die grossen Fortschritte der Schwachsinnigen im Sprechen mit 
einem streng experimentellen Hilfsmittel, mit dem Phonographen zeigen zu 
können, indem das von einem Schwachsinnigen, der da stammelt oder nur mit 
geringer Lungenkapazität begabt ist, bei seiner Aufnahme in die Anstalt auf- 
genommene Phonogramm mit einem späteren, nach einigen Monaten des Unter- 
richtes aufgenommenen verglichen werden kann. „Es ist Zeit,“ fügt er hinzu, 
„auf die Psychologie und die Pädagogik alle modernen experimentellen Hilfs- 
mittel anzuwenden, um damit den Beobachtungen die grösstmögliche Objektivität 
zu geben und so die Skeptiker und die Gefühllosen aufzurütteln.“ 

Über den Anfangsunterricht wird der Kürze halber nur bemerkt, dass 
er immer in individueller Weise von einer Lehrerin erteilt werde, die Schwach- 
sinnigen gegenüber ganz besonders erfahren und bewandert sei; dagegen widmet 
der Verfasser eine längere Auseinandersetzung der moralisch-religiösen Er- 
ziebung und der Art, wie sie in der Tassoschule ausgeübt wird, da dieser 
Gegenstand „von der grössten Wichtigkeit ist.“ Die Bemerkungen darüber sind 
von so hohem allgemeinen Interesse, dass es sich rechtfertigt, einige längere 
Stellen aus dem Berichte mitzuteilen. Der Verfasser schreibt: 

„Ich glaube mit Adam Smith und Darwin, dass die moralische Idee ihren 
Urgrund in dem Gefühle der Sympathie hat, die sich zuerst in der Liebe zu 
den Eltern und in der Zuneigung zu den Kameraden äussert, nach und nach 
sich ausdehnt, sich befestigt und schliesslich alle Thätigkeiten des psychischen 
Lebens durchdringt. Das Gefühl der Sympathie seinerseits quillt aus einer ein- 
fachen Gemütsbewegung: dem Mitleide oder dem Mitgefühle. Daher begnügen 
wir uns nicht damit, von vornherein unseren Schwachsinnigen und besonders 
denjenigen, die einen psychogenetischen Rückgang (wie sich die Ärzte ausdrücken) 
des moralischen Sinnes zeigen, die Idee der Gerechtigkeit beizubringen, wir 
suchen vielmehr Erregungen des Mitgefühles zu wecken. 

„Ich bin überzeugt, dass die Ideen nicht gedeihen, nicht sich festsetzen, 
wenn sie sich nicht aus freiwilligen Assoziationen entwickeln, wenn sie nicht 
von einer lebhaften Gefühlsfärbung begleitet sind. Die Gefühlsassoziationen 
haben — trotz der gegenteiligen Meinung vieler — bei den Kindern eine grosse 
Macht. Wenn der Schwachsinnige fähig ist sich rühren zu lassen und Mitleid 
zu empfinden, dann wird man ilım viel leichter die Kenntnis von Recht und 
Gesetz zum Verständnis bringen können. 

„In dem Falle, dass ein Zögling nicht nur stumpf, sondern völlig gefühl- 
und teilnahmlos ist, kann man nichts anderes thun, als ihn unbewusst zu guten 
Handlungen zu veranlassen (automatizzare), die man ihm durchs Beispiel 
vorführt. 


148 

„Viele behaupten, dass Religion und Moral nicht getrennt sein können, in 
Wirklichkeit jedoch ist die Moral nicht die Religion und die Religion nicht die 
Moral. Nur in einigen Punkten kommen beide zusammen. Kann nun der 
Religionsunterricht ein wirksames moralisches Erziehungsmittel für geistes- 
schwache Kinder sein? Ich glaube ja, aber ich muss sogleich hinzufügen, dass 
ich es nicht billigen kann, wie man in der grossen Zahl der ausländischen 
Idiotenanstalten verfährt, wo die armen Kinder gezwungen werden, Gebete über 
Gebete zu murmeln und durch lebhafte Schilderungen der ewigen Strafen, der 
Folgen der Sünde und ähnliche Dinge in Furcht versetzt werden. Ich habe bei 
mehr als einem Schwachsinnigen Formen von Halluzinationen beobachtet, die 
gerade aus dem Religionsunterrichte herrührten, und in einem Falle habe ich 
ein mystisches Delirium beobachtet, das durch die Form des Kultus hervor- 
gerufen war, dem das Kind unterworfen wurde — zu erzieherischen Zwecken. 

„Die Religion erzieht nicht schon durch das Versprechen von Belohnung 
oder durch Androhung von Strafe; ihre Verwirklichung (la sua sanzione) ist zu 
fern. Sie erzieht, glaube ich, weil sie dazu dient, in dem Schwachsinnigen das 
Gefühl des Mitleides und der Teilnahme für den Menschen (die Nächstenliebe) 
zu erregen und zu entwickeln, und ausserdem noch ein anderes Gefühl, das der 
Verehrung (Gehorsam gegen Gott), das sich praktisch in das Gefühl der Unter- 
ordnung (della disciplina) auflöst.*) 

„Daher bedienen wir uns in unserer Asylschule auch der Religion, um die 
Widerspenstigen und die Stumpfen, soweit möglich, moralisch zu machen, aber 
das thun wir mit den einfachsten und psychologisch ungefährlichen Ver- 
fahrungsweisen. 

„Unsere Zöglinge sprechen vor dem Essen im Chore das Vaterunser und 
danken nach dem Essen mit einem kurzen Gebete in italienischer Sprache Gott 
für die empfangene Speise. Das Vaterunser ist Universalgebet und passt für 
Kinder aller Konfessionen (wir haben einen Juden in der Tassostrasse). Es ist 
bekannt, dass dieses schöne und einfache Gebet thatsächlich von allen Gliedern 
des religiösen Kongresses in Chicago (1893) einmütig hergesagt wurde. 

„Zweitens bat man eine gewisse Zahl von Gleichnissen und Erzählungen 
aus den Evangelien ausgewählt, aus denen sich klar und lebhaft eine moralische 
Lehre ergiebt, und diese werden — immer jedesmal eine — unseren Zöglingen er- 
zählt und mit einfachen Worten erklärt. Jeden Tag hören die Schwachsinnigen 
eine dieser Geschichten, jeden Tag werden sie darüber gefragt. So werden diese 
Erzählungen, durch welche Gottes- und Menschenliebe hindurchleuchtet, nach 


*) Hierzu merkt der Verfasser „einige goldene Worte“ von Kant an, die nach dessen 
Methaphysik der Sitten: ethische Methodenlehre 1. Abschnitt $ 51 also lauten: „Das erste 
und notwendigste doktrinale Instrument der Tugendlehre für den noch rohen Zögling ist 
ein moralischer Katechismus. Dieser muss vor dem Religionskatechismus hergehen und 
kann nicht bloss als Einschiebsel in die Religionslehre mit verwebt, sondern muss abgesondert, 
als ein für sich bestehendes Ganzes vorgetragen werden; denn nur durch rein moralische Grund- 
sätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion gethan werden, weil dieser ihre 
Bekenntnisse sonst unlauter sein würden.“ 


149 


und nach verstanden und gelernt, und diese moralischen Ideen werden so 
schliesslich das Hausrecht in diesen armen Seelen erlangen. 

„Aber wir haben auch noch eine andere Art ausgedacht, um diese Ge- 
schichten und die daraus entsprungenen moralischen Lehren unseren Kindern 
besser und unauslöschlich ins Gedächtnis zu pflanzen. Wir werden dem Kinde 
(immer in progressiver Stufenfolge und der Iudividualität angepasst) farbige und 
transparente Stereoskopbilder geben, die gerade diejenige evangelische Geschichte 
darstellen, die man mit ihnen besprechen will. Das ist eine Art „experimentaler 
Moral.“ Die Neugier treibt die Kinder aufzupassen und zu fragen: der Erzieher 
thut das übrige. 

„Ich denke, dass es noch ein anderes Mittel giebt, sehr indirekter Art, aber 
nicht weniger wirksam, wein es vernünftig angewandt wird, um dem Gefühle 
und der Idee des Moralischen bei den geistig schwachen Kindern Leben und 
Kraft zu verleihen: das ästhetische Wohlgefallen. Auch das Kind ist 
ästhetischen Gefühlsregungen zugänglich. Das Hässliche wird eher begriffen 
als das Schlechte. Wir haben angefangen, die Wände des Zimmers, das zum 
Spielen bestimmt ist, mit Bildern zu füllen, die Kinder von hervorragender 
Schönheit darstellen (Photographien nach berühmten Künstlern, wie Guido Reni 
u. a). Diese Bilder, schön, kräftig, lächelnd, in den anziehendsten Stellungen 
(dalle pose dolcissime) mit ihren wohlanständigen Geberden, ihren lebhaften Be- 
wegungen stehen dort den ganzen Tag vor den neugierigen Augen der armen 
schwachsinnigen Kinder. Wir werden dazu übergehen, allmählich farbige Bilder 
zuzufügen, welche Kinder vorstellen, die gute Handlungen begehen, bis die ganze 
nutzlose weisse Wand dieses Zimmers mit ästhetischen und moralischen Kinder- 
bildern bedeckt sein wird. Es kommt nicht darauf an, dass unsere Zöglinge 
alles Einzelne betrachten und verstehen, uns genügt es, dass die schönen Dinge 
einen Bindruck auf ihre Augen machen, die gewohnt sind, die feuchten und 
schmutzigen Wände ihrer armen Hütten, oder die verzerrten Gesichtszüge ihrer 
klagenden und duldenden Brüder, oder die grotesken und unzüchtigen Fratzen 
des Strassenlebens zu betrachten. Uns genügt es, dass diese Schaubilder nicht 
so schnell aus ihrer Phantasie verschwinden, sondern dass sie sich unbewusst 
(automaticamente) darin festsetzen und dass sie darin bleiben als fruchtbare 
Erzeuger nützlicher Assoziationen. 

„Soll das Gute von armseligen Intelligenzen ersehnt, geliebt, ausgeübt 
werden, so muss es denselben Eindruck machen wie eine schillernd rote Farbe, 
eine blendende Tanzaufführung, eine süsse Melodie... Für die Kinder muss 
das Gute schön sein. 

„Aber es giebt nichts Moralisches ohne Verpflichtung und ohne allgemeine 
Billigung, wenigstens wenn es sich um die Gesamtheit der Menschen und im 
besonderen um Kinder handelt. ..... Hier fordert das schwierige Problem 
der Strafe unsere Beachtung. Ich gestehe, dass ich kein anderes kenne, das 
praktisch schwieriger zu lösen wäre. 

„Die Rute war in den alten Zeiten ein wichtiges pädagogisches Instrument; 
aber Cicero tadelte den Verres scharf, dass er einen Bürger babe peitschen lassen. 


Noch heute wird sie in Deutschland, in England gebraucht, wo sogar die Rute 
ein ehrenvolles Emblem der aristokratischen Schulen ist. Aber wer möchte 
erklären (proclamare), dass sie ein Emblem der Zivilisation sei? 

„Vom Standpunkte der Psychophysiologie aus muss ich erklären, dass der 
körperliche Schmerz ein grosser Erreger der Aufmerksamkeit ist. Ich habe 
reiche Erfahrung in diesem Punkte, aber ich würde in der That nicht wagen, 
eine wirksame Züchtigung (selten, baldig und kräftig) in eine Erziehungsanstalt 
für schwachsinnige Kinder einzuführen. Der Guss kalten Wassers, die Ein- 
schliessung in dunkle Zellen, Zwangsarbeit, Entbehrungen — das ist das Bündel 
von Strafen, das auch heute in den Anstalten des Auslandes in Gebrauch ist. 
Die ganze Sache ist nutzlos, oder gleichsam: auf jede Art deckt der Gewinn 
die Spesen nicht. 

„August Voisin — ein berühmter Arzt, der grosse Erfahrungen mit Idioten 
hatte — behauptet: „Die Strenge ist gefährlich und entbehrlich; die körperlichen 
Strafen müssen absolut verboten werden.“ Das ist die allgemeine Überzeugung 
von Spencer bis zu Don Bosco. Die beste Art ist die Behandlung im Guten, 
wie Briquet sagte. 

„Wir Ärzte werden nıe vergessen dürfen, dass einen armen Idioten strafen 
ebenso ist, als wenn ein Gärtner eine Pflanze, die schlecht wächst, mit dem 
Stocke schlagen wollte, anstatt sie aufzurichten und anzubinden. 

„Unsere eifrigen aufsichtführenden Damen werden übrigens auf die wichtige 
Frage zurückkommen. Unterdessen ist in der Tassostrasse der mündliche Tadel 
üblich und, mehr zur Bestrafung der Schlechten, die Belobigung und die öffent- 
liche Belohnung der Guten. Nur in den seltensten Fällen erinnern wir uns an 
die Worte des berühmten Arztes und Pädagogen Shuttleworth: „mitunter geht 
ein Appell an den Verstand am besten durch den Magen“ (Mentally - deficient 
Children, S. 97f.), und wir lassen einem widerspenstigen Zöglinge die Mahlzeit 
um eine oder zwei Stunden verzögern.“ 

Der letzte Abschnitt berichtet über die ersten Ergebnisse und beginnt 
mit folgenden allgemeiuen Bemerkungen: 

„Viele glauben, dass, um ein langsames Kind in den Spezial- oder Hilfs- 
klassen zu unterrichten, die vierfache Zeit nötig sei als für das normale Kind. 
Diese Meinung macht sich vielleicht nicht des Pessimismus schuldig, wenn man 
bedenkt, dass in den genannten Klassen die Erziehung sehr vernachlässigt wird. 
In Erziehungsanstalten müssen die Dinge ganz anders verlaufen. Hier treibt 
man die intensive Kultur des Geistes und des Herzens, eine rationelle und 
stetige „Manneskultur“ (viricoltura), wie G. de Molinari sagen würde, mit 
Methoden und Hilfsmitteln, die so natürlich sind, dass keinerlei Form von 
Überdruss (surmenage) zu befürchten ist.“ 

Auf grund der vorliegenden Rapportbücher wird festgestellt, dass die er- 
zielten Erfolge, und zwar a) im Zustande des körperlichen Befindens, b) in der 
Bildung der Sinne und der Bewegungen, c) in der speciellen Sprachbildung, 
d) im Betragen und e) im Lesen, Schreiben und Rechnen — die gehegten Er- 
wartungen übertroffen haben. Die merklichsten Besserungen sind in der sitt- 


lichen Bildung und im Betragen zutage getreten, und Besucher, die die 
Anstalt in den ersten Tagen nach ihrer Eröffnung und mehrere Monate später 
gesehen, haben erklärt, dass die Zöglinge im ganzen genommen sich nicht von 
einer gewöhnlichen Schülerschar unterscheiden; sie stehen da in Reihen und 
Gruppen, fröblich, aber nicht allzulaut, folgsam den Anordnungen der Lehrerinnen 
und Wärterinnen.“* 

Dabei wird die von vielen Arzten anerkannte Lehre von der erblichen Be- 
lastung und vom Atavismus, infolge deren die Hoffnung auf Besserung von 
Schwachen und Missethätern für eitel gebalten wird, ebenso als „ein wenig über- 
trieben“ bezeichnet, als das Rousseausche Wort, dass alles gut ist, was aus den 
Händen des Schöpfers kommt, und die Thatsache hervorgehoben, dass nach einem 
Berichte über das „Hospiz für die Söhne Gefangener“ unter einer Gesamtheit von 
70, die für gute Führung prämiiert wurden, 53, also mehr als °/, Söhne von 
Verbrechern waren, die Grausamkeiten und Mordthaten begangen hatten, woraus 
„die unberechenbare Macht der Erziehung über die widerspenstigen Naturen“ ge- 
folgert wird. „Wie viele Kinder, die als moralische Narren beurteilt wurden, 
würden sich haben bessern können durch eine gesunde Erziehung, die überdies 
den Zweck gehabt hätte, dieselbe Neigung, die sie zum Laster und zum Ver- 
brechen treiben, zum individuellen und sozialen Nutzen zu wandeln!“ 

Unter den 25 Zöglingen der Anstalt sind wenigstens 10 gewesen, die mit 
einem hohen Grade von Schwäche einen hervorstechenden Mangel an moralischem 
Sinne verbanden, von unbeständigem Betragen, ohne jede Spur von Ernst etc. 
An einer Anzahl von Beispielen wird nun gezeigt, wie sich das widerspenstige, 
rohe, unverschämte, lügnerische, diebische, furchtsame, träge Wesen, die Neigung 
zum Entlaufen, zur Onanie, die Stumpfheit des Geistes und der Bewegungen etc. 
im Laufe der Zeit gebessert hat. Die bei einzelnen angewandten Kuren er- 
strecken sich hauptsächlich auf körperliche Stärkung durch Beseitigung der Blut- 
armut und schlechter Ernährungszustände. Bemerkenswert ist der Satz: „Einer 
der wichtigsten Faktoren für die rasche Herstellung geordneter 
Führung der Geistesschwachen ist sicher die Unterdrückung jeglichen 
alkoholischen Getränkes.“ 

Nächst den Besserungen im Betragen sind die auffälligsten Fortschritte in 
der Sprache wahrzunehmen gewesen, und ebenso haben sich in der Erziehung 
der Sinne und der Bewegungen, wie im Anfangsunterrichte beachtenswerte Fort- 
schritte bei den älteren Zöglingen gezeigt. Von den Farben werden wenigstens 
die Hauptfarben von fast allen Kindern erkannt und mit ihren Namen bezeichnet, 
fast alle sind fähig bis 100 zu zählen, viele der Fröbelschen Arbeiten auszu- 
führen, Lieder im Chore zu singen, und von mehreren sind auch im Lesen und 
Schreiben Fortschritte zu verzeichnen gewesen. 

Durch die bisherigen Erfolge fühlt man sich bestärkt, in der Arbeit für 
die geistig armen Kinder fortzufahren, damit die Stadt von diesen stumpf- 
sinnigen, närrischen, verbrecherischen Kindern befreit werde, die die schliminsten 
Aussichten für die Zukunft bieten. Mit dem Danke für diejenigen, die das 
schwierige Unternehmen verwirklichen helfen, verknüpft sich der Wunsch, dass 


152 
der ermutigende „Strom der Sympathie* sich noch ausbreiten und die Unter- 
stützung von seiten der Gelehrten und der Guten erhalten bleiben, und dass 
neben anderen Anstalten für Schwachsinnige, die früher oder später entstehen 
werden, auch die Asylschulen blühen mögen, „die aus den reinsten Quellen 
der modernen Pädagogik, der Psychotherapie und der sozialen Hygiene her- 
stammen.“ 

Damit schliesst der Bericht, dem ich nach brieflichen Mitteilungen und 
Zeitungsmeldungen (insbesondere dem Berichte eines Besuchers in Nr. 52 der 
römischen Tribuna vom 21. Februar 1901, 2. Ausgabe) noch folgendes beifügen 
kann. Seit ihrer Gründung hat sich die Schule bedeutend erweitert und ver- 
vollkommnet. Gegenwärtig zählt sie 50 Knaben und Mädchen, die von Öffent- 
lichen und Privatschulen ausgeschlossen wurden, und ist aus dem kleinen Lokale 
in der Tassostrasse übergesiedelt in ein einzelstehendes dreistöckiges Haus, in 
das Licht und Luft frei eindringen können, mit einem Hofe, wo die Kinder 
spielen und turnen können. Jeden Morgen, wenn nach Ankunft der Kinder den 
einzelnen die im Personalbogen etwa vorgeschriebenen Arzneien verabreicht 
worden sind, gehts ans Baden. Jeden Tag werden 10 Bäder verabfolgt, so dass 
jedes Kind aller 5 Tage ein Bad bekommt. Darnach beginnt der Unterricht, 
der sich je nach der Bildungsfähigkeit und dem Bedürfnisse der Kinder bei 
sprachlich Belasteten auf Artikulationsübungen, bei anderen auf Gesang, bei den 
besseren auf Lesen und Schreiben, aufs Lernen kleiner moralischer Geschichten, 
auf Handarbeiten in Stroh, Papier und dgl. erstreckt. Da die Asylschule vor 
allem erzieherische Zwecke verfolgt, so wird der Unterricht in zweite Linie ge- 
stellt. Über ihren Einfluss bemerkt jener Besucher noch, dass seit ihrer Gründung 
das Esquilinviertel im Punkte seines Kinderlebens eine ganz andere Physiognomie 
angenommen habe, da jene 50 Kinder, die sonst auf der Strasse sich selbst 
überlassen sein würden, für einen grossen Teil des Tages abgesondert sind und 
weder selber etwas Böses thun, noch andere zu etwas Bösem verleiten können. 
Er fügt dann noch hinzu: „In der Asylschule rettet die Wohlthätigkeit nicht 
bloss das Kind, sondern sie giebt auch der Wissenschaft Gelegenheit es zu 
studieren. Neben den Personen, die ihr Geld und ihre Mühe opfern, steht der 
Gelehrte, der sich bemüht, aus dem Studium der Kinderseele Gesetze und Beob- 
achtungen abzuleiten, die zu einem besseren Verständnisse der Kindererziehung 
in der Zukunft führen werden.“ In der That hat der Professor de Sanctis 
der Anstalt eine ernste wissenschaftliche Grundlage gegeben, und sie wird auch 
von einer Anzahl Studenten besucht, die dort psychiatrische Untersuchungen und 
Versuche anstellen. 


Der Asylschule sind bald ähnliche Anstalten gefolgt, so am 1. März 1899 
in Rom selbst ein Pflege- und Erziehungshaus für bemittelte schwachsinnige 
Kinder mit Internat, Externat und Spezialklassen für Sprachfehler, das von 
Herrn Virginio Koch im Vereine mit Professor de Sanctis und Dr. J. Egidi 
gegründet und seitdem beträchtlich vervollkommnet worden ist; ferner das 
Institut von San Giovanni in Persiceto, Anfang Juli 1899 gegründet von Prof. 


153 
Tamburini, über das ich nichts weiter habe erfahren können, als dass es 
Kinder von 5—15 Jahren aufnimmt und von der Provinz Emilia unterhalten wird. 


Alles in allem genommen muss es Bewunderung erregen, welche ausser- 
ordentliche Fortschritte Italien hinsichtlich der Fürsorge für schwachsinnige 
Kinder iu den letztvergangenen wenigen Jahren zu verzeichnen hat, so dass 
Prof. de Sanctis in dem mehr erwähnten Artikel mit Recht schreiben konnte: 
„Das Jahr 1899 bezeichnet eine Epoche in der Geschichte der Fürsorge für die 
Schwachsinnigen in Italien, wie die Jabre 1841—42 die klassische Epoche in 
der (ausschliesslichen) Fürsorge für dieselben in der Schweiz, in Frankreich und 
Deutschland gewesen ist.“ Wohl mag uns manches dabei eigentümlich, ja 
bedenklich erscheinen, so z. B. das Vorwiegen des medizinischen Elementes und 
medizinischer Rücksichten gegenüber dem eigentlichen Unterrichte, wodurch alle 
diese neuen Anstalten ein wesentlich anderes Gesicht tragen als unsere deutschen 
Anstalten und Schulen für schwachsinnige Kinder mit ihrer ausschliesslich 
pädagogischen Richtung; aber sicher wird niemand dem dabei verfolgten Zwecke 
der Erforschung der Kindesnatur zu missbilligen vermögen, ja hier und da dürfte 
man bei uns, insbesondere in den Hilfsschulen, mitunter wünschen, dass sich 
die Ärzte, namentlich die Psychiater, mehr als bisher darum bekümmerten. 
Auch die Verleihung von besonderen Ehrentiteln etc. an die Wohlthäter dürfte 
manchem auffällig vorkommen; aber da alle diese Anstalten für ihre Gründung 
und ihr Bestehen auf die Opferwilligkeit der wohlhabenden Gesellschaftskreise 
angewiesen sind, wer wollte es da den Urhebern und Leitern einer so heil- 
bringenden Bewegung verdenken, wenn sie, dem südlichen Temperamente Rech- 
nung tragend, den Trieb zu möglichst ausgedehnter Wohlthätigkeit. durch 
Erteilung gewisser äusserer Auszeichnungen anzuregen und annehmlicher zu 
machen suchen? — In Summa: wollen wir das Neue, das uns da entgegentritt, 
uns zu recht fruchtbarer Anregung für unser eigenes Wirken dienen lassen und 
auch aus dem uns Auffälligen und Fremdartigen für unsere anders gearteten 
Verbältnisse eine gute Lehre ziehen! — Ehre aber den Männern, die mit hoher 
Begeisterung für die gute Sache die grossartige Bewegung einleiteten und mit 
“ Unermüdlichkeit und Zähigkeit verfolgten, Hochachtung den vielen edlen Frauen, 
die mit hingebender Treue ihre Kräfte dem schwierigen, aber verheissungsvollen 
Samariterdienste an den geistig Armen widmeten! Wünschen wir allen ihren 
weiteren Bestrebungen einen ebenso glücklichen Fortgang, als es der Anfang 
verspricht. 

„Gutes gewollt mit Vertrauen und Beharrlichkeit führet zum Ausgang!“*) 


*) Vielleicht gelingt es mir zu gelegener Zeit, auch über einzelne, die Erziehung Schwach- 
sinniger betreffenden litterarischen Erscheinungen, wie das oben erwähnte Manuale di ortofrenia 
vom Prof. Parise, oder die von demselben bei Ferrari in Siena seit Anfang dieses Jahres 
erscheinende neue Monatsschrift: L’educazione dei frenastenici, Rassegna medico-pedagogica, 
u. a., zu berichten, um auch nach dieser Seite hin die Bestrebungen in Italien ins Licht 
zu setzen. 





154 


Zu der neuen preussischen 
„Anweisung über die Unterbringung in Privatanstalten 
für Geisteskranke, Epileptische und Idioten“. 


Auf die wiederholten Eingaben des Vorstandes der Vereinigung der Leiter 
von Anstalten für Idioten und Epileptische an die Ministerien der Medizinal- 
angelegenheiten, der Justiz und des Innern betreffend den Ministerialerlass vom 
20. September 1895 wurde in den ministeriellen Erwiderungen jedesmal auf 
eine zu „erwartende Neuprüfung“ resp. „Abänderung“ des genannten Erlasses 
hingewiesen. Auch das letzte Antwortschreiben seitens der betreffenden Herren 
Minister vom 25. März laufenden Jahres an die „Vereinigung, stellte in Aussicht, 
„dass die besonderen Verhältnisse der Anstalten für jugendliche Idioten und 
Epileptiker in der bevorstehenden Erweiterung der Anweisung über die 
Aufnahme von Geisteskranken etc. in Privatanstalten in einem besonderen Ab- 
schnitte genügende Berücksichtigung finden werde“. 

Diese „bevorstehende Erweiterung“ ist nun in Form einer neuen „Anweisung 
über Unterbringung in Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und 
Idioten“ (vom 26. März 1901) eingetroffen. Damit hat man in Preussen wieder 
den Verordnungsweg betreten im Gegensatz zu einer nicht geringen Zahl von 
Stimmen, die nach einer festen gesetzlichen Regelung des Irrenwesens verlangten. 
Die „Psychiatrische Wochenschrift“ schreibt in ihrer Nummer vom 20. April 
dazu: „Eine gesetzliche Regelung des Irrenwesens ist eine der schwierigsten 
Aufgaben, welche dem Gesetzgeber überhaupt gestellt werden können. Diese 
Erkenntnis ist wohl, wenigstens teilweise, der Grund, aus welchem das Reich, 
wie auch Preussen sich bisher gegenüber dem Drängen auf Erlass fester 
gesetzlicher Bestimmungen über das Irrenwesen ablehnend verhalten haben; 
teilweise beruht diese Zurückhaltung allerdings auch auf der ausgesprochenen 
Auffassung, dass eine strenge Kontrolle der Einrichtungen der privaten wie 
öffentlichen Anstalten durch die staatlichen Aufsichtsbehörden und die von 
ihnen bestellten sachkundigen Revisoren wichtiger sei, als alle gesetzlichen Vor- 
schriften. (Vergleiche Verhandlungen des Reichstages vom 28. Januar 1899, 
Seite 496 des Protokolls.)“ 

Auch wir werden zunächst gegen eine Ordnung des Irren- resp. Idioten- 
wesens durch ministerielle Erlasse nichts einzuwenden haben. Solange in den 
medizinischen Kreisen die Ansichten über die Idiotenanstalten nicht objektiver 
und weniger einseitig sind, als dies augenblicklich der Fall ist, und solange 
namentlich auch unter den Idiotenanstalten selbst keine schärfere Unter- 
scheidung zwischen reinen Pflegehäusern und ausgesprochenen Unterrichts- resp. 
Erziehungs-Instituten stattgefunden hat, solange wird es immer im Interesse 
unserer Anstalten liegen, wenn bestimmte, gesetzliche Festlegungen so weit als 
möglich hinausgeschoben werden. Andererseits erhebt sich freilich auch sofort 
die Frage, ob jene staatlich „bestellten sachkundigen Revisoren,“ auf deren 
Thätigkeit die Regierung sich ganz und gar verlässt, auch immer und in allen 
Fällen ein sachkundiges Verständnis für die speziellen Aufgaben besitzen, 


155 
welche die zu revidierenden Anstalten im einzelnen verfolgen. Wir denken 
dabei natürlich zunächst wieder an unsere Unterrichtsanstalten für Schwach- 
sinnige, deren heilpädagogischen Bestrebungen gegenüber auch der sachkundigste 
Mediziner nicht vollständig sachkundig sein dürfte. Doch davon später. 

In der medizinisch-psychiatrischen Fachpresse hat die neue Anweisung im 
allgemeinen eine ziemlich günstige Rezension gefunden. Wenn nun für unsere 
Anstalten die Sache auch nicht ganz so günstig steht, so lässt sich doch immer- 
hin im Vergleich zu der alten Anweisung ein gewisser Fortschritt feststellen, 
Dieser zeigt sich vor allem in der Anlage resp. Gruppierung der Bestimmungen 
des neuen Erlasses.. Während die alte Anweisung eine Unterscheidung zwischen 
Idioten- und Irrenanstalten überhaupt nicht machte, gliedert sich die neue An- 
weisung in 

A) Vorschriften für Kranke, welche das 18. Jahr vollendet haben, 

B) Vorschriften für Kranke im Alter unter 18 Jahren, 

C) gemeinsame Bestimmungen. 

Dabei enthält Abteilung A so ziemlich dieselben Bestimmungen wie die 
Anweisung vom 20. September 1895, während in B die Forderungen wesentlich 
vereinfacht, gemildert und den jugendlichen Kranken angepasst sind. 

Aber die Art und Weise dieser Unterscheidung, so sehr sie auch den Be- 
dürfnissen der Unterrichtsanstalten für Schwachsinnige entgegenzukommen 
scheit, entspricht doch nicht den Wünschen der meisten Anstaltsvorsteher. Das 
Bestreben dieser geht bekanntlich dahin, eine generelle Trennung der Idioten 
und Epileptischen überhaupt von den Irren durch ministerielle Verfügung an- 
erkannt zu sehen. Statt dessen wurde diese Trennung aber nur in rein äusser- 
licher Weise nach Massgabe des Alters der Kranken durchgeführt derart, dass 
Irre, Idioten und Epileptische als eine zusammengehörende Kategorie von 
Kranken betrachtet wurden, die lediglich ihren Altersunterschieden entsprechend 
eine spezialisierte gesetzliche Behandlung finden. Dadurch werden einerseits die 
Idioten im Alter über 18 Jahren von den milderen Bestimmungen des Ab- 
schnitt B gänzlich ausgeschlossen, während andererseits jugendliche Geistes- 
kranke unbegründeter Weise mit Idioten und Epileptischen in eine Linie zu 
stehen kommen. 

Fasst man zunächst den ersteren Umstand näher ins Auge, wonach Idioten 
über 18 Jahre unter die strengeren Vorschriften des Abschnitts A fallen, so 
stösst man hier bei eingehender Erwägung auf höchst wunderliche Widersprüche. 
Da nämlich die meisten unserer heutigen Idiotenanstalten Zöglinge in allen 
Altersstufen beherbergen, so unterstehen sie nach dem neuen Erlass zweierlei 
Bestimmungen, sowohl denjenigen des Abschnitts A als auch denjenigen des 
Abschnitts Be Solange es sich nun um Aufnahme, Beurlaubung, Entlassung etc. 
der einzelnen Kranken handelt, können diese zweierlei Bestimmungen recht 
wohl in einer und derselben Anstalt nebeneinander bestehen. Sofort aber ge- 
raten sie miteinander in Konflikt, sobald es sich um die Leitung, Einrichtung etc. 
der Anstalt selbst handelt. Z. B. kann es vorkommen, dass für eine Anstalt 
nach den Bestimmungen des Abschnitts A ärztliche Oberleitung gefordert wird, 


während dieselbe Anstalt nach Abschnitt B eine solche nicht nötig hat. Wo 
liegt nun das Richtige? Man bekommt vielleicht zur Antwort, dass eben die 
Anstalten künftighin darauf Bedacht nehmen müssen, entweder nur jugendliche 
oder nur erwachsene Kranke aufzunehmen, so dass mit der Zeit zu unterscheiden 
wäre zwischen Anstalten für ältere und solche für jüngere Schwachsinnige. 
Abgesehen davon, dass eine solche Specialisierung der Anstalten erst nach 
Jahren sich zur Thatsache entwickeln würde (denn man kann doch wohl 
nicht verlangen, dass dies auf dem Wege von Entlassungen, Umzügen etc. von 
heut auf morgen zu stande kommen müsse), so stehen ihr auch nicht un- 
gewichtige Bedenken gegenüber. Sicher ist, dass jedem auf diesen Gebiete 
nur halbwegs Erfahrenen die Einteilung der Anstalten nach Massgabe des Alters 
der Zöglinge als etwas rein Äusserliches, Willkürliches und darum völlig 
Zweckloses erscheint gegenüber der viel vernünftigeren und praktisch entschieden 
wirksameren Unterscheidung von reinen Pflegehäusern einerseits und Unterrichts- 
anstalten andererseits. Denn wenn z. B. Anstalten für Zöglinge im Alter unter 
18 Jahren neben bildungsfähigen, die Anstaltsschule regelmässig besuchenden 
Schwachsinnigen auch sämtliche Formen des Blödsinns, der selbstverständlich 
an keine Altersgrenze gebunden ist, verpflegen müssten, so wären das höchst un- 
gesunde Zustände, die gewiss nicht in der Absicht der Regierung liegen können. 

Ein weiterer Bedenken erregender Punkt ist — wie schon oben erwähnt 
wurde — die Gleichstellung von jugendlichen Idioten und Epileptischen mit 
jugendlichen Geisteskranken, wie sie in Abschnitt B, nachdem einmal das 
Alter als Trennungsgrund angenommen war, stattgefunden hat. Diese Zusammen- 
fassung von jugendlichen Geisteskranken, Idioten und Epileptischen ist nicht 
minder anfechtbar als die frühere Gleichstellung von Geisteskranken überhaupt 
mit Idioten und Epileptischen. Selbst von medizinisch-psychiatrischer Seite sind 
gegen die Lostrennung der jugendlichen Geisteskranken von den erwachsenen 
Geisteskranken und ihre Koordinierung mit den Idioten und Epileptischen Be- 
denken erhoben worden Der Referent der schon erwähnten „Psychiatrischen 
Wochenschrift“ schreibt: „Ein innerer Grund, die jugendlichen Geisteskranken 
anderen Bestimmungen zu unterwerfen, als die Erwachsenen, dürfte indes nicht 
anzuerkennen sein, da sie insbesondere an die psychiatrische Vorbildung des 
Anstaltsarztes genau dieselben Anforderungen stellen, wie jene“ Dann fährt 
er allerdings fort, „dass mit Rücksicht auf die verhältnismässig geringe Zahl 
der in Betracht kommenden Geisteskranken und die thatsächliche Entwicklung 
solcher Fälle in der Praxis hierüber hinweggesehen werden könne“. 

So leicht können wir vom pädagogischen Standpunkt aus uns mit dieser 
abermaligen Vermengung von jugendlichen Geisteskranken und Idioten nicht 
zufrieden geben. Wohl erkennen wir dankbar das Entgegenkommen an, welches 
die Regierung in der neuen Anweisung unseren Anstalten gegenüber bewies, 
um so unverständlicher erscheint es uns aber, wie trotzdem eine Gleichstellung 
von schulfähigen Idioten und jugendlichen Geisteskranken beibehalten 
werden konnte. Wenn ein innerer Grund zur Scheidung zwischen jugendlichen 
und erwachsenen Geisteskranken laut psychiatrischen Urteils nicht vorliegt, die 


an 


Regierung aber die von uns gewünschte Trennung der Idioten und Geistes- 
kranken für angezeigt findet (diese Absicht liegt den besonderen Bestimmungen 
in Abschnitt B doch wohl zu Grunde), warum mussten dann in der Anweisung 
mit unseren Zöglingen, die auf den Schulbänken sitzen, noch die jugendlichen 
Geisteskranken zusammenbegriffen werden? Es ist dies um so verwunderlicher, 
als durch die eigens zu diesem Zwecke erlassenen Ausnahmebestimmungen vom 
24. April 1896 die Idioten und Epileptischen im Alter unter 18 Jahren bereits 
als eine besondere, von den eigentlichen Geisteskranken abgegrenzte Gruppe 
charakterisiert worden waren. Sachlich werden wohl auch kaum die scharf 
hervortretenden Unterschiede zwischen dem klinischen Krankheitsbilde des 
kindlichen Schwachsinns und demjenigen desjugendlichen Irrsinns zu bestreiten sein. 

Nun könnten wir allerdings auch analog dem Referenten der „Psychiatri- 
schen Wochenschrift“ über diese Bedenken hinwegsehen, um so mehr, da uns *) 
die Anweisung im einzelnen doch manche Erleichterungen und Vorteile brachte. 
Allein für uns hat gerade diese Frage eine besondere praktische Bedeutung. 
Denn dadurch, dass unsere Kinder in der Anweisung kurzweg als „Geisteskranke 
unter 18 Jahren“ aufgefasst und mit den „jugendlichen Irren“ in Reih und 
Glied gestellt werden, ist den ärztlichen Befugnissen über unsere Anstalten, die, 
wie die Erfahrungen der letzten Jahre bewiesen, nicht immer zum Vorteil 
unseres pädagogischen Wirkens angewendet wurden,. von vornherein wieder ein 
bedenklich grosser Spielraum gelassen; zum mindesten hat die Grenzregulierung 
zwischen Internaten für geistig Zurückgebliebene und Irrenhäusern nicht in dem 
Grade stattgefunden, wie es im Interesse unserer Schulen und eines freien, un- 
befangenen Zusammenarbeitens von Medizin und Pädagogik zu wünschen wäre. 
Wir wollen unsere Anstalten durchaus nicht einer zweckmässigen Kontrolle 
jener staatlicherseits bestellten medizinalen Besuchskommission entziehen, so 
wenig wir der Medizin resp. Psychiatrie das Recht, an unseren heilpädagogischen 
Bestrebungen teilzunehmen, abstreiten; wir sind uns vollkommen bewusst, welch 
wichtigen Anteil der Arzt resp Psychiater an der Behandlung geistig abnormer 
Kinder nehmen und welch segensreiche Früchte ein harmonisches Zusammen- 
wirken von Arzt und Schulmann zeitigen kann. Aber wir können nicht zu- 
geben, dass unsere schwachsinnigen Schulkinder als jugendliche Geisteskranke 
behandelt und unsere Anstaltsschulen der Willkür ärztlicher Aufsichts- 
beamter preisgegeben werden. Wir verweisen an dieser Stelle noch an die 
sehr beherzigenswerten und durchaus sachlich gehaltenen Bemerkungen Trüpers 
über die Schularztfrage gelegentlich einer Rezension der Laqueur’schen Broschüre 
„Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder“ (Zeitschrift für Kinderforschung, 
Heft I und II St. 46 ff. resp. 86 ff.), sowie an dessen Abhandlung „Pädagogik 
und Medizin“ im V. Band der Rein’'schen pädagogischen Encyklopädie. 

In folgendem seien nun die Einzelheiten des Abschnitts B (er umfasst nur 
einen $, den $ 22) einer eingehenden Prüfung unterworfen. Wenn wir uns 


*) Wir stellen uns dabei vollständig auf den Boden der ausschliesslichen Unter- 
richtsanstalten für Schwachsinnige, wie auch alles Weitere unter dem Gesichtspunkt 
dieser Anstalten aufgefasst sein will. 


an. 


dabei lediglich auf den heilpädagogischen Standpunkt stellen, so sind wir 
uns recht wohl bewusst, dass dies nicht im Sinne der Regierung liegt, welche 
bei jenem $ 22 eben nicht in erster Linie jugendliche, bildungsfähige Schwach- 
sinnige, sondern überhaupt alle geistig Kranken im Alter unter 18 Jahren im 
Auge hatte. Da nun aber einmal unsere Unterrichts-Anstalten unter diesen $ 
fallen, so steht uns auch das Recht zu, denselben nur von diesem Gesichts- 
punkt aus zu betrachten. Der $ 22 gliedert sich in 10 Abschnitte. 

Absatz 1 behandelt die Aufnahme. Dazu bedarf es: 

a) einer ärztlichen Bescheinigung resp. Begründung der Aufnahme- 

notwendigkeit, 

b) des Antrages des gesetzlichen Vertreters oder des zur Unterstützung 
verpflichteten Armenverbandes, 

c) einer vertraulichen Anzeige der Aufnahme an die Ortspolizeibehörde. 

Im Unterschied von der alten Anweisung, die bei der Aufnahme ein kreis- 
pbysikatlisches Attest verlangte, genügt jetzt das Zeugnis jedes approbierten 
Arztes. Doch war diese Erleichterung den Idiotenanstalten schon früher durch 
ein ministerielles Rundschreiben zugestanden worden. Ebenso ist die neu 
hinzugekommene Bestimmung über die Gültigkeitsdauer des ärztlichen Attestes 
(3 Monate vom Tage der letzten Untersuchung) insofern keine Neuerung mehr, 
als dies schon durch den Ausnahmeerlass vom 24. April 1896 festgesetzt war. 

Absatz 2 giebt Bestimmungen betreffend die Übernahme aus anderen 
öffentlichen und privaten Anstalten. Es gilt hier derselbe $ (6) wie bei er- 
wachsenen Geisteskranken. Verlangt wird: 

a) ein Übergabeschein, 

b) eine beglaubigte Abschrift des ärztlichen Aufnahmezeugnisses, 

c) zutreffenden Falles eine Abschrift des Nachweises der erfolgten Ent- 

mündigung, 

d) sofern nicht die Krankengeschichte zur Einsicht oder in Abschrift bei- 
gefügt wird, eine ärztliche Mitteilung der für die Behandlung wichtigsten 
Beobachtungen, 

e) vom ärztlichen Leiter der früheren Anstalt eine Bescheinigung darüber, 
dass das Leiden die weitere Behandlung in einer Anstalt bedingt und 
ob der Kranke als voraussichtlich heilbar anzusehen ist. 

Neu hinzugetreten ist in diesem Absatz Punkt d, eine gewiss zweckmässige 
und anerkennenswerte Bestimmung, durch die es dem später behandelnden Arzte 
(Pädagogen !) ermöglicht wird, sich sofort ein klares Bild von dem Krankheits- 
zustand des neuen Patienten und damit die nötigsten Aufschlüsse über die 
Behandlung desselben zu verschaffen. Leider müssen wir dabei, da diese An- 
ordnung (d. h. der ganze, zunächst für erwachsene Geisteskranke festgesetzte 
8 6) ohne jede Modifikation auf die „Kranken im Alter unter 18 Jahren“ 
übertragen wurde, eine entsprechende Beachtung der bei der Behandlung 
unserer Zöglinge doch entschieden hervortretenden heil-pädagogischen 
Prinzipien vollständig vermissen. Es hätte sicherlich der Autorität der Ärzte 
nichts geschadet, der guten Sache aber ohne Zweifel genützt, wenn die für er- 


159 

wachsene Geisteskranke geltenden Übernahmebestimmungen in ihrer Anwendung 
auf Idioten ete. eine Abänderung resp. Ergänzung dahingehend gefunden hätten, 
dass bei der Übergabe schulfähiger Anstaltszöglinge neben den ärztlichen 
Zeugnissen auch das Urteil des Pädagogen zu seinem Rechte gekommen wäre. 
Aber freilich: Das liegt ja gar nicht im Zwecke einer solchen Bestimmung. 
Damit mögen wir uns getrösten. — Allerdings ist der bemängelte Umstand 
für uns von ziemlich untergeordneter Bedeutung, da einerseits Übernahmen aus 
anderen Anstalten bei uns verhältnismässig nur selten stattfinden und anderer- 
seits bei etwa doch vorkommenden Fällen der Pädagoge den abziehenden Zög- 
ling auch ohne „höhere Verfügung“ mit den nötigen Zeugnissen, schriftlichen 
Mitteilungen über Beobachtungen, über den augenblicklichen Stand des Schülers 
u. s. w. auszustatten pflegt. Wenn wir diesen Punkt trotzdem erwähnten, so 
geschah es nur um zu zeigen, wie deutlich hier wieder die Unzulänglichkeit 
des Bestrebens hervortritt, unsere Kinder ohne weiteres denselben Bestimmungen 
unterstellen zu wollen, denen die Geisteskranken unterliegen. 

Ein das vorhin Gesagte noch klarer beweisendes Beispiel bietet der nächste 
Absatz (Absatz 3), der hinsichtlich der Entlassung unserer Zöglinge genau 
dasselbe vorschreibt, was auch bei erwachsenen Geisteskranken verlangt wird 
und dadurch verschiedene Bestimmungen giebt, bei denen auch der Nicht- 
Eingeweihte auf den ersten Blick erkennt, dass sie in Anwendung auf die Ver- 
hältnisse unserer Unterrichtsanstalten praktisch völlig wertlos sind. Dies im 
einzelnen näher zu zeigen, würde jedoch zu weit führen. 

Als Nachtrag zu Absatz 2 sei bezüglich der Aufnahme von Ausländern 
noch bemerkt, dass künftighin nicht nur diese, sondern auch die Angehörigen 
jedes anderen deutschen Staates (Nicht-Preussen) dem zuständigen Regierungs- 
präsidenten angezeigt werden müssen. 

Beurlaubungen können nach Absatz 4 unter Zustimmung des Arztes 
bis zur Dauer von 6 Monaten stattfinden. Also eine abermalige Verlängerung 
der Urlaubszeit, nachdem die Ausnahmebestimmungen die ursprünglichen 
2 Wochen bereits auf 3 Monate erhöht hatten. Man beachte auch „unter 
ärztlicher Zustimmung“. Merkwäürdig erscheint ferner, dass denselben Kranken, 
denen gegenüber man sich im vorigen Absatz zur Vorschrift höchst penibler 
Entlassungsbestimmungen genötigt sah, in Absatz 4 eine solch lange Beurlaubungs- 
dauer eingeräumt wird. Besondere praktische Wichtigkeit dürfte diese Erhöhung 
der Urlaubszeit für unsere Anstalten übrigens kaum besitzen. 

Absatz 5 unterstellt unsere Anstalten bezüglich ihrer Einrichtung den 
„allgemeinen gesundheitspolizeilichen Vorschriften“. Es ist dies von nicht un- 
wichtiger Bedeutung. Denn damit wird den Anstalten für jugendliche Kranke 
nicht nur eine grosse Erleichterung gewährt, sondern sie treten auch in direkten 
Gegensatz zu den eigentlichen Irrenanstalten, auf welche die viel schärferen 
„polizeilichen Vorschriften für Krankenanstalten etc.“ und ausserdem noch ver- 
schiedene andere besondere Bestimmungen in $ 19 der Anweisung Anwendung 
finden. Es lässt sich hier also eine recht scharfe, erfreuliche Unterscheidung 
zwischen „Irrenhäusern“ und „Erziehungsanstalten“ konstatieren. Nur auf 


160 
Räume und Einrichtungen, die für mit körperlichen Schwächezuständen Be- 
haftete, für Unreinliche, Bettlägerige bestimmt sind, müssen jene Vorschriften 
für Krankenanstalten angewendet werden 

Absatz 6 kann eventuell missverstanden werden. Gemeint ist natürlich 
nicht, dass der Anstaltsleiter bei etwaiger kürzerer oder längerer Abwesenheit 
seine entsprechende Vertretung der Ortspolizei anzeige, sondern dass der 
finanzielle Unternehmer und rechtliche Besitzer einer Anstalt (bei Wohl- 
thätigkeitsinstituten sind es meist Vereine, Genossenschaften, weltliche oder 
geistliche Orden etc.) über die Anstellung des von ihm gewählten und mit der 
Leitung und Vertretung der Anstalt betrauten Anstaltsvorstehers bei der 
benannten Behörde Mitteilung mache. 

Von besonderer Wichtigkeit ist Absatz 7, der die Thätigkeit des Arztes 
in der Anstalt ins Auge fasst. Wenngleich derselbe an Klarheit und Bestimmt- 
heit der einzelnen Vorschriften sehr zu wünschen übrig lässt, so bedeutet er 
für uns doch immerhin einen Fortschritt Schon der einleitende Satz: „In 
jeder Anstalt muss die ärztliche Thätigkeit genau geregelt sein“, sticht von 
den schroffen und unzweideutigen Bestimmungen der „alten Anweisung“ („Die 
Anstalten müssen von einem in der Psychiatrie bewanderten Arzte geleitet 
werden“) recht angenehm ab und giebt deutlich zu erkennen, dass die Regierung 
willens ist, die ehemaligen Härten zu mildern. Sodann heisst es weiter: „Ob 
die psychiatrische Vorbildung des anzustellenden Arztes im einzelnen Falle für 
genügend erachtet wird, entscheidet der Regierungs-Präsident nach Anhörung 
der Besuchskommission “ Die Regierung erkennt also an, dass für unsere An- 
stalten entsprechenden Falles auch ein Arzt ohne psychiatrische Vorbildung 
genügt. Da nun aber unseıe Anstalten in erster Linie dem geistigen Zustand 
ihrer Zöglinge dienen, von einer ausgesprochen psychiatrischen Mithilfe 
seitens des Arztes jedoch abgesehen wird, so folgt daraus indirekt, dass dem 
Arzt auch nicht mehr eine leitende Stellung in unseren Anstalten zugedacht 
sein kann. In konsequenter Weise lässt darum die Anweisung auch den Be- 
griff „leitender Arzt“ fallen. Nun ist allerdings auf die in $ 20 dem „leitenden 
Arzt“ an Privatirrenanstalten gegebenen Vorschriften hingewiesen, aber mit 
der Bemerkung, dass sie „entsprechende Anwendung“ auf den Arzt der 
Anstalt finden sollen. Diese sehr deutungsfähige „entsprechende Anwen- 
dung“ hängt — wie auch vorhin bemerkt — von dem Urteil der Besachs- 
kommission und der Entscheidung des Regierungspräsidenten ab. Wir wären 
in dieser Hinsicht also vollständig dem Ermessen jener Herren preisgegeben, 
wenn nicht nachher noch in unzweideutiger Weise festgesetzt wäre, dass, „SO- 
weit die Anstalt ausserdem bezüglich des Unterrichts und der Ausbildung 
bestimmte Aufgaben erfülle, die Einzelheiten, auch die Verwendung des Personals 
hierzu dem Unternehmer der Anstalt überlassen bleibe“. 

Leider können wir uns auch über diese verhältnismässig günstige Be- 
stimmung nicht von ganzem Herzen freuen, denn gleich darauf kommt in einem 
Einschränkungspassus das ärztliche Übergewicht über unsere pädagogische 
Arbeit wieder recht schroff zum Ausdruck. Es heisst da: „Der Unternehmer 


pr 


hat jedoch, falls ärztlicherseits dem Zustand der Pfleglinge nicht ent- 
sprechende Massregeln oder ein unzweckmässiges Benehmen des Personals fest- 
gestellt wird, alsbald Abhilfe zu schaffen“ Gelangt die vom Arzte für not- 
wendig erachtete Anordnung nicht zur Ausführung, „so ist durch den Kreis- 
arzt an den Regierungspräsidenten zu berichten“. Es ist ganz selbstverständlich, 
dass von dem Unternehmer resp. Leiter einer Anstalt, wenn sich in irgend 
welcher Hinsicht Missstände herausstellen, unter denen das Wohl der Anstalts- 
zöglinge oder auch nur eines Teils derselben notleidet, entsprechende Abhilfe 
erwartet werden kann. Fraglich erscheint jedoch, ob die in solchen Fällen dem 
Arzte eingeräumte Stellung als Aufsichtsbeamter die richtige ist und ob sie 
immer zum wirklichen Segen einer Anstalt gereichen wird. Denn da den 
Arzte keinerlei Grenzen in seiner Aufsichtsbefugnis gezogen sind und ihn 
niemand daran hindern kann, sein Aufsichts- und Einspruchsrecht eventuell 
bis in den äussersten Schulwinke] auszudehnen, so kann das unter Umständen 
zu recht unliebsamen Konflikten führen, die sich im Interesse der guten Sache 
durch entsprechende Vorschriften leicht vermeiden liessen. Darum wäre gerade 
in diesem Punkt einerseits eine mildere und andererseits eine genauer präzi- 
sierte Form der Vorschriften zu wünschen gewesen entsprechend dem bereits 
angeführten Satz der Anweisung, dass in jeder Anstalt die Thätigkeit des Arztes 
genau reguliert sein müsse. Allerdings dürfen wir an dieser Stelle nicht ver- 
säumen, auch der Überzeugung Ausdruck zu geben, dass gegebenen Falls die 
gesunden, objektiven Anschauungen und tüchtigen Gesinnungen der hier in 
Frage kommenden Persönlichkeiten eine weit bessere Garantie für das harmo- 
nische Zusammenwirken von Medizin und Pädagogik bilden „können“ als 
der tote Geist eines schablonenhaften, papierenen Paragraphenwerks. 

Die drei letzten Absätze befassen sich noch mit einigen Vorschriften, die 
mit der Zweiteilung des neuen Erlasses in Bestimmungen für Kranke im Alter 
unter und über 18 Jahren in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Man 
kann über die Notwendigkeit derselben verschiedener Meinung sein und that- 
sächlich wurde in den entsprechenden Kreisen auch schon der Wunsch laut, 
die Absätze 8 — 10 kämen ganz in Wegfall. Jedoch nachdem von Seiten der 
Regierung einmal das 18. Lebensjahr als Unterscheidungsgrenze festgesetzt war 
und indirekt verlangt wurde, die Anstalten unter B sollten nur jugendliche 
Kranke beherbergen, mussten konsequenter Weise auch für solche Fälle Vor- 
schriften getroffen werden, bei denen Zöglinge in Anstalten für jugendliche 
Kranke das 18. Lebensjahr überschreiten. Nach Absatz 8 ist der Aufenthalt 
eines solchen Zöglings in der Anstalt unter Beifügung einer ärztlichen 
Äusserung über seinen Zustand dem ersten Staatsanwalt desjenigen Gerichtes 
anzuzeigen, welches für die Entmündigung zuständig ist. Neben einer event. 
Einleitung des gesetzlichen Entmündigungsverfahrens handelt es sich dabei 
allem Anscheine nach um die Entscheidung darüber, ob der betreffende noch 
länger in der seitherigen Anstalt verbleiben darf oder nicht. Nach Absatz 9 
ist das möglich, der in allerdings sehr unbestimmter Weise festsetzt, dass der 
längere Verbleib eines Kranken nach Vollendung des 18. Lebensjahres von den 


162 


„Einzelheiten des Falles“, insbesondere aber. auch von der „Art der Anstalt“ 
abhänge Nach Absatz 10 muss auf Anordnung des Regierungspräsidenten 
sogar die Entlassung oder Überführung eines Kranken auch vor Vollendung 
des 18. Lebensjahres erfolgen. 

Der Grund, warum diese drei letzten Bestimmungen in den entsprechenden 
Kreisen besondere Bedenken erregten, ist das geringe Vertrauen, das die 
Regierung gerade durch sie den nichtärztlichen Anstaltsleitern gegenüber 
zum Ausdruck bringt. Sehen wir von der rein äusserlichen Einteilung der 
Anstalten in solche für erwachsene Kranke und solche für jugendliche Kranke 
ab und setzen dafür die uns zweckmässiger erscheinende Unterscheidung zwischen 
Pflegehäusern und Unterrichtsanstalten, so formuliert sich für uns die Frage 
dahin : Ist in reinen Pflegeanstalten ärztliche Leitung notwendig oder nicht? 

Vom nur pädagogischen Standpunkt aus kann uns die Lösung dieser 
Frage gleichgiltig sein. Haben die Schwachsinnigen einmal jene Grenze über- 
schritten, da die pädagogische Therapie auf sie keine nennenswerten Einflüsse 
mehr auszuüben vermag, so wird ihre Behandlung resp. Verpflegung von der 
Pädagogik auch kaum mehr als besonderes Vorrecht in Anspruch genommen 
werden können, womit aber keineswegs gesagt ist, dass die Leitung reiner 
Pflegeanstalten durch Geistiiche oder Pädagogen als unzureichend anzusehen 
sei. Wie — auch von ärztlicher Seite — schon oft betont wurde, hängt die 
Garantie für eine zweckmässige und gewissenhafte Verpflegung bildungsunfähiger 
Idioten weit mehr von der persönlichen Gesinnung und Tüchtigkeit des Leiters 
als von seiner beruflichen Stellung ab. Da aber wir Pädagogen und Geistliche 
dabei der ärztlichen Mithilfe und Unterstützung nicht völlig entraten können, 
so dürfen wir uns nicht verhehlen, dass der Streit um die Oberleitung in 
solchen Anstalten auf unserer Seite aussichtsloser ist als auf Seiten der Mediziner. 
Dies hängt nun einmal mit unserer modernen Zeitströmung zusammen, in der 
die mehr oder weniger berechtigten Einflüsse der Medizin auf das öffentliche 
Leben immer stärker hervortreten und an Bedeutung gewinnen. Darum er- 
schiene es uns im Interesse unseres heilpädagogischen Wirkens bei einer etwa 
notwendig werdenden Entscheidung als das Naheliegendste, jene Anstalten, die 
nicht mehr in das eigentliche Arbeitsfeld der Heilpädagogik bei Schwach- 
sinnigen fallen, entsprechenden Falls der ärztlichen Oberaufsicht zu überlassen, 
um dann um so unbehinderter und wirkungsvoller für die rein pädagogischen 
Interessen unserer Unterrichtsanstalten eintreten zu können, die bisher wohl 
nur deshalb von der Regierung eine so stiefmütterliche Behandlung erfuhren, 
weil sie eben immer mit den Pflegehäusern in einen Topf geworfen werden. 
Die nächste praktische Folge der neuen Bestimmung wird darum auch sein, 
dass künftighin zwischen Unterrichtsanstalten und Pflegehäusern viel schärfer 
wird unterschieden werden müssen, als dies bisher geschehen ist. Hat sich dann 
im Laufe der Zeit aus der Zahl der Idiotenanstalten eine scharf markierte Gruppe 
reiner Erziehungsinstitute herausgebildet, so wird es ohne Zweifel auch nicht 
an einem grösseren Entgegenkommen seitens der Regierung fehlen. Denn sicher 
ist, dass fast jedesmal, wenn Ärzte für die Notwendigkeit ärztlicher Leitung 


163 
unserer Anstalten eintreten, sie bei dem Begriff „Idioten-Anstalt“ Pfleghäuser 
für die tiefsten Formen des Schwachsinns im Auge haben. Führt man diese 
Herren jedoch in eine ausgesprochene Erziehungsanstalt, wo sie in den Schulen 
ein Häuflein schwacher, aber fröhlich antwortender Kinder, schön resp. ordent- 
lich geschriebene Aufsätze, hübsche Zeichnungen und dergleichen mehr finden, 
so sind sie meist auch sofort der Überzeugung, dass hier die Mitthätigkeit 
des Arztes zwar angezeigt, mitunter auch notwendig sei, dass die Hauptaufgabe 
aber doch den Händen eines verständnisvollen Pädagogen anvertraut bleiben 
müsse. Darum hat sich unser Streben in erster Linie dahin zu richten, unserer 
Erziehungsarbeit an Schwachsinnigen in der Öffentlichkeit, d. h. in den mass- 
gebenden Kreisen die gebührende Anerkennung und Achtung zu verschaffen. 
Das wird aber nur geschehen, wenn wir tüchtige Leistungen aufzuweisen haben. 
Von welchen Faktoren diese abhängen, liegt auf der Hand: von dem Fleiss, der 
Tüchtigkeit und Treue der Lehrer, aber auch — und nicht zum mindesten -— 
von dem Anstaltsleiter, der das ihm unterstellte Lebr- und Wartepersonal mit 
lebendigem pädagogischen Geist und Eifer, namentlich aber auch mit einem 
klaren Bewusstsein von der Bedeutung unserer heilpädagogischen Aufgabe zu 
beseelen hat. Gar manches liesse sich hierüber sagen ; doch es würde zu weit 
führen. Vielleicht findet sich später einmal Gelegenheit, darauf zurückzukommen. 

Der Abschnitt C der neuen Anweisung enthält gemeinsame Bestimmungen, 
die sich auf die Anstalten für jugendliche und erwachsene Geisteskranke zugleich 
beziehen. Von Bedeutung für uns sind hier namentlich die Vorschriften bezüg- 
lich der Beaufsichtigung, die sich jedoch von denjenigen der alten Anweisung 
nur unwesentlich unterscheiden. Auch über die Zusammensetzung der Besuchs- 
kommission finden sich keinerlei neue Vorschriften. Als Ergänzung muss hier 
das Antwortschreiben der pp. Minister vom 25. März 1901 an den Vorstand 
der Vereinigung deutscher Anstaltsleiter angeführt werden, in dem es folgender- 
massen heist: „Zugleich habe ich, der mitunterzeichnete Minister der geistlichen 
pp. Angelegenheiten durch Erlass vom heutigen Tage*) die Regierungs-Präsidenten 
mit Anweisung versehen, dass sie die pädagogischen Verhältnisse derjenigen 
Idiotenanstalten, in welchen ein geordneter Schulunterricht erteilt wird, durch 
die schultechnischen Organe der Regierung überwachen lassen.“ 

*) Der Erlass lautet: „Es hat sich als erwünscht herausgestellt, dass diejenigen 
Anstalten für jugendliche Epileptische und Idioten, in welchen ein geordneter Schul- 
unterricht erteilt wird, neben der durch die Anweisung vom 26. März 1901 angeordneten 
medizinalpolizeilichen Aufsicht auch in schultechnischer Beziehung, soweit erforderlich, 
überwacht werden. 

Hiernach ersuche ich, diese Anstalten nach Bedürfnis auch durch die schultechnischen 
Organe der Regierung revidieren zu lassen. Bei solcher Besichtigung sind die Berichte 
der Besuchskommission zu berücksichtigen; ebenso ist das Ergebnis der pädagogischen 
Prüfung zunächst der Besuchskommission zugänglich zu machen und demnächst bei der 
jährlichen Einreichung der Berichte derselben den letzteren beizufügen. Endlich wird 
es sich empfehlen, vor Anordnung eingreifender Massnahmen auf Grund der schul- 
technischen Revisionen neben der reverierenden oder korreverierenden Beteiligung des 


Regierungs- und Medizinalrats erforderlichen Falls auch die Besuchskommission zu hören. 
gez. Studt.“ 


164 

Damit wäre auch in dieser Beziehung den Wünschen unserer pädagogischen 
Anstaltsleiter Genüge geleistet, und es ist nun abzuwarten, wie unsere Schul- 
einrichtungen resp. Schulleistungen vor den schultechnischen Organen bestehen 
werden. Das ist aber von nicht geringer Wichtigkeit; denn von diesen Schul- 
revisions-Protokollen wird es in erster Linie abhängen, welches Mass von Ent- 
gegenkommen seitens der Regierung unsere Unterrichtsaustalten künftighin ge- 
niessen werden. Möge es in dieser Hinsicht nicht einmal heissen: „Die ich rief 
die Geister, werd’ ich nun nicht los!“ Zunächst haben wir nur erreicht, 
dass unsere Anstalten statt unter einer, nunmehr unter zwei Aufsichts- 
behörden stehen, unter der medizinischen und pädagogischen. Ob es uns 
je einmal gelingen wird, wie die Volks- und Hilfsschulen, resp. wie die Taub- 
stummen-, Blinden- und ähnliche Anstalten nur der Schulverwaltung unterstellt 
zu werden — ein Ideal, das einem Teil der Anstaltsleiter vorzuschweben scheint —, 
ist eine höchst ungewisse Frage, die noch mehr an Wahrscheinlichkeit ver- 
loren hat, seitdem der Minister der geistlichen pp. Angelegenheiten nach einem 
Rundschreiben jüngsten Datums auch bezüglich der Hilfsschulen „lebhaft wünscht, 
dass bei der nächsten Zusammenstellung sich keine Hilfsschule mehr finde, 
bei der nicht die regelmässige Zuziehung eines Arztes vorgesehen ist“. Jeden- 
falls lässt sich nicht leugnen, dass die Regierung in jeder Weise bestrebt ist, 
die Stellung des Arztes unseren Instituten gegenüber zu stärken und ihm den 
weitgehendsten Einfluss bei der Behandlung geistig abnormer Kinder zu sichern. 
Das zeigt auch die neue Anweisung recht deutlich trotz der verschiedenen Er- 
leichterungen, die sie uns auf der anderen Seite brachte. Wie wir schon ein- 
mal erwähnten, haben wir gegen eine sachlich berechtigte Stellungnahme des 
Arztes unserer Anstalts-Erziehungsarbeit gegenüber durchaus nichts einzuwenden, 
iin Gegenteil, wir wissen eine wohlmeinende und beratende ärztliche Mithilfe 
recht wohl zu würdigen. Wenn dagegen der Arzt die ihm von der Regierung 
eingeräumten Befugnisse zu einer bureaukratischen Überwachung benützt und 
seinen Einfluss in einseitiger Verfolgung ärztlicher Prinzipien in pedantische 
Nörgeleien, ungehörige Eingriffe in das Anstaltsleben u. 8. w. ausarten lässt, so 
kann das mindestens nicht zum Segen unserer Institute gereichen. Und dann 
wird sich immer wieder das dringende Bedürfnis herausstellen, für unsere An- 
stalten separate Bestimmungen zu erlangen, die einerseits der viel beanstandeten 
Gleichstellung unserer Zöglinge mit Geisteskranken (über und unter 18 Jahren) 
ein definitives Ende machten und andererseits der ärztlichen Thätigkeit in Au- 
stalten für Schwachsinnige und Idioten genaue Vorschriften auferlegten. Vor- 
läufig aber wollen wir der Hoffnung sein, dass auf Grund der neuen Anweisung 
trotz der mannigfachen Bedenken, die sich auch gegen sie erheben lassen, sowie 
in Erwartung eines persönlichen Wohlwollens und Verständuisses seitens der 
Ärzte unserer pädagogischen Aufgabe gegenüber doch noch im Interesse unserer 
Kinder ein fröhliches, segensreiches Zusammenwirker zu stande komme! 


165 


& 11 des Gesetzes vom 3. März 1897, betreffend das 
Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den 
öffentlichen Volksschulen. 

1. 


Im Anschluss an den in voriger Nummer erschienenen offenen Brief an 
den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld sei es mir gestattet, einige weitere 
Bemerkungen zu machen. 

Ich war vom 1. Oktober 1895 bis 31. Dezember 1898 als Hilfslehrer an 
der Idioten -Anstalt zu Liegnitz angestellt. Bei meiner Anstellung an den 
hiesigen stădtischen Volksschulen verfügte die hiesige Königl. Regierung, dass 
die von mir an der Liegnitzer Idioten - Anstalt verbrachte Dienstzeit nur ange- 
rechnet werden könne, falls ich 607,50 Mk. an die Alterszulagekasse zahle. 
Ich lebte in der festen Hoffnung, die Anstalt trage den Charakter einer 
öffentlichen Anstalt, denn 


1. die Anstalt hat den amtlichen Titel: „Idiotenbildungs- und Pflege- 
Anstalt für den Regierungsbezirk Liegnitz*; 


2. immer der jeweilige Regierungspräsident steht an der Spitze des Vor- 
standes der Anstalt; 


3. die Anstalt wird in derselben Weise verwaltet wie z. B. die Breslauer 
Taubstummen-Anstalt, und letztere ist eine Öffentliche; 


4. fast sämtliche Pfleglingsstellen werden von dem Landarmenverband resp. 
von der Provinz besetzt; 


5. drei meinen Vorgängern wurde die an der Anstalt verbrachte Dienst- 
zeit voll angerechnet. 


Wenn diese Anrechnung auch vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 3. März 1897 
geschah, so waren doch vorher schon ähnliche Bestimmungen vorhanden, und 
die Anrechnung geschah, wie ich in einem Falle bestimmt weiss, unter der 
Voraussetzung, die Anstalt trage den Charakter einer öffentlichen Anstalt. 
In anbetracht dieser Gründe wandte ich mich mit einem Gesuche an deu 
Herrn Minister und bat um Anrechnung der von mir an der Liegnitzer Idioten- 
Anstalt verbrachten Dienstzeit. Hierauf erhielt ich den Bescheid, dass die von 
mir an der Anstalt verbrachte Dienstzeit ohne Nachzahlung an die Alters- 
zulagekasse nicht angerechnet werden könne, da die Anstalt von einem Privat- 
verein unterhalten werde. Um nicht 3!/, Jahr meiner Dienstzeit zu verlieren, 
war ich gezwungen 607,50 Mk. an die Alterszulagekasse zu zahlen. 


Ich frage nun: Wodurch habe ich das verdient? Habe ich etwa dem 
Staate in diesen Jahren nichts geleistet? Und gesetzt den Fall, der Staat würde 
die Fürsorge für diese schwachsinnigen und blödsinnigen Kinder in die Hand 
nehmen (und das wäre durchaus keine unbillige Forderung an ihn), 
würden dann nicht gerade die Lehrer, die an solchen staatlichen Anstalten thätig 
wären event. in ganz besonderer Weise bevorzugt und honoriert werden! Warum 
werden also Wohlthätigkeitsanstalten und ihre Lehrer so stiefmütterlich behandelt! 


166 
Auf Grund meiner Erfahrungen möchte ich jeden lehrer, der Lust hat, 
in eine solche Anstalt einzutreten, davor ernstlich warnen, solange jener $ 11 
nicht abgeändert ist. 
Magdeburg, den 5. August 1901. 
W. Busch, 
Lehrer an der Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. 


Sehr geehrte Redaktion! 


Durch die Aufnahme des Artikels „An den Vorstand der Konferenz zu 
Elberfeld“, betreffend die Nichtanrechnung der in privaten Anstalten zugebrachten 
Dienstjahre in der letzten Nummer Ihrer geschätzten Zeitschrift haben Sie sich 
im Interesse der privaten Wohlthätigkeitsanstalten und deren Lehrer ein ent- 
schiedenes Verdienst erworben. Es war sicher an der Zeit, auf diese gewiss 
angreifbarste und ungerechtfertigste Bestimmung unseres neuen preussischen 
Lehrerbesoldungsgesetzes einmal öffentlich hinzuweisen und dadurch die Be- 
seitigung eines Missstandes anzuregen, unter dem in den letzten Jahren fast 
alle privaten Erziehungsanstalten, namentlich aber die in denselben angestellten 
Lehrer zu leiden hatten. Wenn bisher in dieser Sache nichts oder nicht viel 
geschehen ist, so ist daran keineswegs Unwichtigkeit oder praktische Bedentungs- 
losigkeit derselben schuld, als vielmehr der Umstand, dass es den hier in Frage 
kommenden Lehrern an der nötigen Organisation und damit an der Möglichkeit 
einer erfolgreichen Agitation und eines geschlossenen Vorgehens fehlte. Ein 
Versuch, in der besprochenen Angelegenheit eine Änderung herbei zu führen, 
ist übrigens bereits einmal gemacht worden, und zwar datiert derselbe aus der 
Zeit, in welcher im Abgeordnetenhaus gerade über das Lehrerbesoldungsgesetz 
beraten wurde. Soviel wir wissen, ging damals der Anstoss von dem Direktor 
Schwenk der Idsteiner Anstalt aus, der in Verbindung mit Barthold-München- 
Gladbach ein Rundschreiben versandte, nach welchem die Herren Abgeordneten 
aufgefordert werden sollten, im neuen Gesetze den privaten Wohlthätigkeits- 
anstalten bezüglich der Anrechnung der in ihnen zugebrachten Dienstjahre 
grössere Rechte einräumen zu wollen. Dabei ist zu bemerken, dass bis dahin, also 
bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes (1. April 1897), nach der Novelle 
zum Pensionsgesetz vom 26. April 1890 „mit Genehmigung des Unter- 
richts-Ministers nach Massgabe der Bestimmungen in den §§ 5—9 auch die 
Zeit angerechnet werden konnte, während welcher ein Lehrer an einer 
Taubstummen-, Blinden-, Idioten-, Waisen- oder ähnlichen Anstalt im Dienste 
einer Gemeinde oder eines sonstigen kommunalen Verbandes oder im Dienste 
einer Stiftungsanstalt sich befunden hat“, und dass jenes Rundschreiben 
nur eine prinzipielle, gesetzliche Regelung dieser Sache an Stelle einer Ab- 
hängigkeit von der jedesmaligen ministeriellen Genehmigung, die im 
einzelnen Falle auch versagt werden konnte, erstreben wollte. Statt dessen fiel 


167 | 


—[[2 


die betreffende Bestimmung im neuen Besoldungsgesetz noch viel schroffer aus, 
wie der vorliegende $ 11 deutlich genug zeigt. 

Der Gründe, die zu einem derartigen Beschluss des Abgeordnetenhauses 
führten, waren namentlich zwei: die Abgeordneten gingen zunächst einmal von 
der Ansicht aus, dass die Lehrer an Privatschulen lediglich aus materiellen 
Rücksichten und pekuniären Vorteilen den Öffentlichen Schuldienst ver- 
lassen, und dass es darum unbillig sei, ihnen bei ihrem Wiedereintritt in den 
Staatsdienst dieselhen Rechte und Vorteile zuzugestehen, die ihre von Anfang an 
im Öffentlichen Dienste unter weniger günstigen pekuniären Verhältnissen thätig 
gewesenen Kollegen nach Verlauf von einigen Jahren geniessen dürfen. 

In gewisser Hinsicht ist dies nicht ganz unrichtig, dann nämlich, wenn 
man unter Privatschulen solche versteht, die den Privatinteressen des 
Unternehmers dienen, der dabei etwas verdienen will, und dem Interesse der- 
jenigen, für die sie errichtet sind, also den Familien, die ihre Söhne und Töchter 
hingeben, um dort vielleicht einen sorgfältigeren und spezielleren Unterricht für 
ihre Kinder zu haben. Solche Privatschulen können gewiss ihren Lehrern 
höhere Gehälter zahlen, und diese unterliegen auch mit Recht den Lasten, 
wie sie das Gesetz auferlegt. Aber neben diesen Privatschulen stehen noch eine 
ganze Menge anderer Privatanstalten, die solchen Kindern dienen, welche aus 
irgend welchen Gründen in der öffentlichen Volksschule nicht unterrichtet werden 
können, die also durchaus notwendig sind und darum, weil der Staat hier die, 
Hilfe versagt, durch christliche Wohlthätigkeit ins Dasein gerufen wurden und 
auch ebenso erhalten werden. Dass diese privaten Anstalten im allgemeinen 
nicht über allzureiche Geldmittel verfügen, und dass sie darum ihren Lehrern 
kaum ein höheres Gehalt als das im öffentlichen Dienste üblichen gewähren 
können, liegt so sehr auf der Hand, dass dies wohl nicht erst durch statistische 
Zahlen belegt zu werden braucht. Bekommt aber doch in einzelnen Fällen der 
eine oder andere Lehrer in einer Anstalt ein paar Hundert Mark mehr, so ist 
wohl zu bedenken, dass er dafür auch einen weitaus schwereren Dienst als in 
der öffentlichen Volksschule zu leisten hat. Denn der Anstaltslehrer ist nicht 
nur Lehrer, sondern er nimmt gewöhnlich neben seinem eigentlichen Berufe 
noch eine besondere Stellung im Anstaltshaushalte ein, die ihm hunderterlei 
Pflichten und Obliegenheiten auferlegt, von denen der staatlich angestellte Lehrer 
nichts weiss, und die ersteren in seiner Bewegung ausserhalb der Schulstunden 
gewöhnlich sehr beschränken. Von einer „ungerechten Privilegierung“* könnte 
also nicht im geringsten die Rede sein, wenn man diesen Lehrern bei ihrem 
Rücktritt in den staatlichen Schuldienst gesetzlich dieselben Rechte zugestehen 
würde wie den Öffentlichen Volksschullehrern, umsomehr, da sie ja doch auch 
im weitesten Sinn des Wortes für das Öffentliche Interesse (und nicht für 
einen gewinnsuchenden Privatmann) gewirkt haben. 

Der 2. Grund der Abgeordneten, den $ 11 in seiner jetzigen Fassung anzu- 
nehmen, ist laut des stenographischen Berichtes der damaligen Sitzungen offenbar 
in dem Bestreben zu suchen, die unter dem Schutze des Zentrums stehenden 
privaten konfessionellen Minoritätsschulen soviel als möglich niederzubalten. 


199. 


Mag man nun über die Rechtlichkeit eines solchen Prinzipes denken, wie man 
will, soviel ist doch auf den ersten Blick klar, dass die vielen Veranstaltungen 
der christlichen Caritas mit diesen konfessionellen Minoritätsschulen nicht 
das mindeste gemein haben, dass sie auf ganz anderer Grundlage stehen und 
ganz andere Zwecke verfolgen, und dass es darum eine Inkonsequenz ist, diese 
mit jenen unter ein Messer zu bringen, bloss weil beide zufällig „privaten“ 
Charakter haben. Letzteres muse um so mehr betont werden, als darin fast 
alle Abgeordneten einig waren, dass den privaten Anstalten derinneren Mission 
ein weitgehendes Entgegenkommen gezeigt werden müsse. Diese Ansicht tritt 
namentlich aus folgenden Worten eines Abgeordneten hervor: „Nun hat der 
Herr Vorredner gemeint, ich wüsste auch gar nicht, dass es sich bei diesem $ 
($ 11) um Einrichtungen handelte, welche den Herren von der Rechten am 
Herzen lägen, Einrichtungen der christlichen Caritas u. s. w. Doch ich weiss das! 
Ich habe auch gar nichts dagegen, dass man diese mäglichst zu unterstützen 
sucht, aber wer sagt mir denn, welche Anstalten überbaupt unter den $ fallen? 
Das ist gerade das Hauptbedenken, welches ich habe, dass ich gar keine Über- 
sicht über sämtliche Einrichtungen habe, auf welche der $ Bezug nimmt. Könnte 
man mir ein Tableau entwerfen: ja, es handelt sich um die und die Anstalten, 
die und die Kategorien von Unterrichtsaustalten, so würde ich mich eher damit 
befreunden können.“ Hieraus ist zugleich ersichtlich, in welcher Richtung und 
. auf welche Art und Weise sich am ehesten im Interesse der privaten Wohl- 
thätigkeitsanstalten und ihrer Lehrer etwas erreichen liesse, nämlich durch einen 
streng abgegrenzten Zusammenschluss dieser Kategorie von Anstalten mit dem 
bestimmten Bestreben, für diese Wohlthätigkeitseinrichtungen mildere, d. h. ge- 
rechtere Vorschriften zu erlangen. Dass dabei nichts Unbilliges erstrebt wird, 
liegt für jeden gerecht Denkenden auf der Hand. Schliesslich kann auch noch 
darauf hingewiesen werden, dass nach einer Bestimmung desselben Lehrer- 
besoldungsgesetzes die im ausserpreussischen Öffentlichen Schuldienst zu- 
gebrachten Dienstjahre ohne weiteres angerechnet werden können. War also 
beispielsweise ein Lehrer 10 Jahre im bayrischen Öffentlichen Schuldienst 
thätig, so bedarf es bei einem etwaigen Eintritt desselben in den preussischen 
Volksschuldienst bloss eines Bittgesuches an den Minister, und seine Dienstzeit 
wird ihm ohne Nachteil angerechnet, während ein Lehrer, der etwa dieselbe 
Zeit in einer preussischen Privatanstalt angestellt war, dieses Recht mit einem 
Kostenaufwand von 2700 Mk. zu erkaufen hat. Wo, fragt: man sich da, liegt 
hier die Konsequenz der Gesetzgebung? Wodurch hat jener bayrısche Lehrer, 
der speziell dem preussischen Staat noch nicht das mindeste leistete, ein solches 
Privilegium gegenüber dem preussischen Privatanstaltslebrer verdient? Wenn 
einer von den beiden der preussischen Regierung näher steht, so ist es doch ent- 
schieden der letztere, und doch bekommt gerade dieser allein die ganze Härte 
jenes $ zu fühlen. 

Eine weitere Inkonsequenz liegt in der Thatsache, dass nach dem Willen 
der Königl. Regierung die Privatanstalten nur staatlich geprüfte Lehrer anstellen 
sollen und dass dabei jedesmal die Genehmigung derselben nachzusuchen ist — 


Zu 


trotzdem aber macht es dieselbe Regierung durch ihre gesetzlichen Bestimmungen 
den Anstalten geradezu unmöglich, seminaristisch gebildete Lehrer zu erlangen. 
Denn das wird wohl niemand einem Lehrer zumuten wollen, unter solchen 
Umständen eine Stelle in einer Privatanstalt zu übernehmen. 

Nach dem Ausgeführten kann ich mich der Bitte des Schreibers in der 
letzten Nummer dieser Zeitschrift nur dringend anschlie-sen, die Konferenz 
möge in ernste Beratungen über diese Angelegenheit eintreten und in Erwägung 
ziehen, was sich vom Standpunkt der Konferenz aus zur Beseitigung des be- 
sprochenen Missstandes thun lässt. Die Anstaltsleiter sind dies nicht nur ihren 
Anstalten sondern namentlich auch ibren Lehrern schuld, die, soweit sie auch 
nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes (1. April 1897) ihren Anstalten treu 
geblieben sind, unverdienterweise in eine recht unangenehme Lage versetzt 
wurden. 


Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- 
sinnige: J. Landenberger. 


Von Dir. Kölle- Regensberg. 
(Schluss.) 

Immer wieder berührt es eigentümlich, dass er von der Intelligenz den 
Willen trennt. Er sagt im 12. Bericht: 

„Noch vor vier Jahren erklärten wir, der im Blödsinn gebundene Wille könne nie 
frei gemacht werden, das blödsinnigo Kind sei nur gewöhnungsfähig, diese Behauptung 
müssen wir jetzt glücklicherweise widerrufen.“ 

Und im 17. Bericht: 

„Die Erziehung des Willens zur wahren Freiheit muss der Gipfelpunkt, das Ziel 
aller Arbeit an Schwachsinnige sein und ist in der That ein schwereres Werk als 
selbst der Unterricht, obgleich ein geistbildender Unterricht Schwachsinniger nicht 
jedermanns Sache sein kann, sondern vieles Nachdenken, Kenntnis der Natur des 
Schülers, Erfahrung und Mühe erfordert.“ 

Als das beste Mittel, die Willensfreiheit zu erlangen, sieht er die 
Religion an. Er sagt darüber im 12. Bericht: 

‚Wenn der geistig gesunde Mensch bekanntlich, ohne religiös zu sein, zur bürger- 
lichen und sittlichen Mündigkeit und Selbständigkeit gelangt, so ist die Erringung der 
Selbständigkeit für den Schwachsinnigen, welche doch auch für ihn Ziel bleiben muss, 
ohne Religion schlechterdings unmöglich. Für ihn ist die Beziehung seines innern 
Lebens auf Gott und göttliches Gesetz der unentbehrliche Halt in seiner Schwäche, 
das wesentliche und unersetzliche Mittel, nm der Mündigkeit näher zu kommen, wo- 
möglich sie zu erringen. Ohne diesen innern Halt ist der Schwachsinnige, wenn er 
auch nur auf kurze Zeit der gewohnten äusseren Stütze und Leitung entbehrt, voll- 
kummen haltlos und jeder Verirrung und Verleitung preisgegeben. In wie fern Glaube 
und Gottesfurcht nicht nur den Willen stärkt, sondern auch den Menschen, auch 
den Schwachsinnigen denkend und verständig macht, braucht hier wohl nicht näher 


170 


nachgewiesen zu werden, nur das wollen wir bemerken, dass alle Religionswahrheiten, 
die der Volksschüler lernen soll, auch von unsern bessern Kindern gefasst werden, so 
gut sie die Kette eines schwereren geometrischen Beweises verstehen und geben können.“ 

Aus dieser Anschauung ergiebt sich eigentlich von selbst, dass Landen- 
berger dem dritten Hauptvermögen der Seele, dem Gefühlsvermögen, oder 
wie er sich ausdrückt, dem Gemüte die grösste Wichtigkeit beilegte. Für seine 
durch und durch religiös angelegte Natur steht der Mensch am höchsten, dessen 
Gemütsleben am besten ausgebildet ist. Dieses gilt ihm als Vermittlerin zwischen 
Mensch und Gott. Er schreibt darüber im 22. Bericht vom Jahre 1870: 

Von jeher hat man der Entwicklung der Intelligenz bei den Schwachsinnigen die 
hauptsächlichste Aufmerksamkeit zugewendet, obgleich von sachverständiger Seite die 
Wichtigkeit des Gemütslebens nie verkannt wurde In der That liess sich zum 
Voraus annehmen, dass die Schwäche der seelischen Funktionen nicht einseitig nur 
die Erkenntniskräfte betreffen könne, sondern dass auch im Gemütsleben entsprechende 
Defekte sich finden müssen. Einer eingehenden Untersuchung aber ist das Verhalten 
des Gemüts bei der Schwachsinnigkeit oder dem jugendlichen Blödsinn unsers Wissens 
nach nicht unterworfen worden; man begnügte sich mit allgemeinen Angaben, dass 
z. B. in vielen Fällen das Gemüt stumpf, in andern vorherrschend sei, dass die 
Schwachsinnigen der Religion meist sehr zugänglich seien etc. Da solche allgemeine 
Angaben der klaren Einsicht in diese Entartung der menschlichen Natur wenig 
Vorschub leisten, so soll unter nachstehendem, durch den Raum leider allzubeschränk- 
ten Ausführung versucht werden, einen Beitrag zur Orientierung und Aufklärung in 
der wichtigen Angelegenheit zu geben. 

Verfolgt man die Genesis des Gemüts, worunter hier ganz allgemein die fühlende 
Seite der Seele verstanden ist, in ihre Ursprünge zurück, so sieht man, dass in der 
Zeit des Fruchtlebens und in den ersten T,ebenstagen die Seele nur allein dem leib- 
lichen Leben und dessen wechselnden Erregungen und Stimmungen zugekehrt ist. 
In diesen ersten Anfängen des seelischen Lebens ist die fühlende Seele gleichsam 
nur der Spiegel des leiblichen Gemeingefühls und fällt mit demselben fast zusammen. 
Die Sinneserregungen, die das neugeborene Kind treffen, werden zuerst noch keines- 
wegs in ihrer Bestimmtheit aufgefasst, sondern haben zunächst nur den Wert von 
neuen Sensationen des Gemeingefühls und geben demnach ihren Beitrag zur Entwicklung 
des Gefühlslebens oder des Gemütes auf seiner untersten Stufe. Schon aus dieser 
grundlegenden Stellung des Gefühlslebens, aus dem sich weiter die höheren Stufen 
des Gemütes, sowie die Intelligenz entwickeln, welche beide bestimmend auf den 
Willen wirken, geht die grosse Wichtigkeit des Gefühls und sein Einfluss auf die 
gesamte Seelen- und Geistesthätigkeit hervor. Bei geistig tiefstehenden Menschen mit 
schwachem Willen sehen wir, wie oft die ganze Haltung der Seele von leiblichen 
Stimmungen und Empfindungen abhängig ist; aber auch der geistig durchgebildete 
Mensch wird sich nie ganz unabhängig davon stellen können. 

Nicht lange findet die Seele des Kindes ihre ganze Befriedignng in leiblichem 
Behagen: es erwacht ein weiteres Bedürfnis, das der Geselligkeit. Schon ein Wochen- 
kind, das gewöhnt ist, immer jemand in seiner Nähe zu haben, wird unruhig, wenn 
es sich allein fühlt, und bald lächelt der Säugling dem freundlichen Mutterantlitz 


171 

entgegen und zeigt so das erste Erwachen derjenigen Gefühle, welche die Menschen- 
seele im Umgang mit anderen Menschen bewegen. Die Seele wendet sich nun mit 
ihrem Fühlen, ihrem Bedürfen und Geniessen, ihrem Lieben der Mitwelt zu, und Zu- 
neigung, Anhänglichkeit, Freundschaft, Mitgefübl, Wohlwollen, Elternliebe, Kinderliebe 
etc. etc. entwickeln sich auf dieser mittleren Stufe des Gemüts je nach der äussern 
Anregung und der innern individuellen Anlage, und begründen ein Glück, das hoch 
über dem blos3 sinnlichen Behagen steht. 

Während die anfänglichen Äusserungen dieser Gemütsstufe noch ganz auf 
selbstischom Boden stehen, zeigt sich beim geistig gesunden Kinde doch recht bald 
die sittliche Anlage; es will das Verhältnis zu andern schon frühzeitig nach Gerechtig- 
keit geordnet wissen. Mit dem Erwachen der sittlichen Anlage hebt sich das Gemüt 
auf die höhere, spezifisch menschliche Stufe, die Seele wendet sich mit ihrem Fühlen 
Gott und seiner Geisteswelt zu. Gerechtigkeitsgefühl, Wahrheitsgefühl erwachen, das 
Gewissen wird thätig, Menschenliebe, Gottesbedürfnis und Gottesliebe, Gottesfriede und 
Gottseligkeit füllen das Gemüt und bilden die Quelle, aus der die edelsten und besten 
Werke hervorgehen. Überhaupt ist es das Gemüt, aus dem die Motive für unser 
Thun, sei es gut oder böse, entspringen, während dem Verstande hauptsächlich nur 
die Regelung des Thuns zukommt. 

Wie verhalten sich nun hinsichtlich der Gemütsentwicklung die verschiedenen 
Stufen des jugendlichen Blödsinns? (Wir unterscheiden drei durch den Zustand des 
Willens natürlich abgegrenzte Stufen des jugendlichen Blödsinns und benennen die- 
jenigen Individuen, bei welchen statt des Willens nur der blinde Trieb den Körper 
regiert, die also keiner willkürlichen Bewegung fähig sind, eine vorgemachte Bewegung 
z. B. nicht nachahmen können, demnach nur als gewöhnungsfähig sich darstellen, als 
rein Blödsinnige; solche Kranke, welche mit Willkür über sich verfügen, damit 
einer oft weitgehenden Entwicklung fähig sind, aber dennoch des Vernunftlebens 
ermangeln, als Kranksinnige, während die rein Schwachsinnigen den Charakter 
der Vernünftigkeit und Bildungsfähigkeit haben, da ihr Wille nicht durch 
selbstische, sondern auch durch vernünftige, sittliche und religiöse Motive 
bestimmt werden kann, jedoch nur in dem Masse, wie wir es bei gesunden Menschen 
im jugendlichen Alter sehen, wo die Leitung durch eine höhere Autorität nicht ent- 
behrt werden kann.) — Im allgemeinen gilt es: je vollständiger der Blödsinn ist, 
gehört er nur der torpiden oder der aufgeregten Form an, desto ausgesprochener ist 
schon auf der untersten Stufe des Fühlens der Charakter der Stumpfheit. Ein 
komplet Blöder streckt sich gleichgiltig in die heissen Strahlen der Mittagssonne 
nieder; nasse Kleider inkomodieren ihn sehr wenig; das Gefühl der Übersättigung 
stört nicht sein Behagen etc. In dieser Stumpfheit ist das Schicksal der blöden Seele 
schon besiegelt; jede weitere Entwicklung des Gefühls und Gemütes, wie die Ent- 
wicklung der Intelligenz ist aufs äusserste behindert. Übrigens sucht der Blöde gern 
lebhafte Sinneserregungen auf; er wendet allem Neuen, dem Klang und Lärm, glänzenden 
Sachen, bunten Farben, der aufgeregt Blöde auch auffallenden Gerüchen, sein Wohl- 
gefallen zu. Auf der mittleren Stufe des Gemüts, wo sich dasselbe den Mitmenschen 
zuwendet, entwickelt sich der rein Blödsinnige nur mangelhaft. Allerdings ist auch 
hier Liebe die Macht, die den Stumpfsinn des Blödesten überwindet, und nicht leicht 


172 
wird sich ein Blöder finden, welcher die Liebe der Mutter oder der pflegenden Person 
nicht in etwas erwiderte; ja wir sahen sogar bei komplet Blöden überraschende 
Beispiele von rührender Liebe und Anhänglichkeit; bisweilen kommt es auch zu einer 
Art Freundschaft mit einem andern Unglücksgen-ssen. Immer aber treten beim 
Blödsinnigen und auch noch beim Kranksinnigen, Albernen, bedeutende Defekte auf 
dieser Gemütsstufe hervor und zu einer harmonischen Entwicklung der verschiedenen 
Gemütssinne kommt es nicht. Die einen isolieren sich von den Genossen und stehen 
immer wieder einsam in der Ecke, die andern schliessen sich nur an jüngere Kinder, 
wieder andere nur an Erwachsene an; ınsbesondere sind es die Aufgeregten, deren 
Zustand eine auffallende Oberflächlichkeit des Gemüts zur Folge hat, sodass jedes 
tiefer gehende Gefühl, z. B. Heimweh, ausgeschlossen ist. Bei einzelnen ist das 
Wohlwollen wenig entwickelt, sie freuen sich, wenn einem andern ein Leid widerfährt. 
Nicht selten aber findet man besonders gemütliche Kinder liebebedürftig und liebe- 
erwidernd, anhänglich, von fast unzerstörlicher Gutmütigkeit. Nicht immer realisieren 
sich die Hoffnungen, welche man auf sie setzt. Die Seele erschöpft gleichsam ihre 
Kraft, sie geht auf in den Gefühlsäusserungen dieser Gemütsstufe und das höhere 
Gemüt entwickelt sich nur dürftig. Solche Geistesschwache erleichtern durch ihr 
liebenswärdiges und anhängliches Wesen sehr die Pflege, bleiben aber für ihr Leben 
auf der kindlichen, ja oft kindischen Stufe. — 

Zu der höheren Stufe des Gemütslebens, von deren Entwicklung das Vernunft- 
leben abhängig ist, erhebt sich der Blödsinnige nie, der Kranksinnige höchstens 
rudimentär. Letzterer kann in die Form des vernünftigen Lebens eingeleitet werden; 
die Vernänftigkeit selbst, wo sie nicht mit Naturnotwendigkeit von selbst eintritt, 
kann durch menschliche Bemühungen nicht gegeben werden. Anders beim Schwach- 
sinnigen. Die Gefühle für Gerechtigkeit und Wahrheit können in ihm geweckt, das 
Gewissen zu einem zarten Organ gebildet werden. Die Erlösungsbedürftigkeit, das 
Gottesbedürfnis und damit der Eintritt ins Reich Gottes können ihm vielleicht näher 
liegen, als dem geistesgesunden Menschen und er kann damit, trotz der sonstigen 
Schwäche des Geistes, zu einem Menschen heranwachsen, der das eine Pfund, das 
ihm Gott gegeben, mit Gottes und der Menschen Hilfe nutzbringend für sich und 
andere anwendet und einst den Lohn der Treue davonträgt. 

Auf diesen psychologischen Anschauungen wurde der Schulunterricht 
der Landenberger’schen Anstalt aufgebaut. Über die Einrichtung der Schule 
spricht er sich eingehend im 11. Jahresbericht aus: 

„Die Schule teilt sich in die Vorschule und die eigentliche Schule. In der 
Vorschule, an welcher ein Lehrer und eine Lehrerin arbeiten, werden 11 Kinder 
unterrichtet. Sie lernen in derselben ihren Körper mit Bewusstsein bewegen, die 
Dinge, Eigenschaften und Thätigkeiten der umgebenden Welt anschauen, sich mündlich 
ausdrücken, einfache Urteile bilden, leichte Formen nachahmen. In der eigentlichen 
Schule werden 40 Kinder von 3 Lehrern in der Weise unterrichtet, dass in 3 Klassen 
zu gleicher Zeit dasselbe Fach gelehrt wird und jedes Kind in jedem einzelnen Fache 
diejenige Klasse besucht, in welche es, seiner Fähigkeit und seinem Standpunkte 
nach, passt. Zugleich haben sich die Lehrer bei den verschiedenen Fächern so 
verteilt, dass ein Lehrer in einem Fach bessere, in einem andern schwächere Kinder 


173 


unterrichtet. Auf diese Weise verbinden wir die Vorteile vom Fach- und vom Klassen- 
unterricht, und bringen die Schüler mit den Persönlichkeiten von mehreren Lehrern 
in Berührung, was von entschiedenem Wert für beide Teile ist. 

Die erste Schulstunde vormittags von 8—9 Uhr ist dem biblischen Unterricht 
gewidmet. Da wir an den biblischen und andern Erzählungen die Gelegenheit 
benützen, das Kind in das Menschen- und Naturleben einzuführen, so findet der 
Anschanungsunterricht keine weitere selbständige Stellung in dem Schulplan, während 
er in der Vorschule, im weiteren Sinne gefasst, das einzige Schulfach ist. In der 
zweiten Stunde von 9—10 wird das eigentliche Verstandsfach, der Formenunterricht, 
getrieben in den schon erwähnten 3 Stufen. Nach einer Pause von einer halben 
Stunde bekommen diejenigen Kinder, welche dazu befähigt sind, noch eine Stunde 
Unterricht im Lesen und Schreiben, wobei zugleich der nötige Sprachunterricht 
gegeben wird. Nicht alle schwachsinnigen Kinder bringen es zum Lesen und Schreiben. 
Während ziemlich tiefstehende, welche viel Formensinn haben, es oft mit einer gewissen 
Leichtigkeit erlernen, kommen bessere Kinder, denen der Furmsinn mehr abgeht, vielfach 
nur unter grossen Anstrengungen und nach langer Zeit dazu. 

In der ersten Schulstunde des Nachmittags von 2—3 Uhr wird wöchentlich 
zweimal Schönschreibunterricht, dreimal Zeichenunterricht gegeben. In der Vorschule hat 
das Kind Punkte durch Linien verbinden gelernt und sich im freien Nachmachen 
einfacher Figuren versucht. In der eigentlichen Schule wird mit Lineal, Winkel und 
Zirkel gezeichnet, 

In der zweiten Schulstunde von 3—4 Uhr werden dreimal wöchentlich Rechen- 
unterricht, zweimal ein gemeinschaftlicher Singunterricht gegeben.“ 

Die wichtigste Unterrichtsklasse mit der Landenberger sich immer 
wieder eingehend beschäftigt, war die Vorschule. In dieser befanden sich 
die schwächsten Kinder und von diesen konnte er sich nicht losmachen. Un- 
wiederstehlich zog es ihn zu den Blöden und seine eifrigste Arbeit galt den 
Sprachlosen, Blöden. Jahrelang konnte er sich mit einem Kinde abgeben, bis 
endlich ein Funke von Verständnis sich zoigte. Ob er vielleicht nicht zu weit 
ging? Wenn man diese Zöglinge sah, auf die so unendlich viele Mühe ver- 
wendet worden war, dann musste man sich fragen, ob sich die Mühe gelohnt 
habe, die auf sie verwendet wurde Allein Landenberger fragte darnach 
nicht. Für ihn war es der höchste Gewinn, eine Seele aus der geistigen Ge- 
bundenheit zur Freiheit zu führen. Kein Entdecker einer Goldmine konnte je 
eine solche Freude empfinden wie dieser Mann, wenn es ihm gelungen war, ein tief- 
stehendes, hörstummes Kind zum Sprechen und zum geistigen Erwachen zu bringen. 

Er sagt über die Vorschule im 12. Bericht: 

„In der Vorschule werden die schwächsten und blödesten Kinder für die eigent- 
liche Schule vorbereitet. Die Arbeit in der Vorschule ist der schwierigste Teil unserer 
Aufgabe, das eigentliche Problem unseres Unterrichtes. Während der Taubstummen- 
unterricht schon mehrere Jahrzehnte in gebahnten Wegen geht, so mussten diese 
Wege für den Unterricht Blöder erst gesucht und geebnet werden. Wir glauben ohne 
Anmassung sagen zu dürfen, dass unsere Arbeit an den Kindern die Frucht einer 
richtigen Methode getragen hat. 


174 

Das erste Fach in dieser Vorschule bezweckt den muskelschwachen Körper zu 
stärken, um ein gefügiges Organ für die Seele zu erhalten. Dabei wird aber grosser 
Wert darauf gelegt, dass durch diese Übungen direkt eine Hebung der Intelligenz 
erzielt werde. 

Im Jahre 1861 im 13. Bericht giebt er die Darstellung einer Blöden- 
gymnastik, wie sie später sein Schwager C. Barthold im ersten vorbe- 
reitenden Unterricht für Schwach- und Blödsinnige ausgeführt hat: 

„Aus dieser Blödengymnastik geben wir hier eine kleine Reihe Übungen, die 
jeder leicht vervielfältigen und im betreffenden Falle anwenden kann. 

Gehen, marschieren lassen; allein, mit andern, neben-, hintereinander, im 
Kreise, langsamer, schneller, auf ebner Fläche, auf Treppen, bergauf, bergab. Mit 
Wasser spielen; füllen, leeren von verschiedenen Gefässen, Flaschen, Krügen, 
Gläsern, Giesskannen, Spritzen etc. — Gegenstände, ein Holz, ein Schiffchen schwimmen 
lassen; es belasten, am Faden ziehen etc. Ballspiel; werfen, rollen, auffangen, 
herbeiholen des Balls; desgleichen Spielen mit Steinschussern, Holz-, Bein- und 
Metallkugeln, Walzen, Scheiben, Reifen etc. Aufstellen, aufschichten, umwerfen; 
Kegel, Bleisoldaten, Spielsachen, Bauhölzer ete. Klopfen, schlagen mit der Hand, 
dem Stock, dem Hammer etc.; auf weiche, harte, elastische, klingende Körper und 
Flächen. Zerschlagen eines alten Topfes, einer Nuss; einen Nagel ins Brett schlagen, 
einen Pfahl in weiche Erde schlagen etc. Tragen verschiedener leichter und schwerer 
Gegenstände in den Händen, auf der Schulter, dem Rücken, dem Kopf, im Armkorb, 
der Schachtel, an einer Stange, im Schulsack etc.; allein, zu zweien etc. Die Körbe, 
Schachteln, Säcke füllen, leeren. Öffnen, schliessen; Thüre, Fenster, Schachtel, 
Kiste, Dose, Nadelbüchse, Federrohr, Buch etc. Führen den Schubkarren, den Wagen 
ziehen, schieben, den Karren etc. belasten, abladen etc. Benützung verschiedener 
Gerätschaften und Werkzeuge; Mörser, Reibeisen, Haspel, Kehrwisch, Bürste, 
Blasbalg, Hammer, Messer, Putzschere etc. Das Bauspiel in seinen vielen mög- 
lichen Modifikationen. Das Zeichnen. 

Diesem Verzeichnis von möglichen Übungen mögen hier noch einige allgemeine 
Bemerkungen folgen. Erstens der Gemütsstumpfheit des Schwachsinnigen, nach 
welcher er sich häufig von andern isoliert, einsam dasteht, liegt, geht, muss dadurch 
entgegengetreten werden, dass der Blöde in die Reihe anderer, besserer Kinder gestellt 
wird, mit ihnen marschieren, spielen, üben muss. Zweitens, was mehrere Sinne zu- 
gleich in Anspruch nimmt, wird die Aufmerksamkeit des Blöden mehr erregen, als was 
nur einen Sinn berührt. Je mehr Effekt etwas macht, desto geeigneter wird es sein, 
den stumpfen oder agilen Blöden ans seiner Ruhe oder Unruhe hervorzulocken, sein 
Interesse zu erregen, seinen Willen in Bewegung zu setzen. 

In folgender Reihe von Thätigkeiten wird ja die folgende effektvoller und inter- 
essanter für den Blöden sein, als die vorhergehende: 

Mit der Hand auf ein Polster schlagen; dasselbe mit dem spanischen Rohr; mit 
dem Stock auf einen Tisch schlagen; mit dem Hammer auf einen harten Gegenstand 
klopfen, eine Nuss, einen Kern zerschlagen. 

Drittens. Die Individualität des Blöden muss immer berücksichtigt werden; Trommeln, 
Papier zerreissen, etwas umstürzen, können zweckmässige Übungen für den torpiden, 


175 


gutmütig trägen Blöden sein. Für den exaltierten Blöden möchten diese Thätigkeiten 
vielleicht eine Fortsetzang seiner geistlosen Unruhe, eine Nahrung für seine Zer- 
störungssucht bilden. 


Viertens. Die Periodizität und Symetrie entsprechen ganz dem menschlichen 
Geiste und sprechen deshalb auch den Blöden an. Das Aufstellen eines Kegels, 
eines Soldaten wird den Blödsinnigen vielleicht gleichgiltig lassen; das Aufstellen 
einer schönen Reihe wird sein Wohlgefallen erregen. Das Umstürzen eines Kegels 
nach dem andern im Takt wird ihn mehr interessieren als das Umstürzen nur eines 
Kegels. Die woblthätige Wirkung der Musik, der gute Einfluss einer geregelten 
Tagesordnung beruht grossenteils auf der Periodizität. 


Fünftens. Ist der Blöde nicht geneigt oder fähig etwas zu thun, so führt man 
ihm die Hände, bis er der Sache Aufmerksamkeit schenkt und das nötige Muskelgefühl 
sich bildet, so dass er es endlich selbst thut. 


Sechstens. Es darf nicht versäumt werden, der Wortsprache sich zu bedienen, 
wenn auch der Blöde sie noch nicht versteht. Mit gutem Erfolg bedient man sich 
daneben einer einfachen Geberdensprache, bis das Verständnis der Wortsprache möglich 
ist. Der Zweck dieser Übungen ist erreicht, wenn der Blödsinnige nun über seinen 
Körper verfügen gelernt hat. Zugleich sind ihm so viele Sinneseindrücke aufgenötigt 
worden, dass er nun für einen eigentlichen Anschauungsunterricht befähigt sein wird.“ 


Diese Arbeit Landenbergers ist in ihrer Art so wichtig als die Arbeit 
Dubois-Reymonds „Über die Übung“. Auch Gutzmann hält ja bei der 
Heilung der Stotterer eine zweckmässige Gymnastik für sehr förderlich, ja un- 
erlässlich und neuerdings wurde diese Gymnastik wieder sehr hetont von 
Dr. A. Kupferschmid in einem Aufsatze „Über die Übung des Muskel- 
gefühls bei Schwachsinnigen“ (Kinderfehler 1899). An diese gymnastischen 
und Thätigkeitsübungen schloss sich der Sprechunterricht an. 


Im 12. Bericht steht die Mitteilung: 

„Aus unsrem Sprechunterricht können wir die erfreuliche Erfahrung mitteilen, 
dass ein Schüler, der übrigens längst nicht mehr der Vorschule angehört, durch 
Galvanismus von einer Unfähigkeit der Zunge, die ihn hinderte, die Laute s, sch, z, 
t, d, n, r hervorzubringen, geheilt wurde (?), so dass or jetzt alle diese Laute, r aus- 
genommen, spricht.“ 


Im 14. Bericht heisst es: 

„Das Hören ist keineswegs eine so einfache Thätigkeit, als man sich gewöhnlich 
denkt. Wir machten schon wiederholt die Beobachtung, dass die Fähigkeit, die 
artikulierte Rede aufzufassen, unabhängig ist von der sonstigen Schärfe des Gehörs, 
auch unabhängig von der geistigen Begabung, und als besonderes Vermögen aufgefasst 
werden muss. Ein Knabe, dem die Hörfähigkeit für die artikulierte Rede abging, hörte 
eine Taschenuhr auf die Entfernung von 10 Zoll ticken, während unsere Schwerhörigen, 
welche doch artikuliertes Gehör haben und dem Unterricht der Hörenden mit Vorteil 
anwohnen, sie nur auf 1—11!/, Zoll vernehmen können. Noch als eine Merkwürdig- 
keit, deren Erklärung wir hier nicht versuchen wollen, führen wir hier an, dass dieser 
Knabe die Laute b, d, p durch das blosse Gehör nicht von einander unterschied, auch 


za 


trotz vieler Versuche und Übungen sie nie sicher erkennen und unterscheiden lernte, 
während er g, t, k und jeden andern Laut immer sicher auffasste.“ 

„Die Sprachlosigkeit der Blöden kann in sehr verschiedenen Ursachen begründet 
sein. Häufig ist das ungenügende oder mangelnde Gehör die Ursache der Sprach- 
losigkeit; noch öfter aber hört der Blöde und lernt doch nicht sprechen. In diesem 
Falle liegt die Ursache entweder in der Seele, die noch so unfrei ist, dass sie den 
Körper, also auch die Sprachwerkzeuge, nicht mit Willkür bewegen kann, oder welche 
einen so schwachen Wortsinn hat, dass, wenn sie bereits mit Willkür die Glieder 
regiert und die Umgebung mit einiger Verständigkeit anschaut, Geberdensprache z. B. 
erfasst, sie doch noch keine Ahnung davon zu haben scheint, dass man mit den 
Lauten der Sprache irgend etwas ausdrücke, sie also weder die Bedeutung irgend 
eines Wortes versteht, noch ein solches nachzusprechen versucht. Oder liegt die 
Ursache des Sprachvermögens in dem zentralen Sprachorgan. Ist nämlich der Ursprung 
des Zungennervs, der den Sprachbewegungen vorsteht, auf irgend eine Weise krank, 
so kann das Kind wohl noch schlucken, da die Schluckbewegungen von einem andern 
Nerv besorgt werden; allein es kommt nie zum Sprechen, wie dies bei dem genannten 
Knaben der Fall war. Sind endlich die peripherischen Sprachorgane Zunge, Gaumen 
etc. schlecht gebaut, so wird das Kind, wenn anders die Seele nicht in Blödsinn 
befangen bleibt, doch sprechen lernen, wenn auch mehr oder weniger mangelhaft. 
Dass auch die ohne Zweifel vorhandenen Reflexbeziehungen zwischen dem Hör- und 
dem Sprachorgane, wodurch das gesunde Kind zum Nachahmen der Laute, zum Sprechen 
gereizt wird, beim Blöden gestört sein können, kann nicht bestritten werden.“ 

Wer müsste nicht erstaunen bei diesen originellen Darlegungen, die der 
Sache so nahe treten. Die genauen Beobachtungen der Sprachgebrechen bei 
Blöden liessen Landenberger in Berücksichtigung seines Standpunktes der 
Annahme der Seelenvermögen das Ziel so nahe treffen, dass man nur bedauern 
muss, dass er die Abhandlung über Sprachstörungen von Kussmaul nicht mehr 
kannte, in welchen er physiologisch nachgewiesen gefunden hätte, dass, wie er 
vermutete, wirklich Hörstummheit, Seelentaubheit, Störungen der Gehörs- und 
Begriffszentren, Störungen der Leitungsbahnen etc. stattfinden und dann alle die 
Erscheinungen zur Folge haben, welche er so genau beobachtete.*) 

Im 17. Bericht führt er ein interessantes Beispiel eines hörstummen 
Knabens an: 

„Ein siebenjähriger Knabe war in die Anstalt getreten, ohne irgend ein Wort 
zu verstehen. Intelligenz uud Wille waren aber trotz dem niedern Standpunkt des 
Wortsinnes so weit vorhanden, dass er sich einer willkürlichen Geberdensprache 
bedienen konnte. Er teilte z. B. mit, welche Beschäftigung sein Vater habe, erzählte 
ferner mittelst Geberde, dass er einmal einen Tanz mit Musik gesehen habe etc.; später 
suchte er seine Vorstellungen und Erinnerungen mit dem Griffel bildlich darzustellen. 


*) Landenberger hatte, nachdem er von der Leitung der Anstalt Stetten zurückgetreten 
war und als ein Opfer seiner aufreibenden Arbeit auf dem Krankenbett lag, infolge von einigen 
Schlaganfällen auch an Sprachstörungen zu leiden. Es gelang ihm nämlich nicht mehr, die 
richtigen Worte zu finden, für das, was er ausdrücken wollte, und wenn man ihm darauf 
helfen wollte und doch das Richtige nicht traf, winkte er lächelnd ab. 


177 


Nachdem die ersten und grössten Schwierigkeiten überwunden waren, ging das Ver- 
ständnis der Sprache, sowie die Lautentwicklung und das Sprechen ziemlich rasch. 
Als er nach einem Jahre und acht Monaten uns wieder verlassen musste, bildete er 
bereits einfache Sätze. — Dieser Knabe, dessen Gehör fast ganz normal war, bildet 
einen neuen Beweis dafür, dass die Sprachfähigkeit keinen brauchbaren Einteilungs- 
grund für die Blöd- und Schwachsinnigen abgiebt. —“ 


Ein besonders wichtiges Fach auf dieser Stufe war für Landenberger 
der Formenunterricht. 


Er sagt darüber im 10. Jahresbericht vom Jahr 1858: 

„Um die schwachen Denkkräfte zu üben, haben wir seit Jahresfrist dem Formen- 
unterricht, welchen wir früher, wie in andern Anstalten, nur als zufälligen Zweig des 
Anschauungsunterrichtes behandelt haben, eine selbständige Stellung und bedeutende 
Ausdehnung gegeben. Aus unserer Erfahrung über diesen geometrischen Anschauungs- 
unterricht ergiebt sich folgendes: 


1. Als rein formelles Fach wendet es sich ausschliesslich an den Verstand, nötigt 
zum Anschauen, Vergleichen und Schliessen, also zum Denken, ohne dass Worteinn 
und Gedächtnis ein bloss scheinbares Verständnis zuwege bringen können. 2. Von 
der ersten Stufe an macht dieses Fach einen lückenlosen Gang möglich. Hat der 
Schüler sich eine Stufe zu eigen gemacht, so hat er damit die Kraft gewonnen, auch 
die nächste zu ersteigen. Dass bessere Schwachsinunige endlich auf diese Weise einen 
geometrischen Beweis fassen lernen, haben wir an ein paar vorgerückteren gesehen. 
8. Wie dieses Fach den Schwachsinnigen sogleich in seiner Schwäche darstellt, so ist 
es auch wie kein anderes Unterrichtsfach für ihn das souveränste Mittel, die Denkkraft 
zu stärken, eine wahre Geistesgymnastik. Kein Lehrer, der es je einmal beim Unter- 
richt Schwachsinniger versucht hat, wird es wieder entbehren wollen.“ 


Wem leuchtet nicht die Wahrheit dieser Worte ein? Es besteht eine voll- 
ständige Ausarbeitung des Formenunterrichtes für Schwachsinnige von Landen- 
berger, der ein wahres Meisterwerk ist. Eine ganze Reihe von Anstalten 
benützen diesen Formenunterricht, wie ihn Landenberger ausarbeitete, mit 
sehr gutem Erfolg. Wer das Wesen des Idiotismus erfasst hat, wird auf den 
Formenunteiricht auch nie verzichten können und es ist deshalb befremdend, 
wie in neuerer Zeit die Behauptung aufgestellt werden konnte, der Formen- 
unterricht gehöre nicht in eine Schule für Schwachsinnige. 


Es ergiebt sich von selbst, dass wer dem Formenunterricht so hohen Wert 
beilegt, auch den Zeichenunterricht nicht missen will. 

Landenberger sagt im 24. Bericht: 

„Das exakte Zeichnen hat für Schwachbegabte nicht nur den gleichen Wert, wie 
für Geistesgesunde, sondern ist besonders dazu geeignet, die Flüchtigkeit und Ober- 
flächlichkeit der Schwachsinnigen in Stetigkeit und Pünktlichkeit umzuwandeln.“ 


Dass er natürlich den Anschauungsunterricht nicht vernachlässigte, 
versteht sich von selbst. Aber wie jedes Unterrichtsfach, so wird auch dieses 
auf eine ganz originelle Weise, wie von dem tiefen Denker nicht anders zu 
erwarten ist, in den Dienst der Idiotenbildung gestellt. 


178 


Er sagt darüber im 15. Bericht vom Jahre 1863: 

„Aus unserer Schule können wir diesmal nur eine kurze Andeutung über den 
Anschauungsunterricht geben. Derselbe zerfällt nach der geistigen Stufe, die unsere 
Kinder einnehmen, in vier Stufen. 

Auf der ersten Stufe soll das blöde Kind, das bisher von der Umgebung nur 
so weit Notiz nahm, als sie mit seinem Treiben zusammenhing, dem sein eigenes, 
leibliches Ich noch nicht unterworfen, dessen Wille fast nur blinder Trieb ist, in die 
Aussenwelt so eingeführt werden, dass es nicht nur mit Bewusstsein sich in ihr 
bewegen, auf sie einwirken lernt, sondern auch, dass es seines Leibes dabei inne wird, 
denselben willkürlich zu regieren in den Stand gesetzt wird und so den Grund eines 
selbstbewussten Lebens legt. Zu dem Ende lässt man das Kind mit mancherlei 
gewöhnlichen Dingen des Lebens, mit Gerätschaften und Werkzeugen umgehen, sich 
in ihrem Gebrauch üben, wie dies früher ausgeführt wurde. Zugleich soll es durch 
Lautentwicklungs- und Sprachunterricht zur Sprache, die wir zunächst als ein höheres 
System von Bewegung ansehen müssen, befähigt werden. 

Auf der zweiten Stufe lernt das Kind die Gegenstände der Umgebung, die 
Tbätigkeiten, Eigenschaften und Beziehungen der Dinge anschauen, kennen und 
benennen, lernt einfache Urteile bilden. Während auf der ersten Stufe der Muskel- 
und Tastsinn besonders den Zugang eröffneten, um die verschlossene Seele an das 
Licht des Bewusstseins za führen, so muss jetzt vorherrschend durch die Pforten des 
Auges und des Ohres (Sprache) der Geist geweckt und genährt und zu selbständigem 
Leben befähigt werden. 

Die dritte Stufe soll anwenden, was auf der zweiten gelernt wurde. Der 
Zögling übt sich nämlich jetzt in Beschreibung von einfachen Gegenständen, Geräten, 
besonders von Naturkörpern, Pflanzen, Tieren etc. Es braucht kaum bemerkt zu 
werden, dass die Objekte der Anschauung in natura dem Kinde vorgeführt werden 
müssen und von Bildern auf dieser Stufe nur ein beschränkter Gebrauch gemacht 
werden kann. 

Die vierte Stufe ist das Ziel des Anschauungsunterrichts, und zwar gleicher- 
weise ein formales, wie materiales. Wenn auf der dritten Stufe nur einzelne Gegen- 
stände und Naturkörper beschrieben wurden, soll hier das Kind das Gemeinsame und 
Unterscheidende derselben aufsuchen und finden lernen, es soll ihm der Blick in die 
Ordnung, den Zusammenhang der Naturreiche eröffnet werden, es soll von der Um- 
gebung aus die Gestaltung der Erdoberfläche kennen lernen; insbesondere sollen die 
gewöhnlichsten physikalischen Erscheinungen ihm zugänglich und verständlich gemacht 
werden. Wir wollen damit nicht nur unsere Zöglinge mit nützlichem und notwendigem 
Wissen ausrüsten, sondern sie vielmehr zur Abstraktion und Reflexion befähigen, dass 
sie einst ihre, wenn auch untergeordnete Stellung in der Welt doch als verständige 
Menschen einnehmen können.“ 

Mit besonderer Liebe wird aber immer wieder der Unterricht in der bib- 
lischen Geschichte behandelt. Er sagt darüber im 21. Bericht: 

„Aus dem Gebiete des Unterrichts können wir berichten, dass unsere Bemühungen, 
unsere Kinder in die hl. Geschichte und an der Hand der hl. Geschichte in das 
Verständnis der Schöpfung Gottes, in das Menschenleben und in die Geisteswelt des 


179 


Reiches Gottes einzuführen, mit bestem Erfolge gekrönt worden. Es sollte der höchste 
Bildungsstoff, den Gott den Menschen gegeben, nämlich die Geschichte seiner Offen- 
barungen an uns, doch sicher ein besseres Resultat bei unserer Jugend- und Volksbildung 
erzielen, wenn er den Absichten Gottes und der Bestimmung des Menschen ent- 
sprechender behandelt wurde. Wir haben gelernt etwas besseres mit der biblischen 
Geschichte anzufangen, als sie nur notdürftig zu erklären, und dann möglichst texttreu 
dem Gedächtnis der Kinder einzuprägen, und wenn ich jetzt unsere Erfolge rühme, 
so will ich mich gerne des Eigenlobes beschuldigen lassen und über dem Rühmen ein 
Narr werden, wenn nur Lehrer und Schulfreunde veranlasst werden, über diese 
wichtigste Angelegenheit der Schule nachzudenken und den richtigen Weg zu gehen. 

Wir möchten an einigen Beispielen zeigen, wie wir in der Unterklasse unserer 
eigentlichen Schule die biblische Geschichte behandeln, sodass sie den Kindern zur 
freundlichen lebensvollen Führerin wird in die einfachen Grundlagen der Sitten- und 
Glaubenswelt, in die Verhältnisse des Menschenlebens, in die Bekanntschaft mit 
der Natur. 

1. Nathan’s Gleichnis. 

Nur als einfache Thatsache zu behandeln! — Reich und arm; — der Besitz 
des Reichen; er hat viele Schafe, Rinder, Pferde, Äcker etc. Die Besitztümer etwas 
ausführlich aufzuzählen! Das Leben des Armen in anschaulichem Lebensbilde dem 
Kinde vorführen! Die mancherlei Bedürfnisse des Armen in Nahrung, Kleidung, 
Wohnung, Heizung etc. namhaft zu machen; Notfälle zu erwähnen etc.! 

Wie erwirbt sich der Arme das tägliche Brot? durch Arbeit; solche aufzu- 
zählen! Der Reiche hat erst seinen Reichtum von den Eltern geerbt; das Erbschafts- 
wesen zu berühren ! 

Der Arme hat sein Schäfchen gekauft. Das Kaufen klar zu machen! Was wisst 
ihr vom Schaf zu sagen? Das Glück des Armen in seinem Besitz, die Liebe zu seinem 
Schäfchen zeichnet das Gleichnis unnuchahmlich schön. 

Der Gast, der Besuch. Was thut man einem Besuche? 

Der Reiche ein böser Nachbar; sein Geiz, seine Lieb- und Herzlosigkeit. Die 
Gewaltthat. Die Beraubung des Armen; die schwere Kränkung des Beraubten. Die 
unrechtmässige Aneignung des fremden Eigentums. 

Die Sünde, die Abscheulichkeit des Diebstahls. Spruch zum Memorieren: Du 
sollst nicht stehlen ! 

2. Das Ölkrüglein der Witwe. 

Blicke in die Not einer Familie; der Gatte und Vater (wahrscheinlich schon lange) 
krank; Armut an allen Enden; alles Entbehrliche verkauft, um das Allernötigste 
anzuschaffen ; hierzu noch Schulden; was bedarf eine Frau für ihren kranken Mann? 
für sich und ihre Söhne? — Der Segen des gottesfürchtigen Sterbenden;; seine Fürbitte 
für die Seinigen; Hinweisung auf die Durchhilfe Gottes. 

Endlich der Tod des Mannes; grosser Schmerz, grosser Verlust! Die Witwe, die 
Waisen. Der Schuldherr, sein Recht, seine lieblose Härte, das Schuldenwesen zu 
besprechen! Die drohende Knechtschaft; was hätte der Schuldherr in diesem Falle 
thun sollen? — Die Zuflucht zum Manne Gottes, was ist ein Mann Gottes? was 
kann er thun? seine Anweisung; die Nachbarinnen; gute Nachbarn helfen, leihen 


180 


einander. Die Gefässe zu benennen; das Zimmer mit den herumstehenden Geschirren 
zu malen! Die wunderbare Vermehrung des Öls; die Bezahlung des Schuldherrn; 
(Anregung des Rechtsgefühls),. die Verwendung des übrigen Erlöses, wozu etwa? 
Blick auf die Hilfe Gottes. Öl, Brennöl, Speiseöl; woher bekommen wir das Öl? 
Spruch: Gott ist ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen. 

Auf solche Weise bringen wir unsern schwachen und unwissenden Kindern nicht 
nur ein schätzbares und unentbehrliches Material von Erkenntnis bei, sondern in der 
Weise, wie wir sie in das Leben einführen, wecken und üben wir formell ihren Geist, 
bereichern ihre Sprache, lösen die Bande und Rinde ihres Gemütes, regen den Willen 
an zu verständigem und sittlichem Thun, pflanzen die Erkenntnis, Furcht und Liebe 
Gottes in ihre Herzen: kurz wir stellen eine breite Grundlage her zu einem Geistes- 
leben, das ebenso der Bestimmung des Menschen, wie den Anforderungen des Lebens 
entspricht.“ 

Das ist in Kurzem eine Übersicht über die Arbeit Landenbergers an 
den Schwachsinnigen, wie er sie nur in den Jahresberichten zeigt. Er schrieb 
auch in verschiedene Fachblätter. Was uns vorliegt beweist, dass er uns, wie 
kein zweiter, den Weg gewiesen hat, der beschritten werden muss, wenn man 
den Schwachsinnigen verstehen und bilden will. 


Mitteilungen. 


Elberfeld. (Schuleinrichtungen für nicht normal begabte, aber unter- 
richtsfähige Kinder in Westfalen und in der Rheinprovinz.) Der Unterrichts- 
minister hat den Kgl. Regierungen unterm 6. April eine Übersicht der in der preuss. 
Monarchie z. Z. vorhandenen Schuleinrichtungen für nicht normal begabte, aber unter- 
richtsfähige Kinder übersandt Die Entwickelung dieser Art von Schulen hat seit 
Aufnahme der letzten Statistik im Jahre 1896 einen erfreulichen Fortschritt gemacht- 
Seitdem die Bedeutung solcher Anstalten allgemein anerkannt und in betreff ihrer 
Einrichtung und Leitung eine eingehende Übereinstimmung der Ansichten zur Geltung 
gelangt ist, hat die Zahl der Hilfsklassen erheblich zugenommen. Während im Jahre 
1894 in 18 Städten 37 Hilfsschulen mit etwa 700 Kindern und 1896 in 24 Städten 
37 derartige Schuleinrichtungen mit zusammen 2017 Kindern bestanden, giebt es jetzt 
in 42 Städten 91 solcher Anstalten mit zusammen 4729 Schulkindern in 233 Klassen. 
An den Schulen sind beschäftigt 168 Lehrer, 50 Lehrerinnen nebst 20 Handarbeits- 
lehrerinnen. Die unterrichtlichen Leistungen dieser Klassen sind durchweg genügend, 
zum nicht geringen Teile sogar recht gut. Nur der Umstand, dass noch an mehreren 
Orten von der Mitwirkung der Ärzte abgesehen wird, verdient besonders hervorgehoben 
zu werden, und doch wird die regelmässige Beteiligung des Arztes bei diesen Klassen 
als unentbehrlich betrachtet. Der Minister hat deshalb besonders darauf hingewiesen, 
dass diesem Übelstande abgeholfen werden möge. — In Westfalen und der 
Rheinprovinz befinden sich Hilfs«chulen in fulgenden Städten: Dortmund: 1 evange- 
lische mit 2 Klassen und 41 Kindern, 1 katholische mit 1 Klasse und 25 Kindern; 
Hagen: 1 mit 1 Klasse und 25 Kindern; Schwelm: 1 mit 1 Klasse und 26 Kindern; 


181 


Barmen: 1 mit 10 Klassen und 211 Kindern; Düsseldorf: 1 mit 7 Klassen und 
208 Kindern; Elberfeld: 1 mit 6 Klassen und 161 Kindern; Essen: 1 evangel. 
mit 3 Klassen und 77 Kindern und 1 kathol. mit 3 Klassen und 83 Kindern; 
Krefeld: 4 Klassen mit 95 Kindern; Bonn: 1 mit 3 Klassen und 64 Kindern; 
Köln: 4 mit 12 Klassen und 349 Kindern; Aachen: 1 mit 6 Klassen und 201 Kindern 
und 1 Privatklasse für bemittelte Kreise. 

Roda S.-A. (Martinshaus) Am 29. Juni fand in schlichter, aber überaus 
feierlicher Weise die Einweihung des neuerbauten Pavillons des Martins- 
hauses statt. Die beteiligten Regierungen von Sachsen- Altenburg und Sachsen- 
Weimar hatten zı der Feier besondere Vertreter entsendet, und Konsistorialrat 
Dr. Lohoff hielt die Weiherede. Die Erweiterung, welche das seit 1886 bestehende 
Martinshaus durch den Pavillon erfahren hat, ist eine bedeutende und ermöglicht, dass 
die in demselben uniergebrachten idiotischen Kinder einen regelmässigen Klassen- 
unterricht erhalten können. -— | 

Niederösterreich. (Öffentliche Fürsorge für epileptische schulpflichtige 
Kinder.) Seit längerer Zeit beschäftigt man sich hier mit der Frage der Fürsorge 
für die im Schulalter stehenden Epileptiker, deren es vor mehreren Jahren allein in 
Wien 116 (51 Knaben und 65 Mädchen) gab. Auf ein vom Ortsschulrate des 
XVIII. Wiener Bezirks (Währing) an den Gemeinderat der Stadt Wien und den 
n.-ö. Landesausschuss gerichtetes Gesuch, die Errichtung einer Heil-, Erziehungs- 
und Unterrichtsanstalt für epileptische, im schulpflichtigen Alter stehende Kinder ver- 
anlassen zu wollen, gelangte am 24. Oktober 1900 von dem Letzteren an den 
Ortsschulrat folgende Zuschrift: „Unter Bezugnahme auf die Eingabe vom 2. Juli 1900, 
2 424, womit der Orsschulrat des XVIII. Bezirkes der k. k. Reichshaupt- und 
Residenzstadt Wien das Ersuchen gestellt hat, der n.-ö. Landesausschuss wolle die 
Errichtung einer Heil-, Erziehungs- und Unterrichtsanstalt für epileptische, im schul- 
pflichtigen Alter stehende Kinder veranlassen, wird dem Ortsschulrate eröffnet, dass 
der n.-ö. Landesausschuss der Frage der Errichtung von Anstalten für epileptische 
Kinder im allgemeinen, und für epileptische Kinder im schulpflichtigen Alter im be- 
sonderen seit längerer Zeit bereits besondere Aufmerksamkeit widmet, und in dem 
am 8. Februar 1900 dem hohen Landtage vorgelegten Entwurfe eines Gesetzes, be- 
treffend die Öffentliche Armenpflege, die Errichtung von Sonderanstalten für epileptische, 
sieche und verkrüppelte Kinder bereits aufgenommen erscheint. Der bezügliche Gesetz- 
entwurf wurde seitens des hohen Landtages noch nicht in Beratung gezogen, dürfte 
jedoch voraussichtlich in der nächsten Session zur Verhandlung gelangen. — Um die 
für den Fall der Annahme des Gesetzentwurfes auf Grund desselben zu errichtenden 
Sonderanstalten auch den Angehörigen der Gemeinde Wien zugänglich zu machen, hat 
der n.-ö. Landesausschuss dem hohen Landtage einen weiteren Gesetzentwurf, betreffend 
die Beteiligung der Gemeinde Wien an der öffentlichen Armenpflege durch den 
n.-ö. Landesversorgungsfonds, vorgelegt, dessen Annahme die Unterbringung epilep- 
tischer, siecher, verkrüppelter Kinder etc. aus Wien in unbeschränkter Zahl in den 
durch den projektierten n.-Ö. Landesversorgungsfonds zu errichtenden Landes-Sonder- 
anstalten ermöglichen würde. — Gegenwärtig werden die nach Niederösterreich (ein- 
schliesslich Wien) zuständigen epileptischen Kinder in die Anstalteu für geistesschwache 


182 


Kinder des Landes Niederösterreich aufgenommen, u. zw. bildungsunfähige in die 
n.-ö. Landes-Pflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Kierling- 
Gugging und in die Idivtenabteilung des städtischen Öffentlichen Krankenhauses in 
Mödling, bildungsfähige in die Abteilungen für n.-ö. Landeszöglinge des Pius- 
Institutes zu Bruck an der Mur und der Stephanie-Stiftung zu Biedermanns- 
dorf. In allen diesen Anstalten sind die Kinder nach ihrem Intelligenzgrade in Gruppen 
gesondert, so dass eine schädigende Beeinflussung der epileptischon bildungsfähigen 
Kinder durch blödsinnige Mitpfleglinge ausgeschlossen erscheint.“ 

Schweiz. (III. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen) Am 
10. und 11. Juni d. J. hat im Burgdorf die III. Schweiz. Konferenz für das 
Idiotenwesen stattgefunden. Von den auf derselben behandelten Themen sind folgende 
zu nennen: 1. Wie sind Erziehung und Unterricht in den Hilfsklassen für Schwach- 
begabte und in den Spezialanstalten für Schwachsinnige zu gestalten, damit diese 
Kinder für den Broterwerb befähigt werden? Für welche Berufsarten eignen sie sich 
am besten? 2. Sorge für die vereinzelten Schwachbegabten und Schwachsinnigen in 
kleineren Gemeinden. 

Zürich. (Personalien.) Die amerikanische Gesellschaft für das Studium der 
Epilepsie und die Fürsorge und Behandlung Epileptischer in Amerika hat auf ihrem 
ersten Kongress in Washington am 15. und 16. Mai d. J. Herrn F. Kölle, Direktor 
der Schweizerischen Anstalt für Epileptischo in Zürich zu ihrem Ehrenmitglied 
ernannt. Veranlassung hierzu waren zwei Arbeiten des Herrn Kölle über Epilepsie 
und Behandlung Epileptischer. 

Amerika. (Epileptikerfürsorge.) In Amerika hat sich eine nationale Gesell- 
schaft gebildet für das Studium der Epilepsie und die Fürsorge und Behandlung 
Epileptischer. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, für Amerika das Beste auf diesem 
Gebiet zu erringen. Der Präsident der Gesellschaft Hon. Wm. Pryor Letchworth, 
L. L. D. in Albany N. Y. hat im vorigen Jahre ein sehr interessantes Buch über 
Fürsorge und Behandlung Epileptischer mit vielen Illustrationen herausgegeben. 
(G. P. Putnam’s Sous. New York and London. 8° S. 246), in welchem sämtliche 
Anstalten für Epileptische in Amerika und die Thätigkeit auf diesem Gebiet in 
18 amerikan. Stasten besprochen sind. Des Weiteren kamen in dem interessanten 
Werk zur Besprechung die Anstalten für Epileptische in England, Deutschland 
(Wuhlgarben und Bielefeld) und ın der Schweiz. Berücksichtigt sind in dem Werk 
namentlich auch Arbeiten über Epilepsie von Sanitäts-Rat Dr. Wildermuth-Stuttgart 
und Direktor F. Kölle-Zürich. — Am 15. und 16. Mai 1901 hielt die Gesellschaft 
ihren ersten Kongress in Washington ab. Ihr Programm ist: 1. Förderung der all- 
gemeinen Wohlfahrt der an Epilepsie Leidenden. 2. Ansporn zum Studium der 
Ursachen und der Heilmethoden dieser Krankheit. 3. Förderung der Versorgung 
Epileptischer in Anstalten, wo sie a) eine allgemeine Schulbildung erhalten; b) erwerbs- 
fähig soviel als möglich gemacht werden und c) nach der besten ärztlichen Kenntnis 
inbezug auf ihre Krankheit behandelt werden. 4A. Den verschiedenen Staaten in 
Amerika beizustehen, welche Vorsorge für Epileptische treffen. F. K. 


183 


Litteratur. 


Die Grundzüge der pädagogischen Pathologie. Von W. Schumann, 
Pfarrer zu Böhlen. Weimar 1900. Verlag von R. Wagner Sohn. 108 Seiten. 
Preis Mk. 1,20. -- 

Die vorliegende Arbeit ist aus einem Vortrage entstanden, den der Verfasser 
auf einer Konferenz der Geistlichen und Lehrer der Diöcese Königsee-Thüringen hielt. 
Er will mit seiner Schrift hauptsächlich auf die grossen Werke eines Strümpell, 
Koch u. a. m. hinweisen, das Studium derselben anbalhnen und Bausteine dazu liefern. 
Wir halten das Buch für diese Zwecke vollständig geeignet, wenngleich es mitunter 
auch Nebensächliches, wie z. B. die Schularztfrage, berührt. Im allgemeinen bekundet 
der Verfasser viel Verständnis auf dem Gebiete der pädagogischen Pathologie und 
scheint auch die bisherige Litteratur dieses Gegenstandes vollständig zu beherrschen. 
Seinen in der Darstellung an geeigneten Stellen gegebenen Ratschlägen für Erziehung 
und Unterricht können wir zustimmen, da sie meist durchweg praktisch erscheinen. 
Alles in allem ist das vorliegende Buch recht brauchbar, wir empfehlen es insbesondere 
zur Orientierung auf dem Gebiete der pädagogischen Pathologie. Fr. 

Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. Von Dr. J. Stimpfl 
in Bamberg. Gotha 1900. Verlag von E. F. Tienemann. 28 Seiten. Preis 
Mk. 0,60. — 

Dr. J. Stimpfl, bekannt durch seine Übersetzungen von Sully’s und Tracy’s 
Schriften über Kinderpsychologie, erörtert in der vorliegenden Broschüre den Wert 
der Kinderpsychologie für den Lehrer auf Grund nordamerikanischer Forschungen und 
Arbeiten. Seine Ausführungen geben gleichzeitig ein Bild über die Bestrebungen und 
Strömungen auf dem Gebiete der Kivderforschung jenseits des Oceans. Die mit grosser 
Umsicht und Sachkenntnis geschriebene Abhandlung verdient die weitgehendste Be- 
achtung, besonders da sie den Leser anregt, weitere Studien auf dem besagten Gebiete 
zu treiben und ihm auch die wichtigsten Handhaben dazu bietet. Wir empfehlen die 
Schrift angelegentlichst. Fr. 

Die psychopathischen Minderwertigkeiten. Wesen, Bedeutung und 
Behandlung derselben in der Volksschule von K. Michels, Rektor in Schwan- 
heim am Main. Kempten 1901. Verlag der Köselschen Buchhandlung 
64 Seiten. Preis Mk 075. — 

Dr. Koch hat unter der eigenartigen Bezeichnung der „psychopathischen 
Minderwertigkeiten‘“ eine Reihe von Degenerierten vorzüglich beschrieben. Trüper 
behandelt in seiner Schrift: „Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindes- 
alter“, das abnorme Kind und seine erziehliche Behandlung sehr eingehend und sach- 
gemäss. Die vorliegende Schrift ist demselben Gegenstande gewidmet; sie unter- 
scheidet sich aber von den beiden erstgenannten Arbeiten dadurch, dass sie das 
Wesen, die Bedeutung und die Bebandlung der psychopathischen Minderwertigkeiten 
speziell für die Volksschule erörtert. Für das Studium der pädagogischen Pathologie 
fehlte es bisher an einer geeigneten und brauchbaren Einführungsschrift, die Arbeit 
Michels erscheint für diesen Zweck wie geschaffen, namentlich zur Erschliessung des 
Allgemeinverständnisses. Für den Volksschüler wird es wohl kaum eine bessere 


184 


Arbeit über diesen Gegenstand geben als die vorliegende, aber auch uns werden 
manche Anregungen darin geboten. In dem engen Rahmen der Ausführungen ist 
manches zum Ausdrucke gebracht, was für uns ebenfalls Wert besitzt. Wir empfehlen 
das Werkchen für die Anstalts- und Hilfsschulbibliotheken zur Anschaffung. 

Die Individualität vom allgemein - menschlichen und ärztlichen 
Standpunkt. Von Dr. med. J. Fröhlich. Stuttgart 1897. Verlag von 
A. Zimmer (E. Mohrmann). 410 Seiten. Preis Mk. 6.— 

Das Werk bildet in der Hauptsache eine Betrachtung der Individualität in den 
stofflichen und geistigen Erscheinungen des Lebens. Wir finden darin einen Beitrag 
zur wissenschaftlichen Philosophie der Medizin in sehr geistreicher, aber keineswegs 
einwandfreier Darstellung. Der Verfasser selbst bezeichnet seine Ausführungen als 
einen persönlichen Versuch, durch welchen er sich zu einer individuell befriedigenden 
fruchtbaren, harmonischen Lebens- und Berufsauffassung hindurcharbeiten will. Daher 
spricht er auch den berechtigten Zweifel aus, dass der Leser nicht durchweg seinen 
Darlegungen werde beistimmen können, da er in ihnen selbst verschiedene Mängel 
empfindet, die Lücken in seinem Seelenleben entsprechen. Immerhin aber bedeutet 
das Werk eine hervorragende litterarische Erscheinung, indem es eine Fülle der weit- 
gehendsten Gedanken enthält. Wir haben es mit grossem Interesse gelesen, manche 
Wahrheiten darin entdeckt, aber sind auch vielen eigenartigen, mitunter gehaltlosen 
Auffassungen begegnet. Anstaltsärzten können wir die Schrift zur prüfenden Br- 
wägung sehr empfehlen. 


Briefkasten. 


Dr. K. in H. Für freundliche Zusendung des Sonderabdruckes besten Dank! Wollen 
Sie nicht auch unserer Zeitschrift wieder einmal eine Ihrer Mussestunden widmen? — Z. in J. 
Bedaure sehr, aber zu grosse Opfer dürfen von der Zeitschrift nicht verlangt werden; dieselbe 
kostete im Laufe der Zeit ein Kapital. — F. F. In St. Das von Ihnen bezeichnete Buch wurde 
erbeten, ob mit Erfolg, muss abgewartet werden. — M. B. in L. Dass wir über die Schweize- 
rische Konferenz keinen Bericht zu bringen vermochten, lag daran, dass man uns die Abhaltung 
derselben nicht angezeigt hatte. Hierdurch waren wir selbstverständlich der Möglichkeit be- 
raubt, uns rechtzeitig nach einem Berichterstatter umzusehen. — R. $. in M. Den Lehrplan 
der Dresdner Schule für Schwachsinnige oder, wie sie sich nennt, Nachhilfeschule, halten wir 
für einen der besten. 





ne mm nn 


Inhalt: Die Bestrebtingen für die Bildung und Erziehung schwachsinniger Kinder in 
Italien. (Von Karl Richter.) — Zu der neuen Anweisung über die Unterbringung in Privat- 
anstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten. — $ 11 des Gesetzes vom 3. März 1897, 
betreffend das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen. 
(1. W. Busch) — Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwachsinnige: J. Landen- 
berger. (Von Dir. Kölle-Regensberg). — Mitteilungen: Elberfeld, Roda S.-A., Nieder- 
österreich, Schweiz, Zürich, Amerika. — Litteratur: Die Grundzüge der pädagogischen Patho- 
jogie. — Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. -— Die psychopathischen Minder- 
wertigkeiten. — Die Individualität. — Briefkasten. 


- LU L 














Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dregan; 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


. NEW Yon 
1]C LISRART. 


Nr. 11. XV. xl) ) Jahrg. i 


AN 
UNEO 7” 
aSTOR, N 


für die 


Behandinng Sehwachsinnioer und Epleptischer 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 
herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
8pezialarzt 
Dresden -Streohlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. In Stuttgart. 
Erscheint jährlich In 13 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 


und Postämter, wie auch direkt von der 
Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
einzelne Nummer 50 Pfg. 


mindestens einem Bogen. Anzelgen für 
die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- 
rarische Beilagen 6 Mark. 


November 1901. 








Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Bericht 
über die 
X. Konferenz für das Idiotenwesen 
und Schulen für schwachsinnige Kinder 


am 17. bis 20. September 1901 
Elberfeld. 


Die Vorversammlung der X. Konferenz fand programmgemäss Dienstag 
den 17. September, abends 7 Uhr, im Speisesaale der Stadthalle statt. 
Der Vorsitzende der IX. Konferenz, Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, eröffnete 
dieselbe, begrüsste die Erschienenen mit einem herzlichen Willkommensgrusse 
und erstattete den Bericht über die letzten 3 Jahre. Er gedachte zunächst 
der in dieser Zeit verstorbenen Mitglieder der Konferenz, insbesondere des Mit- 
begründers und langjährigen Vorsitzenden derselben Pastor Dr. Sengelmann- 
Alsterdorf, Pastor Kobelt-Neinstedt und Obermedizinalrat Dr. Köhler-Hubertus- 
burg. Die Versammlung ehrte durch Erheben das Andenken dieser um die 
Sache der Idiotenerziehung verdienten Männer. Hierauf berichtete der Vor- 
sitzende über verschiedene Personalveränderungen und gedachte der Ent- 
stehung neuer Anstalten. 

Namens des Ortsausschusses hiess Beigeordneter Schulrat Boodstein- 
Elberfeld die Anwesenden herzlich willkommen und entrollte das Programm der 
für die Konferenz getroffenen Veranstaltungen. —- Nachdem die Versammlung 


i 


Zeitschrift — 


186 


den bisherigen Vorstand durch Zuruf wieder gewählt hatte, schloss der Vor- 
sitzende die Versammlung, und es folgte dem ernsten Teile ein ungezwungenes 
gemütliches Beisammensein. 


Erste Hauptversammlung 


Mittwoch den 18. September, vormittags 9 Uhr, im Kuppelsaale des Rathauses. 

Der Vorsitzende, Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, eröffnet die erste 
Hauptversammlung, zu welcher sich 53 Mitglieder und 173 Teilnehmer einge- 
schrieben haben, mit dem Wunsche, dass die Arbeiten der Konferenz, welche den 
ärmsten Kindern gewidmet seien, diesen in möglichster Weise zu gute kommen 
möchten. 

Als Vertreter der Königlichen Regierung in Düsseldorf begrüsst hierauf 
Regierungs- und Schulrat Dr. Quehl die Konferenz. Er freue sich, so führt 
er aus, die Versammlung in einer Stadt begrüssen zu dürfen, welche gleich 
vielen anderen Städten des Regierungsbezirks Düsseldorf sich einer grossen ge- 
werblichen Blüte erfreue und dessen Bewohner sich, wenn es gelte, der geistigen 
und leiblichen Not zu steuern, hilfsbereit und thatkräftig zusammenfänden. Er 
erinnere in dieser Beziehung an die Elberfelder Armenpflege, an die Barmer 
Missionsgesellschaft, an den Bergischen Verein für Gemeinwohl, ferner an die 
Wohlfahrtseinrichtungen in Essen, M.-Gladbach und zahlreichen anderen Orten 
des Bezirks. Im Jahre 1896 bestanden im Regierungsbezirk Düsseldorf 1465 
Schulen mit 6145 Klassen, in diesem Jahre belaufe sich dagegen die Zahl der 
Schulen auf 1588 mit 7460 Klassen; neugegründet wurden mithin in diesem 
Zeitraume 123 Schulen mit 1315 Klassen. Diese Zahlen bewiesen die Opfer- 
willigkeit unserer Städte den Volksschulen gegenüber, aber auch die Ärmsten 
der Kinder, die geistig Zurückgebliebenen und ganz Schwachen seien in unserm 
Bezirk nicht ohne Pflege geblieben, wie die Idiotenanstalten „Hephata*-M.-Gladbach 
und „Franz Sales-Haus“ in Huttrop zur Genüge ergäben. Ausser der Hilfsschule, 
welche hier bestehe, befänden sich solche in Barmen, Düsseldorf, Essen, Krefeld, 
im ganzen Bezirk 33 mit 835 Schülern, in denen 28 Lehrer, 5 Lehrerinnen 
und 5 Handarbeitsleherinnen unterrichteten. In Preussen mit 42 Städten belaufe 
sich die Zahl der Schulen auf 91 mit 233 Klassen, in denen 4728 Schüler 
unterrichtet würden, während im ganzen Deutschen Reiche sich 326 Klassen 
mit 7871 Schülern befänden. Wenn nun Vertreter und Freunde beider An- 
stalten hier gemeinsam tagen, so mögen sie, schloss Redner, in der heutigen 
und morgigen Versammlung reiche Anregung für beide Anstalten bringen, mögen 
beide, die ältere und junge Schwester, in ihren Vertretern sich die Hände reichen 
und sich gegenseitig stärken in der Liebe, in dem Werke, welches vielfach noch 
im Beginne sei, kräftig fortzuschreiten zum Segen der armen Kinder. Das sei 
der herzlichste Wunsch der königlichen Regierung. 

Beigeordneter Schulrat Dr. Boodstein richtet dann im Auftrage des ver- 
hinderten Oberbürgermeisters Funck und im Namen der Stadt an die Anwesenden 
herzliche Worte der Begrüssung. Es sei ihm eine ganz besondere Freude, dies 
gerade heute zu thun, an dem Tage, an welchem die hiesige Hilfsschule vor 22 


Jahren eröffnet worden sei. Was sie den Teilnehmern zu bieten habe, sei ja 
verhältnismässig wenig, aber auf der anderen Seite würde sie unterstützt durch 
Anstalten, die auch die Pflege der Idioten ganz besonders auf ihre Fahne ge- 
schrieben hätten. Es freue ihn, bekannt zu geben, dass sowohl von der Anstalt 
„Hephata“ in M.-Gladbach, als auch von der Anstalt in Essen-Huttrop die 
grösste Bereitwilligkeit ausgedrückt wurde, zusammen zu arbeiten, um denjenigen, 
die sich in dieser Weise auffrischen wollten, neue Anregungen zu geben und auf 
der anderen Seite Anerkennung und Ermutigung zu finden. 

Der Vorsitzende dankt hierauf im Namen der Konferenz den beiden Herren 
für ihre freundlichen Worte und giebt Dir. Herberich-Gmünden das Wort. 
Derselbe spricht über: 


Die ideale Seite der Idiotenpflege. 


Meine Damen und Herren! 


Welchen Zweck haben unsere Konferenzen, unsere Zusammenkünfte nach 
Zwischenräumen von drei Jahren? Vielleicht in erster Linie den, unsere ge- 
machten Erfahrungen gegenseitig auszutauschen, tiefer in das geheimnisvolle 
Wesen des Schwachsinns einzudringen, neue Ergebnisse fleissigen Forschens auf 
diesem Gebiete zu vernehmen und zu sehen, wie die Fürsorge für die bislang 
Vernachlässigten der menschlichen Gesellschaft in den verschiedenen Ländern 
sich entwickelte. Das ist alles schön und gut, aber nicht genügend. Nach 
meiner Ansicht haben unsere Konferenzen auch den edleren Zweck, uns gegen- 
seitig zu heben und zu begeistern für unser heimisches Schaffen, uns neue 
Kraft und neuen Mut zu holen für unsern schweren Beruf. Und wie könnte 
das besser geschehen, m. D. u. H., als durch die Betrachtung der idealen Seite 
desselben, als durch das Hervorheben höher liegender Gesichtspunkte! 

So lassen Sie mich denn einzelne dieser Gesichtspunkte beleuchten, denn 
alle zu besprechen geht über den Rahmen eines kurz bemessenen Vortrages 
hinaus. Anderseits möchte ich auch der folgenden Debatte verschiedenes Material 
nicht wegnehmen. 

Die ideale Seite der Fürsorge für die unserer Erziehung und Pflege an- 
vertrauten körperlich und geistig Schwachen lässt sich nach zwei Richtungen 
teilen: 1. in Beziehung auf die Schwachsinnigen selbst und 2. in Beziehung 
auf das Personal, welches sich mit ihnen beschäftigt. 


I. 


Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein idealer Gesichtspunkt liegt 
vor allem in dem ausserordentlichen Vorzuge der Anstaltspflege gegenüber der 
Familienpflege für die armen Geistesschwachen selbst. Ich will dies an einigen 
Beispielen zeigen. Es ist mir in meiner nunmehr bald 20jährigen Praxis häufig 
vorgekommen, und es wird wohl meinen Herren Kollegen ebenfalls vorgekommen 
sein, dass Zöglinge, welche wir auf den Wunsch ihrer Eltern auf Ferien ent- 
liessen, zu Hause vollständig ausarteten, beziehungsweise in ihre früheren 
Fehler und Unarten zurückfielen, während sie in der Anstalt vollständig zufrieden 


188 


und harmlos waren. Wir können oft unser Erstaunen und unsere Verwunderung 
nicht unterdrücken, wenn uns von den betrefienden Angehörigen mitgeteilt 
wird, wie sich die Kinder daheim aufgeführt haben. In einem Falle ist es 
vorgekommen, dass ein Knabe, nachdem er die ersten Tage sich ruhig verhalten 
hatte, plötzlich in eine Art Raserei verfiel, seine Geschwister misshandelte, seine 
Kleider vom Leibe riss und sie nebst anderen Gegenständen zum Fenster 
hinauswarf u. s. w., so dass der Vater ihn schleunigst wieder zur Anstalt zurück- 
bringen musste. Hier traf er mit dem freundlichsten und zufriedensten Gesichte 
von der Welt ein, ging sofort in seine Abteilung und kümmerte sich nicht 
weiter um den Vater. Es that diesem sehr wehe und er erkundigte sich, 
warum sein Sohn so ungeberdig sei, ob man ihn denn nicht besser ziehen 
könne. Er musste aber zu seiner grossen Überraschung die Thatsache erfahren, 
dass man in der Anstalt absolut keine Veranlassung gehabt habe, den Knaben 
zu strafen. Derselbe war vielmehr einer der ruhigsten und bravsten Zöglinge, 
der seiner Pflegerin gar keine Mühe machte. Wir hegten nun selbst die Be- 
fürchtung, der Knabe möchte seine Unarten in der Anstalt fortsetzen. Aber 
nichts geschah. Er war ebenso friedfertig und lenksam wie früher. Dieser 
Fall steht aber nicht etwa vereinzelt da, sondern wir haben in der Anstalts- 
geschichte vier oder fünf ähnliche Vorkommnisse zu verzeichnen. 

Wenn wir nun nach der Ursache solch auffallender Erscheinungen forschen, 
so müssen wir vor allem festhalten, dass unsere armen Schwachsinnigen in der 
Anstalt eine neue und viel bessere Heimat gefunden haben, als sie ihnen im Eltern- 
hause geboten war. Es dünkt uns zwar ein Widerspruch zu sein im Hinblick 
auf die grosse Bedeutung des Familienbandes, ist aber doch so.. Der Schwach- 
sinnige fühlt sich, wenn ich so sagen darf, instinktmässig häufig in seiner 
Familie als Fremder. Er weiss recht gut, dass er nicht so ist, wie seine 
übrigen Geschwister, er empfindet unbewusst den Druck der geistigen und 
körperlichen Überlegenheit derselben und es wird ihm auch oft genug deut- 
lich gemacht. 

So lange er nun im elterlichen Hause weilt, kennt er nichts Besseres und 
erträgt es vielleicht mit Resignation. Anders wird es, sobald er in die Anstalt 
kommt. Hier befindet er sich unter Ebenbürtigen, ja unter solchen, welche 
noch auf einer tieferen Stufe stehen. Das befriedigt ihn, befreit ihn von 
drückender Beschämung und erweckt Lebensfreudigkeit und Teilnahme an seiner 
Umgebung. Das herzliche Einvernehmen mit seinen Kameraden, eine liebevolle 
Behandlung seitens erfahrener Pflegerinnen, eine angemessene Lebensweise, 
Spiele, geeignete Beschäftigungen, die zahlreichen festlichen und gemütlichen 
Veranstaltungen, welche das Jahr mit sich bringt: all das macht ihm die 
Anstalt zur rechten Heimat, in welcher er sich glücklich fühlt. Und wenn er 
nun plötzlich herausgerissen wird aus diesem gemütlichen Heim, wenn er 
zurückversetzt wird in die alten Verhältnisse der Erniedrigung, so wird er bei 
all der elterlichen Liebe unzufrieden und unglücklich und verfällt in alte Un- 
arten und Aufregungszustände. 

Und darum auch kehrt er freudig zurück in die liebgewonnenen Räume, 
in die für ihn passende und ihm angepasste Welt, wo man seine Eigenheiten 





mn, 


und Liebhabereien kennt und zu behandeln weiss, wo er nicht der Dumme und 
Verachtete und Verspöttelte ist, sondern der Gleichberechtigte unter Kameraden. 
Die Anstalt ist sein Asyl, seine Zufluchtsstätte, in welche er sich gleichsam 
rettet und. flüchtet vor einer ihm fremden und feindseligen, anders gearteten 
Gesellschaft. 

Und was ist es erst mit solchen, die als tiefstehende Idioten des Hauses 
grösste Last und Plage sind; die als Verhängnis, ja als göttliche Strafe ver- 
wünscht werden? In meiner Anstalt befindet sich ein Asylist, den sein Vater 
seinerzeit selbst. überbracht hat. Er war zu Hause ein unbändiger Knabe, der 
manches zerstörte und deshalb furchtbare Prügel erhielt. Der Vater ist vor 
einigen Jahren gestorben, ohne seinen Sohn auch nur ein einziges Mal besucht 
zu haben; er wollte ihn nicht mehr sehen. Die eine Schwester wurde anstands- 
halber in Zwischenräumen von 5 bis 6 Jahren geschickt. Aber auch sie hält 
sich in scheuer Entfernung und ihre ständige Klage war: „Warum müssen 
denn gerade wir einen solchen Bruder. haben?“ Die Mutter, bedenken Sie, 
m. D. u. H., die leibliche Mutter des Ausgestossenen lernte ich erst vor einigen 
Monaten kennen. Sie kam zum ersten Mal in die Anstalt, um ihren Sohn nach 
19 Jahren wieder zu sehen, und der Besuch dauerte -- eine Viertelstunde. 
Dabei ist der Betreffende nicht etwa abstossend, nur zu Zeiten etwas aufgeregt, 
aber sonst ordentlich, reinlich und ein grosser Freund der Musik. Er ist bei 
uns durchaus beliebt. Was für einen solchen Unglücklichen die Anstalt be- 
deutet, brauche ich nicht weiter auszuführen. Wie viele andere Idioten, nament, 
lich in Städten — ich könnte zahlreiche Fälle anführen — sind, bevor sie in 
die Anstalt eintraten, wenig oder gar nicht an die Luft gekommen, weil man 
sich vor den Nachbarn und noch mehr vor der Öffentlichkeit scheute, kein 
Aufsehen erregen und sich nicht Unannehmlichkeiten und Kränkungen aussetzen 
wollte. Es kann dies kaum getadelt werden, denn das Publikum hat unter 
Umständen ein Recht darauf, unbehelligt zu bleiben, und es erregt auch in 
vieler Hinsicht Bedenken, mit derartigen Kranken sich auf der Strasse oder 
auch in besuchten Anlagen zu zeigen. Solche Schwachsinnige leben förmlich 
auf, wenn sie in eine Anstalt kommen, wo sie nicht zwischen 4 Wänden ein- 
gekerkert werden, sondern auch den schönen blauen Himmel und Waldesgrün 
sehen und frische Luft geniessen können, und es gehen oft merkwürdige Ver- 
änderungen mit ihnen vor. 

Andere, welche auf dem Lande leben, geniessen oft zu viele Freiheit, 
streunen umher, verwahrlosen und bilden nicht selten den bedauernswerten 
Gegenstand des Spottes, ja des Missbrauches. Häufig sind solche Idioten ver- 
waist und entbehren vollständig der trauten Häuslichkeit, sie gehen ohne Liebe 
und Mitleid durchs Leben. Auch diese finden in der Anstalt ein Asyl, welches 
sie schützt und in welchem sie Ersatz finden für die fehlenden Familienbande. 

Recht deutlich wird dies offenbar bei Beerdigungen unserer Verstorbenen. 
Man soll nicht klagen, wenn der Tod die gebundene Seele erlöst zu höherer 
Freiheit, wenn der sieche und verunstaltete Körper hinabsinkt zur Verwesung. 
Aber es ist doch unsagbar traurig beobachten zu müssen, dass — wie es leider 


Pi. 


häufig geschieht — auch nicht ein einziger Verwandter es der Mühe wert findet, 
dem Verlassenen das letzte Geleite zu geben, wenn selbst Eltern sich dessen 
schämen. Und wie selten sieht man Thränen am Grabe. Nur diejenigen, welchen 
der Arme im Geiste ein Freund und Bruder geworden, seine Kameraden, blicken 
trauernd und betend auf den geschlossenen Sarg und treue Pfleger und 
Pflegerinnen betten ihn liebevoll zur ewigen Ruhe. 

Doch nun hinweg zu den Lebenden, zu den Kleinen, Hoffnungsfreudigen, 
die ung übergeben sind nicht bloss zur Pflege und Bewahrung, sondern zur Er- 
ziehung und Bildung. Sie waren draussen in der Heimat auch Fremdlinge 
gewesen, sassen gedrückt und furchtsam unter spöttelnden Buben in der Schul- 
bank, hatten kein Selbstvertrauen, wussten nichts, konnten nichts und waren 
dem Lehrer ein Ärgernis und ein grosser Hemmschuh in der Förderung seiner 
besser begabten Schüler. Nun sind sie in die Anstalt gekommen. Da ist 
alles ganz anders, da giebt es keinen Spott, keine Erniedrigung. — Da traucht 
der Schüler zunächst nichts zu können, es wird gar nichts von ihm verlangt, 
nur Unterhaltung und Spiel anscheinend. Kleine Übungen am Formenbrett; 
ach, das geht ja ganz leicht, das bringt er fertig. Und nun wird er gelobt: 
Ei der Tausen, bist Du geschickt? Welche Veränderung geht da mit dem 
eingeschüchterten Geiste vor! Wie er sich reckt und dehnt, er wächst förmlich. 
Seht ihr das blöde kindliche Auge leuchten, seht ihr sein Gesicht strahlen vor 
Freude? Das ist die Auferweckung aus ödem Stumpfsinn zur Lebensfreudigkeit, 
aus der Mutlosigkeit zum Selbstvertrauen. 

Meine verehrten Zuhörer! Ist das nicht ein schöner Zug, ein Sonnenstrahl 
in unseren Anstalten? | 
II. 

Und hiermit gelangen wir zur idealen Bedeutung der Idiotenpfiege auch 
für das Personal, welches sich mit den armen Schwachsinnigen beschäftigt, und 
zwar zunächst für das Lehrpersonal. 

Ich wende mich an meine werten Kolleginnen und Kollegen aus dem 
Lehrerstande und frage: Haben Sie es jemals bereut, dass Sie sich dem müh- 
samen Berufe des Schwachsinnigen-Unterrichtes gewidmet haben? Gewiss nicht! 
Ungefähr ein Jalır nach der Gründung meiner Anstalt besuchte ich einen 
älteren Freund, dessen erstes Wort nach der Begrüssung war: „Sie haben sich 
da eine schöne Rute gebunden!“ Ich aber lächelte und sprach: „Nun, bis jetzt 
habe ich diese Rute noch nicht empfunden!“ Und ein anderer meinte: „Wie 
thöricht, dir eine solche Last aufzubürden! Du hast es in deiner früheren 
Stellung viel ruhiger gehabt und wirst noch manchmal daran zurückdenken.“ 
Meine Antwort war: „Möglich, dass ich es ruhiger und bequemer hatte, aber 
giebt es denn einen schöneren Beruf, als solch versumpfte Seelen zu heben 
und sie zu Gott zu führen?“ Und in der That! Es liegt nicht nur ein ge- 
wisses Verdienst darin, sich der Armen im Geiste anzunehmen, sondern es ist 
auch für jeden Pädagogen äusserst interessant, die Entwickelung eines Schwach- 
sinnigen zu beobachten, zu leiten und zu fördern. Schon die Verschiedenartig- 
keit unserer Schüler, welche uns zwingt aufs strengste zu individualisieren, 


191 
jeden Einzelnen förmlich zu studieren, seine Besonderheiten zu merken, die 
schwachen und starken Seiten zu berücksichtigen, einen förmlichen Erziehungs- 
und Unterrichtsplan für ıhn zu entwerfen und durchzuführen: all das fordert 
unser Talent, unser Wissen und Können auf eine Weise heraus, von welcher 
die Fernstehenden keine Ahnung haben. Dies verleiht gerade unserem Berufe 
eine gewisse Vielseitigkeit, welche zwar anstrengt, aber auch uns selbst anregt 
und befriedigt. 

Und wie erhebend ist es, m. D. u. H., wenn wir mit Freude sehen, wie 
diejenigen, an welchen andere ohne ihre Schuld sich vergebens oft jahrelang 
abgemüht haben, nun plötzlich aufwachen aus ihrer Lethargie und Fortschritte 
machen; wenn wir den schwachen kindlichen Geist beobachten, der wie das 
Saatkörnlein auf dem Ackerfelde die lange kalte Winternacht geschlafen zu 
haben scheint, und der nun plötzlich in der Frühlingssonne einer freundlichen 
und verständigen Pflege sich zu regen beginnt und keimt und wächst. Ganz 
besonders erfreulieh ist dieses Auftauen bei den wirklich Schwachsinnigen, die 
infolge fehlerhaften Gesichtes und Gehöres gegen die Erscheinungen der Aussen- 
welt gleichsam abgeschlossen waren und die nun durch intensiveren Anschauungs- 
unterricht, durch Sprachübungen und endlich durch fortgesetzte Begriffsent- 
wicklung beim Leseunterrichte erst in die Welt des Geistes eingeführt werden. 
Diese sind die dankbarsten und lernbegierigsten Schüler. 

Auch für den Arzt entbehrt die Wirksamkeit an einer Idiotenanstalt nicht 
der idealen Seite. Es ist durchaus falsch, die mühsame Arbeit an den Schwach- 
sinnigen, die Bildungs- und Besserungsversuche als erfolglos hinzustellen, wie 
das von mancher Seite geschieht. Es ist falsch, unsere Häuser zu blossen Be- 
wahr- und Pflegeanstalten herabzudrücken, in welche man diejenigen zusammen- 
pfercht, die der menschlichen Gesellschaft im Wege stehen. O, das mag ja 
bequem erscheinen, aber ideal ist es nicht und nach meiner Ansicht auch nicht 
human und christlich. Denn der Schwaclhisinnige hat wohlbegründeten Anspruch 
darauf, und mit ihm haben ihn seine Angehörigen, dass er gebessert und aus- 
gebildet werde, soweit es immer möglich ist. Und das geschieht, wenn der 
Arzt und der Pädagoge einträchtig zusammenwirken. Wie häufig sind die 
Fälle, wo schon die geordnete Körperpflege und angemessene Ernährung, die 
Bewegung in frischer Luft, Turnen und Spiele einen ausserordentlich günstigen 
Einfluss auf die körperliche und damit auch auf die geistige Entwicklung der 
Zöglinge haben. Das gilt insbesondere von solchen, welche aus gesunkenen, oft 
verkommenen Familien stammen, welche blutarm, skrophulös oder infolge häus- 
licher Vernachlässigung überhaupt schwächlich sind. Hier hat der Arzt ein 
dankbares Feld der Thätigkeit. Auch kann hie und da durch operative Eingriffe 
recht wohl geholfen werden. Ich habe gegenwärtig zwei Zöglinge in der Unter- 
richtsabteilung, welche bei ihrem Eintritte in die Anstalt so wenig Augenlicht 
besassen, dass es absolut unmöglich war, sie im Lesen und Schreiben zu unter- 
richten. Es schien jedoch unserem Anstaltsarzte, als ob da noch zu helfen sei. 
Daraufhin wurden sie Herrn Professor Dr. Helfreich in Würzburg vorgestellt, 
welcher dieselben sogleich in seiner Klinik behielt und nach entsprechender 


192 
Vorbereitung beide operierte und zwar mit einem derartig günstigen Resultate, 
dass sie jetzt mit Hilfe von eigens konstruierten Augengläsern ganz gut sehen 
und am Unterrichte mit besserem Erfolge teilnehmen können. Es ist also auch 
dem Arzte Gelegenheit geboten, unseren Idioten, die bekanntermassen der Mehr- 
zahl nach auch körperliche Gebrechen haben, ein Wohlthäter zu werden und 
im Einvernehmen mit dem Pädagogen bei gegenseitigem Austausche der Be- 
obachtungen und Erfahrungen recht Erspriessliches zu wirken. 

Zu diesem guten Verhältnisse zwischen dem Arzte und dem Pädagogen 
soll sich aber auch der bedeutende Einfluss des Religionslehrers als drittes 
bindendes und ergänzendes Glied anreihen. Dies geschieht schon im allgemeinen, 
wenn derselbe zugleich Leiter der Anstalt ist, soll aber auch geschehen, wenn 
er nur die religiöse Ausbildung und die Seelsorge überwacht und die weiter 
vorgeschrittenen Zöglinge zur Erstkommunion beziehungsweise Konfirmation 
vorbereitet. Das letztere Ziel ist es ja hauptsächlich, welches unser Liebeswerk 
an den bildungsfähigen Idioten krönen soll und einen gewissen Abschluss bildet, 
wie aus dem Jahresberichte der meisten Anstalten hervorgeht. Es muss auch 
für den Priester eine dankenswerte Aufgabe sein und ihm hohe innere Be- 
friedigung gewähren, wenn es gelingt, in den armen Schwachsinnigen das Licht 
der religiösen Wahrheiten anzuzünden und sie dem göttlichen Kinderfreunde 
entgegenzuführen. Sie sind ja bekanntermassen so empfänglich dafür, gehen 
ausserordentlich gerne in die Religionsstunden, vernehmen die biblischen Er- 
zählungen mit Interesse und haben oft ein ungeahntes Verständnis für die 
hohen sittlichen Lehren, welche daran geknüpft werden. Kinder, welche nicht 
zum Lesen, Schreiben und Rechnen gebracht werden können oder hierin gegen 
andere zurück sind, zeigen sich gleichwohl sehr empfänglich für die religiöse 
Bildung und bekunden beim Gottesdienste und besonders beim Empfange des 
Abendmahles eine Sammlung und eine Andacht, die manchen Vollsinnigen zum 
Muster dienen könnte. Das, m. D. u. H., halte ich auch für einen idealen Zug. 

Insbesondere erfreut und erhebt uns ferner die Anhänglichkeit der Zöglinge 
und entschädigt uns reichlich für die Mühen und Anstrengungen des Berufes. 
Ich habe schon eingangs meines Vortrages darauf hingewiesen, dass der Gegen- 
satz, welcher in der Behandlung der Schwachsinnigen in der Heimat und in 
der Anstalt liegt, die unglücklichen Kinder zu Gunsten der letzteren beeinflussen 
müsse. Ganz dasselbe ist mit den Personen der Fall. Unsere Zöglinge fühlen 
sich unwillkürlich zu dem hingezogen, der ihre geistige Armut erkennt und sie 
zu behandeln weiss, der ihre geringen Leistungen belobt und sie hebt und 
kräftigt, der ihnen einen Platz in der menschlichen Gesellschaft zu verschaffen 
sucht. Daher ihre Anhänglichkeit und Dankbarkeit, welche sich auch nach 
ihrer Entlassang noch kundgiebt durch rührende Briefe und womöglich Besuche. 
Auch viele’ Eltern erfreuen uns durch wohlthuende Erkenntnis der Leistungen, 
wenn auch nicht alle. 

Noch habe ich des Pflegepersonals zu gedenken. Für dieses liegt die ideale 
Seite in der höheren Auffassung ihres Berufes. Einmal fragte mich ein schlichter 
Bauarbeiter beim Anblicke eines körperlich missgestalteten Schwachsinnigen : 


„Wozu hat doch Gott solche Geschöpfe auf die Welt gesetzt?“ Meine Antwort 
war: „Damit wir Menschen an ihnen unsere Nächstenliebe beweisen und üben.“ 
So sollte jeder Pfleger und jede Pflegerin denken. Ja, ich glaube wenig oder 
keinen Widerspruch zu finden, wenn ich behaupte: Das Personal, welches nicht 
von diesem Geiste durchdrungen ist, hält nicht aus, denn es ist thatsächlich 
keine Kleinigkeit, Idioten zu pflegen, und es erfordert einen hohen Grad von 
Selbstverleugnung, Opfersinn und Mut, ständig mit solchen Menschen umzu- 
gehen, ihre Launen zu ertragen und die Anforderungen, welche ihre körperliche 
Unbeholfenheit an den Wärter oder die Wärterin stellt, gewissenhaft zu erfüllen. 
Und wenn diese tüchtig sind, so sind sie dem Soldaten gleich zu achten, der 
tapfer ausharrt auf seinen Posten, der Mühe und Anstrengung gering achtet 
und sich um das Vaterland verdient macht. | 

Und nun zum Schlusse, meine sehr verehrten Damen und Herren, erblicke 
ich noch eine ideale Seite unseres Berufes in unseren Konferenzen, in unseren 
Zusammenkünften. Schauen Sie unsere Versammlung an: da haben Sie Teil- 
nehmer aus allen Ländern, aus den Gauen Nord- und Süddeutschlands nicht 
nur, sondern auch Schweizer, Österreicher, Dänen, Luxemburger. Es sind ferner 
vertreten die verschiedenen Konfessionen : Protestanten, Katholiken und Israeliten; 
es sind vertreten die verschiedenen Berufsklassen : die Theologen, die Mediziner, 
die Pädagogen, alle beseelt von dem einen erhabenen Streben, unseren armen 
Schwachsinnigen zu dienen und deren Wohl zu fördern Kann es ein schöneres 
Beispiel heiliger Eintracht geben? Weahrlich, daran muss unser Herr Gott im 
Himmel sein Wohlgefallen haben. 

Es giebt — wie man sagt —- verschiedene Internationale: eine n eine 
schwarze und eine gelbe. Wir, m. H. u. D., gehören zur weissen Internationale, 
zu jener grossen mutigen Armee, die da keinen Unterschied kennt, weder der 
Nationalität, noch der Konfession, noch des Standes, die da voranträgt das 
weisse Banner mit dem roten Kreuze. Und unser Symbol ist die hehre Licht- 
gestalt der Charitas, die uns voranschwebt, mit der einen Hand hinaufzeigend 
zum Himmel und mit der anderen hinweisend auf die zahllose Schar unserer 
Pflegebefohlenen, und die uns die Worte des Herrn zuruft: „Was ihr immer 
dem geringsten meiner Brüder gethan, das habt ihr mir gethan.“ Und das 
sei unser Ideal jetzt und immerdar. 


Der Vorsitzende dankt dem Vortragenden für seine trefflichen Ausführungen. 
Eine Besprechung der denselben zu Grunde gelegten 12 Leitsätze findet nicht 
statt. (Fortsetzung in nächster Nummer). 





Die Selbstthätigkeit der Schüler beim Unterrichte 
abnormer Kinder. 
Von P. Riemann- Weissenfels. 
Rezeptivität und Spontaneität sind die beiden Urpotenzen, aus denen sich 
das gesamte Geistes- und Gemütsleben entfaltet und beide müssen daher 
während des Unterrichtes ihre volle Berücksichtigung finden. Leider will es 





a 


uns inbezug auf die Spontaneität, die Selbstthätigkeit, bei abnormen Kindern 
oft scheinen, als ständen wir vor unüberwindlichen Schwierigkeiten; denn ihr 
Geist eignet sich nur schwer und mühsam Geistiges selbstthätig an und wirkt 
nur äusserst wenig aus Sich heraus. Dennoch bleibt auch beim Unterrichte 
abnormer Kinder die Selbstthätigkeit der Schüler sein formales Ziel. Auch sie 
müssen durch Selbstthätigkeit zu einer gewissen, durch ihre Abnormität aller- 
dings bedingten Selbständigkeit geführt werden. 

Zu den Merkmalen, welche Lotze als wirkliche Unterschiede des Leben- 
digen vom Unbelebten anerkennt, rechnet er zunächst den bedeutsamen Umstand, 
dass, während „die meisten unorganischen Körper uns überwiegend im Zustande 
der Ruhe erscheinen, aus dem sie nur durch fast überall nachweisbare äussere 
Einflüsse zu Bewegungen und zu Veränderungen ihrer Gestalt und Eigenschaften 
aufgeregt werden, die Organismen dagegen ebenso überwiegend in einem Zu- 
stande der Bewegung sich zeigen, der seltener durch einzelne Intervalle der 
Ruhe und nie einer nachweisbaren, vollständigen Ruhe unterbrochen wird,“ 
dass sie also im Grande niemals in wirklicher Ruhe sich befinden. Je höher 
die Organismen stehen, je reicher und komplizierter ihre Organisation ist, desto 
klarer tritt diese rastlose Bewegung hervor. Mit ihr tritt der wichtige Begriff 
des Triebes in unmittelbare Beziehung. Denn als Grund dieser fortwährenden 
Bewegung, Veränderung, Entwickelung nimmt die Physiologie und Psychologie 
eine treibende Kraft im Organismus, resp. in der Seele an, die auf bestimmte 
Reize in einzelnen bestimmten Trieben sich äussert; denn die Triebe sind nur 
einzelne, bestimmte Äusserungen der Spontaneität. 

Es ist offenbar, dass das Bestehen, die Erhaltung und Dauer der Organismen 
an die Beihilfe der Aussenwelt, an die Mitwirkung von Reizen, die Zuführung 
von Stoff u. s. w. gebunden ist; dass dagegen die Bildung und Entwickelung 
des Organismus von einer spontanen Kraft ausgeht, welche nicht nur ohne 
äussere Mitwirkung, sondern auch ohne äussere Anregung thätig ist und somit 
recht eigentlich als Selbstthätigkeit sich manifestiert. Diese Kraft muss aber 
als eine besondere, von den sie unterstützenden allgemeinen physikalischen und 
chemischen Kräften verschiedene gefasst werden, weil jene besondere Thätigkeit 
und Wirkungsweise, in der sie sich äussert, eben nur in der Sphäre der orga- 
nischen Natur vorkommt. Sie muss als Lebenskraft bezeichnet werden, weil 
von ihr und ihrer spontanen Thätigkeit alle Lebenserscheinungen ausgehen, auf 
ihr und ihrer Wirkungsweise alle Lebensfunktionen in letzter Instanz beruhen. 

Von ganz hervorragender Bedeutung ist die Selbstthätigkeit auf dem Ge- 
biete des Geistigen, denn sie allein erhöht den menschlichen Geist; sie macht 
ihn fähig, die ihn umgebenden Eindrücke zu überwinden und zu beherrschen. 

Sollen die abrormen Kinder, die in so und so vielen Fällen in völliger 
Lethargie dahin leben, bevor sie in eine für sie zweckmässig eingerichtete An- 
stalt kommen, zu einer geistigen Selbstthätigkeit gebracht werden, so muss ihr 
erster Unterricht da einsetzen, wo wir die Selbtthätigkeit in ihrer ursprüng- 
lichsten Reinheit finden, nämlich beim kindlichen Spiele. Waitz sagt in seiner 
allgemeinen Pädagogik: „Das Kind spielt, wenn es mit äusseren Dingen so 


195 

-~ umgeht, dass es sich selbst dabei dem unwillkürlichen Zuge seiner Vorstellungen 
und Bewegungsthätigkeiten überlässt, ohne in diesen durch die Natur des 
Gegenstandes selbst bestimmt zu werden.“ Schon hieraus geht hervor, dass 
das kindliche Spiel die freieste und grösste Selbstthätigkeit ist, und es ist darum 
unendlich viel erreicht, wenn das schwachbefähigte Kind spielen gelernt hat. 
Ich sage: Spielen gelernt hat, denn jeder, der es mit solchen unglücklichen 
Kindern zu thun hat, weiss, dass es keine Kleinigkeit ist, sie zum wirklichen 
Spiele zu führen, und dass ihr Nichtspielen gerade ein Zeichen ihres psychischen 
Krankseins ist. Recht wertvoll werden sich hierbei auch die Fröbelschen 
Spiel- und Beschäftigungsmittel erweisen. Ich halte sie für die Gewinnung 
eines selbständigen, ungezwungenen Spieles geistig Schwacher für unentbehrlich 
und meine, dass wir ihnen es mit zu danken haben, wenn wir im Hinblick auf 
manch derartiges Geschöpf voll Überzeugung mit einstimmen in die Worte 
Fröbels: „Spiel ist das reinste, geistigste Erzeugnis auf dieser Stufe und zu- 
gleich das Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens, des inneren 
geheimen Naturlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum 
Freude, Freiheit, Zufriedenheit, Ruhe in sich und ausser sich, Frieden mit der 
Welt. Die Quellen alles Guten ruhen in ihm, gehen aus ihm hervor; ein Kind, 
welches tüchtig, selbstthätig, still, ausdauernd bis zur körperlichen Ermüdung 
spielt, wird gewiss auch ein tüchtiger, stiller ausdauernder, Fremd- und Eigen- 
wohl mit Aufopferung befördernder Mensch.“ 

Die hohe psychologisch-pädagogische Bedeutung des Spieles würde es recht- 
fertigen, wenn wir an dieser Stelle noch weiter von ihm sprechen würden. 
Jedoch dürfen wir uns nicht so sehr in Einzelheiten verlieren und die Arbeit 
dadurch unnötig verlängern. Erwähnt sei nur noch, dass wir mit gutem Grunde 
von dem Spiele, das doch während der ganzen Unterrichtszeit treue Pflege 
finden muss, ausgingen. Das kleine Kind, das Vater und Mutter und alles, 
was ihm teuer und wert gewesen ist, verlassen hat und in eine Anstalt, in 
ihm gänzlich neue Verhältnisse eintritt, ist spielend in die ernste Schularbeit 
hinüberzuleiten. Es darf gar nicht fühlen, wie es gekommen ist, dass es nun 
den Weisungen des Lehrers folgt und sich in einer Arbeit befindet, die ihm je 
länger, je mehr zum Bedürfnis werden soll und ohne dessen Befriedigung es 
schliesslich gar nicht mehr leben kann. 

Ungezwungen führt uns das Spiel auf ein anderes Gebiet der Bethätigung 
der Selbstthätigkeit, auf das Anschauen. Nur die durch scharfe und klare 
Anschauungen gewonnenen Vorstellungen bilden die Grundlage aller Intelligenz. 
Es ist ungemein wichtig, dass die Kinder, deren Sinne beim Spiele eine viel- 
fache Übung erfahren, anschauen lernen, um Anschauungen zu gewinnen, da 
für sie das verständige Betrachten ihrer Umgebung, die Beobachtung und 
lebendige Anschauung der Natur und des Menschenlebens das absolute Funda- 
ment und der massgebende Ausgangspunkt der Erkenntnis sind. Die Gewinnung 
von Anschauungen setzt eine doppelte Thätigkeit voraus, nämlich die der Sinne 
und die des Geistes. Wir können somit nur zu klaren Anschauungen gelangen, 
wenn diese doppelte Thätigkeit genügend entwickelt ist und in dem rechten 


196 

Verhältnisse zueinander steht. Die erste Aufgabe des Anschauungsunterrichtes 
wird daher in der Schärfung der Sinnesthätigkeit und in der damit in Ver- 
bindung stehenden Entwickelung der geistigen Kräfte der Schüler bestehen 
müssen. Es genügt nicht, es den Schülern zu überlassen, sich selbst Anschau- 
ungen zu bilden, d. h. ihre Sinnesthätigkeit nur auf solche Erscheinungen zu 
richten, die sich ohne weitere Vorbereitung bieten, wir müssen auch anschauen 
lassen; also im gewissen Sinne auf künstlichem Wege Sinnesreize erzeugen, 
Dabei ist es nötig, dass alle Sinne in Anspruch genommen werden, wenn wir 
klare Anschauunngen in den Schülern erzeugen wollen. Wenn Preyer in einem 
auf einer Naturforscherversammlung (1887) gehaltenen Vortrage: „Naturforschung 
und Schule“, sagt: es müssten „in bestimmten regelmässigen Stunden Unter- 
weisungen im richtigen Gebrauche der Sinne in der Schule. stattfinden“, so 
hat dies seine ganz besondere Wichtigkeit für abnorme Kinder. Da nun in 
den meisten Fällen bei solchen Kindern ein ungenügend ausgeprägter Muskel- 
sinn vorhanden ist, so muss, um nur eins hervorzuheben, sich das Augenmerk 
des Lehrers hierauf ganz besonders richten und muss es seine stete Sorge sein 
durch Übung und Kräftigung derselben eine schnellere und klarere psychische 
Thätigkeit zu erzielen. Denn damit, dass der Mensch der Fähigkeit sich be- 
wusst wird, seine Muskelkraft nach Plan und Absicht zu verwenden, zu ver- 
teilen, zu steigern und zu mässigen, wird er auch das Bewusstsein gewinnen 
dass der Organismus seinen Willensbeschlüssen zu dienen bestimmt ist. Um 
diesen Akt zur rechten Entfaltung zu bringen, muss sich der Geist der Kinder 
bei allen Sinnesübungen mitwirkend verhalten. „Je mehr wir bei einer geistigen 
Arbeit nur passiv aufnehmen, desto weniger ist sie von den Lustgefühlen be- 
gleitet, desto früher tritt die geistige Ermüdung ein, desto schwächer ist die 
Aufmerksamkeit und Eingenommenheit für die Sache und, natürlich, desto un- 
klarer und undeutlicher sind die psychischen Gebilde, die durch solche Arbeit 
in unserer inneren Welt entstehen, als es alles bei der selbstthätigen Arbeit 
der Fall ist. Alles aber, wodurch der Fortschritt in der geistigen Entfaltung 
begünstigt wird, muss von den Lustgefühlen begleitet sein. Durch das den 
geistigen Fortschritt begleitende und im Zusammenhange mit der Selbstthätig- 
keit innerhalb der gewissen Erkenntnisobjekte erscheinende Gefühl sprechen 
wir den Wert der letzteren für unser Inneres aus‘ (Dr. Okanowitsch, 
Interesse und Selbstthätigkeit.) 

Ausserdem ist stets zu bedenken, dass die Aufmerksamkeit, welche alle 
Sinnesübungen erfordern, nicht „im Mechanismus des Körpers ihren Grund hat“ 
noch eine nur in der Stärkung und Schärfung der organischen Funktionen der 
Sinne bestehende Thätigkeit ist, sondern ein rein psychischer Akt. Erhöht wird 
nun diese psychische Thätigkeit, sobald die Seele vom Wahrnehmen zum Vor- 
stellen fortschreitet; denn wenn der Gegenstand der Wahrnehmung vor mir 
steht, dass ich ihn sehen und fühlen kann, dann ist mein Denken an das ge- 
bunden, was ich von dem Gegenstande sinnlich wahrnehme. Beim Vorstellen 
hat es aber die Seele nur mit dem zu thun, was sie von den Dingen her in 
sich aufgenommen hat, also mit ihrem eignen geistigen Inhalte. Dieses Faktum 


197 

ist während des gesamten Unterrichtes vom Lehrer festzuhalten und gebietet 
dass die Methode auch bei abnormen Kindern von dem Grundsatze der Selbst- 
thätigkeit beherrscht wird. Viel wird gegen diesen Grundsatz gerade iu der 
ersten Schulzeit gesündigt. Bei der geringen geistigen Kraft der Schüler gerät 
der Lehrer nur zu leicht in den Fehler des zu häufigen Gebens und vertröstet 
sich auf eine spätere Zeit. Aber die spätere Zeit kann und wird nie wieder 
gut machen, was hier versehen wurde. „Was beim Unterrichte nicht zur 
Vorstellung wird in unserer Seele, das ist für die Bildung verloren; denn die 
Bildung besteht in der Summe unserer Vorstellungen und deren richtiger 
Verwendung“. (Polack, Brosamen). Es wäre gewiss ein grosser Segen für 
alle geistig armen Kinder, wenn das Preisausschreiben des Erziehungsaus- 
schusses des evang. Diakonievereins für das beste erste Schulbuch eine glück- 
liche Lösung fände. (Siehe S. 81 des zweiten Heftes und fünften Jahrganges 
der Kinderfehler 1900). | 

Freilich erscheint uns die geistige Selbstthätigkeit der Schüler auf der 
Unterstufe oft recht winzig; sie ist aber darum nicht weniger wichtig und hat 
für das Werden des Geistes eine weitgehende Bedeutung. Denken wir uns den 
Fall, dass nach der Schreiblesemethode, die das Interesse des Kindes in höherem 
Masse erregt und erhält, als die Behandlung des Lesens ohne gegenseitige Be- 
ziehung und Durchdringung, das Wort Hut zur Behandlung steht, so ist es 
von grossem Vorteile, wenn neben einer allseitigen Anschauungsübung das Kind 
den Gegenstand zeichnet, durch Falten und Thonformen darstellt und durch 
Stäbchenlegen das Wortbild reproduziert. Um letzteres zu können, muss es 
dasselbe selbstthätig in seine Bestandteile zerlegt und von den einzelnen Buch- 
staben eine richtige Auffassung, ein klares Bild gewonnen haben. Dass hier- 
bei die Darstellung des Wortes in lateinischen Buchstaben eine bedeutende Er- 
leichterung schafft, ist klar. 

Schreitet so der Unterricht mit durchgängiger Anregung und Bethätigung 
des Triebes zu künstlerischer und technischer Darstellung fort, so wird der Geist 
erstärken und die Arbeit zur Freude In ihr allein aber haben wir die Trieb- 
feder gewonnen, welche zu derselben Arbeit anspornt und schliesslich befähigt, 
stundenlang bei derselben geistigen Beschäftigung zu verweilen. Kein Unter- 
richtsverfahren führt besser zu diesem Ziele, als das entwickelnde. Wir können 
es uns darum nicht versagen, hier noch eine Stelle aus der schon oben genannten 
Schrift von Okanowitsch über den entwickelnden Unterricht anzuführen. Er 
sagt: „Beim entwickelnden Unterrichtsverfahren operiert der Schüler mit den 
ihm schon bekannten Vorstellungen oder Vorstellungsmassen; neu ist dagegen 
das Endresultat dieser Operation“ die Kombination selbst, die uns das betreffende 
Ereignis von dem unterrichtet wird, darstellt. Die geistige Operation aber ist 
nichts anderes, als das selbstthätige Beziehen der schon vorhandenen Vorstellungs- 
massen aufeinander und darin eben liegt der Grund jener Wärme, die der 
Schüler beim entwickelnden Unterrichtsverfahren empfindet. Die innere Thätig- 
keit ist in dem Falle so viel in Anspruch genommen, dass man die äusseren 
Anlässe zur betreffenden Verbindung der Gedanken seitens des Lehrers kaum als 





198 
etwas von aussen Kommendes betrachtet. Diese Gefühlswärme kann nicht durch 
die Mitteilung einfach vom Lehrer auf den Schüler übertragen werden — sei 
der Vortrag des Lehrers übrigens so vortrefflich wie möglich gewesen — sondern 
sie entsteht allein aus den selbstthätigen Verbindungen der einzelnen geistigen 
Inhaltselementee Der Erklärungsgrund dieser Erscheinung ist ein einfacher: 
beim blossen Vortragen der Sache in der Schule ist der Schüler überwiegend 
passiv, während bei dem selbstthätigen Zusammen- und Hervorbringen der Sache 
aus den schon vorhandenen Bauelementen das Bedürfnis des kindlichen Geistes 
zur Aktivität, zur Selbstthätigkeit zu seinem vollen Rechte kommt.“ 

Hierzu nur noch ein kurzes Beispiel. Ist die biblische Geschichte von den 
„Zehn Aussätzigen“ nach dem entwickelnden Unterrichtsverfahren behandelt, so 
ist es nötig, dass nach Vermittelung des vollen Verständnisses die einzelnen 
handelnden Personen in kurzen Zügen charakterisiert werden und die Selbst- 
thätigkeit der Schüler dahin angespornt wird, ihr eigenes Leben, Thun und 
Lassen mit dem der gekennzeichneten Personen zu vergleichen, in ihr eigenes 
Herz und Leben hineinzuleuchten und den Vorsatz in ihnen wach zu rufen: 
Du willst das Gute lieben und üben, das Böse hassen und lassen. Erst so wirken 
die eigene geistige Kraft des Kindes und angemessene geistige Einwirkung von 
aussen her — Rezeptivität und Spontaneität in harmonischer Wechselwirkung. 
Durch eine derartige Harmonie der geistigen Thätigkeiten allein ist es möglich, 
die Anlagen des Kindes bis zu den Grade auszubilden, dessen sie fähig sind 
und sie unter die Botmässigkeit der höchsten Interessen des Menschen zu 
bringen, die in dem Interesse für das Wahre, Gute und Schöne wurzeln und 
aus ihm entspringen. 


Heinrich Ernst Stötzner. 


Nach fünfzigjähriger Amtsthätigkeit trat mit dem 30. Oktober d. J. ein 
Mann in den Ruhestand, dessen Name mit der Erziehung der Schwach- und 
Blödsinnigen eng verknüpft ist, es ist dies der bisherige Direktor der .Königl 
Taubstummenanstalt zu Dresden, Schulrat Heinrich Ernst Stötzner. Was 
derselbe auf dem Gebiete der Taubstummenbildung im allgemeinen und als Leiter 
der Dresdner Taubstummenanstalt im besonderen geleistet hat, ist von seinen 
engeren Berufsgenossen durch Wort und Schrift und insbesondere bei der Feier 
seines 50 jäbrigen Amtsjubiläums hervorgehoben und gerühnit worden, ung fällt 
nur zu, dessen zu gedenken, was Stötzner für die Erziehung unserer Schwach- 
und Blödsinnigen gethan hat. Wie die Lehrer der Taubstummen aber, so 
können und müssen auch wir sagen: „Ernst Stötzner ist unser und von 
den unseren einer“. 

Geboren am 25. Juni 1832 in Grossenhain (Sachsen) und in den Jahren 
1847—1851 in Dresden zum Lehrer ausgebildet, fand Stötzner nach abgelegtem 
Examen 1851 seine erste Anstellung als Lehrer an der 1846 gegründeten ersten 
staatlichen ErziehungsanstaltfürSchwach- und Blödsinnige zuHubertus- 
burg. Zwar wirkte er hier nur bis 1855, aber schon diese wenigen Jahre der 


I. 


Arbeit an den Schwachen am Geiste hatten hingereicht, nieht nur die Eigen- 
art des Schwachsinnigenunterrichts kennen zu lernen, sondern auch die Über- 
zeugung gewinnen, dass den Schwachsinnigen geholfen werde könne und müsse. 
Von 1855 bis zu seinem Scheiden aus dem Öffentlichen Wirken blieb Stötzner 
der Sache der Schwachsinnigenbildung nicht nur treu zugethan, sondern er 
wurde auch ihr Förderer wie selten einer. 

Im Jahre 1865 gab Stötzner ein Schriftchen: „Schulen für schwach- 
befäbigte Kinder“ heraus. In demselben zeigte er die praktische Durchführ- 
barkeit der Schwachsinnigenerziebung, und, so klein und einfach das Schriftchen 
gehalten war, so gab dasselbe doch an verschiedenen Orten nicht nur den ersten 
Anstoss zur Gründung einer besonderen Klasse oder Schule für Schwachsinnige, 
(gegenwärtig fast überall, selbst in Leipzig, „Hilfsschule“ genannt), sondern es 
diente bei der spärlichen Litteratur über den betreffenden Gegenstand auch viel- 
fach als Wegweiser bei der Einrichtung solcher Anstalten. Der Idee der Schwach- 
sinnigenerziehung dienten auch Stötzners grössere Abhandlung: „Altes und 
Neues aus dem Gebiete der Heilpädagogik“ und mehrere Artikel seiner 
Feder in der „Gartenlaube“, dem „Daheim“, der „Illustrierten Zeitung“ und ver- 
schiedenen Tagesblättern. 

Mit vielem Eifer erstrebte Stötzner die Gründung einer Schule für 
Schwachsinnige (Nachhilfeschule) in Leipzig. Er arbeitete einen ausführlichen 
Plan für dieselbe aus und überreichte denselben dem Rate der Stadt. Der Rat 
nahm den Plan, aber es kam derselbe aus verschiedenen Gründeu, insbesondere 
aber iufolge des Krieges 1866, nicht zur Ausführung. Wäre solches geschehen, 80 
würde Stötzner jedenfalls Leiter dieser Schule geworden sein, denn die Leipziger 
Schuldirektoren empfahlen ihn dazu. 

Zu unserer Konferenz steht Stötzner in den engsten Beziehungen. Wie 
man ihn hier und da als den „Vater der Hilfsschule“ bezeichnet hat, so ist 
Stötzner auch einer der Mitbegründer unserer Konferenz. Während in 
der Pfingstwoche 1865 zu Leipzig die „Allgemeine deutsche Lehrerversammlung“ 
tagte, bildete sich insbesondere auf Anregung von Dr. Kern im Verein mit 
Stötzner eine heilpädagogische Sektion derselben, die sich später als „Gesell- 
schaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigen-Bildung‘“ konstituierte. 
Noch in demselben Jahre trat die Gesellschaft vom 18—20. September in 
Hannover, also gleichzeitig mit der Naturforscherversammlung, zusammen, um 
die Idiotenbildungsfrage näher zu erörtern. Fast alle Anstalten Deutschlands, 
auch die Schweiz, Belgien und Dänemark waren durch Ärzte, Vorsteher und 
Lehrer vertreten, so dass über 60 Teilnehmer den Versammlungen beiwohnten. 
Da die Gesellschaft zum ersten Male zusammentrat, so bewies diese Anzahl das 
Vorhandensein eines tiefen Interesses für die Idiotenfrage.e Aber schon in der 
Vorversammlung zeigte sich, dass ein einheitlicher Grund und Boden fehlte. Ein 
Teil wollte engen Anschluss an die psychiatrische Sektion der Naturforscher- 
versammlung, während ein andrer Teil für die künftigen Versammlungen An- 
schluss an den Kirchentag wünschte. Schliesslich einigte man sich dahin, in selb- 
ständiger Beratung zusammenzubleiben. In der ersten Hauptversammlung be- 


200 


grüsste der damalige Staatsminister von Marlortie die Versammlung, und Dr. 
Kind-Möckern behandelte in längerer Aussprache und unter Aufstellung von 
12 Thesen den Begriff „Idiotie“. Der folgende Tag führte die Gesellschaft nach 
Langenhagen zur Besichtigung der dort seit 3 Jahren bestehenden und über 
100 Zöglinge zählenden Idiotenanstalt. In der Schlusssitzung hieit Stötzner 
einen Vortrag über „Schulen für schwachbefähigte (schwachsinnige) 
Kinder“. Es knüpfte sich an den Vortrag eine lebhafte Debatte, und am 
Schlusse derselben vereinigte sich die Versammlung zur Annahme des Satzes: 
„In allen grössern Städten gründe man Schulen für schwachsinnige Kinder, da- 
mit diese durch geeignete Persönlichkeiten und entsprechenden Unterricht zu 
brauchbaren Menschen herangebildet werden.“ Die Annahme dieses Satzes war 
eines der Ergebnisse dieser ersten und letzten Versammlung der Gesellschaft zur 
Förderung der Schwach- und Blödsinnigen-Bildung. 

Eine weitere Folge derselben war die I. Konferenz für Idioten-Heil- 
Pflege in Berlin 1874, an deren Begründung Stötzner wesentlichen Anteil 
hatte. Welche Verdienste Stötzner weiter um das Zustandekommen und Ge- 
lingen der II. Konferenz in Leipzig und Hubertusburg 1897 hatte, dessen werden 
sich noch alle diejenigen erinnern, welche an derselben teilnahmen. War es 
Stötzner auch nicht vergönnt, alle folgenden Konferenzen zu besuchen, so 
schenkte er den Verhandlungen derselben doch unentwegt seine lebhafte Teil- 
nahme. Ebenso zählt ihn unsere Zeitschrift bis heute zu ihren trenesten Freunden 
und Förderern, und wenn esihm auch während seiner Amtierung unmöglich war, 
an derselben mitzuarbeiten, so hoffen wir nunmehr recht bald einen Artikel aus 
seiner Feder bringen zu können. | W. S. 


Mitteilungen. 


Leipzig. (Sprechunterricht.) An dem Sprachkursus, den Direktor H. Gutz- 
mann in Berlin im vergangenen Juni abhielt, beteiligten sich wieder zwei Lehrer 
hiesiger Hilfsschule, nachdem der Rat unserer Stadt in Erkenntnis der Wichtigkeit 
eines spezifischen Sprechunterrichts für unsere sprachlich leidenden Kinder und in 
seiner opferfreudigen, nie ermüdenden Fürsorge für die geistig Schwachen die Mittel 
dazu bewilligt hatte. Schon im vorigen Jahre war es zweien der Lehrer, durch die 
Güte unserer städtischen Behörde vergönnt, zu gleichem Zwecke dahin zu gehen. So 
wird es nun den vier Kräften möglich sein, der grossen Zahl unserer Sprachgebrech- 
lichen, für die bereits zu Michaeli vorigen Jahres besondere Sprechstunden eingerichtet 
worden sind (vgl. Nr. 11 vorig. Jahrg., S. 186), in ausreichendem Masse zu Hilfe 
zu eilen. Es bestehen gegenwärtig zwei Abteilungen für Stammler und eine für 
Stotterer. Die Stunden liegen Montags, Mittwochs und Donnerstags 3—4 Uhr. Die 
unterste Klasse, die unter ihren Schülern den grössten Prozentsatz der Sprachleidenden 
enthält, nimmt eine Kraft für sich in Anspruch. H. Müller. 





Inhalt. "Bericht über die X. Konferenz für Idiotenwesen und Schulen für schwach- 
sinnige Kinder. — Die Selbstthätigkeit der Schüler beim Unterricht abnormer Kinder 
(P. Riemann.) — Ernst Heinrich Stötzner (W. S.) — Mitteilungen: Leipzig. 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 






» x: 
50 Nr. 12. 


Leitsehrift 


für die 


behandlung Sohwachsumger ud Epileptischer 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden - Strehlen, für ae 
Residenzstrasse 21. in Stuttgart 
Erscheint jährlich In 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
e aton Tanet Due Dezember IOU. | Siiriniamag Trat pro U 


rarische Beilagen 6 Mark. | AR Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift Era Eigentum der Herausgeber. 


Bericht 


über die 
X. Konferenz für das Idiotenwesen 
und Schulen für schwachsinnige Kinder 


am 17. bis 20. September 1901 


Elberfeld. 


(Fortsetzung.) 


Der Vorsitzende erteilt Herrn Direktor Barthold-München-Gladbach das 
Wort zu seinem Vortrage: 


Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine arona 
regulierung. 
Hochverehrte Zuhörer! 

Der Gegenstand, den ich Ihnen heute zur Besprechung vorlege, hat schon 
vor drei Jahren bei der Konferenz in Breslau auf der Tagesordnung gestanden. 
Leider konnte ich krankheitshalber die Konferenz nicht besuchen. Seit diesem 
sind drei Jahre verflossen, in denen die Sache der Hilfsschule sich weiter ert- 


202 

wickelt bat. Auch ist manche Klärung eingetreten. Zum erstenmal wurde über 
die Frage der Hilfsschulen auf der Konferenz in Hamburg im Jahre 1883 ver- 
handelt. Es zeigte sich aber damals, dass sowohl auf der einen wie auf der 
andern Seite ein richtiges Verständnis nicht vorhanden war. Infolgedessen kam 
es zu scharfen Gegensätzen, welche durch falsche Auffassung und grosse Un- 
kenntnis über die Einrichtung, die Aufgaben und Leistungen der Idiotenanstalten 
bervorgerufen wurden. Auch auf späteren Konferenzen machten sich noch mancherlei 
Unklarheiten geltend. Zuletzt ist die Frage in Heidelberg zur weiteren Be- 
sprechung gelangt. Auch damals traten noch verschiedene Gegensätze hervor 
und wurde keine rechte Einigkeit erzielt, weil manches, was über die Hilfsschulen 
und ihre Entwicklung gesagt worden war, unrichtig aufgefasst und missdeutet wurde. 

Man könnte nun fragen, herrscht denn heute völlige Klarheit darüber, welche 
Kinder den Idiotenanstalten und welche den Hiltsschulen zugewiesen werden 
sollen? Soweit meine Kenntnis reicht, meine ich, dass diese Frage nicht bejaht 
werden könne. Es dürfte deshalb nicht ungerechtfertigt erscheinen, diese Frage 
heute eingehend zu erörtern. Deswegen erlaube ich mir, dieses Thema der 
heutigen Konferenz vorzulegen. Ich hoffe und wünsche, dass durch die Be- 
sprechung mehr Klarheit über die Frage, welche Kinder in Idiotenanstalten und 
welche in Hilfsschulen gehören, komme und dann für beide Teile etwas Er- 
spriessliches herauskomme. Meine Absicht ist nun nicht, Sie durch einen langen 
Vortrag zu ermüden. Ich halte es für richtiger, wenn der Debatte möglichst 
weiter Spielraum gegeben wird, so dass jeder Gelegenheit hat, seine Ansicht 
über den Gegenstand auszusprechen. 


Gestatten Sie mir nun, Ihnen meine Leitsätze mitzuteilen. 


Leitsätze. 


1. Unter den Begriff „Idioten“ stellen wir alle diejenigen Kinder, welche 
von Geburt oder von den ersten Lebensjahren an infolge einer überstandenen 
Gehirn-Erkrankung in ihrer geistigen Entwicklung geschädigt worden sind. 

2. Der Umfang oder die Intensität der Schädigung ist bei den einzelnen 
Individuen eine verschiedene und bildet eine Stufenleiter von der geistigen Nullität 
bis an die Grenze der geistigen Normalität. Die Schädigung kennzeichnet sich 
nach allen Seiten geistiger Bethätigung als ein grösserer oder geringerer Schwäche- 
zustand. 

3. Nach dem Grade der Schädigung bilden die Idioten zwei Hauptgruppen: 
erstens solche, welche nicht weiter entwicklungs-, bezw. bildungsfähig sind (reine 
Pfleglinge); zweitens solche, welche noch entwicklungs-, bezw. bildungsfähig sind. 

Für unseren Gegenstand kommen nur die letzteren in Betracht. 

4. Die bildungsfäbigen Idioten, auch die minderbeeinträchtigten, mögen sie 
nun Imbecille, Schwachsinnige oder sonst wie genannt werden, gehören in eine 
Idiotenanstalt. 

5. Aufgabe der Idiotenanstalt ist, alles, was in einem Kinde noch entwicklungs- 
fähig ist, zu erforschen und soweit als möglich zu fördern und weiter zu bilden 
Diese Aufgabe hat sich darum nach drei Seiten zu bethätigen: 


en 


1. Sollen dem idiotischen Kinde bestimmte elementare Kenntnisse ‚und 
Fertigkeiten beigebracht werden; 

2. sind die komplizierten Willens- und Gefühlsregungen zu beauf- 
sichtigen und möglichst auszubilden; 

3. soll durch das Erlernen einfacher manueller, technischer und prak- 
tischer Fertigkeiten der Grundstock für eine spätere nutzbringende 
Beschäftigung gelegt werden. 

Gleichzeitig soll das Kind an Ordnung, Reinlichkeit, Anstand, gute Sitte, 
sowie an Selbsthilfe bei seinen persönlichen Bedürfnissen (aus- und ankleiden, 
essen und trinken, waschen und kämmen und dergl.) erzogen werden. 

6. Alle diese Aufgaben können an einem idiotischen Kinde nur in einer 
Anstalt gelöst werden, wo die Kinder Tag und Nacht unter Aufsicht und unter 
einem erziehlichen Einfluss stehen und wo ihnen Gelegenheit geboten ist, einesteils 
die nötigsten elementaren Kenntnisse sich anzueignen, andernteils die mannig- 
faltigsten Hand- und handwerksmässigen, Feld- und Garten-Arbeiten zu erlernen. 

7. Wie es bei den Geisteskranken und den geistig gesunden Menschen ein 
Grenzgebiet giebt, so giebt es auch zwischen ausgeprägter Idiotie einerseits und 
geistiger Vollwertigkeit andererseits ein Grenzgebiet. Dieses Grenzgebiet ist das 
der geistigen Minderwertigkeit oder die Schwachbefähigung. 

8. Zu den Schwachbefähigten rechnen wir alle Kinder, welche unter der 
Durchschnittsbefähigung der Elementarschüler stehen. Diese Durchschnitts- 
befähigung muss im allgemeinen als eine mittelmässige bezeichnet werden. 
Kinder nun, welche noch unter derselben stehen, können dem allgemeinen Unter- 
richt der Volksschule nicht folgen und das Ziel derselben nicht erreichen. 

9. Die Schwachbefähigung dieser Kinder beruht nicht, wie durchgängig 
bei allen idiotischen Kindern, auf einem Gehirndefekt, sondern entweder 


1. auf einer allgemeinen geringeren geistigen Beanlagung; oder 


2. auf einer Degeneration, verursacht 
a) durch Trinksucht der Eltern; 
b) durch Syphilis eines Teils oder beider Eltern; 
c) durch nahe Verwandtschaftlichkeit derselben; 
d) durch geistige Minderwertigkeit derselben; oder 


3. auf mangelhafter oder unzweckmässiger Ernährung im ersten Kindes- 
alter, besonders bis zum siebenten Lebensjahre; oder 


4. auf häufigen Erkrankungen im Kindesalter; oder 
5. auf Öfteren körperlichen Misshandlungen; oder 
6. auf Verwahrlosung der Kinder im Elternhause; oder endlich 
7. auf frühzeitigem Genuss alkoholhaltiger Getränke. 
Für solche schwachbefähigte Kinder sind besondere Schulen 
a) mit vermindertem Unterrichtsstoff; 
b) mit kürzer gestecktem Unterrichtsziel; 
c) mit einer der Schwachheit der Kinder angepassten Unterrichts- 
Methode einzurichten. 


10. 


204 
11. Bei manchen der schwachbefähigten Kinder zeigt sich eine Regelwidrig- 
keit ihres Seelenlebens, welche ihre Erziehung mehr als gewöhnlich erschwert, 
ihrer Ausbildung viele Hindernisse in den Weg legt und ihren Aufenthalt in 
der Schule für Schwachbefähigte unmöglich macht. Dazu gehören: 


1. Kinder mit angeborener moralischer Verkommenheit, sogen. moralische 
Idioten; 
2. Kinder mit psychischen, zum Teil anererbten Belastungen, als da sind: 
a) anererbte oder erworbene Erregungszustände; 
b) Perversität; 
c) Hang zum Vagabondieren; 
d) unwiderstehliches Diebesgelüste; 
e) Neigung zu allerhand Extravaganzen ; 
f) häufiger Stimmungswechsel u. a. m. 


12. Die vorbenannten Kinder gehören nicht in die Schule für Schwach- 
befähigte, sondern in eine Idiotenanstalt, obgleich ihr Intellekt oft recht gut ist, 
und sie ziemlich bildungstähig sind. Für sie ist es in erster Linie notwendig, 
dass sie aus dem Elternhause enifernt und den Einflüssen entzogen werden, denen 
sie bisher ausgesetzt waren; dann ist zweitens notwendig, dass sie beständig 
überwacht und erziehlich beeinflusst werden. 


13. Die Auswahl der schwachbefähigten Kinder aus der Zahl der Volks- 
schüler sollte durch einen auf diesem Gebiete erfahrenen Arzt und einen ebenso 
erfahrenen Pädagogen gemeinsam geschehen. 


14. Suum cuique! Jedem das Seine! Den Idiotenanstalten die bildungs- 
fähigen idiotischen Kinder aller Grade und der Schule für Schwachbefähigte nur 
die wirklich schwachbefähigten Kinder, aber nicht die Schwachsinnigen (Imbe- 
cillen). Dann bekommen die Idiotenanstaltien ein Material, das ihnen ihre schwere 
und mühevolle Arbeit erträglicher und erfreulicher macht, die Schulen für 
Schwachbefähigte aber werden von Elementen befreit, die für sie nur ein Hemm- 
schuh sind. Bei solch sachgemässer Teilung werden beide Institutionen schied- 
lich und friedlich nebeneinander im Segen wirken, zum Wohle von tausenden 
idiotischer und schwachbefähigter Kinder. 


Debatte. Ehe in die eigentliche Debatte eingetreten wird, bittet Herr Direktor 
Trüper ums Wort zur Geschäftsordnung. Er wünscht, dass zunächst die andern 
Vorträge, welche Spezialfragen behandeln, gehört werden, dass beute nur eine allgemeine 
Debatte, morgen eine Specialdebatte stattfinden solle. Die Mehrzahl der Versammlung 
ist dagegen, besonders deswegen, weil es dem Referenten nicht möglich ist, morgen 
an den Verhandlungen teilzunehmen. Es handele sich in der Hauptsache darum, 
welche Kinder in die Idiotenanstalt und welche in die Hilfsschule gehören, und darüber 
könne ruhig die Debatte eingeleitet werden. 

Hauptlehrer Strakerjahn ist der Meinung, dass die sachkundigsten Thesen, 
und wenn sie noch so scharf gefasst seien, die wichtigste Frage: Welche Kinder ge- 
hören in die Idiotenanstalt und welche in die Hilfsschule? nicht entscheiden können. 


205 


Das könne nur die Praxis, das Leben thun. In die Hilfsschule gehören nach ihm 
solche Kinder, die in eine Schule gehören, denen mit Hilfe des Unterrichts bei- 
zukommen ist; dagegen solche Kinder, die nur erziehbar sind, seien in eine Idioten- 
anstalt unterzubringen. | 

Direktor Barthold: Gestatten Sie einem alten Manne, der in der Idiotenpflege 
grau geworden ist, ein paar Worte. Ich bedaure, dass es im Jabre 1901 noch aus- 
gesprochen ist, dass Idiotenanstalten nur Erziehungsanstalten seien. Wer das sagen 
kann, muss noch in keiner Idiotenanstalt gewesen sein. Wir haben auch im Unter- 
richte Erfolge aufzuweisen, deren wir uns nicht zu schämen brauchen. Jede Idioten- 
anstalt hat einen gut organisierten Unterrichtsplan. Die Erfolge sind nicht immer 
dieselben, weil die Insassen wechseln, weil wir bald Schwächere, bald besser Beanlagte 
haben. Erfolge sind aber immer da. Wir haben eine ganze Reihe von Kindern, die 
für das Öffentliche Leben wieder brauchbar geworden sind, sich selbst ernähren. Dann 
muss ich darauf aufmerksam machen, dass es nicht so schlimm mit der Angst vor 
den Idiotenanstalten ist. Ich frage, wo sind die betreffenden Kinder vor Aufregung, 
Neckereien, Schikanen besser geschützt, in den Anstalten vder in den Hilfsschulen? 
Jch will Ihnen einen besonderen Fall erwähnen. Uns wurde ein Kind aus der 
hiesigen Hilfsschule gebracht, welches nach seiner geistigen Beanlagung in der Hilfs- 
schule hätte bleiben können. Der Vater des Kindes sagte uns: Wenn wir unsern 
Jungen in die Schule schicken, dann bekommt er von andern Steine in den Ranzen 
gesteckt und die Bücher weggenommen, und er wird so gehänselt, dass er nicht 
mehr dahin gehen will. In der Anstalt ist er all diesen Neckereien entrückt. Anderer- 
seits kommt es oft vor, dass den Kindern der Hilfsschule gesagt wird, sie gingen in 
eine Dummenschule. 

Schuldirektor Richter: Die Grenzregulierung des Referenten ist sehr schön. In 
der Praxis wird sie sich nicht durchführen lassen. In Leipzig haben wir viel 
Schwachsinnige neben Schwachbefähigten. Schulen können diese Kinder nicht be- 
suchen, und wenn sie bereits aufgenommen waren, mussten sie wieder entlassen 
werden. Viele Kinder konnten wegen ihrer geringen körperlichen und geistigen Ent- 
wicklung überhaupt noch keine Schule besuchen. Diese Kinder müssen der Hilfs- 
schule zugeführt werden. Hier muss ein Versuch über die Bildungsfähigkeit derselben 
angestellt werden. Zeigt sich, dass nach 1 —2 Jahren keine Bildungsfähigkeit vor- 
handen ist, dann seien diese Kinder, welche oft körperlich gebrechlich, einseitig ge- 
lähmt, sprachlich tief belastet sind, abzuweisen. Aber wohin? Die Landesanstalten 
seien in Sachsen nicht unter allen Umständen für die Kinder geöffnet. Zunächst 
müsse die Gemeinde eintreten. Man könne auch nicht Kinder, welche eigentlich in 
eine Anstalt gehören, ohne weiteres daselbst unterbringen. Dazu gehöre die Ein- 
willigung des Vaters. Nach langen Verhandlungen habe man in einzelnen Fällen den 
Vater gewusst zu bestimmen, seine Einwilligung zu geben. Oft aber wollen die 
Eltern gerade solche Kinder nicht hergeben, weil es ihr Schmerzenskind von Anfang 
an gewesen sei. Auf den niedrigsten Stufen finde man sehr oft, dass diesen Kindern 
die Vater- und Mutterliebe nicht fehle. Dann seien solche Kinder in der Hilfsschule 
zu behalten, wenn sie auch den Thesen nach in eine Anstalt gehörten. Die Thesen 
können nur eine Mahnung an die Gemeinden sein, Anstalten zu gründen für solche 


206 


Kinder, die im Elternhause nicht unterzubringen sind. In Leipzig sei ein grosser 
Teil dieser Kinder den ganzen Tag über in der Hilfsschule unter Aufsicht, wo dafür 
gesorgt werde, dass sie nicht verkommen. Die Kinder seien dem Elternhause so 
lange als möglich zu erhalten. Der Redner weist auf Italien bin und macht anf 
seinen diesbez. Aufsatz in der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinn'ger und 
Epileptischer (Jahrg. 1901 Nr. 7 u. 8) aufmerksam. Anstalten und Hilfsschulen 
müssen sich nebeneinander einrichten. 

Direktor Trüper: Die Frage, ob Anstaltserziehung oder Schul- und Familien- 
erziehung sein soll, kann nicht nach dem Grade der Intelligenz der betreffenden 
Kinder entschieden werden. Diejenigen, welche das erste Anrecht an die Kinder 
haben, sind nicht der Staat, die Schule, die Kirche. Das ist die Familie Darum 
habe in erster Linie die Familie zu entscheiden, ob ein Kind eine Anstalt oder eine 
Schule besuchen soll. Dio Öffentlichkeit hat nur dann ein Anrecht, in dieses Recht 
einzugreifen, wenn die Familie sich als total unmündig erweist. Dann muss die 
Gemeinde oder der Staat sagen können: Wir nehmen euch eure Kinder. Wenn ein 
tiefstehendes Kind in der Familie gut aufgehoben ist, wenn es der Familie nicht zur 
Last fällt und der Öffentlichkeit nicht gefährlich wird, dann hat niemand ein Recht 
zu sagen, das Kind muss in eine Anstalt. Wer wollte den Eltern verwehren, dass 
es ein vollständig verblödetes Kind nicht in eine Schule schicken und es zu Hause 
unterrichten und erziehen will. Die Mutter ist immer die beste Erzieherin. In vielen 
Fällen wird eben die Anstaitserziehung weit besser sein als die Familienerziehung. 

Schulrat Dr. Boodstein: Von Herrn Direktor Barthold ist cin Fall erwähnt 
worden, bei dem die Anstalt von München-Gladbach gewissermassen eine Art von 
Rettung war. Uns sind Fälle, dass die Kinder der Hilfsschule durch andere gehänselt 
worden sind, gelegentlich auch bekannt geworden. Ich habe schon früher einmal er- 
wähnt, dass die Hilfsschule auch tolle Schule, d. h. die Schule für verrückte Kinder 
genannt wurde. Das sind Lieblosigkeiten; solche vereinzelte Fälle von Lieblosigkeit 
können nicht massgebend sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass selbst die 
Lehrer bei der Beurteilung solcher Kinder gegen andere Kinder nicht immer den 
nötigen Takt vollständig bewahren. Es entfährt manchmal ein hartes und verletzendes 
Wort, welches leicht Missstimmung bei den Eltern hervorbringt. Diese suchen sich 
dann dagegen zu verwahren, dass ihre Kinder in die Hilfsschule kommen. In den 
ersten Jahren meiner Thätigkeit habe ich meine Teilnahme besonders der Hilfsschule 
gewidmet. Ich habe mich wiederholt in kleinen Aufsätzen im städtischen Blatt an 
die Öffentlichkeit gewendet und habe Eitern und Lehrern ans Herz gelegt, das an 
sich schon schwere Leben der betreffenden Kinder nicht noch ehr zu verbittern. 
Mancher Erfolg ist zu verzeichnen gewesen. Es kommt auch jetzt noch vor, dass 
Eltern erklären: Wir wünschen nicht, dass unser Kind die Hilfsschule besucht. 
Andererseits kann ich Eltern nennen, die jetzt das vierte Kind in die Hilfsschule un- 
gemeldet haben und mit dem Erfolge zufrieden gewesen sind. Wir zwingen niemand 
und können niemand zwingen, sein Kind der Hilfsschule zu übergeben. Die Verant- 
wortung muss den Eltern überlassen bleiben. Die Hilfsschule ist ein wichtiges 
Ergänzungsmittel. Manche Wünsche, welche ich bezüglich desselben noch hege, werde 
ich Ihnen in einem besonderen Vortrage geben. Es darf keine akademische Scheidung 


ae, 


zwischen Anstalten und Hilfsschulen vorgenommen werden, sondern in Frieden müssen 
sich beide unterstützen. 

Erziehungsinspektor Piper: Wir haben von Full zu Fall zu entscheiden, ob ein 
Kind in eine Anstalt oder eine Hilfsschule unterzubringen ist. Es kann vorkommen, 
dass ein tiefstehendes Kind in eine Hilfsschule und ein geistig höher stehendes in 
eine Anstalt gehört. Wir haben die Pflicht, zusammen zu arbeiten. Wir weisen 
Ihnen diejenigen Kinder zu, welche für die Hilfsschule sich eignen, und umgekehrt. 
Dann werden wir zum Wohle der Schwachsinnigen und im Frieden arbeiten. Ich 
habe die Hilfsschule in Leipzig besucht und habe mich gefreut über das, was ich 
dort gesehen habe, dass sie bemüht ist, ihren Kindern soviel als möglich Internat 
zu geben. 

Direktor Schwenk: Zwischen den schulfähigen Insassen unserer Anstalten und 
den Schülern der Hilfsschulen besteht kein oder nur ein sehr geringer Unterschied. 
Blödsinnige (Idioten) sind nicht schulfähig. Es handelt sich also in beiden Instituten 
um schwachsinnige Kinder, die heute in Frage kommen. Wir in unseren Anstalten 
werden die Schüler — ausser den schwer erziehbaren der Grossstädte — von kleineren 
Städten bezw. vom Lande bekommen, während die Hilfsschüler sich aus grösseren 
Städten rekrutieren. Die Ansicht des Herrn Strakerjahn, dass wir nur „erziehbare* 
Kinder aufzunehmen hätten, widerspricht der Praxis. Ich möchte Herrn Strakerjahn 
ins Gedächtnis zurückrufen, was er am Hilfsschulverbandstag in Kassel gesagt hat; 
er sagte nämlich: Wir haben so viele konfirmierte Zöglinge, die in ein Internat ge- 
bracht werden müssen, die für das Leben nicht taugen. Ich meine, alle diese Zög- 
linge gehörten überhaupt nicht in die Hilfsschule, sondern in eine Anstalt. Die 
Hilfsschulen machen uns keine Konkurrenz. Das beweisen die Thatsıchen am besten. 
Von Frankfurt a. M. mit ca, 800000 Einwohnern und 8 Hilfsschulklassen haben 
wir augenblicklich ca. 75 schulfähige Zöglinge, während wir von dem näheren Wies- 
baden mit ca. 80000 Einwohnern nur 5 schulfähige Kinder haben. Je mehr auf 
diesem Gebiet gearbeitet wird, desto mehr Kinder finden sich. Ich bin der Meinung, 
dass es sich bei der Frage, ob ein Kind in der Familie bleiben oder in eine Anstalt 
kommen soll, in erster Linie nicht um die Familie, sondern um das Kind handelt. 
Da giebt es für mich, wenn ich zu Rate gezogen werde, nur eins Frage: Was ist für 
das Kind das Zweckmässigste, Anstaltserziehung oder Familienerziehung? — Ich bitte 
Sie, meine Herren, stellen Sie jederzeit das Kind, um welches es sich handelt, in den 
Vordergrund und entscheiden Sie in diesem Sinne. 

Direktor Barthold: Ich will gar nichts anders, als was die Vorredner gesagt 
baben, und zwar aus dem Grunde, weil das Kind das erste und letzte ist. Was das 
Familienleben anlangt, so gestehe ich voll und ganz ein, dass das Kind der Familie 
gehört. Ich bin erstaunt, dass man von einem Zwange redet. Ich habe bei 
1400 Kindern mit Ausnahme von solchen, die von der Behörde zwangsweise über- 
führt worden sind, noch kein einziges zwangsweise aufgenommen. Unter 1400 Kindern 
habe ich nur einen einzelnen Fall gehabt, dass ein Kind wegen Heimweh entlassen 
wurde Anderseits kann ich Fälle anführen, dass die Kinder schon nach acht Tagen 
drängen, wieder in die Anstalt zu kommen. Das ist ihre Heimat. 

Kreisschulinspektor Weichert: Zur Geschäftsordnung! Es ist uns klar, dass 


208 


die Hilfseschulen und die Anstalten die Verhältnisse beherrschen und wir uns nicht 
weiter darüber unterhalten dürfen. Wir erzählen uns einzelne Fälle und wollen uns 
darüber belehren, welche Kinder in die Hilfsschule und welche in die Anstalt ge- 
hören. Ich bitte über die Leitsätze 4, 6, 9, 10, 11, 12 zu debattieren. 

Direktor Trüper: Ich glaube nicht, dass wir uns jemals über die Leitsätze 
prinzipiell verständigen können, denn wir haben es nicht mit einer Prinzipien-, sondern 
mit einer Opportunitätsfrage zu thun, und von diesem Gesichtspunkte müssen wir die 
Frage behandeln. Über die Erziehung abnormer Kinder hat zunächst die Familie zu 
bestimmen. Zwangsweise darf ein Kind nur dann aus einer Schule entfernt und in 
eine Anstalt gebracht werden, wenn sich das Kind in einer Familie befindet, welche 
sich als unmündig erweist. Ich möchte zurückweisen, dass das Kind als solches in 
dem Vordergrund zu stehen habe. Das Kind ist Glied der Familie, und su lange, als 
diese sich nicht als unfähig erwiesen hat, hat sie über das Kind zu bestimmen. Wir 
haben die Pflicht, die Eltern über den Zustand ihrer Kinder aufzuklären. 


Hauptlehrer Fels: Ich vermisse in den Leitsätzen das Wort: Erwerbsfähigkeit. 
Ich staune und verwundere mich, dass es der Referent nicht gebraucht hat. Gerade 
die Erwerbsfähigkeit muss in Betracht gezogen werden, da der Mensch in den grossen 
Kampf ums Dasein einzutreten berufen ist. 


Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Es ist Schluss der Debatte beantragt. 
Auf der Rednerliste stehen noch drei Redner. 

Hauptlehrer Strakerjahn: Zur Geschäftsordnung! Wenn wir so fortfahren, 
weiss ich nicht, was wir mit den Thesen machen wollen. Ich schlage Ihnen folgende 
Resolution vor: Die Versammlung nimmt von den Ausführungen des Herrn Direktor 
Barthold mit Interesse Kenntnis. 


Direktor Pfarrer Steinwachs: Ich bitte die Versammlung, zum Schluss zu 
kommen und die Debatte abzubrechen. Wenn es eine Instanz gäbe, welche entscheiden 
könne, ob ein Kind in eine Anstalt oder in eine Hilfsschule kommen solle, so könnten 
ihr diese Sätze zur Kenntnis gegeben werden. Ich halte es für falsch zu sagen, dass 
alle bildungsfähigen Kinder in die Hılfsschule, ich halte es auch für falsch zu meinen, 
dass die bildungsunfähigen in die Anstalten gehören. Die Sache ist so: die Schule 
braucht die Hilfsschule, die Idiotenanstalt die Idiotenschule. 


Kreisschulinspektor Weichert: Wir haben zwei Ansichten, die der Leiter der 
Anstalten und die der Leiter der Hilfsschulen kennen gelernt. Beide Veranstaltungen 
haben ihre Berechtigung. Ich empfehle bei Unterbringung der Kinder, das Objekt, 
d. h. das Kind in seiner gaistigen Beschaffenheit und verschiedenen Komplikationen, 
die Eltern (ob sie ihr Kind in eine Hilfsschule oder eine Anstalt bringen wollen) und 
andere begleitende Umstände in Betracht zu ziehen. 


Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Die Debatte ist geschlossen. Herr 
Dr. Wehrhahn sendet der Konferenz folgendes Telegramm: 
„Der X. Konferenz für das Idiotenwesen wünscht reichen Erfolg und Segen für 


die Ärmsten aller Armen.“ 
Der Vorstand des deutschen Hilfsschul-Verbandes 


Dr. Wehrhaln- Hannover. 


un 


Nebenversammlung für die Vertreter der Idiotenanstalten. 


(Im Kuppelsaal des Rathauses.) 


Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper eröffnet die Nebenversammlung und 
verliest das folgende Telegramm aus Leschnitz: 
Was die erwogenen Beschlüsse gezeitigt, 
Möge den Ärmsten zum Segen gereichen. 
Kralewski. 
Direktor Gündel: Zur Geschäftsordnung! Ich möchte gern wissen, ob mit 
der vorigen Aussprache das Schicksal der Thesen zu dem Vortrage des Herrn 
Direktor Barthold entschieden sei oder nicht. Ist mit der Nichtabstimmung 
eine Annahme oder Ablehnung verbunden? 
Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Wir können augenblicklich in der 
Sache gar nichts thun, da die Vertreter der Hilfsschulen nicht anwesend sind. 
Ich. erteile Herrn Pastor Bernhard das Wort zu seinem Vortrage: 


Die Beschäftigung der Schwachsinnigen. 


Leitsätze: 
I. Die Beschäftigung arbeitsfähiger Schwachsinniger ist notwendig 

1. zu ihrer geistigen Weiterentwicklung ; 

2. zu ihrer Erziehung; 

3. zur Förderung ihrer Erwerbsfähigkeit; 

4 zur Erhaltung ihrer Gesundheit. 

II. Die Beschäftigung hat stattzufinden 

l. bei den in den letzten Schuljahren stehenden Zöglingen in beschränktem 
Umfange; 

2. bei den aus der Schule entlassenen Konfirmierten nach einem wohl- 
geordneten Arbeitsplan und, soweit nicht der körperliche Zustand eine 
Beschränkung fordert, während der ganzen anı Tage zur Verfügung 
stehenden Zeit; 

3. bei den wegen mangelnder Begabung vorzeitig aus der Schule Ent- 
lassenen versuchsweise, aber mit ganzem Ernst und rechter Ausdauer. 

III. Die Art der Beschäftigung muss 

1. den Grundsätzen der Gesundheitspflege Ener: 

2. den Gaben und Kräften der einzelnen angemessen sein; 

8. Freude an der Arbeit selbst machen; 

4. nutzbringend sein. 

IV. Die Leitung des ganzen Arbeitsbetriebes muss in Anstalten möglichst in 
der Hand dessen liegen, der an der Spitze derselben steht. 
V. Zur Anleitung und Beaufsichtigung sind Leute zu wählen, welche 

1. mit der Arbeit ausreichend vertraut sind; 

2. selbst mit zu arbeiten bereit sind; 

3. auf die Zöglinge erziehlich einzuwirken verstehen. 


wenn 


Hochverehrte Anwesende! 

Als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Interesse für die Idioten- 
Sache erwachte und in den sechziger Jahren in Deutschland eine Zahl Anstalten 
gegründet wurde, da hatte man, wie Ihnen bekanut sein wird, sich zunächst 
nur die Aufgabe gestellt, blöd- und schwachsinnige Kinder aufzunehmen und 
dieselben durch Schulunterricht und Erziehung soweit zu fördern, dass sie nach 
einigen Jahren in die Familie zurückkehren oder in ein geeignetes Dienst- 
verhältnis treten könnten. 

Haben auch heute noch einige Anstalten in der Hauptsache an diesem 
Grundsatze festgehalten, so hat doch die weitaus grösste Zahl im Laufe der 
Jahre ihn aufzugeben sich genötigt gesehen. Es zeigte sich, dass die Mehrzahl 
der aus der Schule in die Heimat Entlassenen geistig wieder zurückging oder 
sittlich verwahrloste. Dazu war ihre Erwerbsfähigkeit so gering, dass sie selten 
Beschäftigung erhielten. Statt den Anstalten die älteren Zöglinge wieder abzu- 
nehmen, kam man vielmehr immer häufiger mit Anträgen auf Aufnahme Er- 
wachsener; und als nun in Preussen das Gesetz vom 11. Juli 1891 in Kraft 
trat, nach welchem alle der Anstaltspflege bedürftigen Idioten im Falle der 
Mittellosigkeit der Angehörigen auf Öffentliche Kosten unterzubringen sind — 
da blieb nur die Wahl, entweder eigene Anstalten für ältere Pfleglinge einzu- 
richten oder die bestehenden Erziehungsanstalten zweckentsprechend zu erweitern. 
Denn die Weise, wie sie bei der Verbindung der Idiotenanstalt mit der Irren- 
anstalt in Dalldorf und ähnlich in Uchtspringe besteht, nach welcher ältere 
Pfleglinge, soweit sie in Familien keine Aufnahme finden, den Irrenabteilungen 
überwiesen werden, ist doch nur als eine Ausnahme anzusehen. 

Ich würde aus dem Rahmen meines Themas heraustreten, wollte ich heute 
die Frage erörtern, ob eine Trennung der älteren Pfleslinge von den Schul- 
kindern durch Errichtung besonderer Beschäftigungsanstalten zweckmässig sei. 
Die Anstalten haben sich geschichtlich und entsprechend den besonderen Ver- 
hältnissen einer Provinz entwickelt, und wir müssen daher von den thatsächlich 
bestehenden Einrichtungen bei unserm Thema ausgehen. Ich bemerke nur, dass 
in die von mir seit 24 Jahren geleiteten Kückenmühler Anstalten Kinder wie 
ältere Pfieglinge aufgenommen werden, dementsprechend besondere Erziehungs-, 
Pflege- und Beschäftigungs-Abteilungen bestehen, und sich diese Organisation 
durchaus bewährt hat. 

Beantworten wir zunächst die Frage, warum überhaupt die Beschäftigung 
Schwachsinniger notwendig ist. | 

Es ist unstreitig das Leichteste und Einfachste, die nicht schulfäbigen oder 
schulentlassenen Zöglinge, wenn man sie doch einmal behalten muss, den Tag 
über in grossen Aufenthaltsräumen oder bei schönem Wetter im Freien unter 
Aufsicht von zwei oder drei Pflegern zu stellen, die nötigen Spaziergänge mit 
ihnen vorzunehmen und dann nur dafür zu sorgen, dass sie sich und andere 
nicht schädigen. Besondere Schwierigkeiten bereitet das nicht, weil die Idioten 
mit seltenen Ausnahmen schüchterne und fügsame Menschenkinder sind. 

Sehr bald indessen wird man inne werden, wie auffallend sie hierbei geistig 


ln 


zurückgehen. Bei den einen nimmt der Stumpfsinn von Jahr zu Jahr zu, bis sie 
zuletzt still und teilnahmlos vor sich hinstarren, nur noch aus ihrem Traumleben 
erwachend, wenn die Glocke zum Essen ruft; andere werden aufgeregt und zer- 
störungssüchtig, sie sind in steter Bewegung oder treiben als Lieblingsunter- 
haltung das Knöpfe-Abdrehen und Strümpfe-Aufräufein. Bei den geistig Höher- 
stehenden schwinden die erworbenen Schulkenntnisse mehr und mebr. Bei 
ihrem äusserst beschränkten Gesichtskreise und mangelnden Verständnis für die 
allergewöhnlichsten Lebensverhältnisse oder gar das öffentliche Leben haben sie 
selten Lust, die Zeitung oder ein nützliches Buch in die Hand zu nebmen. Der 
Briefwechsel mit den Angehörigen, als einzige Stilübung, ist nur mit Mühe 
aufrecht zu erhalten. Bald zeigt sich auch wieder das frühere kindische und 
alberng Wesen, welches unter dem Einfluss der Schule erfreulich geschwunden war. 

Ein wie ganz anderes Bild bietet sich uns unter dem Einfluss der Be- 
schäftigung! Das Selbstgefühl hebt sich, das Interesse am Leben wächst, die 
Zöglinge werden ruhiger, gesetzter, verständiger. Die Zerstörungssucht hört auf, 
sobald der Thätigkeitstrieb in gesunde Bahnen gelenkt wird. Wir haben oft 
die Freude, dass bei Knaben, welche so tief stehen, dass alle Versuche der 
Schule, das Band der Zunge zu lösen, scheitern, in der Arbeit das Sprech- 
bedürfnis von selbst erwacht und sie sich ausreichend verständigen lernen. 

Wie also die Beschäftigung die geistige Entwickelung fördert, so unterstützt 
sie gleichzeitig die Erziehung. Auf den Einfluss derselben bei den Tieferstehenden 
habe ich bereits hingewiesen. Die geistig höher stehenden Idioten neigen, 
namentlich in den Entwickelungsjahren, wie Ihnen allen bekannt sein wird, zu 
mancherlei sittlichen Ausschreitungen, und die Früchte der Schule zeigen sich 
vielfach zunächst auch darin, dass sie mit einem gewissen Raffinement ibre 
Aufseher zu hintergehen wissen. „Müssiggang ist aller Laster Anfang.“ Das 
gilt auch bei unseren Schwachsinnigen. Dagegen wirkt nach meiner lang- 
jährigen Erfahrung als Ablenkung und Schutz eine wohlgeordnete, nicht bis 
zur Erschöpfung, aber bis zur gesunden Ermüdung betriebene Thätigkeit vor- 
trefflich.. Sie werden von Thorheiten abgelenkt, lernen den Wert der Zeit 
schätzen, werden selbständiger, und es erstarkt gleichzeitig ibre Willenskraft. 

Wollen und können nun die Angehörigen oder Gemeinden einen Schwach- 
sinnigen wieder zurücknehmen, danı ist ihnen dringend zu raten, es erst nach 
einigen Jahren der Ausbildung in der Arbeit zu thun. Sie sind dann aus dem 
Gröbsten heraus und bieten mehr Aussicht auf Erwerbsfähigkeit. Denn woran 
scheitern so oft die Versuche, sie ausserhalb der Anstalt an Arbeit zu gewöhnen? 
Es fehlt nicht nur die zur Anleitung unerlässliche Sorgfalt und das rechte päda- 
gogische Geschick, sondern man vergisst auch in der Regel, dass man es mit 
Menschenkindern zu thun hat, welche durchaus noch nicht mit eigener Über- 
legung handeln können. Man giebt ihnen ein Arbeitspensum für etliche Stunden, 
und sie stehen schon nach einer halben Stunde ratlos da; oder man giebt ihnen 
zwei bis drei Anfträge, und sie vermögen kaum einen zu behalten. Ihnen wird 
Handwerkszeug und Material anvertraut, und sie verderben beides. 

Dass die Beschäftigung unsrer Zöglinge schliesslich auch wesentlich zur 


212 


kı haltung ihrer Gesundheit beiträgt, beweisen unsre Kranken-Journale und die - 
tiische, gesunde Gesichtsiarbe. Das seltene Vorkommen von Frostbeulen oder 
Blutstoekung, die geringen Opfer, welche die Tuberkulose aus den Reihen der 
Arbeitszöglinge fordert, bestätigen es gleichfalls. Selbst nach einem so an- 
haltenden Winter wie dem letzten, dessen Folgen sich im Frühjahr wieder 
recht fühlbar gemacht haben, hatten wir wenig Erkrankungen, namentlich unter 
den im Freien Beschäftigten. 

Doch wir wullen zu der zweiten Frage übergehen, wann die Be- 
schäftigung der Schwachsinnigen zu beginnen hat. 

Die Beschäftigung muss bereits während der Schulzeit anfangen. Unsre 
Zöglinge treten in der Regel erst einige Jahre nach dem Beginn des schul- 
pflichtigen Alters bei uns ein und bringen dann zumeist keine Schulkenntnisse 
mit. Geringe Bildungsfähigkeit nötigt oft auch zu langsamem Vorwärtsgehen, 
Wir können uns daher mit der Schulentlassung nicht an das 14. Lebensjahr 
binden; die Zöglinge werden oft 16 bis 18 Jahre alt. Gerade in dieser Zeit der 
körperlichen Entwickelung aber ist die Arbeit dringend nötig. Für den Fall 
der Entlassung gleich nach der Konfirmation aber ist dann doch wenigstens der 
Anfang mit der Anleitung zu einer nützlichen Thätigkeit gemacht, und man 
hat die besondere Neigung und den Grad der Arbeitstüchtigkeit erkannt und 
kann den Angehörigen in betreff der weiteren Beschäftigung Rat erteilen. 

Zeit zur Arbeit bleibt neben der Schulzeit, namentlich im Sommer, aus- 
reichend. Die Knaben werden durchschnittlich zwei Stunden draussen arbeiten 
können, an einzelnen Nachmittagen auch länger. Die Mädchen können ausser 
dem eigentlichen Handarbeitsunterrichte von den Schwestern oder Pflegerinnen 
im Laufe des Tages zu mancherlei häuslichen Arbeiten herangezogen werden. 
Es ist darauf zu achten, dass den Kindern einzelne bestimmte Pflichten über- 
tragen werden und sie an Pünktlichkeit und Sorgfalt bei der Ausführung ge- 
wöhnt werden. 

Bei den aus der Schule entlassenen Bildungsfähigen muss nun aber, wenn 
nicht körperliche Gebrechen ein Hindernis bilden, eine streng geregelte Thätig- 
keit beginnen. Man hat in einzelnen Anstalten versucht, ein Ackerstück in 
kleine Parzellen zu teilen und jedem Zögling seinen eigenen kleinen Garten zur 
Bestellung zu überweisen. Das mag wohl in einem Institut für normale Kinder 
am Platze sein, obwohl auch da die mit der Anleitung betrauten Lehrer wenig 
Freude erleben — für unsre Zöglinge ist es eine nutzlose Spielerei, bei der sie 
nicht arbeiten lernen. 

Die Zöglinge sind in kleinere Kolonnen zu teilen, treten mit ihren Auf- 
sehern pünktlich zur festgesetzten Zeit an, um an ihre Arbeitsplätze im Felde 
oder in den Gärten geführt zu werden, oder sie gehen in die Viehställe und 
Scheunen oder Handwerksstätten. Es darf die Wahl der Arbeit nicht jeden 
Tag in das Belieben des einzelnen Zöslings gestellt werden, und ebensowenig 
darf das Aufsicht-personal andre, als die ihm zur Hilfe im Hause ausdrücklich 
beigegebenen Zöglinge, zurückbehalten. Auch der Arzt ist zu bitten, seine 
Visiten so zu legen, dass er die Ordnung nicht stört. 


213 

Mit denen, welche als bildungsunfähig aus der Schule mussten entlassen 
werden, muss wenigstens ernstlich der Versuch gemacht werden, sıe zur Thätig- 
keit anzuhalten. Gerade unter diesen haben wir oft überraschende Resultate zu 
verzeichnen. Es gilt nur, unsre Angestellten immer wieder zur Ausdauer und 
Geduld zu ermahnen. Nie lasse man die Einwendung gelten: „sie hindern uns 
ja viel mebr, als sie helfen“; oder „ich mache mir meine Arbeit lieber selbst“. 
Der erziehliche Gesichtspunkt ist allein ausschlaggebend. 

Welche Art der Beschäftigung wird nun die für unsre Zöglinge 
angemessenste sein? 

Darüber ist in diesen unsern Konferenzen, wie den älteren Mitgliedern be- 
kannt sein wird, am eingehendsten verhandelt worden. Vor 20 bis 25 Jahren 
machte sich noch vielfach die Ansicht geltend, das Handwerk sei zu bevorzugen, 
landwirtschaftliche Arbeiten aber seien im allgemeinen zu schwer. Im Laufe 
der Zeit haben sich die Ansichten in dieser Beziehung geklärt. Auszuscheiden 
sind zunächst alle Arbeiten, welche durch Stauberregen schädlich, oder aus 
sonstigen Ursachen gefährlich sind, oder welche leicht über die Kräfte gehen, 
z. B. Wergzupten, Federnreissen, Kokosmattenarbeiten, Ziegelstreichen, Torf- 
machen und ähnliches. Unzweckmässig sind auch Arbeiten, bei welchen leicht 
Vergeudung von Material vorkommt. Man überlässt z. B. Stuhlflechtereien, 
Seilerei, Bürsten- und Pinselfabrikation besser den Blindenanstalten. 

Wenn wir nun die Forderung stellen, dass die Art der Beschäftigung den 
Gaben der Schwachsinnigen angemessen sein muss, so werden wir uns im Hand- 
werk auf einzelne Zweige beschränken müssen und werden selbst hierfür nur 
eine geringe Zahl unsrer Zöglinge geeignet finden. Wir beschäftigen in unsern 
Anstalten Schwachsinnige in der Tischlerei und Stellmacherwerkstätte, in der 
Schmiede, der Schlosserei und Klempnerei, in den Schneiderwerkstätten und in der 
Bäckerei, würden auch sehr wohl einzelne in der Schuhmacherwerkstätte brauchen 
können, wenn wir diese nicht schon unsern Epileptischen überlassen hätten. Zu 
Anstreicherarbeiten und ordinärer Korbflechterei, Stäbe- und Etikettenschneiden 
und ähnlichen einfachen industriellen Arbeiten ist auch eine Zahl verwendbar. 

Die brauchbarsten Lehrlinge finden wir immer unter denen, welche zunächst 
mit Erfolg durch unsre Anstaltsschule hindurchgegangen sind, während die in 
vorgerücktem Alter Eintretenden weniger Anstelligkeit zeigen. Selten aber wird 
es doch gelingen, einen Schwachsinnigen soweit zu fördern, dass er als Geselle 
seinen Unterhalt erwerben kann. Dieses Ziel sich zu stecken, halte ich auch 
entschieden für verfehlt. Da unsre Schwachsinnigen in der Regel einseitig be- 
gabt sind, muss uns das Ziel genügen, sie in einer bestimmten Arbeit so aus- 
zubilden, dass sie einınal als Hilfskräfte Verwendung finden können. Wir ver- 
mehren sonst nur die grosse Zahl der Pfuscher, welche sich ohnehin in jedem 
Handwerke finden, und rauben unsern Zöglingen die Freudigkeit. Diese so leicht 
verzagten Leutchen gewinnen nur dann Freude an der Arbeit, wenn sie sehen, 
dass ihnen dieselbe gelingt. 

Den weitesten Spielraum zur Verwendung von Hilfskräften finden wir nun 
aber in der Garten- und Feldwirtschaft und in der Viehzucht. Da ist das Ge- 


214 

müseland zu graben und zu behacken. Es ist zu begiessen oder Unkraut zu 
jäten. Für die Baumschule ist tief zu rajolen; es sind Pflanzlöcher anzufertigen. 
Komposthaufen umzustechen, Erde zu verkarren, Hügel zu planieren und Gründe 
auszufüllen, Mergel zu fahren und Wege zu befestigen. In den Gewächshäusern 
und Treibbeeten sind dem Gärtner Hilfskräfte nötig. Werden die Veredelungs- 
arbeiten und der Baumschnitt in der Hauptsache auch dem angestellten Gärtner 
überlassen bleiben, so helfen doch auch hier einzelne geistig höher stehende 
Zöglinge. Ebenso lernen immer einzelne recht gut das Pflanzen. In der eigent- 
lichen Landwirtschaft und Viehhaltung giebt es gleichfalls viele Arbeiten, zu 
welchen geringere Kräfte ausreichen. Eine Zahl unsrer Zöglinge drischt unter 
einem normalen Arbeiter die ganze Ernte meist mit dem Flegel aus und hat 
den Vier-, Fünf- und Sechstakt gelernt, ohne sich, wie manche fürchten, an 
den Kopf zu schlagen; auch die Handdreschmaschine findet Verwendung. 

Die Kühe und Schweine werden von Zöglingen gefüttert und besorgt und 
geben hohe Erträge. 

Müssen auch die Gespanne um der grossen Verantwortung willen in der 
Hauptsache von angestellten Leuten geführt werden, so lassen sich doch auch 
hierzu, namentlich auf dem Acker, einzelne Zöglinge verwenden. Namentlich 
aber finden viele bei den Erntearbeiten im Sommer und Herbst Beschäftigung. 
Hierzu werden auch eine Zahl Mädchen, die sonst in der Hauswirtschaft, in der 
Wäsche und zur Hilfeleistung in den Stationen Verwendung finden, heran- 
gezogen. Ein Teil des Gartens ist ihnen auch sonst zur Arbeit reserviert, da 
es um der Gesundheit willen geboten ist, dass sie namentlich aus der Wäsche 
von Zeit zu Zeit abgelöst werden. 

Doch ich widerstehe um der kurz bemessenen Zeit willen der Versuchung, 
mich über die Art der Beschäftigung noch weiter zu ergehen. In Verlegenbeit 
um Arbeit sind wir nie gekommen. Auch im Winter stockt dieselbe bei 
richtiger Einteilung nicht. Viele Kulturarbeiten werden auch im Winter nur 
auf wenige Wochen durch zu starken Frost unterbrochen; tritt derselbe hindernd 
in den Weg, dann müssen Arbeitsräume vorhanden sein, in welchen die Zöglinge 
Stangen schälen, Holzetikette schnitzen, Samen auslesen, Strohdecken für die 
Gärtnerei flechten. Auch bringt das Heranschaffen von Heizmaterial, die Eis- 
anfuhr, das Schneeschippen und Abdüngen der Wiesen uud ähnliche Winter- 
arbeiten Beschäftigung. 

Ich brauche nach diesen Darlegungen nicht weiter auseinanderzusetzen, in 
wieweit alle diese Beschäftigungsarten zugleich nutzbringend sind. Als Grund- 
satz muss in dieser Beziehung, um das zu erwähnen, stets gelten, möglichst für 
die Anstalten selbst zu arbeiten. So verkaufen wir eigentlich nur Produkte 
unsrer Baumschule, etwas feinere Obstarten und Gemüse, namentlich für etwa 
4000 Mark Spargel. Wir haben infolge unsrer Land- und Viehwirtschaft billiges 
und gutes Fleisch, Milch und Butter, reichlich Gemüse und Obst und die Ge- 
spanne zu Wirtschaftsfuhren. 

Der ganze Arbeitsbetrieb erfordert nun allerdings eine möglichst einheit- 
liche Leitung, sonst fehlt es an der zweckmässigen Disposition über die 


215 

einzelnen Kräfte; auch kommen zu leicht unter den Angestellten Reibungen vor. 
Es ist wünschenswert, dass der an der Spitze der ganzen Anstalt stehende 
Leiter mit den verschiedenen Zweigen der Beschäftigung vertraut ist. Wo das 
noch nicht der Fall ist, wird er sich bei einigem guten Willen schon einarbeiten 
und das Gebiet, welches ihm ganz fremd ist, vorläufig möglichst vermeiden. Ein 
Hindernis, sich ein Verständnis in diesen Dingen anzueignen, sind doch weder 
pädagogische, noch theologische, noch medizinische Kenntnisse! Auch darf man 
voraussetzen, dass jedes Kuratorium bei der Wahl eines Anstaltsleiters dar- 
auf sehen wird, dass er ein praktischer Mann ist. Natürlich müssen dem- 
selben die nötigen Aufsichtsbeamten zur Seite stehen, und es wird seine Auf- 
gabe sein, sich dieselben heranzuziehen und die Gaben, welche dem einzelnen 
verliehen sind, zu wecken. 

Das gilt aber auch von den mit der Anleitung und Beaufsichtigung 
unsrer Arbeitszöglinge betrauten Personen. Dieselben müssen selbst mit 
der Arbeit, zu welcher sie anzuleiten haben, vertraut sein. Man wähle tüchtige 
Handwerker, wirklich ausgebildete Gärtner, welche die Technik beherrschen, 
stelle zu Jaandarbeiten Männer an, welche in denselben erfahren sind. Selbst 
bei der Beschäftigung der Mädchen muss eine in Landarbeiten tüchtige Frau 
die Aufsicht führen. Diese bei den einzelnen Abteilungen Aufsicht Führenden 
haben mitzuarbeiten, damit die Zöglinge die Handgriffe absehen und durch ein 
gutes Vorbild angespornt werden. Natürlich darf die eigene Arbeit sie nur so- 
weit in Anspruch nehmen, dass sie dabei ihre Zöglinge im Auge behalten, von 
einem zum andern gehen, verbessern, ermuntern, Bescheid geben. Vor allem 
aber dürfen sie nie vergessen, dass die Beschäftigung in erster Reihe einen er- 
ziehlichen Zweck hat. Heftige, ungeduldige oder gar lieblose Menschen sind 
nicht zu gebrauchen. 

Haben sie selbst den Segen der Arbeit kennen gelernt, wissen sie als 
Christen das Beten und Arbeiten recht zu vereinen und bleiben eingedenk des 
Wortes St. Pauli: „Ringet darnach, dass ihr stille seid und das eure schaffet 
und arbeitet mit euren eigenen Händen, wie wir euch geboten haben“ — dann 
werden sie auch treu sein in ihrer Pflichterfüllung, selbst Freude haben an jedem 
Fortschritte ihrer geistig und leiblich so schwachen Mitmenschen und uns je 
mehr und mehr in unsern Bestrebungen und Zielen verstehen lernen! 

Fortsetzung in nächster Nr. 


Mitteilungen. 


Dresden-Blasewitz. (Förster }). Am 6. November verschied im Alter von 
62 Jahren Eduard Förster, Besitzer und Leiter einer Erziehungsanstalt für 
geistig Zurückgebliebene in Dresden-Blasewitz. 

Dalldorf. (Idiotenanstalt). Im Jahre 1900 schwankte der Bestand an 
Zöglingen zwischen 200 und 212. Der Unterricht wurde in 12 Klassen erteilt, 
welche sich auf 6 Stufen verteilten. Konfirmiert wurden 16 der evangelischen 
Konfession angehörende Zöglinge, während 2 katholische Knaben und 2 katholische 
Mädchen das Abendmahl erhielten. — Die Thätigkeit in den 5 Werkstätten war 


216 
eine sehr rege, und ebenso wurde in der Gärtnerei fleissig gearbeitet. Von den ent- 
Jassenen Zöglingen wurden 9 Burschen zur Erlernung eines Handwerks (Buchbinder 2, 
Gärtner 2, Schneider 2, Korbmacher 1, Schuhmacher 1, Tischler 1) zu geeigneten 
Meistern in die Lehre gegeben. 15 Zöglinge (8 Knaben, 7 Mädchen) kamen teils zu 
den Eltern, teils zu den Landleuten behufs Beschäftigung in Land- Haus- und Hand- 
arbeit in Pflege; 9 Knaben 2 Mädchen wurden mit Rücksicht auf ihre geistige, wie auch 
körperliche Schwäche und ihr vorgeschrittenes Alter in die hiesige Irrenanstalt verlegt. 
Bei 2 Knaben stellten sich epileptische Anfälle ein, so dass ihre Verlegung in die Anstalt 
Wuhlgarten notwendig wurde, und 1 Knabe, der sich nicht als schwachsinnig erwies, 
kam in die Anstalt zu Lichtenberg. Zu den Eltern kehrten zurück — leider zu 
früh — 12 Knaben und 3 Mädchen. 


Briefkasten. 


Allen geehrten Mitarbeitern und Lesern der Zeitschrift wünscht 
zum Jahreswechsel das Beste die Schriftleitung. — Dr. B. i. B. Ihre Karte 
übergab ich dem Berichterstatter zur Erledigung. — M. W. i. Sch. Für diese Nummer 
wesen Raummangel unmöglich; besten Dank! — Dir. K. R. i. L. Bitte das Versehen 
entschuldigen zu wollen; inzwischen erhielten Sie das Gewünschte. — Dr. M. i. B. Der 
bedauerliche Vorfall ist uns bekannt und wird in der nächsten Nummer erwähnt werden. 
— F. M. i. 0. Wie früher, so wird unsere Zeitschrift auch den Bericht über die Elber- 
felder Konferenz nur im Auszuge bringen, ihn vollständig aufzunehmen ist unmöglich. 
— H. H.i. D. Auch wir haben es bedauert, dass wir nicht nach E. kommen konnten; 
im ührigen stimmen wir Ihnen vollständig zu: die Menge und Länge der Vorträge 
thuts nicht. Dass Aussicht vorhanden ist, uns hier zu begegnen, freut uns. — 


Zur Beachtung. 


Mit vorliegender Nummer schliesst die 


Zeitschrift £ 0, Behandlune. Schwachsinniger und Epileptischir 


ihren XVII Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen 
Jahrgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken. 


Die Herausgeber. 





Inhalt. Bericht über die X. Konferenz für Idiotenwesen und Schulen für schwach- 
sinnige Kinder. (Fortsetzung.) — Mitteilungen: Dresden-Blasewitz, Dalldorf. — Briefkasten. 
— Zur Beachtung. 


m nn u nn ESL- uL u E] m e a a ai iŘĖŘ— 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 


Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung Schwachsioniger und Epileptischer. 


A | o 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 
herausgegeben von 


Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 


Dresden-Streblen. Specialarzt für Nervenkrankheiten 
in Stuttgart. 


XVII. (Xl) Jahrgang 1902. 


wenn 


Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 





Thr NEW YORK 
PULLC Con D ST 


292790 


ABTOR, LENDS AND 
TILDEN an 
R 1903 L 








10. 


11. 


12. 


13. 


14. 


15. 


16. 


. Die X. Konferenz für das Idioten. 


Inhaltsverzeichnis. 


A. Aufsätze. 


. Bericht über die am 15. Februar 1902 


in Hagen abgehaltene Konferenz für 
die Hilfsschulen (M. Weniger). . 75 


. Das Freihandzeichnen in der Hilfs- 


schule zu Leipzig (H. Müller) . 169 


. Das Personalheft im Dienste der 


Schwachsinnigen - Bildung 


(F. Frenzel) . 137 


wesen (P. Müller) . 10. 43. 65. 81 


. Die pädagogische Gymnastik in den 


Schulen für Schwachsinnige 


(O. Legel) . 107 


. Die Schulen der privaten Wohl- 


thätigkeitsanstalten in Gefahr 


(K. Ziegler: 58 


. Einige einfache Industriesweige dér 


AnstaltIdstein(J. Schwenk) 101.131.156 


. EinWeihnachtsmärchen f. dieEltern 


unsererschwachenKinder(K.Ziegler)195 


. Fromme Wünsche für den weiteren 


Ausbau der Hilfsschule (Dr. Bood- 


stein) . . . 12 
Nebenversannioni für die Vertreter 

der Hilfsschule . 12 
Nochmals die neue Anweisung v vom 

26. März 1901 und noch einiges an- 
dere (K. Ziegler) ; . 146 
Sind Zahlenbilder oder Zählenreihen 
beim ersten Rechenunterrichtein der 
Hilfsschule vorzuziehen (H. Horrix) 135 
Über einige besondere Gruppen 
unter den Idioten (Dr. Berkhan) 65 
Über schwachsinnige Kinder 

(Dr. E. Nawatzky) . . . 185 
Versuch einer Einteilung der Idioten 
(Kölle) . .. 43 
Volksschule und Hilfsschule 

(Fr. Frenzel) . . 195 


17. Wie werden Seminaristen und Lehrer 
angeleitetzur Arbeitan den Schwach- - 
sinnigen? (H. Horrix) . . 81 
18. Wie wird die Hilfsschule der Indi- 
vidualität geistig schwacher Kinder 
gerecht? (E. Kannegiesser). 1. 33 
19. Zur reichsgesetzlichen Regelung 
des Irrenwesens (J. Schwenk) . 185 
B. Mitteilungen. 
1. Aus Amerika (Die Verbreitung des 
Schwachsinns) i Eee o A 
2. Borna (Hilfsschule) . ve Dr IO 
3. Breslau (Hilfsschule) . . . . 198 
4 Dortmund( WestfälischeKonferenz 
für das Hilfsschulwesen) . 181 
5. Erfurt (Hilfsschule) . . 199 
6. Gera (Dr. Bartels +). . . . . .198 
7. Gera (Hilfsschule und Hilfskursus) 164 
8. Hessen(Konferenz hess.Hilfsschulen) 199 
9. Kiel (Neue Hilfsschule) 78 
10. Kristiania (Anstalt für schwach- 
sinnige Knaben in Lindern) . 116 
11. Leipzig iHilfsschule; . 158 
12. Magdeburg (Hilfsschule) . 18 
13 Mainz (Verbandstagd.Hilfsschulen) 79 
14. Mainz (IV. Verbandstag der Hilfs- 
schulen Deutschlands) . 183 
15. Mannheim (Hilfsschule: . 168 
16. M.-Gladbach (Idiotenanstalt He- 
phata) . ; ; 31 
17. M.-Gladbach (Ereiprechungi 2 63 


18. 
19. 
2\, 


21. 
22. 


Seite 


Nieder-Marsberg (ldiotenanstalt) 29 


Schwelm (Hilfsschule) 63 
Worms (Augenuntersuchung in der 
Hilfsschule) a ; . 116 
Worms a. Rh. (Hilfsschule) . 63 
Zürich (Schweizerische Anstalt für 
Epileptische) . 166 


I n 


. Boer, Dr. 


. Dicke, Dr. E. 


C. Litteratur.. 


. Auer,Kölleu.Graf,Verhandlungen 


der III. Schweizerischen Konferenz 
für das Idiotenwesen . 

A. Der Selbstmord im 
. 118 


80 


kindlichen Lebensalter 


. Brauckmann, K, Die Ehe 


Entwicklung und pädagogische Be- 
handlung schwerhöriger Kinder . . 166 
u. Dr. E. Kohlmetz, 
Die Schädlichkeit des Missbrauchs 
geistiger Getränke . . 184 


. Finkh, Dr.J ‚DieGeisteskrankheiten 166 


Giese, J., Rechenbuch in 4 Heften 120 


. Grohmann, A., Ernstes und Heiteres 


aus meinen Erinnerungen im Verkehr 
mit Schwachsinnigen . 


Seite 


79 | 


10. 


11. 


12. 


Seite 


. Kafemann, Dr. R., Über die Denk- 


schwächeder Schulkinder aus nasalen 
Ursachen . . 200 


. Kläbe, K, Entwurf zum ass 


der Hilfsschule . 32 
Kurt, Dr.N., Die Willensprobleme 
in systematischer Entwicklung und 
kritischer Beleuchtung . . . 18 
Otto, B., ee der Zukunfts- 
schule : . 119 
Ziehen, Dr. Th. Die Geisteskrank. 


heiten des Kindesalters . . 167 


D. Briefkasten . 64. 200 


ww 


N EW YCH ) 






m ae 





X LISRARY, 
SEATLO ! 
Niue XVII. Qilrsehrer -. | 
Teitschrift 
für die 


Behandlung sehwachsinnioer und Epilepüscher. 


Organ der Konferenz für das Idiotenweosen. 


Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen 
herausgegeben von 
Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 


Spezialarzt 
Dresden -Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzatrasse 27. in Stuttgart. 


Erscheint jährlich in 12 Nummern von 

mindestens einem Bogen. Anzeigen für 

die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- Februar 1902. 
rarische Beilagen 6 Mark. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

und Postämter, wie auch direkt von der 

Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
einzelne Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Wie wird die Hilfsschule der Individualität geistig 
schwacher Kinder gerecht? 
E. Kannegiesser, Hauptlehrer der Hilfsschule zu Erfurt. 

Die allgemeine Schulpflicht des vergangenen Jahrhunderts liess die deutsche 
Volks- und Bürgerschule zur vollendeten Thatsache werden. Sie verpflichtete 
damit jedes Kind, das von dem gesamten Volke erarbeitete Kulturgut nachzu- 
erwerben und als Erwachsener zu vermehren, sich und kommenden Geschlechtern 
zum Segen. Wie weit das dem Einzelnen möglich war, blieb der Erfahrung 
vorbehalten. Wohl brachten die praktischen Humanitätswerke für Blinde, Taub- 
stumme und Idioten, sowie die sich reich entfaltenden psychologischen Erkennt- 
nisse die Thatsache ans Licht, dass man in den Anforderungen an die kindliche 
Befähigung zu allgemein verfahren sei, dass es nicht nur eine mittlere Linie 
derselben mit darüber hinausragenden Talenten, sondern auch unter derselben 
liegende Gruppen kindlicher Individuen gäbe. Ja, man erkannte auch, dass 
fehlerhafte Erscheinungen der kindlichen Psyche nicht immer auf der Seite der 
Gesundheit, sondern auch auf der der Krankheit und anormalen Entwicklung 
entstehen können. Letztere Thatsache besonders fand bis zu ihrer Anerkennung 
auch in pädagogischen Kreisen starken Widerstand. Es dürfte nicht schwer fallen, 
die Belege hierfür aus der Erziehungsgeschichte des letzten Jahrhunderts zu- 
sammenzustellen. 

So litt die Schule — Schüler, Lehrer und Schularbeit — Jahrzehnte lang 
gleich schwer, ohne praktische Hilfe zu finden. 

Im Jahre 1867 erstand die erste Nachhilfeschule zu Dresden für Kinder 
unter der Grenze normaler Befähigung, welche in der Volksschule sich als 


ze 
t 


A 


~ 


lay f 
FR, 


A 





2 


bildungsunfähig erwiesen hatten. Langsanı und vorsichtig fanden nun auch 
an andern Orten Gründungen statt. Doch erst Ende der achtziger Jahre kanı 
die Bewegung dank der Aufmunterung der höchsten Verwaltungsbehörden, be- 
sonders in Preussen, in schnelleren Fluss. Und während man noch 1894 in 
Deutschland 32 Schulen mit 110 Klassen, 115 Lehrkräften und 2290 Schülern 
zählte, wies die Statistik von 1900 bereits 98 Schulen mit 326 Klassen, über 
300 Lehrkräften und 7013 Schülern auf*). Die hiesige Hilfsschule, 1890 mit 
1 Lehrer und 22 Schülern eröffnet, hat heute 5 Klassen mit 91 Kindern, welche 
von 4 Lehrpersonen unterrichtet werden. Der Ostern 1898 in Hannover ge- 
gründete Verband der Hilfsschulen Deutschlands will nicht nur den innern Aus- 
und äusseren Aufbau derselben unterstützen, sondern auch durch fortgesetzte 
Aufklärung die Schulträger auf ihre aus der allgemeinen Schulpflicht erwachsende 
Fürsorgepflicht für die geistig schwachen Kinder hinweisen und die weitesten 
Schichten des Volkes, besonders aber Pädagogen, Ärzte, Juristen, Militärs und 
Sozialpolitiker, auf die Bedeutung dieses Erziehungswerkes aufmerksam machen. 

Man sollte nun eigentlich meinen, dass diese Thatsachen langjähriger Er- 
fahrung eine beredte Sprache führend, besonders in pädagogischen Kreisen die 
Notwendigkeit der Hilfsschulen allseitig zur Anerkennung gebracht hätten. 
Leider begegnet man aber noch heute der Ansicht und verficht sie auch in der 
Fachpresse, dass dieses Humanitätswerk unnötig, die Volksschule als Normal- 
schule am besten geeignet sei auch für geistig schwache Kinder. Wiewohl wir 
in Erfurt das Absterben dieser betrübenden Erscheinung in den letzten Jahren 
mit Freuden begrüssen durften, hat sie doch die Wahl meines Themas mit 
herbeigeführt. 

Die Volksschule aber kann der Individualität geistig schwacher 
Kinder nicht gerecht werden, wenn sie die ihr zugewiesene Aufgabe er- 
füllen will. 

Die an sie gestellten Anforderungen steigern sich fortgesetzt, und der 
Pädagoge sichtet prüfenden Auges, ob und wo minderwertiger Lehrstoff neuem, 
wertvollerem weichen könne. Man redet von Überbürdung der Schüler und 
gesteht doch zu, dass eine wesentliche Verringerung des Stoffes unmöglich ist. 
Einsichtige Leute haben darum mit Recht die Frage aufgeworfen, ob denn nicht 
etwa eine oft zu geringe Begabung der Schüler die Ursache der vielumstrittenen 
Überbürdung sei. Es erscheint darum kaum begreiflich, wie die Gegner der 
Hilfsschulen auch in der pädagogischen Litteratur ihre Forderungen zu vertreten 
wagen. Ihre vorgeschlagenen Organisationsveränderungen der Volksschule be- 
ziehen sich erstens auf Herabsetzung der Lehrziele. Darf die Volksschule, in 
welcher sich die Mehrzahl des Volkes die geistige Kost holt, aus Rücksicht auf 
die Geistigschwachen darauf eingehen? Das hiesse doch das Recht der Normal- 
begabten zu Gunsten Minderbegabter mit Füssen treten, die Volksbildung in 
einer Zeit gesteigerter Anforderungen an sie herabdrücken. Zweitens strebt man 
Herabsetzung der Klassenfrequenz an. Setzt man die Frequenz allein herab, so 


*) Hierbei sind unter anderen auch die Berliner Einrichtungen mit 58 Klassen, 58 
Lehrkräften und 758 Kindern nicht gezählt. 


3 


ist nichts geholfen, da das Hindernis im hohen Ziel liegt. Wird beides herab- 
gemindert, dann ist allerdings geholfen, denn dann ist die Volksschule zur Hilfs- 
schule geworden. Die Gegner fordern drittens die Umwandlung der 6 klassigen 
in 8 klassige Schulen mit der Massgabe, dass sie von normalen Schülern in 
6 Jahren durchlaufen werden können und den Übergang in eine höhere Schule 
ermöglichen. Mit diesen Vorschlage könnte ich mich schon befreunden, halte 
aber seine Ausführbarkeit für unmöglich. Unsere 7 klassige Volksschule z. B. 
müsste dann mindestens in eine 10 klassige verwandelt werden; denn die Hilfs- 
schule hat 6 Stufen, erreicht aber erst im Rechnen das Ziel von Klasse V der 
Volksschule 4 Stufen müssten dann noch wenigstens aufgesetzt werden, ganz 
abgesehen von deren Zielen. Viertens sollen Nebenklassen errichtet. werden, in 
denen solche Kinder, welche nach Erfüllung obiger Forderungen doch nicht 
folgen können, durch zeitweilig gesonderten Unterricht für die Volksschule 
wieder unterrichtsfähig gemacht oder einer Anstalt übergeben werden. Dieser 
Satz erübrigt alle weiteren Erörterungen, er offenbart, dass die Gegner an die 
Heilkraft ihrer Forderungen selbst nicht glauben, denn auch nach Erfüllung 
derselben sind besondere Massnahmen für geistig schwache Kinder nötig. 

So sehr man sich auch drehen und wenden mag, über die Thatsache kann 
man sich nicht hinwegtäuschen: die Volksschule kann der Individualität geistig 
schwacher Kinder nicht gerecht werden. Sie kann weder ihr Lehrziel herab- 
setzen, noch ihre Organisation ihnen anpassen. Hbensowenig kann von einer 
Individualisierung ibrer Methode die Rede sein. Vielmehr müht sich der Lehrer 
vergeblich ab mit seiner ganzen Erziehungskunst, mit Liebe und Strafe, bis ihn 
die Rücksicht auf die Begabteren zwingt, die Schwachen fallen zu lassen. Viel- 
leicht machen er oder sein Nachfolger im nächsten Jahre noch einen Versuch; 
gelingt er dann nicht, so erben sich die armen Kinder als Klasseninventar fort 
oder werden weitergeschoben von Stufe zu Stufe bis zur Entlassung. Das Los 
dieser Unglücklichen ist kein beneidenswertes.. Wohl ihnen, wenn sie geistig 
so tief stehen, dass die Reihe von Demütigungen, Verspottungen und Misshand- 
lungen ihr „Ich“ unberührt lässt. Sonst aber werden sie intellektuell vernichtet, 
sittlich stumpf und verkommen, gemütlich verbittert und verroht, für das Leben 
völlig unbrauchbar. Der trostlosen Jugend folgt eine noch schlimmere Leidens- 
zeit. Wieviel geringes, unscheinbares Glück wird da schon im Keime ver- 
nichtet. Und das ist erst eine Seite des Bildes. Viel gefährlicher gestaltet 
sich die andere. Kann nicht die Schule durch die Behandlung solcher Kinder 
in argen Verruf geraten? Wer Jahr für Jahr die Anklagen der Eltern, mögen 
sie berechtigt sein oder nicht, hören und entkräften muss, der wird das längere 
Verweilen dieser Kinder in der Volksschule nicht nur als Vergehen an ihnen, 
sondern auch als Versündigung an ihr betrachten müssen. „Ihr redet von eurer 
grossen, alles bezwingenden Pädagogik! Zeigt sie doch an unsern geistig 
schwachen Kindern! Beweist doch an ihnen, die oft unmanierlich und unsauber 
sind, euren Pestalozzigeist!“ so liest man aus der Eltern Mienen und Worten. 
Ist nicht auch der Lehrer beständig in Gefahr, die Grenze berechtigter Strafe 
zu überschreiten? Man könnte Bücher schreiben, und jedes müsste auslauten 


4 


in der Forderung: die Volksschule kann der Individualität geistig schwacher 
Kinder nicht gerecht werden! 

Es erhebt sich nun die Frage: Ist dadurch schon die Notwendigkeit 
der Hilfsschulen erwiesen? Giebt es nicht vielleicht einen besseren 
Weg der Hilfe? Wohlhabende Eltern werden ja nicht zögern, die Kinder in 
einer der vielen Anstalten zu schicken, oder wenn sie das nicht mögen, in Privat- 
unterricht geben. Auf jeden Fall wird die Aufsichtsbehörde den Nachweis einer 
Fürsorge fordern. So segensreich die Anstalten nun auch wirken, so grosse Er- 
folge Privatunterricht auch haben kann, das Kind geht doch des Einflusses der 
Familienerziehung und des öffentlichen Lebens verlustig. Und der ist schwer 
zu ersetzen. Darum können und werden wir auch nie die Einrichtungen einer 
sogen. Tagesanstalt befürworten. 

Was fangen aber arme Eltern an? In den meisten grösseren Städten ist 
ja jetzt diese Frage durch Einrichtung von Hilfsschulen beantwortet. Soll man 
ihnen die Überweisung ihrer Kinder dahin anraten? Es ist schon erwähnt, dass 
es besonders in Berlin eine Richtung giebt, welche sich den grösseren Nutzen 
verspricht, wenn diese Kinder der Volksschule nicht entzogen, sondern in ihr ange- 
gliederten Nebenklassen besonders unterrichtet werden. Diese Frage hat uns zum 
Teil schon beschäftigt. Wir müssen die Nebenklassen entschieden verwerfen; sie 
sind schon durch die Erfahrung verworfen worden. Denn alle Hilfsschulen sind 
durch den Werdezustand der Neben- oder Nachhilfeklassen hindurchgegangen 
und haben dieses mangelhafte Gewand abgestreif. Auch Berlin kann sich 
dieser natürlichen Entwicklung nicht entziehen, wie aus der neuesten Statistik 
des Preuss. Kultusministeriums über das Hilfsschulwesen ersichtlich ist: es hat 
bereits neben 14 einklassigen 15 zwei-, 3 drei- und 1 fünfklassige Anstalt. 

Geistig schwache Kinder finden nur in gesonderten, selbst- 
ständigen Hilfsschulen volle Berücksichtigung ihrer Individualität. 
Das ist der Standpunkt, den sowohl die einsichtigen Pädagogen, als auch die 
Verwaltungsbehörden einnehmen. Sie sind die einzig richtigen Erziehungs- 
stätten. Sie sind Öffentliche Volksschulen wie: alle andern, wenn es zur Zeit 
auch noch an den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen fehlt. Sie erhalten 
die Kinder dem Einflusse der Familie und des Öffentlichen Lebens, was für die 
spätere Selbständigkeit von unberechenbarem Werte ist. Sie drücken ihnen 
nicht den Stempel der Anstalt auf, wo vielleicht die Mehrzahl Idioten war. 
Reiche und arme Kinder können gemeinsam erzogen werden; hier sind kleine, 
segensreich wirkende allgemeine Volksschulen. 

Früher hielten die meisten Eltern die Einschulung der Kinder für eine 
Schande, Gott seis geklagt, auch mancher Pädagog. Das hat sich aber, wie 
schon erwähnt, jetzt erfreulicherweise geändert. Selbst viele besser gestellte 
Eltern bringen uns ihre Kinder freiwillig. Von den 22 Ostern dieses Jahres 
Aufgenommenen waren 6 aus den Bürgerschulen und der Mittelschule Die 
Eltern sehen wohl ein, dass wie klug sein kein Ruhm, so geistig schwach keine 
Schande sein kann. Müsste sich sonst nicht auch jeder Krüppel seines Ge- 
brechens schämen? Freilich ist es zu beklagen, dass unsere Kinder noch viel 


5 


unter dem Spott und Hohn nicht nur der normalen Kinder, sondern auch Er- 
wachsener leiden müssen. Es wäre eine dankenswerte Aufgabe der Schule, hier 
helfend einzugreifen. Denn die Hilfsschule treibt ein Werk, von dem das 
Heilandswort gilt: „Was ihr gethan habt einem meiner geringsten Brüder, 
das habt ihr mir gethan.“ 

Aber auch jede kleinere Stadt kann eine Hilfsschule errichten. Man rechnet 
auf 10000 Einwohner etwa 13—14 geistig schwache Kinder. Wie die Frage 
für die Landkinder zu lösen ist, bleibt der Zukunft überlassen. Sollte eine 
Lösung eintreten, so wird sie jedenfalls auf gleichem Wege wie die Taub- 
stummen- und Blindenerziehung zu finden sein. 

Worin besteht nun die Individualität dieser Kinder? Die folgenden 
Ausführungen gründen sich auf langjährige Untersuchungen und Beobachtungen, 
welche seit 1890 in sogen. Schülercharakteristiken niedergelegt sind. Die 
geistige Schwäche, gewöhnlich Schwachsinn genannt, stellt sich dar als eine 
dauernde und wenn auch unheilbare, so doch zu mildernde Entwicklungshemmung 
der Seele, deren Ursache meist in abgelaufenen Krankheitsprozessen des Gehirns 
zu suchen ist. Diese Hemmung ist auf alle primären und sekundären psychischen 
Vorgänge ausgebreitet und äussert sich in Anomalien des Vorstellens, Fühlens 
und Wollens. Die geistige Schwäche ist oft mit körperlichen Begleiterscheinungen 
verbunden. Wer sich aber eingehend damit befasst, wird bald zu der Erkennt- 
nis kommen, welche geringe Bedeutung diese Zeichen an sich haben. Das be- 
weist die Untersuchung einer ganzen Anzahl hochgradig Schwachsinniger. Nur 
sobald die sogen. Degenerationszeichen mit psychischer Schwäche verbunden das 
Individuum belasten, bestätigen sie die Richtigkeit der Diagnose. Man kann 
darum oft nicht mit Unrecht sagen: „Je regelmässiger die körperliche Bildung 
ist, je weniger äusserlich krankhafte Zustände in die Erscheinung treten, um so 
mehr ist das Übel rein psychisch und um so schwieriger seine Behandlung“. 
Ich verzichte darum auf die blosse Aufzählung der Degenerationszeichen, hoffe 
aber, die wichtigsten später noch berühren zu können und wende mich den 
psychischen Erscheinungen zu. 

Bedingt durch die elterliche Liebe und Hoffnung, ist es nicht auffallend, 
dass die geistige Schwäche, in den meisten Fällen angeboren,*) doch nur selten 
im verschulpflichtigen Alter erkannt wird. Und sobald wirklich das oder jenes 
Kind als „von Geburt an anders als die andern Geschwister“ bezeichnet wird. 
so will doch niemand an eine Schwäche des Intellekts, höchstens an eine Ab- 
normität des Temperaments glauben. Erst der Schuleintritt macht der Sorg- 
losigkeit der Eltern ein Ende und offenbart auch ihnen das Zurückbleiben ihres 
Kindes hinter gleichaltrigen. 

Worin besteht nun die geistige Schwäche? Man hat lange geglaubt, 
dass mangelhafte Bildung oder Funktion der äusseren Sinnesorgane die Haupt- 
ursache bilde. Das ist aber auch nach unserer Erfahrung mehr als zweifelhaft, 
wäre auch wohl nicht allein im stande, eine allgemeine geistige Schwäche hervor- 


*) Von 197 Kindern leiden 125 an angeborener geistiger Schwäche. 


6 


zurufen. Der bisher gebräuchliche Ausdruck „Schwachsinn“ ist darum dem 
Wesen des Übels nicht entsprechend. Nach dem Stande der Wissenschaft ist 
es vielmehr wahrscheinlicher, den Grund in der Art der Perzeption, der Auf- 
ıahıne der Empfindungen, dieser ursprünglichen Seelenvorgänge zu suchen. Ich 
will hier auf die Darlegungen der wahrscheinlichsten Hypothese nach ihrer 
physiologischen Seite verzichten, sondern mich nur an die tbatsächlichen Er- 
gebnisse der psychologischen Beobachtung halten. Und diese bestätigen in 
schlagender Weise eine grosse Schwäche des Empfindungslebens, vor 
allem der Perzeption der Empfindungen. Sie sind äusserst matt und farblos 
und zwar nach allen ihren Eigenschaften. So kommt es, dass die Kinder 
stumpf und teilnabhmlos sind. Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren und 
hören nicht, selbst dann noch, wenn ihre Entwicklung Fortschritte gemacht hat. 
Sie unterscheiden nur schwer die einzelnen Qualitäten und bleiben auch bierin 
wesentlich hinter den normalen Kindern zurück. Während diese z. B. beim 
Schuleintritt sicher die 6 Hauptfarben*) unterscheiden, waren von unsern 197 
Kindern 75 dazu unvermögend oder es erschienen ihnen blau, gelb und grün als 
gleiche Farbenempfindungen. Besonders gelb war den meisten Kindern un- 
bekannt. Selten dagegen ist jegliche Farbenunempfindlichkeit und auch dann 
nur bei Idioten höchsten Grades. 

Dieselbe Unterschiedlosigkeit herrscht auf dem Gebiet der Gehörs- 
empfindungen. Nur die wenigsten Kinder vermögen einen Ton oder gar eine 
Tonreihe bestimmt aufzufassen. Und wenn auch die Freude am Gesang nicht 
fehlt, so bleibt er doch bis in die höchste Klasse der Hilfsschule mangelhaft 
und bedarf steter Begleitung. Den gleichen Zustand beobachtet man im Gebiet 
der andern Sinne. Je niedriger sie stehen, um so geringer werden Qualitäts- 
unterschiede wahrgenommen oder ihre Feststellung unterliegt der grössten Mühe. 
Viele Kinder hatten keine Empfindung von eckig, rund, von glatt, raub, von 
bitter und sauer. Die meisten Empfindungen wurden mit schön und schlecht. 
bezeichnet, ohne damit jedoch eine Unterschiedlichkeit in einem Sinnesgebiet zu 
verbinden. Die Depression der Empfindungen findet sich auch im Gebiet ihrer 
Intensität, wenngleich erethische Individuen hierbei oft eine Ausnahme machen, 
Die Gefühlstöne sind von gleicher Beschaffenheit. Am deutlichsten tritt die 
Schwäche, wie oben angedeutet, im Gebiet der räumlichen und zeitlichen Eigen- 
schaften hervor. Entwickeln sich diese schon beim normalen Kinde schwer, so 
bleibt das geistigschwache darin weit zurück. Gestalt, Lage der Dinge zu ein- 
ander, ihre Entfernung, Grösse und die Zeitfolge werden beim Schuleintritt nur 
in geringen Fällen gekannt. Noch am Ende der Schulzeit bilden die Ent- 
wicklung und Verdeutlichung der hierzu gehörigen sprachlichen Begriffe das 
schwierigste Stofigebiet des Unterrichts. Wie leicht die Empfindungen bei 
längerer Dauer an Klarheit und Kraft einbüssen, wird jedem erinnerlich sein, 
der geistig schwache Kinder unter seinen Schülern hatte. Geradezu erschreckend 
ist die Indifferenz, sobald es sich um das Unterscheiden grösserer Kombinationen 





*) Schwarz, weiss, rot, gelb, grün, blau. 


7 

von Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete handelt. Hier versagen nicht nur 
die meisten jüngeren, sondern auch viele ältere Kinder. So schrieben z. B. 
nicht weniger als 100 Schüler linkshändig zwangsweise Spiegelschrift, und da- 
bei konnten noch nicht einmal sämtliche geprüft werden, weil sie entweder nicht 
schreiben konnten oder mit der linken Hand normal zu schreiben gewöhnt 
waren, da die rechte verkrüppelt war. Es ist darum leicht erklärlich, dass 
dieses weite Gebiet mit den scharisinnigsten Metlioden zur Prüfung der Inten- 
sität des geistigen Lebens durchfurcht wird. Hier ist der Mutterboden, welcher 
die Keime des Denkens, des Intellekts birgt. 

Die schwachen, undeutlichen Empfindungen verlieren wesentlich an Kraft, 
sobald sie in den Zustand der Vorstellungen übergeben. Viele erheben sich 
nie wieder über die Schwelle des Bewusstseins und bleiben vergessen. Wir 
beklagen mit Recht grosse Gedächtnisschwäche. Ausnahmen haben wir nicht 
wahrnebmen können. So bleibt der gesamte Vorstellungskreis dürftig. Die 
veröffentlichten Analysen de3 Gedankenkreises normaler Kinder offenbaren schon 
oit eine Armseligkeit, welche uns mit Schrecken erfüllt, wenn wir der vielfach 
stoffstrotzenden Lebrpläne der Unterklassen gedenken. Wie mangelhaft ist es 
aber erst bei unsern Kindern bestellt! Kaum über die einfachsten Verhältnisse 
der Familie, des Hauses, Hofes und der Strasse giebt er Auskunft. Oft weiss 
man kaum die Frage zu stellen, um eine Antwort zu erhalten. Nur wenige 
Kinder, und dann sind es auch wieder die erethischen, welche einen einiger- 
massen weiten Vorstellungskreis besitzen. 

Nun denken Sie sich die Produkte dieses Vorstellungslebens! Ich will 
nicht die ganze Psychologie der Geistigschwachen entrollen, dazu fehlt die Zeit. 
Nur die für die späteren Ausführungen wichtigsten Punkte sollen besprochen 
werden. | 

Die primitive, ursprüngliche Aufmerksamkeit ist infolge der Depression 
des Empfindungslebens recht matt und was noch wichtiger ist, von äusserst ge- 
ringer Dauer. Die willkürliche Aufmerksamkeit ist noch viel mangelhafter, 
dazu unsteter und springender bei aufgeregten Kindern. Es fehlt eben der kon- 
zentrierenden Vorstellung an sich steigernder Kraft, die gleichzeitigen Vor- 
stellungen und äusseren Reize zu verdrängen, die latenten Vorstellungen aber zu 
weiterer Kraftentialtung heranzuziehen, weil es an einem festgefügten und dar- 
um leicht reproduzierbaren Vorstellungskreise gebricht. Dazu kommt, dass die 
die Aufmerksamkeit begleitenden Spannungszustände der Muskulatur nicht imstande 
sind, die inneren Reize zu unterdrücken. Da man nun die Aufmerksamkeit oft 
als die Vorbedingung der Intelligenz bezeichnet, ist es nicht zu verwundern, dass 
man sie gerade zum Massstab bei der Klassifizierung der idiotischen Kinder 
gemacht hat. 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Assoziation der Vorstellungen 
besonders bei erethischen Kindern leicht lösliche, matte und kraftlose Produkte 
sein müssen. Und in der That giebt es kaum ein Gebiet, auf welchem die 
Schwäche sich so offenkundig zeigt, als hier. Wir können zwar das Assoziieren 
der Vorstellungen, nicht tlıatsächlich verfolgen, nur von ihrer Reproduktion rück- 


8 


wärts schliessen. So erhalten wir die beklagte Thatsache. Sie erstreckt sich 
auf alle Verbindungen, nur die haften am besten, welche sich öfters wiederholten. 
Noch schwerer verknüpfen sich verschiedene Reihen zu festen Gebilden. Je 
inniger besonders das kausale Verhältnis ist, in dem die Glieder zu einander 
stehen, um so schwieriger geht ihre Verbindung vor sich. Aber noch ein 
Punkt verdient besonders unsere Beachtung. Die geistig schwachen Kinder 
gelangen nämlich nur mit grosser Mühe zu Bewegungsvorstellungen, wie sie die- 
selben auch nur mühsam den dazu gehörigen Bewegungsempfindungen assoziieren. 

Sie zeichnen sich darum vor den normalen Kindern aus durch verspäteten 
Eintritt des Laufens, dürftiges Nachahmungsvermögen und mangelhafte Hand- 
fertigkeit jeder Art. Am auffallendsten aber tritt uns die Schwäche in den 
kompliziertesten Assoziationen, wie sie Sprache und Schrift erfordern, entgegen. 
Diesen Störungen in ihrer Ursächlichkeit nachzugehen, ist ebenso schwierig wie 
interessant. Gehen wir noch einen Schritt weiter zur Bildung von Begriffen, 
Urteilen und Schlüssen, dem eigentlichen Denken, so erweitert sicb die Kluft 
zwischen normalen und geistigschwachen Kindern immer mehr. Die Bildung 
von Begriffen ist hier äusserst mühsam und unsicher, wie sich in der Armselig- 
keit ihres Sprachschatzes zeigt. Urteilen und Schliessen geschieht fast nur nach 
der Analogie. Kausalitätsbedürfnis, welches bei normalen Kindern ebenso reizend 
wie quälend sein kann, geht unsern Kindern zum grössten Teile ab oder ist 
mühsam zu wecken. Und wenn sich bei erethischen Kindern wirklich einmal 
ein auffallendes Fragen offenbart, so ist es öfters eben nur ein Fragen, das auch 
ohne genügende Antwort weiterflutet. Was gesagt oder gelesen wird, gilt ohne 
eigenes Urteil für richtig, wird angeeignet ohne Besinnen. So bildet sich ein 
Vorstellungskreis, der mangelhaft gesetzmässig gefurcht, oftmals auch verkehrt 
gegliedert ist, und macht sie leider oft zur Zielscheibe des Spottes und Witzes. 

Von der mangelhaften Reproduktion der Vorstellungen und Reihen ist 
schon die Rede gewesen. Nur stete Übung bringt hier befriedigende Resultate. 
Sie wird aber wesentlich erschwert durch die in physiologischen Verhältnissen 
mitbegründete körperliche und geistige Trägheit. 

Die Apperzeption ist bei der Schwäche der Vorstellungen, des Gedächt- 
nisses, der willkürlichen Aufmerksamkeit und der losen Verbindung der Vor- 
stellungen und Reihen nur schwer erreichbar und bei der Einführung neuer 
Unterrichtsstoffe, beim Verständnis fremder Handlungen und Dinge, besonders, 
wenn es sich wieder um kausale Verhältnisse handelt, äusserst fühlbar. 

Gehen wir über .zu dem Gefühlsleben unsrer Kinder. Dem Streite über 
Wesen und Entstehung der Gefühle will ich nicht nahetreten. Eins aber ist 
nicht zu leugnen, dass dieses Gebiet wenig entwickelt, mangelhaft ist. Die An- 
fänge desselben, welche in den Gefühlstönen der Empfindungen liegen, ent- 
sprechen noch einigermassen den gemeinhin an sie gestellten Anforderungen, 
doch zeigen sich hier und da Ausnahmen mit weitgehender Indifferenz. Wer 
freilich aprioristische Gefühlswerte annimmt, der wird bei diesen Kindern eine 
gute Entwicklung der höheren, intellektuellen Gefühle vermuten. Diese ent- 
wickeln sich aber stets parallel dem gesamten Vorstellungsleben. Das zu beob- 


| —— — 


achten, bieten unsere Kinder reichlich Gelegenheit. Nur die intelligentesten 
zeigen sich warmer Gefühlsäusserung fähig. Gewisse Gefühlsentartungen, wie 
Gefühlskälte, Roheit haben wir ıur in wenig Fällen zu vermerken und auch 
nur da, wo sich zu geistiger Verkümmerung häusliche Verwahrlosung gesellte. 
Am lebhaftesten bilden sich noch Gefühle, welche sich eng mit dem „Ich“ ver- 
knüpfen. Sie erfahren durch die verkehrte Behandlung der Kinder oft eine 
intensive Verstärkung. Es mögen bier Eitelkeit, Unsicherheit, Angst, Gefühl 
der Unselbständigkeit, Anhänglichkeit und wenn man es so nennen will, auch 
Dankbarkeit genannt sein. | 

Mehr physiologischem Gebiet zugehörig, finden wir oft Ausgelassenheit, Un- 
bändigkeit, Ärger, Zorn, Wut — aber auch Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit 
und übertriebene Furchtsanikeit. Es darf aber nicht verkannt werden, dass diese 
Affekte durch die sich meist gehenlassende Familien- oder verkehrte Schul- 
erziehung bis zu Krankheitserscheinungen verstärkt werden können. 

Im Gebiete der Handlungen treten alle die hervor, welche durch Triebe 
hervorgerufen oder beeinflusst werden. Bei den phlegmatischen Naturen über- 
wiegt der Nahrungs-, bei den erethischen der Bewegungstrieb. Letzterer artet 
bei vernachlässigter oder verkehrter Erziehung in Wildheit und Verwilderung 
aus und führt oft einen geistigen Standpunkt herbei, welcher jede Erziehungs- 
möglichkeit auszuschliessen scheint. In vielen Fällen verleitete der Bewegungs- 
trieb in Verbindung mit der springenden Aufmerksamkeit und dem mangel- 
haften höheren Gefüllsleben zum Vagabondieren oder ziellosem Umherschweiten. 

Das Wollen unsrer Kinder ist meist ein Sollen und erhebt sich wohl nur in 
wenig Fällen zum freien, energischen und charaktervollen Handeln, zum Handeln 
nach Grundsätzen. Die Entwicklung des „Ich“ erreicht nicht die Höhe wie 
beim normalen Menschen. Charakter im eigentlichen Sinne erwirbt das schwach- 
sinnige Kind nicht. Seine Entschlüsse. entweder beeinflusst vom guten oder 
schlechten Beispiel seiner Mitmenschen oder von dem eignen starken egoistischen 
Vorstelluugskomplex, sind kaum frei zu nennen. Und doch können wir nur 
wenigen Kindern die Verantwortlichkeit für einfache Handlungen abnehmen. 
Komplizierte Handlungen zu beurteilen, sind sie nur in Ausnahmefällen fähig. 
Sie werden darum auch nur iu ganz vereinzelten Fällen volle Selbständigkeit 
im Leben erlangen. Wohl ihnen, wenn sie nicht durch die Verhältnisse dazu ge- 
drängt werden. Die Vielgestaltigkeit des jetzigen sozialen Lebens bietet ihrer 
schwachen Intelligenz übergrosse Klippen. Es liegt die Gefahr eines Konfliktes 
mit dem Gesetze recht nahe. Man hat ja auch nicht mit Unrecht von einem 
nahen Verbältnis zwischen geistiger Schwäche und Verbrechen geschrieben. Be- 
ruhigend ist dagegen die Thatsache, dass geistig Schwache die Bahn des Schlechten 
ebenso leicht verlassen und dem Guten sich zuwenden wie umgekehrt. Ts 
kommt eben auf die Gesellschaft au. Die künftige Berufswahl hat auch das 
zu berücksichtigen. Ihr Glück findet einen sichern Boden in der Führung eines 
Stärkeren, im Schutze der Abhängigkeit. Schluss in nächster Nr. 


+0 


~- X. Konferenz für das Idiotenwesen 
~ und Schulen für schwachsinnige Kinder. 
u | (Fortsetzung.) 

Debatte. Kreisschulinspektor Weichert: Für These I bin ich, wenn Punkt 4 
abgeändert wird in: zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Bei These II kann 
ich mich nicht damit einverstanden erklären, dass für viele Jahre ein bestimmter Plan 
festgesetzt werde und dass die Zöglinge stets beaufsichtigt und jederzeit zur Arbeit 
angeleitet und angetrieben werden sollen. Die Erziehung ist doch auch darauf zu 
richten, dass bei den Zöglingen eine gewisse Selbständigkeit erzielt werde. Wenn aber 
ein Mensch von früh bis abends bemustert wird, erreicht er eine Selbständigkeit nie- 
mals. Ich bin auch der Ansicht nicht, dass man unsern Zöglingen die Spielerei voll 
und ganz nimmt. Gerade diese aus eigenem Antriebe hervorgegangene Arbeit halte 
ich für viel wesentlicher als wie die angelernte.e Das was die Zöglinge selbständig 
treiben können, verursacht ihnen die allergrösste Freude. In Leschnitz haben die 
Zöglingo Beete bekommen, auf welche sie pflanzen können, was sie wollen. Ich kann 
Ihnen nur verraten, dass die Zöglinge früh zuerst zu ihren Beeten gehen, und dass 
jede freie Zeit sie zu denselben führt: Ich meine also, da unsere Anstalten nicht 
bloss Bewahranstalten sein wollen, sondern Anstalten, welche die Zöglinge dem öffent- 
lichen Leben zuführen sollen, so muss man ihnen auch in der Arbeit eino gewisse 
Freiheit lassen, um sie zur Selbständigkeit zu erziehen. Zu These III: Ich glaube, 
der Referent hat sich selbst ergänzt, indem er erst von einseitiger Beschäftigung 
sprach und dann Abwechslung in der Beschäftigung wünschte Die Art und Weise 
der Beschäftigung muss sich lediglich nach dem Bedürfnis richten. In Industrie- 
bezirken wird sie eine andere sein „als in landwirtschaftlichen Gegenden. Die land- 
wirtschaftlichen Arbeiten halte ich für die gesündeste, beste und leicht verwendbarste. 
Ferner glaube ich, dass die meisten meiner Kollegen nicht der Ansicht des Referenten 
sind, wenn er sagte: Wir dürfen keine Bürstenbinderei treiben, dagegen Schlosserei, 
Tischlerei etc. Ein Tischler braucht eine viel grössere Fertigkeit als der Bürstenbinder. 
Das bisschen Material, das die Zöglinge wirklich dabei verschwenden, bringen wir 
durch die Arbeit der Anstalt wieder ein. Ich kann diese Arbeiten nur: empfehlen. 
Zu These III und IV: Wir müssen ein gutes Pflegepersonal haben, und alle werden 
glücklich sein, wenn ein geeignetes gefunden ist, das mit zu arbeiten versteht. Unsere 
Zöglinge sind eigentlich recht faul angelegt, von allein machen sie nicht viel. Sobald 
sie aber sehen, dass jemand mitarbeitet, dann machen auch sie gern und freudig mit. 
Besonders wenn der Leiter selbst mit anregend arbeitet, so fördert dies ausser- 
ordentlich. 

Direktor Barthold: Ohne ruhmsüchtig zu sein, kann ich sagen, dass ich den 
ersten Gedanken zur Einführung verschiedener Beschäftigungen in unseren Anstalten 
angeregt habe. Der Mitbegründer der Kückenmühler Anstalten Gustav Jahn: sprach 
‘damals (1. Konferenz) aus, dass jede Idiotenanstalt ein Stück Land haben müsse, um 
die Zöglinge zu beschäftigen. So allgemein darf man diesen Satz nicht aussprechen 
Nicht alle, nicht einmal der grösste Teil der Zöglinge kann bei der Landwirtschaft 


verwondet werden. Die eigentlichen landwirtschaftlichen Arbeiten, die Baumzucht, die 
spezifisch gärtnerischen Arbeiten können die Zöglinge nicht verrichten. Ich war dafür, dass 
landwirtschaftliche und industrielle Arbeiten eingeführt werden müssten, einmal weil in 
der Landwirtschaft die Zöglinge nicht das ganze Jahr hindurch Beschäftigung finden, 
und weil wir unsere Zöglinge nicht einseitig, sondern möglichst vielseitig ausbilden 
wollen. Darum muss jedes Kind alle Arbeitszweige durchmachen, beim Leichten an- 
fangend und allmählich zu dem Schweren übergehend. Wir baben bisher gute Er- 
fahrungen damit gemacht. — Ich möchte noch auf den Anfang der Ausführungen 
des Referenten zurückkommen. So gering in ihrer geistigen Bethätigung, wie Redner 
schilderte, stehen die Asylisten nicht. Ich kann bezeugen, dass unsere Asylisten sehr 
gern lesen, unsere Bibliothek rege benutzen. Auch brauchen wir sie nicht zum 
Briefschreiben anzutreiben, sondern wir müssen sio eher zurückhalten. Die ganze 
Beschäftigung bei ihnen betreibe ich von dem Gesichtspunkte, sie auf ihrem geistigen 
Standpunkto zu erhalten, sie vor sittlichen Verirrungen zu bewahren. — Die Be- 
schäftigung denke ich mir nicht so, dass die Zöglinge immer unter unmittelbarer 
Aufsicht stehen. Namentlich wenn sie in der Gärtnerei oder Landwirtschaft arbeiten, 
müssen sie stundenlanz allein arbeiten. Wenn auch der Gärtner im Garten sich be- 
findet, so muss der einzelne seine Arbeit ohne Aufsicht machen können, sie müssen 
zu einer gewissen Solbständigkeit webracht werden. — Wir brauchen bei unsern 
Arbeiten keine Rücksicht auf irgendwelche Konkurrenz zu nehmen. Wir arbeiten aus 
pädagogischen und finanziellen Gründen. Ich empfehle für jede Anstalt das Stuhl- 
flechten. Ich habe die Erfabrung gemacht, dass Zöglinge, die man zu keiner anderen 
Arbeit hat bringen könuen, das Stuhlflechten doch erlernt haben. Ferner empfehle 
ich die Bürstenbinderei, das Korbflechten, die Schreinerei, dann Gartenarbeit und 
möglichst ausgedehnte Ökonomie. Jo mannigfaltiger die Gelegenheit da ist, die Zög- 
linge zu beschäftigen, desto vorteilhafter ist es für die Anstalt. Immer habe ich 
betont, dass die Beschäftigung ebenso wichtig ist wie der Unterricht. Wenn beides 
geiingt, desto besser ist es. 

Pastor Bernhard: Ich freue mich, dass meino Ausführungen ergänzt worden 
sind. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss ich erwähnen: Wir haben eine 
Menge Beschäftigungen, aber ich will nicht, dass jeder Zögling in jedem Zweige be- 
schäftigt wird, sondern man muss in dem einzelnen Zöglinge die Gaben ausbilden, zu 
welchen er Neigung hat. Es kommt doch darauf an, die Zöglinge erwerbsfäbig zu 
machen. Bei einseitiger Beschäftigung werden sie leistungsfähiger und selbständiger. 
| Kreisschnlinspektor Weichert: Um zu einem Ziele zu kommen, schlage. ich vor, 
die Leitsätze abzuändern. Es sollen lauten: 

Leitsatz I. 4. zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit. 

Leitsatz II. 2. bei den aus der Schule entlassenen Zöglingen während der 

ganzen zur Verfügung stehenden Zeit, soweit nicht der körper- 
liche Zustand eine Beschränkung erfordert; 

3. bei den wegen mangelnder Begabung vorzeitig aus der Schule Ent- 

lassenen versuchsweise, aber mit geduldigem Ernst und Ausdauer. 

' Die abgeänderten Leitsätze werden angenommen. 


12 


Nebenversammlung für die Vertreter der Hilfsschulen. 
(Im Gewerbegerichtssaal.) 

Vorsitzender Direktor Richter: Indem ich die erste Nebenversammlung 
der Vertreter der Hilfsschulen auf der X. Konferenz für das Idiotenwesen und 
die Schulen für schwachsinnige Kinder eröffne, begrüsse ich Sie herzlich und 
spreche Ihnen meine Freude und meinen Dank dafür aus, dass Sie so zahlreich 
erschienen sind, um an unsern Verhandlungen teilzunehmen, wenn auch viele 
nur als Hörer. Die Sache der Hilfsschulen ist nicht weniger wichtig, als die- 
jenige der Anstalten für Idioten, mit denen uns die gleichen Ziele zu gemein- 
samer Arbeit verbinden. 

Ja, sie sind von ganz besonderer Bedeutung, als es sich bei den Hilfsschulen 
um grössere Städte und zahlreiche Orte handelt, die eine grössere Zahl schwach- 
sinniger Kinder besitzen, ja eine so grosse Zahl, dass sie in den vorhandenen 
Anstalten gar nicht aufgenommen werden könnten. Um auch diesen Ärmsten 
gerecht zu werden und ihnen eine ihren geistigen Kräften angemessene, allge- 
mein menschliche Bildung zukommen zu lassen und für später ein menschen- 
würdiges Dasein möglich zu machen, hat man in den verschiedensten Städten 
mehr und mehr Schulen für schwachsinnige Kinder errichtet, und ihre Zahl 
wächst von Jahr zu Jahr. Es ist das ein Beweis dafür, wie notwendig man 
solche Einrichtungen aus allgemein menschlichen und bürgerlich praktischen 
Rücksichten hält; und so liegt in ihrem Dasein zugleich der Beweis ilırer Be- 
rechtigung. 

Aber die Daseinsberechtigung legt den Hilfsschulen auch die Pflicht auf, 
durch ihre Einrichtungen den Bedürfnissen möglichst zu genügen, die sie hervor- 
gerufen haben, um aus dem anfänglichen Versuchen und Experimentieren zu 
einer festen Gestalt zu gelangen, die sowohl vor der Wissenschaft besteht, als 
auch den Anforderungen des Lebens entspricht. Je nach den örtlichen Ver- 
hältnissen und nach dem Verständnisse und der Opferwilligkeit, die die Gemeinden 
der Sache entgegenbringen, wird es oft längere Zeit brauchen, ehe sie alle Wünsche 
befriedigen und allen Anforderungen genügen kann. 

Aber auf die Ausgestaltung, den inneren Ausbau der Hilfsschulen muss 
unser Hauptaugenmerk und unsere Hauptsorge gerichtet sein, sei es auch nur, 
um ein ideales Ziel zu gewinnen, dem wir entgegenzustreben haben. 

Was in dieser Beziehung noch zu wünschen ist und zu thun übrig bleibt, 
das soll uns in dieser Stunde beschäftigen; und ich gestatte mir daher, Herrn 
Schulrat Dr. Boodstein zu bitten, das Wort zu dem uns freundlichst zugesagten 
Vortrage zu nehmen: 


Fromme Wünsche für den weiteren Ausbau 
der Hilfsschule. 


Hochverehrte Anwesende! 
Ich muss zunächst an Ihre Nachsicht appellieren, wenn ich hier das Wort 
ergreife. Es hängt das damit zusammen, dass ich als Wirt der Versammlung 
ein recht reichliches Mass von Geschäften zu besorgen hatte, und, da ich mich 


13 
auch zu den Schwachbegabten rechnen muss, weil ich mit meiner Arbeit nicht 
ganz fertig geworden bin, seien Sie so gut, und nehmen Sie vorlieb mit dem, 
was ich Ihnen auftischen werde und was ich leider nicht alles zu Papier bringen 
konnte. Wenn ich daher manches Weitere nur in möglichster Kürze vor- 
bringen werde, so gehen Sie nicht zu scharf mit mir ins Gericht. Für spätere 
Drucklegung des Vortrags werde ich vielleicht das Gesagte ergänzen und aus- 
führlicher begründen. 

Wie ich dazu kam, mich zu dem Vortrage zu melden, hat folgende Be- 
wandnis. (Gegen Anfang des Jahres schrieb der Herr Vorsitzende der vorigen 
Konferenz an mich: es wäre doch notwendig, dass möglichst rasch die Tages- 
ordnung festgestellt würde, damit er dann dieselbe rechtzeitig veröffentlichen 
und zu der Versammlung einladen könne. Ich teilte ihm nun mit, was ich ihm 
von hier aus damals schon sagen konnte; aber 3/, Jahre im Voraus alles etwa 
Vorzuführende zu bestimmen, sei allerdings in unserer schnelllebenden und stetem 
Wechsel der Erscheinungen unterworfenen Zeit ein bisschen viel verlangt. So 
war ich leider auch nicht in der Lage, über Wetter und dergl. Auskunft zu geben. 
Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich es besser einzurichten versucht. Kurz 
und gut, die Sache ging so vor sich, dass wir hin- und her korrespondierten, bis 
mir im März Mitteilung gemacht wurde, dass noch gar keine Anmeldungen für 
Themata über die Hilfsschulen vorlägen; und angesichts dessen fasste ich mir 
ein Herz, ein Thema zu übernehmen. Es weiss ja ein jeder, der innerhalb der 
Frage steht, wo ihn der Schuh drückt. Da kündigte ich denn an, ich würde 
über einige fromme Wünsche für den Ausbau der Hilfsschulen sprechen und ich 
habe die Sache natürlich auch im Kopfe herumgetragen; aber da die Sorge für 
unsere Hilfsschule nicht mein einziges Geschäft ist, sondern meinerseits noch einiges 
andere nebenher zu thun ist, wurde die Sache immer hinausgeschoben. Zuletzt 
drang auch mit Rücksicht auf die Konferenz eine solche Masse von Geschäften 
auf mich ein, dass ich, wie gesagt, nicht alles Empfundene niederschreiben 
konnte. Ich werde deshalb hernach, wenn ich mit meinem ausgearbeiteten 
"Konzept fertig bin, noch einige weitere Gedanken vortragen, und dann üben Sie, 
so bitte ich, ein gnädiges Gericht. 

Dass „fromme Wünsche“ solche sind, die, wenn auch vielleicht ganz gut 
und heilsam, sich nicht ganz leicht verwirklichen lassen, ist ziemlich bekannt. 
Ob es sich aber verlohne, ibre Verwirklichung anzustreben, ist Sache der Er- 
wägung und des Versuchs. Meist werden solche Wünsche und Forderungen 
deshalb auch von Theoretikern ausgesprochen; die Praxis aber wird zu ent- 
scheiden haben, ob auch hier das Wort gelte: „Leicht beieinander wohnen die 
Gedanken; doch hart im Raume stossen sich die Sachen“. Fassen Sie mich des- 
halb, meine Damen und Herren, der ich thatsächlich nicht fortlaufend inner- 
halb der Praxis der Hilfsschule stehen kann, immerhin getrost als Theoretiker 
auf; erwägen Sie aber gleichzeitig, ob nicht einzelnen der Gedanken ein brauch- 
barer Kern innewohne, dem zur Entwickelung geholfen werden könne. Glückt 
der Versuch nicht oder nicht so, wie er gedacht ist: nun dann mag er wieder 
aufgegeben oder anders angefangen werden. Bei einer so jungen Schulgattung, 


BE 


wie unsere Hilfsschule ist, fällt die Eiche gewiss nicht auf den ersten Streich — 
und gerade bei ihr gilt auch —. dass kein Meister — also auch kem Schul- 
meister — vom Himmel falle. | 

Die frommen Wünsche sollen sich nach meinem Thema auf den weiteren 
Ausbau der Schule beziehen Das Wort Ausbau ist aber, was ausdrücklich 
zu bemerken ist, nicht vorwiegend im Siune einer Erweiterung nach aussen 
hin gemeint. \Was darüber erwogen werden muss, dass die Ergebnisse der 
Hilfsschulerziehung und des Unterrichts auch über die Schulzeit hinaus erhalten, 
gesichert, vermehrt werden, das soll ja auch nicht unbesprochen bleiben; fürs 
erste aber mag die Betrachtung der Ausgestaltung des Unterrichts in der 
Schule und ihrer Erziehung für das Leben gelten. 

Ohne mich hierbei auf eine besondere Bestimmung der Begriffe „Unter- 
richt“ und „Erziehung“ einzulassen, da dieselben ja im wesentlichen feststehen 
dürften; ohne weiter auf die anthropologischen, psychologischen und ethischen 
Grundlagen für beide Begriffe genauer einzugehen, da ja auch für unsere Kinder 
gilt, was für alle anderen gilt, nämlich. dass aus wenigen, zunächst nur sinn- 
lichen Grundvermögen durch die Spuren äusserer Eindrücke sich nach und 
nach gewisse Vorstellungen, Empfindungen, Strebungen herausbilden lassen ; da 
endlich das Geschäft der Erziehung und des Unterrichts darin besteht, dass 
durch planmässige Einwirkung versucht wird, diese sinnlichen Grund- 
vermögen zu geistigen Anlagen und Vermögen zu entwickeln und so das 
Denken, Thun und Wollen zu beeinflussen; so werde ich mich lediglich darauf 
beschränken, a) die auch für Minderbefähigte geeigneten Darbietungsstöffe und 
Formen einer kurzen Betrachtung zu unterziehen, b) weiter gewisse Einrichtungen 
zu besprechen, welche es ermöglichen, dass auch Minderbefähigte nach und nach 
in den Stand kommen, eine gewisse Arbeit im Dienste der Gemeinschaft zu 
leisten, c) endlich ihrem Denken, Handeln, Wollen eine solche Richtung zu 
geben, dass sie innerhalb des Kreises, in den sie durch die Schicksalsmächte 
des Lebens gestellt werden, ihren Platz nach Massgabe ihres Könnens auszu- 
füllen sich bemühen. 

Da aber weder die sorgsamst ausgewählten Stoffe und Darbietungsformen, 
noch die trefflichsten und zweckdienlichsten Einrichtungen an sich, noch endlich 
das ausgiebigste Üben und Gewöhnen, zumal bei einer immerhin nur be- 
schränkten Schulzeit eine Gewähr dafür bieten können, dass die erwünschte 
Wirkung eine ausreichend gefestigte und dauernde sein werde, um allen ent- 
gegenstehenden Einflüssen widerstehen zu können, so muss weiter erwogen 
werden, in welcher Weise auch über die Schulzeit hinaus ein Zusammenhang 
der bisherigen Zöglinge mit ihrer bisherigen Nährmutter gewahrt bleiben könne, 
damit der Zweck unserer Schulen sich erfülle, dass auch aus unseren minder- 
begabten Schülern und Schülerinnen vor allen Dingen treue, arbeits- 
und dienstwillige, gesittete und fromme Menschen sich nach und nach heraus- 
bilden, die doch wenigstens dazu beitragen können und wollen, für das be- 
scheidene Stückchen Brot, dessen sie für sich bedürfen, eine eigene Leistung dar- 
zubieten, und dass im weiteren in ilınen das bescheiden. Selbstgefühl geweckt, 


15 


gestärkt und erhalten werde, dass sie doch nicht ganz unnütze Glieder der 
menschlichen Gesellschaft seien. 

Dass mit diesen frommen Wünschen selbstredend sich auch die Forde- 
rungen an diejenigen steigern, welche sich in den Dienst der Sache stellen 
wollen oder gestellt baben, ist erklärlich: jeder neue Schritt auf der betretenen 
müherollen Bahn macht neue Anstrengungen nötig, setzt aber auch immer 
wieder höhere Grade im Besitze gewisser Eigenschaften voraus, ohne welche, 
selbst wenn man mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte alle 
Erkenntnis und wüsste alle Geheimnisse, in der Bildung unsrer Zöglinge doch 
nicht das Wesentliche und Wahrhaft-Nötige gewirkt werden könnte. Und des- 
halb möchte ich zum Schlusse noch einige Worte darüber sagen, wie die Lehr- 
kräfte in unseren Schulen beschaffen sein müssten. 

So wird sich denn mein Vortrag in etwa 5 Kapiteln bewegen, deren ein- 
zelne Abschnitte nicht immer ganz zusammenhängen, da die mir gestattete 
halbe Stunde den Aufbau eines vollständigen Systems ausschliesst. Aber — 
wie ich hoffe — wird sich doch ein innerer Zusammenhang zwischen den Ab- 
schnitten und wenigstens die ernste Absicht, in den Seelen der uns anvertrauten 
Zöglinge lebendige Kräfte zu wecken, erkennen lassen. — 

Beginnen wir zunächst mit derjenigen Arbeit, die unserer Schulgattung die 
allgemeine Bezeichnung „Sohule‘‘ zueignet, dem Unterrichten, einer Arbeit, 
welcher von vielen Seiten eine weit höhere Bedeutung zuerkannt wird, als dem 
Erziehen. Denn wenn auch schon seit Comenius nur derjenige Unterricht 
wirklich gewertet wird, der zugleich erzieht (eine Schule ohne Erziehung ist 
eine Mühle ohne Wasser), so wird doch auch von treuen Lehrern, wie fast immer 
von den Eltern, der unterrichtlichen Thätigkeit der Schule die Hauptbedeutung 
zuerkannt, da an der Erziehung ja doch auch eine Reihe von anderen Faktoren 
mitwirken, während das eigentliche Lehren und Lernen der Schule vorbehalten 
sei. Ist nun eine solche Auffassung, selbst wenn man dem Rechte der Eltern 
und der anderen Erziehungsfaktoren durchaus nicht zunahe treten, wenigstens 
durchaus nichts ihnen wirklich Zustehendes abbrechen will, unter allen Um- 
ständen und für alle Schulgattungen, die als Erziehungsschulen gelten wollen, 
zu bedauern, so ganz besonders für die Schulen unsrer Art, da gerade bei den 
minderbegabten und schwachsinnigen Kindern der rein unterrichtliche Ein- 
fluss auf so grosse Schwierigkeiten stösst, dass sie ohne anderweitige Beihilfe 
fast unüberwindlich erscheinen. Weshalb haben denn Idiotenanstalten und An- 
stalten für Schwachsinnige von jeher einen so grossen Wert darauf gelegt, dass 
ihre Zöglinge aus aller sonstigen Verbindung, selbst aus derjenigen mit dem 
Elternhause, losgelöst werden, als weil sie sich gesagt haben, dass ihre ganze 
unterrichtliche und erziehliche Arbeit in Frage gestellt werde, wenn die Zög- 
linge neben demjenigen der Anstalt auch noch anderen Einflüssen ausgesetzt 
würden? Weshalb lehnen denn auch Schulen für normalbegabte Kinder die 
Verantwortung für Fehlergebnisse ihrer eigenen Thätigkeit ab, sobaid sie fest- 
stellen können, dass Massnahmen und Einflüsse nicht gewünschter Art ihren 
unterrichtlichen und erziehlichen Erfolgen entgegenarbeiten? Weshalb befür- 


16 
worten sie nötigenfalls die Unterbringung solcher Zöglinge in anderen Erziehungs- 
gelegenheiten als Alumnaten etc? Das geschieht doch nur deshalb, weil 
beiden Arten von Anstalten der unterrichtliche und erziehliche Einfluss ganz 
untrennbar erscheint; weil beide sich sagen, dass kein Mangel sich schwerer 
räche, als der Mangel an Erziehung. Während aber bei Normalbegabten doch 
noch die Möglichkeit vorliegt, dass sie schliesslich, sei es durch fremde Be- 
lehrung, sei es durch eigenen Schaden gewitzigt, einlenken und auf bessere 
Bahnen geraten; ist eine günstigere Gestaltung ihres Lebensweges aus eigener 
Kraft bei Schwachsinnigen fast ausgeschlossen, weil sie, selbst unter dem Drucke 
empfindlichster Folgen, der Einsicht entbehren, um bessere Wege selbst 
zu finden. | 

Deshalb erscheint bei keiner Art von Schulen die erziehliche Gestaltung 
des Unterrichts notwendiger zu sein als bei unseren Schulen. Wie ist aber 
solches zu machen? Wie ist es besonders mit Bezug auf die einzelnen Unter- 
richtsfächer zu machen? 

Herr C. Ziegler-Idstein hat in zwei Aufsätzen, die in der Zeitschrift für 
die Behandlung Schwachsinniger abgedruckt sind, schon Antworten gegeben, die 
meiner Auffassung entgegenkommen, ja sich fast mit derselben decken, wenn 
ich auch vielleicht in der Begründung etwas von ihnen abweiche. Der eine 
Aufsatz (1898) ist betitel: „Die Kinder können zu viel“, der andere, (1900 
veröffentlicht) enthält: „Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des Unter- 
richts bei schwachsinnigen Kindern“. Beide enthalten Wahrnehmungen und 
Eindrücke, die auch mir wiederholt zu teil geworden sind, und ziehen Folge- 
rungen, zu denen auch ich selbst gelangt bin, die aber, weil etwas zu sehr 
spezialisiert und im wesentlichen selbstverständlich, hier nicht wiederholt werden 
sollen, wenn ich sie auch solchen, die sich erst mit den Schwierigkeiten der 
ganzen Behandlung unserer Schüler bekannt machen wollen, zur nachdenklichen 
Durchsicht gern empfehle. Für mich erscheint der Inhalt der beiden Aufsätze 
zusammengefasst in die beiden Wünsche: 

l. Es möge der Unterricht nach Stoff und Form so weit vereinfacht 
und dem Individuum so gut angepasst werden, wie nur irgend möglich, und 

2. man möge die Lernstoffe sofort in Bildungsstoffe umzuwandeln streben, 
d. h. man möge darauf ausgehen, das, was äusserlich d. h. durch Vermittelung 
der Sinne angeeignet ist, zum inneren Besitz zu machen, so dass es das Denken 
und Reden, das Fühlen und Streben, und endlich auch das Thun und Lassen 
zu bestimmen vermag. 

Angewendet auf die einzelnen Seiten der unterrichtlichen Thätigkeit denke 
ich mir letztere etwa folgendermassen gestaltet: Den Ausgangspunkt für jede 
Darbietung soll etwas sinnlich Wahrgenommenes oder Erlebtes bilden. Das- 
selbe hat vor dem gedächtnismässig Erlernten den grossen Vorzug, dass 
es eben erlebt, und nicht lehrhaft an den Schüler herangetreten ist; der 
Schüler geniesst so mit seinen Sinnen etwas und lernt es:kennen, ohne dass 
er sich des Lernens, welches bisher für ihn eine Beschwernis war, bewusst 
wird. Etwas Wirkliches tritt also an ihn heran; er lernt sehen oder die 


17 





anderen Sinne gebrauchen; mit dem Gesehenen arbeitet er dann weiter, indem 
er veranlasst wird, genauer zu sehen, hier und da Gleiches oder Ähnliches 
(nach Stoff und Form und Farbe) zu finden und zu verbinden und zu be- 
schreiben — kurz und gut: selbst zu sehen, selbst zu denken, selbst zu 
sprechen. Jedes Ding in der Schulstube, im Elternhaus, auf der Strasse, im 
Garten, in Wald und Feld; der Tisch und Stuhl, der Baum und der Pflaster- 
stein, der Draht, der über das Dach gespannt ist, das Zifferblatt an der Turm- 
uhr und noch alles mögliches andere kann, ohne dass der Schüler des Lehrers 
Absicht merkt, besehen, besprochen, beschrieben oder sonst nutzbar gemacht 
werden — lediglich zu dem Zweck, dass der Schüler wirklich seine Sinne ge- 
brauchen lerne. Damit ist dann der Grund gelegt für die Bildung von Vor- 
stellungen, auf denen sich nach und nach andere aufbauen, die wiederum ver- 
arbeitet werden, um unmerklich den Anschauungskreis zu beleben und zu er- 
weitern. — Wie mit den Sinnen wird auch hinsichtlich des Gebrauches der 
Glieder verfahren. Daran schliessen sich im Freien Übungen und Spiele, in 
denen bewusster und willkürlicher Gebrauch der Glieder stattfindet, bis 
nach und nach — wie man sich militärisch ausdrückt, das Kind gliedfrei 
wird. Nach und nach kann so zu Schwererem übergegangen werden, und 80 
kann das geschehen, was auch Herr Horrix-Düsseldorf in derselben Nummer 
der Zeitschrift, aus der ich den Ziegler’schen Aufsatz erwähnte, beschreibt: 
„Wie vermittelt die Hilfsschule die Fertigkeit, von der Uhr die Zeit abzulesen ?“ 

Also nicht die Zumutung, etwas vom Lehrer Gesagtes auf Treu und Glauben 
hinzunehmen; nicht die Forderung, etwas Nichtgesehenes und Nichterlebtes 
wiederzugeben; sondern nur die Anregung, die Sinne, die Glieder etc. zu ge- 
brauchen, und nach erlangtem Bewusstsein von ihrer Fähigkeit die sich stets 
erneuernde Anregung, das eine wie das andere zu weiteren Übungen, Ent- 
deckungen und Wahrnehmungen zu verwenden und so die oft ausserordentlich 
grosse Armut an Anschauungen zu beseitigen, ınöchte ich als etwas besonders 
Notwendiges betonen In dieser Hinsicht wird auch oft noch in den Hilfs- 
schulen gefehlt; oft stehen dieselben unter dem Banne der Gewohnheit aus 
den anderen Schulen, die — wie ich an einer anderen Stelle einmal sagte — 
in ihrem Grossbetriebe zwar der Allgemeinheit dienen, aber das individuelle 
Bedürfnis des schwächeren Geistes gar nicht berücksichtigen können, und so 
Kinder ohne Nahrung lassen, die der Nahrung, und zwar einer leicht ver- 
daulichen Nahrung, ganz besonders bedürfen. Daher nach und nach das 
fast völlige Versagen der Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit, bis schliess- 
lich — wegen dıs vollständigen Stillstandes — die Schule sogar jeden Versuch 
aufgiebt, das hoffnungslose Arbeiten am Kinde fortzusetzen. Und das ist ge- 
rade das Bedenklichste, was unseren Schwachbegabten begegnen kann, sie links 
liegen zu lassen; deshalb fordere ich, dass an jedem einzelnen Kinde gethan 
wird, was nur irgend möglich ist, um seine Empfänglichkeit für Sinneneindrücke 
und dergleichen zu wecken und diese Empfänglichkeit zu beleben und zu nähren 
durch Anregung zu eigener Thätigkeit, weil nur auf so gepflegter Anlage sich 
dann weiter bauen lässt, und weil nur dann sich erkennen lässt, ob und wo 


18 


irgend ein Talent sich verborgen halte, welches sich zum Besten des Besitzers 
weiter entwickeln liesse. 

So scheint mir also notwendig zu sein, dass die Hilfsschule breche mit 
gewissen didaktischen Überlieferungen der stark gefüllten Klassen der 
Volks- oder anderen Schulen für Normalbegabte; dass sie sich jedenfalls nicht 
genügen lasse an dem unverstandenen Nachsprechen oder Nachmachen von 
mehr oder weniger mechanisch Eingeprägtem, vielmehr unentwegt Selbst- 
thätigkeit fördere — nicht bis zur Übermüdung, nicht in irgendwelchem Über- 
mass, aber immer in einer Weise, welche die Lust an der Leistung und zur 
Leistung hervorrufe. Dass das nicht leicht sei, gebe ich gern und überzeugt 
zu; aber ohne Überwindung der bezüglichen Schwierigkeiten lässt sich nicht 
erzielen, was doch zu erstreben ist: das Gewöhnen an eine gewisse Thätigkeit 
und die Freude an solcher. Und die Möglichkeit dazu bietet eben die Eigen- 
artigkeit der Hilfsklassen, das Vorhandensein einer ganzen Anzahl von Gruppen 
und Abteilungen, welches zwingt zur häufigen Wiederkehr der Selbstbeschäfti- 
gung der Kinder, nachdem ihnen die erste Anleitung zu einer solchen jedesmal 
in ganz kleinen Dosen gegeben worden ist. Wie ich eine sehr hohe Meinung 
habe von der Verdienstlichkeit eines besonders tüchtigen Lehrers in einer ein- 
klassigen Schule, so verkenne ich gewiss die Schwierigkeit des Unterrichts in 
einer vielgliedrigen Hilfsklasse keineswegs, bin aber der Überzeugung, dass 
derselbe sehr nutzbringend werden kann, wenn die Gruppierung der Kinder 
eine solche war, dass — freilich unter unablässiger Kontrolle des Lehrers — 
die Verarbeitung und Verdauung der kleinen Portionen unablässig wechselt und 
so dem Müssiggang des Verstandes keinerlei Iaum gelassen wird. Ein reger 
Wechsel der verschiedenen Thätigkeiten verhindert — hier und da unterbrochen 
durch ein gleichfalls den Geist beschäftigendes Spiel -— das Schläfrigwerden 
und Erschlaffen der Kinder. Dass der Lehrer dabei freilich nicht recht zum 
Atınen kommt, sondern immer auf dem Posten sein muss, ist nicht zu ver- 
meiden: die Stellen unsrer Lehrer können aber auch keine 
Sinekuren sein. 

Verlangt aber dieses unablässige „in geistiger Bewegung halten“ der 
Kinder nicht zu viel von diesen? Ich glaube nicht, denn das Gegengewicht 
bildet der Wunsch nach möglichster Vereinfachung des Stoffes und der Form 
der Darbietung. Von den kleinen Dosen und Portionen im einzelnen ist schon 
oben gesprochen; ein gleiches ist geschehen betreffs des notwendigen Ausgangs- 
punktes, den stets sinnlich Wahrgenommenes und Erlebtes bilden sollen. Wird 
dieses beides festgehalten; geht man überall von Wirklichem, das man dea 
Zöglingen nahe bringt, aus, so vereinfacht sich das zu Erfassende (da ja die 
Betrachtung der Merkmale sich sehr beschränken lässt und durchaus nicht ge- 
raten ist, sofort den ganzen Tisch, den ganzen Baum u. s. w. der Betrachtung 
zu unterziehen) ganz erheblich, und es kommt nur darauf an, dass man durch 
Beschäftigung mehrerer Sinnesorgane, durch Gegenüberstellung und Ver- 
gleichung verwandter Stoffe den Anteil der Kinder, ihr Interesse an dem 
Dinge so lebendig macht, wie nur irgend möglich — und es wird so eine 


19 


Grundlage geschaffen, die nach und nach unverlierbar und doch wieder viel- 
seitig verwendbar wird. Ob man beim Tisch erst vom Stoffe ausgeht, aus dem 
er gemacht ist, oder von der Form, von den verschiedenen Teilen, der Farbe, 
dem Gebrauch, — das wird von den Verhältnissen im einzelnen abhängen; 
kann man an das Entstehen der Bretter, die Werkstatt des Schreiners, das 
Hobeln, Anstreichen, Polieren und was da sonst noch geschehen muss, um den 
Tisch gebrauchsfertig zu machen, anknüpfen; kann man ein Tischchen (einen 
wagrechten und vier senkrechte Striche |] |T) zeichnen und zeichnen lassen, 
8o ist damit die Möglichkeit einer schon recht vielseitigen Betrachtungsweise 
geboten und nicht nur der Gebrauch eines, sondern vielleicht zweier Sinne an- 
gebahnt, — ohne dass dem Schüler der Gedanke kommt, dass ihm, wie ich 
oben sagte, die Beschwerde des Lernens zugemutet wird. Die Betrachtung 
weiterer — wesentlicher oder zufälliger — Merkmale schafft dann die Elemente 
eines Begriffs, zu welchem dann im Verlaufe der Zeit eine grosse Reihe andrer 
treten kann. Was ich hier gesagt habe, ist ja durchaus nichts neues; aber es 
ist das einzige Mittel den — für Schwachbegabte besunders verderblichen — 
Verbalismus (wo Begriffe fehlen, da stellt gar leicht ein Wort sich ein) 
fern zu halten. Nun ist das ja freilich nur ein allererster Anfang; aber ein 
solcher, der sich — natürlich auch an anderen Stoffen — unzählige Male 
wiederholen kann und zumal, wenn aus dem Zeichnen schiesslich auch ein 
Formen mit den einfachsten Mitteln wird (man denke an das Spielen der Kinder 
mit Lehm, Erde u. dergl.; auch die Handfertiekeitsschulen bieten in dieser 
Hinsicht eine Menge von abwechslungsreichen Darstellungsformen, die sie ge- 
funden und angewendet haben, an) de Grundlage für eine ganze Reihe von 
Thätigkeiten wird, die selbst eine sehr erhebliche geistige Schlaffheit anregend 
überwinden dürften. Er 

Solche Tliätigkeiten können nun einer ziemlichen Anzahl von Unterrichts- 
fächern dienstbar gemacht werden, und neben dem Anschauen, Vorstellen, Be- 
greifen können sie für die sprachliche Entwiekelung, für das Rechnen, Zeichnen, 
Bilden und noch für dies und jenes andere nutzbar gemacht werden. Selbst- 
redend ist damit die Furderung der Vereinfachung des eigentlichen Unterrichts 
noch lange nicht gelöst, aber ein zwingender Fingerzeig gegeben für die Not- 
wendigkeit, in allen Fächern die Vereinfachung anzustreben. An Vorschlägen 
für solche Vereinfachung fehlt es wahrhaftig nicht Was hat man nicht schon 
darüber geschrieben, dass --- wegen der von Kindern, die lesen und schreiben 
lernen sollen, zu bewältigenden 3 Alphabete -— die Schriftzeichen nicht nur 
gemindert, sondern vereinfacht werden sollen. In der Zeitschrift: „Die Kinder- 
fehler“ findet sich ein dieser Frage gewidmeter Aufsatz von Trüper; er 
empfiehlt dort die Steilschriftt Auf dem Verbandstage für Schulhygiene in 
Wiesbaden hielt der dortige Rektor Müller einen Vortrag über die Einführung 
einer einheitlichen Schreib- und Druckschrift, Beseitigung der Kurrent-, 
Einfübrung der Kursivschrift und naturgemäss auch der Antiqua — und so 
könnte ich noch manches erwähnen, was ja gewiss ganz vorteilhaft wäre, wenn 
nur die Leute überhaupt und besonders auch die Deutschen in solchen Dingen. 


20 

sich so leicht unter einen Hut wollten bringen lassen. Man denke ans 
Rechnen und ans Lesen, diese Huuptbeschwerdefächer unserer Hilfsschulen' 
wie viele haben da nicht schon gemeint, durch Lehrmittel das Ei des Kolumbus 
gefunden zu haben — und schliesslich war es oft nicht mal ein Ei, geschweige 
denn das des Kolumbus! (Heiterkeit) Sogar der Nürnberger Trichter will 
nicht vorhalten! — Doch Spass beiseite; von der Pflicht, die thunlichste 
Vereinfachung anzustreben, befreien uns missglückte Versuche Einzelner noch 
lange nicht. Es ist ja auch nicht nötig, überall dasselbe Rezept anzuwenden; 
mag nur immerhin verschiedenes versucht werden, wie es die Gegend mit ihren 
Gewohnheiten mit sich bringt, wie es dem Gesichte des Lehrenden besonders 
ansteht, oder was dort besonders leicht zu erlangen ist. So ist es bei uns 
gemacht worden, und die kleinen Aufsätze in unserer Denkschrift geben darüber 
einigen Aufschluss. Dass hier bei uns allerlei bei uns gefertigte Stoffe 
gute Hilfe leisten (Weberei-Erzeugnisse in verschiedenen Mustern, Stoffen, 
Farben; Steinnuss- und Glasknöpfe, sogenannte Heuer und dergl. mehr) erklärt 
sich schon daraus, dass bei Kindern, deren Eltern an der Erzeugung oder Ver- 
wendung von dergleichen Gegenständen beteiligt sind, ein angeborenes hätte 
ich bald gesagt, besser aber ein anerzogenes und angewöhntes Interesse voraus- 
gesetzt werden kann, ein Umstand, der gewiss auch anderswo mitspricht, aber 
bei uns, weil es etwas bekanntes ist, den Übergang zum Unbekannten, aber 
Verwandten erheblich erleichtert. — 


Wenn ich im Anschluss an diese — vom Handgreiflichen überall aus- 
gehende — Behandlungsweise auch schon des Zeichnens erwähnte, so schwebt 
mir hier zugleich vor das neuerdings von zwei Brüdern aus unsrer Gegend, Otto 
und Albert Schneider, empfohlene Verfahren, welches in sehr sinniger Gliede- 
rung Vorlagen und Lehrgänge hergestellt hat, die sich auch in unseren Schulen 
sehr gut dürften verwerten lassen. Hier ist eine Handhabe geboten, wie die 
Thätigkeit des „malenden Zeichnens“ in den Dienst des Anschauungsunterrichts 
gestellt werden kann und dadurch nach Diesterweg sehr kräftig vorwärts 
bringt. („Es ist gewiss, dass, wer eine Stunde zeichnet, mehr für seine An- 
schauungskraft gewinnt, als wer zehn Stunden bloss sieht.“) 


Kann man nun nach manchen Richtungen aus eigener Erfahrung be- 
stätigen, was von einem reichsländischen Lehrer in der „Elsass-Lothringischen 
Schulzeitung“ als wahrgenommen mitgeteilt wird (Aufsatz: „Wie erklären sich 
die vorzüglichen Leistungen vieler unserer Schwachen im Schönschreiben und 
Zeichnen?“), dass nämlich bei Schwachbegabten gegenüber den Normalbegabten 


a) ein Übergewicht des Gesichts-, insbesondere des Formensinnes, und 
b) ein hoher Druck der Gemeinempfindung vorhanden ist, weil die Einzel- 
empfindungen und Vorstellungen nicht überwiegen; weiter, dass gerade 
c) die Armut an steigenden Vorstellungen bewirkt, dass die aufgenommenen 
Formen etc. treuer bewahrt werden, weil die Umbildung der ge- 
gebenen Formen infolge der schwachen Anlagen gehindert wird — 
so ergiebt sich für uns die Pflicht zu erwägen, ob nicht in höherem Masse als 


21 


bisher auf Schönschreiben, Zeichnen, kurz Wiedergabe von Formen müsse 
hingearbeitet werden. — 


Jedenfalls bestätigt sich auch innerhalb der verschiedenen Stufen der 
normalen Begabung die Wahrnehmung, dass, wer sehr leicht lernt, auch oft 
recht leicht vergisst, während derjenige, der langsamer im Erfassen und Ver- 
arbeiten ist, meist das einmal Erfasste ganz treu und für lange festhält. Auf 
Einzelheiten in dem Verfahren für die einzelnen darstellenden Fächer kann und 
will ich hier nicht eingehen, weil das zu weit führen würde; ich will auch die 
methodischen Gesichtspunkte der Herren Direktor Schwenk, Lehrer Puhrer 
und anderer, die in Versammlungen und Zeitschriften ihre Erfahrungen und 
Meinungen mitgeteilt haben, weder bestätigend noch kritisierend streifen. Weiter 
will ich auch über die Förderung der sprachlichen Bildungsfähigkeit mich 
nicht des weiteren ergehen, obwohl mir nicht unbekannt ist, dass dieselbe nicht 
nur oft sehr wenig entwickelt ist und oft ganz sonderbare Erscheinungen zeitigt, 
aber ich muss immer wiederholen: 


Je einfacher der Unterricht nach Form und Stoff sich gestaltet 
und je mehr er dem Individuum angepasst sein wird, desto eher 
wird man dazu gelangen, die Lernstoffe wirklich in Bildungsstoffe 
umzuwandeln, d. h. bewirken, Jass nicht nur aufgezwungenes, 
sondern erworbenes Wissen, Können und Wollen vorhanden ist, 
welches innerhalb des ja vielleicht begrenzten Gesichts- und Wirkungs- 
kreises eine gewisse Anwendung gestattet. — 


Aus diesem Grunde halte ich auch für notwendig, dass der ganze Realien- 
unterricht — also Heimat-, Natur-, Vaterlandskunde und was sonst noch 
hierunter begriffen werden kann — das Gepräge der engeren Heimat zur 
Grundlage nimmt und dass hier an erster Stelle immer die Frage aufzuwerfen ist: 
Was bietet Aachen? Breslau? Altona? Hamburg? Elberfeld etc. in dieser 
Hinsicht? Ein Lehrer unsrer Taubstummenanstalt, Herr Seeger, hat in 
einem handlichen Büchlein den Zweck verfolgt, für seine Schüler darzubieten, 
was besonders für den erdkundlichen Unterricht von Wichtigkeit ist, um die 
Kinder wirklich ihrer Heimat kundig zu machen. Ich möchte das von Herrn 
Seeger für die Heimatskunde eingeschlagene Verfahren auch auf das bisschen 
Geschichtsunterricht anwenden, was wir bieten können, und stets Ausgang 
nehmen von etwa vorhandenen Denkmälern oder sonstigen im Orte befindlichen 
Erinnerungszeichen, da auch hier nur, was wirklich handgreiflich ist oder son 
mit den Sinnen erfasst werden kann, Eindruck machen wird. Nicht in die 
Ferne schweifen, nicht mit vielen Worten arbeiten, nicht an allgemeine 
Bildung und an übersichtliche Fırfassung etwa des Staatsbegriffes und der 
Bürgerpflicht denken, sondern sich an begrenztem, aber wirklich fassbarem, mit 
den Sinnen wirklich erfasstem und gründlich verarbeitetem Stoffe genügen 
lassen, bietet allein die Gewähr, dass bei diesem Unterrichte etwas heraus- 
kommt, was dem Anschluss an die grosse Gemeinschaft des Vaterlands und 
dem Gefühl der Zugehörigkeit zu derselben, ja aueh dem Bewusstsein ge- 


wisser Pflichten gegen dieselbe und das anerkannte Haupt dieser Gemeinschaft 
ähnlich ist oder nahekommt. 

Ähnliches auch für den Religionsunterricht zu wünschen, liegt sehr 
nahe. Leider wird in Bezug auf diesen viel zu viel mit dem Gedächtnis ge- 
arbeitet, viel zu viel aus Bibel, Katechismus, Gesangbuch wortgetreu auswendig 
gelernt und aufgesagt, und der beste Schüler scheint derjenige zu sein, der das 
Hersagen am fliessendsten besorgt. Fragt man aber: „Verstehst du auch, 
was du liesest oder gesagt hast?“, so bekommt man oft die merkwürdigsten 
Antworten, welche darthun, dass von einem einfältigen Verständnis gar nicht 
die Rede sein kann. Nun mag ja zumal für solche Kinder, welche demnächst 
vor der Gemeinde ihr Bekenntnis öffentlich ablegen sollen, das Auswendig- 
wissen gewisser Lehr- und Glaubenssätze nötig sein, damit sie sich nicht als 
ganz un:issend blosstellen und vielleicht eine unverdiente Beschämung erfahren. 
Aber gerade für unsere Kinder müsste doch die Unterweisung zur Gottesfurcht, 
Nächstenliebe, Treue auch im kleinen, kurz und gut zum praktischen Christen- 
tum ein anderes Gesicht zeigen. Auch hier wäre durchaus vom Konkreten 
auszugehen und aufs Konkrete hinzuarbeiten, damit später zutage trete kindliche 
Ergebung in Gottes Willen, Willigkeit dem Nächsten zu helfen und auch in 
allerlei Kleindienst die Pflicht bestmiglich zu erfüllen. Wenn in der Berg- 
predigt die geistig Armen selig sepriesen werden, weil das Himmelreich ihr Teil 
sei, so möge ihnen doch Jder Weg dazu recht handgreiflich gewiesen werden. — 

Dass auch noch andere Fächer in unserer Schule nutzbar zu machen sind, 
das ist ganz gewiss. Ich möchte hier z. B hinweisen auf die Pflege des Ge- 
sanges. In dieser Beziehung habe ich auch an einzelnen Schulen, die ich be- 
sucht habe, ganz Erfreuliches gesehen. Ich denke z B. an gewisse Erfahrungen 
in der Kölner Hilfsschule und möchte Ihnen eben noch sagen: wir thun 
wirklich nicht recht, wenn wir in unseren Hilfsschulen den Gesang nicht so 
gut pflegen, wie es immer möglich ist. Dabei verkenne ich nicht, dass solches 
für den musikalisch gebildeten und feinfühligen Lehrer manchmal eine etwas 
starke Zumutung ist, auch die Brummer und Kräher mit in den Kauf zu 
nehmen und gesanglich mit zu fördern. Aber auf der anderen Seite kann und 
muss ich immer sagen: Es bietet der Gesang auch wiederum einen Anlass, 
auf das Gemüt des Kindes erhebend und versöhnend einzuwirken, und deshalb 
‘bin ich durchaus der Meinung, selbst wenn da und dort ein Kind dazwischen 
brummt oder dazwischen kräht und so den ästhetischen Eindruck etwas beein- 
trächtigt, man solle auch ihm den Mund nicht verschliessen. Man lasse es 
immerhin mitsingen; nach und nach wird sich auch ihm ein Melodiechen er- 
‘schliessen. Singe, wem Gesang gegeben; es singe aber auch das Kind, dem 
‘die Gesangsfähigkeit nicht gleich mitgegeben, denn der Gesang erfreut des 
Menschen Herz, und die Kinder in ihrer Arbeit fröhlich zu erhalten und ihnen 
‘eine — immer als Strafe empfundene Zurückweisung zu ersparen, ist sehr wichtig. 
'Ich kann deshalb nur empfehlen, dass das Singen nicht beiseite gelassen wird. —- 

Ebenso müsste man auch noch an andere Fächer denken. Z. B. lässt sich 
für Kinder, die sehr ungelenk sind und leicht die Ordnung stören,. ähnliches 


23 


sagen betreffs der Teilnahme an Turnübungen, an Reigen und bei Spielen etc. 
Man dürfte niemand, bei welchem nicht körperliche Gebrechen die Teil- 
nahme ausschliessen, in Unmut über seine Ungeschicklichkeit zurückweisen, 
Wie sollen sie denn sonst zur Herrschaft über ihre Glieder gelangen? — | 
Nun komme ich zum zweiten. Punkte, der die eigentliche Erziehung be- 
trifft. Diese ist in dem Vorhergesagten zwar schon mannigfach berührt worden, 
aber ich kann die Wiederholung dessen nicht unterlassen, dass ich gerade die 
Erziehung für sehr viel wichtiger halte als den reinen Unterricht, und. deshalb 
habe ich auch beim Unterrichten immer wieder den Hauptnachdruck darauf 
gelegt, dass auf die Bildung des Willens, auf das Thun und Treiben des 
Kindes ein ganz besonderes Gewicht gelegt werde. Natürlich gilt dies auch 
betreffs der Art und Weise, wie z B Zucht gehalten wird in der Schule. Ich 
bin durchaus: kein Freund davon, dass die Kinder in der Hilfsschule immer 
nur mit Samthandschuhen angefasst werden; aber dass gerade hier die möglichst 
freundliche Anregung von grösster Bedeutung ist, das ist ganz sicher. Ich las 
vor einiger Zeit in dem 5. Jahrgang aus „Höhen und Tiefen“ in einer 
kleinen Erzählung, einer Volksgeschichte aus der Schweiz, welche betitelt ist: 
„Die Schweigerin“, einen netten Satz, der mir selbst zu denken gab, und 
den ich auch nach der Richtung hin für unsere kinder empfehle. Die 
Schweigerin war die Frau eines Mannes, der erst mancherlei Irrwege ge- 
wandelt, aber durch die Art und Weise, wie sie ihn behandelt hatte, 
schliesslich doch zu einem recht ordentlichen und angesehenen Mann geworden 
war. Diese Frau unterhielt sich mit ihrem Manne u. a über die Erziehung 
eines Kindes und sagte: ‚Du tadelst zu viel, du korrigierst zu viel. Nun 
liegt aber nicht im Wort die Macht. sondern im Wesen. Wenn der stille, 
sanfte Wandel, von dem der Apostel Paulus spricht, nicht wirkt, dann wirkt 
eben nichts mehr. Das ist eine klare Sache.“ Ganz ebenso denke ich mir die 
Sache in unserer Hilfsschule. Wenn den Kindern darin lange Reden gehalten 
werden, so hat das schlechterdings nicht die geringste Wirkung Ich bin 
durchaus davon überzeugt, dass nichts übler angebracht ist und zugleich den 
Kehlkopf des redelustigen Lehrers mehr anstrengt, als eben das viele Reden. 
‚Also nicht so viel tadeln, nicht zu viel korrigieren, nicht an die Macht des 
Wortes gerade solchen Kindern gegenüber glauber, sondern vor allen Dingen 
mehr an den unmittelbaren persönlichen Einfluss, der in dem stillen sanften 
Wandel liegt, welcher den Kindern schliesslich die Überzeugung beibringt; so 
musst du auch werden. — 
> Es giebt nun auch Anstalten — und ich babe in einer Zeitung von einer 
solchen gelesen — wo, ich möchte sagen, eine ganz republikanische Ver- 
fassung eingeführt ist. Diese Anstalt kommt verwahrlosten Kindern zu Gute 
‘und wird im Staate New-York von einem reichen und kinderfreundlichen Privat- 
-manne unterhalten. Hier wählen. die Kinder sogar alle Beamten selbst, so 
dass. sie. von ihren. eigenen Beauftragten regiert, verwaltet, beaufsichtigt werden 
und es, wenn sie wollten, in der Hand hätten, nur solche Genossen zu wählen, 
‚von denen sie wüssten, dass diese bei allen Ungehörigkeiten, ja Schlechtigkeiten 


24 


meata e ee e o u o e 


sicher wenigstens ein Auge zudrücken würden. Dem soll aber durchaus nicht 
so sein. Was von dem alten ägyptischen Könige Rhampsenit erzählt wird, der 
einen schlauen Dieb zu seinem Eidam und dann zu seinem Nachfolger machte, 
das soll auch hier zutreffen. Wenn es von jenem Nachfolger Rhampsenits in 
einem Gedichte heisst: „Wenig, sagt man, ward gestohlen unter seinem 
Regimente“, das soll auch in jener Kinder-Republik zutreffen; es soll dort ein 
ganz strenges Regiment geführt werden und das hauptsächlichste Zuchtmittel 
sein: die Einwirkung auf das Ehrgefühl. Die Republik hat auch ein eigenes 
Parlament, welches Gesetze giebt; wie schon erwähnt, eine völlig eigene Ver- 
waltung, welche bestraft und die Aufsicht übt, und es sind, wie behauptet wird, 
von den 700 Mitgliedern dieser Jungen-Republik nur 2 wieder in ihr früheres 
verbrecherisches Wesen zurückgefallen. Wir haben es ja, Gott sei Dank, nicht 
mit Verwahrlosten, sondern mit Geistig-Armen zu thun. Sollte aber nicht auch 
bei uns der Grundsatz nicht Furcht, sondern Ehrgefühl sein können ? Dass das 
Ehrgefühl eine sehr mächtige Triebfeder für das Handeln sein kann, dürfte nicht 
bestritten werden. Ich möchte also auch für uns empfehlen, vielleicht auch 
bei unsern Kindern den Versuch zu machen, nicht durch Furcht, Strafe u. dergl. 
wirken zu wollen, sondern vor allen Dingen darnach zu streben, dass die Kinder 
Freude an ihrer Thätigkeit haben. Wenn sie wirklich die Zufriedenheit ihrer 
Lehrer zu gewinnen im stande sind, und wenn ein freundliches Wort, ein freund- 
licher Blick sie lohnt, so ist es möglich, dass das viel länger im Gedächtnis 
bleibt und besser wirkt als irgend ein anderes Zuchtmittel. — 

Es gehört aber noch mancherlei anderes zur materiellen und sittlichen 
Hebung der Schüler, und deshalb empfehle ich hier noch einmal, dass die Kinder 
möglichst frübzeitig zur Arbeit angehalten werden. Auf diese Weise werden 
sie praktisch die wirtschaftliche Bedeutung jeder Arbeit kennen lernen, ob sie 
nun eine Arbeit sei für sich selbst, oder hier und da für einen anderen und 
schliesslich auch für die Gesamtheit. Bisher ist solches in unserem Schulbetrieb 
noch nicht genug gepflegt worden, wenn es auch schon gelegenlich zu Tage 
trat und auch wiederholt Früchte zeitigte. (Ich verweise hierbei auf Einzelheiten, 
die in unserer Denkschrift erwähnt sind und feststellen, dass Kinder sich willig 
finden liessen, bei Bedarf unaufgefordert anderen hilfreich zur Seite zu stehen, 
obne dass sie an eine Belohnung dachten.) 

Weiter muss selbstredend auf anderes hingewiesen werden, was auch die 
eigene sittliche Hebung der Kinder befördert. Ich nenne hier nur den Tier- 
schutz, die Tierpflege und für Knaben wie für Mädchen auch die Pflanzen- 
pflege und ähnliches. Das führt mich selbstredend auf Einrichtungen, welche 
ich für unsere Hilfsschulen für durchaus nötig halte, nämlich auf die eines 
Schulgartens. Die Bedeutung solcher kleiner Gärten kann man wirklich als 
Hilfsmittel für die Erziehung zur Arbeit, zur Pflanzenpflege, zur Bethätigung 
in frischer Luft etc. nicht genug schätzen, und können wir in dieser Hin- 
sicht von einzelnen Idiotenanstalten recht viel lernen. Wir hatten auch bei 
unserer Hilfsschule einen solchen Versuch gemacht, aber die Ungunst der Ört- 
lichkeit bat ihn nicht recht aufkommen lassen. Wenn, wie bei uns geschah, 


25 

an einem Mauereckchen einige Beetchen angelegt werden, so finden diese keinen 
richtigen Grund und Boden. Wenn aber dort nichts recht ordentlich wächst, 
so erlischt bald die Freude daran und die Neigung zur Fortsetzung. Gleichwohl 
müsste der Versuch, vielleicht an geeigneterer Stelle, erneuert werden, und hilft 
uns der ausgesprochene fromme Wunsch doch vielleicht noch dazu. Für kränk- 
liche Kinder, für gedeihliche Anregung in sonstigen Lernpausen, ja auch als 
eine Art von Ergänzung zum Haushaltungsunterricht und auch zur ästhetischen 
Erziehung der Kinder könnte derselbe gute Dienste leisten. 

Was nun die weitere Körperpflege der Kinder anlangt, so haben wir 
schon in anderen Vorträgen gehört, dass bei sehr vielen Kindern die geistige 
Leistungsunfähigkeit zum Teil zusammenhängt mit der ausserordentlich mangel- 
haften Körperpflege, die die Kinder noch haben, bezw. in früherer Zeit 
gehabt haben. Deshalb halte ich es für notwendig, dass seitens der Schule 
soweit möglich auch nach dieser Seite hin einige Fürsorge getroffen werde. 
Zwar haben wir in Elberfeld einen Verein, der während des Winters dafür sorgt, 
dass arme Kinder zum zweiten Frühstück — bei manchen Kindern mag es gar 
das erste Frühstück sein — warme Milch und Weissbrot bekommen. So 
dankenswert solches ist, so reicht es doch noch bei weitem nicht aus, um das 
— was das Haus vermissen lässt — wirklich zu ersetzen. Deshalb müsste 
hierin noch mehr gethan werden; bei der nicht zu grossen Zalıl bedürftiger 
Kinder würde solches nicht unerschwinglich sein. So könnten wir vielleicht 
manche Kinder auch gesundheitlich zu retten versuchen, weil thatsächlich manche 
von ihnen wegen der fortlaufend kümmerlichen Beköstigung im Hause nicht 
nur körperlich immer mehr verkümmern, sondern auch wegen ihres geschwächten 
Körpers wenig Hoffnung auf geistige Hebung gewähren. — 

Dass der Arzt gerade bei der Hilfsschule mitwirken und möglichst viel 
herangezogen werden muss zur Beratschlagung betrefis der Behandlung der 
einzelnen Kinder, versteht sich ganz von selbst. Hoffentlich werden wir iu 
kurzer Zeit in der Lage sein, hier in erweiterter Weise die Mitwirkung von 
Schulärzten zu erlangen, und dann hoffe ich, dass es bei uns so sein wird, wie 
beispielsweise in Braunschweig, wo der Arzt der treueste Berater und Freund 
gerade von unserer Art von Schulen ist. Dass bei solchem Zusammen- 
wirken von Schule und ärztlicher Kunst grosse Vorteile für die einzelnen, der 
ärztlichen Pflege bedürftigen Kinder entstehen können, bedarf einer Begründung 
nicht, zumal wenn zwischen beiden kein Streit darüber entsteht, wer herrschen 
solle, sondern wenn beide bereit sind zu dienen. — 

Weiter würde ich es für wünschenswert halten, wenn unseren Kindern, 
besonders den Mädchen, ein klein wenig Anleitung auch in hauswirtschaftlicher 
Beziehung gegeben wird. Wir haben ja hier an manchen Stellen schon solche 
Schulküchen eingerichtet und finden dieselben ja auch bei den Müttern einen 
recht erfreulichen Anklang. Wäre es da zu viel verlangt, dass eine in aller- 
bescheidenster Form eingerichtete Küche auch mit uuserer Schule irgendwie 
verbunden werde? Durch diese Schulküche könnten wir dem oben ausge- 
sprochenen Wunsche nach Beköstigung gewisser Sorgenkinder unserer Schule 


ze. 


Rechnung tragen und zugleich bewirken, dass die im letzten Schuljahre stehen- 
den Mädchen einige Anleitung erbalten, die einfachsten hauswirtschaftlichen 
Geschäfte auszuführen. Wenn wir für normalbeanlagte Mädchen in solcher 
Weise zn sorgen für nötig halten, so erscheint es doppelt nötig für unsere 
Hilfsschülerinnen, weil gerade diese in der Wahl ihrer Lebensthätigkeit viel 
beschränkter sind als jene. 

Sie sehen, meine Damen und Herren, es giebt so manches noch, was bier zu 
erwägen wäre. Haben wir nun zuletzt an gewisse Einrichtungen gedacht, die die 
Mädchen berücksichtigen, so möchte ich auch gewisse Wüusche aussprechen, 
welche sich der Knaben annehmen. Dass ich darauf eingehe, hängt mit un- 
erfreulichen Erfahrungen zusammen, die wir betrefis der letzteren oft machen. 
Während die Mädchen im Hause leichter Verwendung finden, ist der Haupt- 
tummelplatz der unbeschäftigten Knaben die Strasse. Dass die Strasse aber 
cerade unsere Kinder besonders gefährdet, besonders sittlich gefährdet, hängt 
damit zusammen, dass unsern Kindern nicht nur oft das richtige Urteil, sondern 
sogar der richtige Instinkt fehlt, zwischen guten Gesellen und bösen Buben 
zu unterscheiden. So lassen sich manche als die Dummen bisweilen zu sehr 
zweifelhaften Handlungen verleiten, und ich muss leider berichten, dass auch 
in neuerer Zeit einzelne derselben in die richtige Verbrecherlaufbahn gerieten, 
natürlich die Schule schwänzten und so ihren Lehrern den höchsten Kummer 
verursachten. Wie nun helfen? wie nun retten? 

Das einzige Mittel, sie aus dem Sumpfe zu ziehen, ist, dass wir ihnen eine 
Unterkunft bieten, in welcher sie neben etwas Leibespflege auch Arbeit und 
Aufsicht finden, die sie vor weiteren Fehltritten zu bewahren sucht. „Arbeit 
im Knabenhort“, das ist das Stichwort eines weiteren frommen Wunsches. 

Ich halte es für notwendig, dass wir erstreben, was mir vor beinahe 
30 Jahren in den Wiener Musterschulen ganz besonders gefallen hat: die An- 
bringung von kleinen Handfertigkeitsgelegenheiten, wenn kein anderer Raum zur 
Verfügung steht, dann im Schulzimmer selbst. In Wien waren an den Wänden 
Tischplatten angebracht und kleine einfache Werkzeuge befestigt. In dieser 
Werkstatt erstanden unter den Händen der Kinder diejenigen Sachen, die für 
die Schule oder für das einzelne Kind als Handwerkszeug notwendig waren. 
Arbeitszeit waren einige Stunden schulfreier Zeit; kleine Spiele, ein einfacher 
Imbiss, ein Glas Milch, ein freundliches Gesicht der Lehrenden waren die Lock- 
mittel. Ich bin der Meinung, wenn auch wir das erreichen und auf diese 
Weise für die unversorgten Kinder mitsorgen können, so schaffen wir in dieser 
Art von Knabenbort eine sehr wichtige Gelegenheit, die Kinder nicht nur zu 
bewahren, sondern auch zum Arbeiten zu gewöhnen, was ja — wenn Müssig- 
sang aller Laster Anfang ist — der Anfang werden kann für eine gedeihliche 
löntwickelung zur Brauchbarkeit im bürgerlichen Leben. Was in Leipzig so 
günstig wirkt, Könnte auch anderweit gute Dienste leisten. 

Was geschieht aber mit den Kindern nach ihrer Entlassung aus der 
Schule? Dass damit unsere Thätigkeit. nicht abgeschlossen sein darf, ist klar: 
was für die Normalbegabten als Notwendigkeit gilt, Fürsorge und Fortbildung 


27 


nach der Schulzeit, ist für unsere Kinder nicht zu entbehren, ja erst recht 
nicht zu entbehren. In dieser Hinsicht ist noch ausserordentlich viel zu thun, 
und wir dürfen die Hände nicht in den Schoss legen. Wenn Braunschweig in 
dieser Beziehung sehr erfreulich vorgegangen ist und besonders die Fürsorge für 
unsere Entlassenen immer weiter auszudehnen beabsichtigt (ich habe hier einen 
Vortrag des Herrn Kiellorn aus der Zeitschrift für Jugendfürsorge, worin alle 
möglichen und sehr vorteilhafte Vorschläge gemacht werden), so dürfen andere 
Städte mit ähnlichen Verhältnissen damit nicht zurückbleiben. Denn wenn 
irgend etwas notwendig erscheint, so ist es der Schutz gerade der Schwach- 
begabten in wirtschaftlicher, in rechtlicher, in militärischer, unter 
Umständen sogar in strafrechtlicher Hinsicht. Hier kann ich nur empfehlen, 
was vor längerer Zeit schon Herr Wintermann-Bremen in Heidelberg empfohlen 
bat. Es sollen für die Schüler bei ihrer Entlassung aus der Schule Haus und 
Schule zusammenwirken. Die Schule soll Rat geben, soweit sie irgendwie 
kann, bei der Berufswahl der Kinder; die Schule soll auch, soweit es geht, 
für die geeignete Unterbringung der Kinder sorgen. Sie kennt ja die Kinder 
oft viel genauer betreffs ihres Könnens und Wollens als die Eltern, sie lässt 
sich auch nicht verblenden durch augenblickliche Vorteile; ibre einzige Sorge 
ist, dass ihre Zöglinge wohlgeraten. — Doch nun genug mit der langen Reihe 
meiner Wünsche; wenn sich überall Bestrebungen regen zur Fürsorge und Fort- 
bildung der männlichen und weiblichen Jugend, sollten wir da für unsere 
Kinder unthätig bleiben? Mein Wunsch wäre, dass sich bei uns, aber auch 
anderswo überall für die aus der Hilfsschule entlassenen Kinder ein Mittelpunkt 
bildete, an den diese sich fort und fort wenden könnten, sobald sie Rat und 
Schutz und Hilfe nötig haben. 

Der letzte Punkt meines Vortrags behandelt die Frage: Wie soll der Lehrer 
unserer Schule beschaffen sein? Ich will mich darüber ganz kurz fassen. Wohl 
weiss ich, dass z. B. in der Schweiz Kurse eingerichtet worden sind für Lehrer 
an Hilfsschulen. Diese Kurse haben eine Instruktion entworfen für die Ein- 
führung des Lehrers in seinen besonderen Beruf; es ist in diesen Kursen ver- 
sucht worden, die Lehrenden für die Sache selbst zu begeistern und sie anzu- 
weisen, wie sie das persönliche Interesse des Kindes anzuregen haben und noch 
anderes mehr. Das ist gewiss ganz schön, denn ohne Anleitung, ohne Beispiel, 
ohne eigene und fremde Erfahrung will es nicht gehen; ich möchte aber zugleich 
sagen, was not thut in erster Linie, das ist die geeignete Persönlichkeit. 
Gewiss schätze ich theoretisches Wissen, Psychologie und Psychopathologie und 
auch die sichere didaktische Methode hoch; aber bei unseren Schülern thut die 
Gelehrsamkeit, die grosse Geschicklichkeit und Findigkeit des Lehrers es nicht; 
sondern in erster Linie thut es das warme Heız, der scharfe Blick und die un- 
ermüdliche Geduld, diese drei Eigenschaften sind durchaus an erster Stelle not- 
wendig. Zwar gilt es auch zu erkennen, welche psychologischen und patho- 
logischen Verhältnisse die geistige Entwickelung des Kindes gehemmt haben, 
welche Familien- oder sonstigen Verhältnisse den Stumpfsinn herbeigeführt 
haben; aber für die Behandlung reicht dies nicht aus. Jedes Kind muss 


28 


erkennen, der Lehrer ist nicht bloss für die ganze Klasse da, sondern auch für 
dich, und für dich hat er eine ganz besondere Teilnahme. Es muss fühlen, 
dass, wie jedes Pflänzchen seinen Tropfen Regen und seinen Sonnenstrahl 
haben muss, um zu gedeihen, so auch dass der Lehrer sein warmes Herz jedem 
Kinde zu gewähren bereit sei. Nur so wird der Lehrer im stande sein, das Kind 
festzuhalten und dauernd zu fesseln, ohne zugleich das Gefühl zu erwecken, 
dass von ibm nur durch gewaltthätigen Zwang ein Erfolg erwirkt werde. Un- 
ermüdliche Geduld und Selbstverleugnung muss er besitzen und, unbeirrt durch 
den Mangel an Erfolg, den Stumpfsinn so recht durch seine Güte zu überwinden 
suchen. Rezepte, diese drei Eigenschaften zu gewinnen, giebt es natürlich nicht; 
wer aber die Menschen liebt, der wird sie auch studieren und so aus dem 
lebendigen Beispiel sich manche Lehre ziehen. Mittel hierzu bietet das Studium 
von Lebensbeschreibungen von hervorragenden Leuten. Da findet man eine 
ganze Reihe von Winken und Erfahrungen direkter und indirekter Art, aus denen 
man sich das scheinbar Passende aussucht. Sn wird dann das einzelne Kind 
nicht eine Nummer, sondern ein ihm von Gott anvertrautes Wesen, das er zu 
pflegen hat mit allen Geistes- und Herzenskräften. Was ich damit meine, das 
ist schön ausgesprochen in einem Worte von Profegsor Friedrich Paulsen in 
Berlin: „Was wirkt in der Jugendbildung wesentlich und wahrhaftig? 
Die lebendige Teilnahme des Lehrers für die Sache und für die Schüler! Sie 
weckt lebendige Kräfte in den Seelen. Der Lehrplan thut’s nicht; die voll- 
kommenste Methode und der schönste Gesinnungsstoff ist tot an ihm selber. 
Noch weniger thut’s Aufsicht und Kontrolle. Der Mensch thut’s, der, selbst von 
der Sache erfüllt, den der Menschenseele eingeborenen Trieb zum Wahren, Guten, 
Schönen zu wecken weiss.“ 

Nach dieser Richtung möchte ich wünschen, dass alle Lehrenden, die in 
unserer Sphäre wirken, (und wenn ich auch meist nur von Lehrern gesprochen 
babe, so schliesse ich die Lehrerinnen durchaus nicht von unserem Werke 
aus), sich bethätigen möchten. (Lebhafter Beifall.) 


Debatte. Vorsitzender Direktor Richter: Sie haben durch Ihren Beifall dem 
Redner Ihren Dank bereits zu erkennen gegeben; auch ich spreche dem Herrn 
Schulrat Dr. Boodstein für seine aus warmem Herzen kommenden Ausführungen zum 
Wohle und Gedeihen unserer Hilfsschulen meinen herzlichen Dank aus. Er hat uns in 
seinem Vortrage soviele schätzenswerte Anregungen und Ratschläge geboten, die wir 
zum Vorbild gerne mit in unsere Schulwerkstätten nehmen, um sie praktisch zu be- 
thätigen. Ich möchte nun diejenigen, welche zum Vortrage das Wort ergreifen wollen, 
bitten, sich zu melden. 

Sanitätsrat Dr. Berkhan: Ich möchte dem Vortrage nur wenige Worte hinzu- 
fügen. Es erscheint mir als ein Haupterfordernis bei der Erziehung schwachbefähigter 
und schwachsinniger Kinder, sie möglichst arbeitsfähig zu machen. Es ist also beim 
Unterrichte soweit als möglich die praktische Seite hervorzukehren mit Rücksicht auf die 
spätere Stellung des Kindes im Leben. Der Unterricht hat sich seinen geringen geistigen 
Fähigkeiten anzupassen und ist möglichst einfach zu gestalten. Ein wichtiges Mittel, 


29 


den Anschauungskreis der Schüler vielseitig zu bilden, sind die Schulwanderungen in 
Stadt und Land. Durch dieselben lernen sie vor allem Gewandtheit im Gebrauch 
ihrer Glieder und Sinne und durch sorgsames, scharfes Beobachten eine genaue 
und sichere Kenntnis der verschiedensten gewerblichen Arbeiten und Thätigkeiten der 
Landleute. Auf diese Weise wird der Anschauungsunterricht durch wertvolles Material 
bereichert, das der Schüler schnell und mit Lust aufnimmt. 

Hauptlehrer Strakerjahn: Ich möchte sagen: Die Menschen suchen viele 
Künste und komme immer weiter von dem Ziel. Bei der Ausgestaltung unserer 
Hilfsschulen kommt es weniger auf die erwähnten äusseren Mittel, als vielmehr au 
die Beachtung der wichtigsten didaktischen Grundsätze der allgemeinen Pädagogik an. 
Wenn in ersterer Beziehung mehr geschehen soll als bisher, so möge dies von anderer 
Seite, z. B. von den Eltern, Schulfreunden etc. in die Hand genommen werden, 
damit nicht, sonderlich bei der Speisung armer Kinder, in diesen das beschämende 
Gefühl entsteht, als ob ihre Eltern dazu nicht mehr in der Lage seien. ‘Die Haupt- 
sache wird immer die Arbeit in der Schule selbst sein. 

Schulinspektor Timm: Bei uns in Essen ist es den Eltern nicht freigestellt, ob 
sie ihre Kinder der Hilfsschule überweisen wollen oder nicht. Das ist Sache des 
Schulvorstandes und der Schuldeputation, und ich halte es für selbstverständlich, dass 
diese das Recht haben, die Kinder einzuschulen, mag die Schule heissen, wie sie will, 
da sie nach genauer Prüfung der geistigen und körperlichen Anlagen and Fähigkeiten 
der Schwachsinnigen daza am besten im stande sind. Ich möchte hierbei anfragen, ob 
nicht ein gesetzlicher Zwang bei denjenigen Eltern angewandt werden darf, welche 
sich hiergegen stränben? Ich meine doch! Sodann erwünsche ich betreffs der Organi- 
sation unserer Hilfsschulen gerne zu erfahren, in welcher Richtung wir unsere Hilfs- 
schulen am besten weiter ausbauen, ob drei- oder sechsklassig? In Essen haben wir 
ein dreiklassiges System für evangelische und eines für katholische Kinder, während | 
in Elberfeld beide Konfessionen in einem vorhanden sind. Dazu besteht hier ein 
Doppelkursus für die Unterstufe. In dieser Hinsicht möchte ich gern von Ihnen 
hören, ob es wünschenswert ist, diese Organisation auch für die Oberstufe einzurichten? 

Schulrat Dr. Boodstein: Ich möchte der vorgerückten Zeit wegen empfehlen, 
alle diese Fragen vielleicht heute bei der Tafel im Privatgespräch zu erledigen. Es 
ist nicht ratsam, hier weiter darüber zu debattieren, da im Kuppelsaal eine wichtige 
Abstimmung stattfinden soll, bei welcher man Ihre Anwesenheit nicht entbehren 
möchte. (Allseitige Zustimmung). | 

Vorsitzender Direktor Richter: Ich schliesse hiermit die erste Nebenversammlung 
der Vertreter für Hilfsschulen. Fortsetzung in nächster Nr. 


Mitteilungen. 

Nieder-Marsberg. (Idiotenanstalt.) Mit dem abgelaufenen Jahre hat die Idioten- 
Anstalt das 20. Jahr ihres Bestehens zurückgelegt. Die Zahl ihrer Pfleglinge ist in 
demselben von 355 auf 384 gestiegen. 62 Kinder wurden aufgenommen, 33 kamen 
in Abgang. Im ganzen sind 417 verpflegt worden, 230 Knaben und 187 Mädchen. 
Davon gehörten 402 der katholischen Konfession an, 10 der evangelischen und 5 der 
jüdischen. Der jüngste Pflegling war 4 Jahre alt, der älteste 52. Von den Ent- 


30 


lassenen waren 8 konfessions- und erwerbsfähig, 2 konfessionsfähig, 38 wurden gebessert, 
1 blieb bildungsunfähig und 19 sind gestorben. Unterrichtet wurden 236 Kinder, 
41 konnten nur beschäftigt und 125 nur verpflegt werden. Von besonderem Interesse 
war folgender von dem Anstaltsarzte Dr. Herwig beschriebene Fall von Thyrcoid- 
tabletten-Behandlung: „B D. geboren am 11. Dezember 1885, stammt aus 
einer ebenen Gegend der Provinz, wo seine Eltern Landwirtschaft betreiben. Erblicho 
Krankheiten, Trunksucht in der Verwandtschaft des Knaben werden geleugnet. Das 
Kind litt einige Tage nach der Geburt an Kinderkrämpfen, war geistig stets zurück 
und lernte spät sprechen und schlecht gehen. Seit dem 25. Februar 1895 befindet 
es sich in der Anstalt. — Nach den Beobachtungen und nach der der Kur voraufgehenden 
genauen Untersuchung Ende 1899 war der Zustand folgender: Körperlänge 85 cm, 
Körpergewicht 40 Pfd. Starke myxematöse Schwellung, Bauchumfang 77'/, cm, Kopf 
(Schädel), besonders Hinterhaupt gross, spärlicher Haarwuchs, Nasenwurzel tiefliegond, 
Nase breit. Augenspalte klein, Strabismus, Lidränder gerötet. Wangen dick, Mund 
breit, Zunge gross. Zähne unregelmässig, Milchgebiss. Sprache undeutlich, raub, 
stammelnd. Walnussgrosse Drüse am rechten Kieferwinkel. Schilddrüse am Halse 
nicht füblbar; Haut am Hals und Körper trocken, runzelig. Herztöne beschleunigt. 
Unförmlicher Bauch, der beim Gehen und Stehen stark vorgestreckt wird; Blutadern 
bläulich durchschimmernd. Beine dünn und schwächlich. Füsse und Hände eisig-kalt. 
Linke Hand deform, Geburtsfehler-Stellung; Mittelfinger in Beuge: Contractur. — 
Nahrungsaufnahme sehr gering, Verdauung träge. Zeitweise Enuresis diurna et 
nocturna. -— Aktive Bewegungen äusserst langsam; beim Gehen kommt er nicht von 
der Stelle und ermüdet leicht. Er sitzt am liebsten in seinom Sessel und hält die 
Spielsachen fest, ohne wesentlich damit zu spielen; er spricht selten von selbst und 
auf Befragen bekommt man nur langsam etwas heraus (sagt, wie er heisst und 
benennt einige bekannte Gegenstände). Im allgemeinen gutmütig und freundlich, 
kommt aber leicht ins Weinen und wird zornig, sobald ihm die Spielsachen genommeu 
werden. Ebenso zugänglich und empfänglich ist er für Schmeicheleien, Anerkennungen 
und Lob. — Die Schilddrüsen-Therapie wurde vorsichtig begonnen und bei jeder 
kleineren Störung ausgesetzt. Der Knabe bekam zunächst nur cino Tablette 0,324 gr 
B. W. & Ko.) und daneben Solutio arsenicalis Fowleri in geringen Dosen. Später 
wurde auf 2 Tabletten, je eine morgens und abends, gestiegen und die Dosis: 
d Tropfon Fowlerscher Lösung nach dem Mittagessen, dauernd beibehalten. Die Kur 
wurde bis auf geringe Störungen, wie Appetitmangel oder Leibschmerzen, die höchstens 
einige Stunden anhielten, vorzüglich vertragen; im letzten halben Jahre kamen 
Störungen überhaupt nicht mehr vor. Die Wirkung machte sich alsbald bemerkbar. 
Das Myxoedem schwand rapide. Die Haut wurdo weich, elastisch und fühlte sich 
überall warm an. Das struppige spärliche Kopfbaar machte einem üppigen Haarwuchs 
Platz. Die Milchzähne ersetzten sich durch dauernde, die Zunge nahm an Volumen 
ab, besonders aber wurden Backen und Bauch mitgenommen; die Haltung und 
Körperform wurde dadurch etwas militärischer. Die Beine gewannen an Halt, und 
damit nalım die Beweglichkeit des Knaben von Tag zu Tag zu. Während er früher 
stupide dasass nder nach kurzer Bewegung ruhebedürftig war, wandert er nunmehr 
ohne Unterbrechung den ganzen Tag umher, spielt und unterhält sich mit den übrigen 


31 


Zöglingen. Er ist immer freundlich, kommt dem Besuch lächelnd entgegen und 
reicht ihm die Hand. Bei der Mahlzeit übernimmt er das Servieren, giebt jedem 
sein Geschirr und reicht ihm die Gerätschaften. Geistig ist er überhaupt soweit, dass 


im kommenden Frühjahr mit dem Unterricht begonnen werden kann. — Auch in der 
Reinlichkeit ist erhebliche Besserung eingetreten; Enuresis wird ganz selten mehr 
beobachtet. Der Appetit ist vorzüglich, die Verdauung regelmässig. — Die einzelnen 


Körpermasse veränderten gich in erstaunlicher Weise. 

Körperlänge stieg von 85 auf 102 cm. Leibesumfang ging von 77'), auf 
60 cm herab. Das Körpergewicht sank von 40 Pfund auf 34 im April und betrug 
im Oktober 35'/, und stieg am Schlusse des Jahres auf 36 Pfund.“ 

M.-Gladbach. (Idiotenanstalt Hephata). In der hiesigen Anstalt ereignete 
sich im Oktober v. J. ein trauriger Vorfall. Ein hiesiges Blatt schreibt darübor 
unter dem 7. Dezember folgendes: Der seit dem 13. Oktober vermisste Knabe Johann 
Schütien wurde nunmehr als Leiche aufgefunden. Wie die gestrige Untersuchung 
ergab, haben zwei andere blödsinnige Knaben den Tod des Jungen veranlasst. Am 
13. Oktober wurde der kleine Schütten von seinem Vater, einem Platzmeister aus 
Stockum, und seiner Tante besucht, da er an diesem Tage gerade Geburtstag hatte. 
Um 6 Uhr nachmittags meldete sich der Knabe dann wieder in der Anstalt bei seiner 
Abteilung. Nach einiger Zeit musste er austreten. Die Instruktion in der Anstalt 
besagt hierfür, dass ein älterer, einigermassen zuverlässiger Blödsinniger mitgehen 
muss. In diesem Falle war ein 13jäbriger Knabe der Begleiter. Dor kleine Schütten, 
der vielleicht durch den Besuch des Vaters etwas aufgeregt war, lief nun seinem 
Begleiter mebrmals fort. Dieser wurde darüber ärgerlich und kam auf den entsetzlichen 
Gedanken, das jüngere Kind in einen unbenutzten Speisenaufzug zu stürzen. Er 
glaubte, dass Wasser in diesem Schachte sei; wenn der Knabe darin liege, könne 
er nicht mehr weglaufen. Mit Hilfe eines 15jährigen, ebenfalls Llödsinnigen Knaben, 
wurde der unglückliche Junge dann an den Schacht herangezerrt und völlig entkleidet. 
Hierauf warfen die beiden Blödsinnigen den Kleinen in den Schacht hinein, später 
warfen sie die Kleider hinterher, schlossen die Thür des Aufzugs wieder und meldeten 
bei ihrer Abteilung, dass Schütten weggelaufen sei. Wie die Untersuchung und die 
gestern gleichzeitig vorgenommene Obduktion ergaben, ist der Knabe auf einen eisernen 
Balken gestürzt und hat Schädelverletzungen davongetragen. Er ist entweder gleich 
tot oder bewusstlos gewesen. Damit stimmt auch die Aussage der beiden Thäter 
überein, die auf eine Frage, ob der Knabe noch geschrien habe, autworteten: „Nein, 
Johann hat nichts mehr gesagt.“ Der Aufzug wurde seit Jahrzehnten nicht benutzt. 
Er befand sich in einer Art Kammer, die als Wandschrank verwandt wurde. Quer 
durch diese Kammer waren Latten angebracht, die aber weggenommen werden konnten, 
und die Thüre der Kammer war nicht verschlossen. Die Leiche war, wohl infolgo 
des Luftabschlusses, eingetrocknet, so dass der Verwesungsgeruch verhältnismässig 
gering war und in dem Aufzug nach oben, nach bem Speicher, stieg. So ist es 
erklärlich, dass die Leiche nicht früher gefunden wurde. Sie ist auch jetzt nur durch 
Zufall gefunden worden, da man vermutete, ein Besen sei in den Schacht gefallen. 
Die beiden Thäter, welche die That eingestanden und sogar näher erläuterten, zeigten 
für das Schreckliche derselben keinerlei Verständnis. 


32 
Litteratur. 


Entwurf zum Ausbau der Hilfsschule zu Halle a. S. und ein Lehrplan 
für sie von Karl Kläbe, Lehrer an der Hilfsschule zu Halle a. S. Preis Mk. 1.20. 

Vorliegendes Schriftchen kommt insofern einem Bedürfnisse entgegen, als es kurz 
alle Fragen bespricht, welche bei der Errichtung einer Hilfsschule und bei dieser 
selbst zu beobachten sind. Dasselbe ist aus der Praxis heraus entstanden und bietet 
demjenigen, der mit der Hilfsschule in irgend einer Weise zu schaffen hat oder sich 
für dieselbe auch nur zu interessieren beginnt, eine treffliche Handreichung. 





Wir suchen für unsere nougegründete 


Hilfsklasse für schwachbefähigte Kinder 


eine geeignete, bereits vorgebildote 


Lehrkraft. 

Das Anfangsgehalt der hiesigen Lehrer beträgt 1100 Mk. und 300 Mk. Miets- 
entschädigung für die unverheirateten und 400 Mk. für die verheirateten Herren. — 
Mit den gesetzlichen Dienstalters- und den Ortszulagen, welche von 5 zu 5 Jahren 
eintreten, steigt das Gehalt nach 30 Dienstjahren auf 2900 resp. 3000 Mk. 

Bei nachgewiesener und angemessener Vorbildung soll dem in Frage stehenden 
Stelleninhaber ausserdem eine persönliche Zulage von 200 Mk. verwilligt werden. 

Bewerber wollen sich unter Beifügung eines Lebenslaufes, einos Dienstzeugnisses 
der vorgesetzten Schulbehörde, der Zeugnisse über I. und Il. Lelıramtsexamen und 
eines physikatsärztlichen Gesundheitszeugnisses bis Ende Februar cr. bei uns melden. 


Saalfeld, den 29. Januar 1902. Der Magistrat. 
Liebscher. 


Evang. Lehrer, 


seminaristisch und akademisch gebildet, 28 Jahre alt, mit dem Idiotenwesen vollkommen 
vertraut, da er bereits 3 Jahre als Lehrer und Erzieher an einer Idiotenanstalt mit 
gutem Erfolge thätig war, sucht, gestützt auf vorzügliche Prüfungs- und Amtsführungs- 
zeugnisse, sofort anderweite entsprechende Stellung. Gefl. Off, m. Gehaltsangabe unter 
„Lehrer“ a. d. Schriftleitung à. Bl. erbeten. 








Inhalt. Wie wird die Hilfsschule der Individualität geistig schwacher Kinder 
gerecht? (E. Kannegiesser) X. Konferenz für Idiotenwesen und Schulen für schwach- 
sinnige Kinder. (Fortsetzung.) — Mitteilungen: Nieder-Marsberg, M.-Gladbach. — Litteratur: 
Kläbe, Entwurf zum Ausbau der Hilfsschule. — Anzeigen. 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 


Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


~ 


a Ps; 


Nr. 3 u. 4. l / AM DAU Jahrg. 





Behandlung. Schwachsiniger und Enläfieher 


Organ der Konferenz für das ; Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden -Strehlen, für Nefvenkrankhelten 
Residenzstrasse 27. In Stuttgart. 


Erscheint jährlich in 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

mindestens einem Bogen. Anzeigen für | Mä 1902 und Postämter, wie auch direkt von der 

die gespaltene Patitzelle 25 Pfy. Litte- arz . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen G Mark. | einzelne Nummer 60 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Wie wird die Hilfsschule der Individualität geistig 
schwacher Kinder gerecht? 
E. Kannegiesser, Hauptlehrer der Hilfsschule zu Erfurt. 
(Schluss.) 

Es erhebt sich nun die Frage nach der Auswahl der geistig schwachen 
Kinder von den normalen. Nach welchen Gesichtspunkten findet sie statt? 
Diese Frage ist so wichtig, dass sie der eingehendsten Erörterung bedarf. Soll 
doch über die Zukunft eines jungen Menschenkindes die Entscheidung gefällt 
werden. 

Die Auswahl der Kinder setzt. einen gründlichen Schulversuch voraus. 
Denn es giebt in der That normale Kinder, welche auf Grund individueller, 
seien es innerer oder äusserer Verhältnisse sich nur schwer in das Räderwerk 
des Schullebens einzufügen verstehen. Es wäre ein unentschuldbares Vergehen, 
sie als anormal geistig zu degradieren. Die Hilfsschule ist nur für die geistig 
Schwachen da. Die erste Auswalıl liegt also in den Händen der Volksschule, bezw. 
der Lehrer der Unterklassen, der Rektoren und Schulärzte. Bei verständiger An- 
ordnung des Stoffverteilungsplanes lässt sich auch mit den Schwächsten im ersten 
Vierteljahr ein Schulversuch wohl bewerkstelligen. Fällt der Verdacht geistiger 
Schwäche dann auf ein Kind, so bedarf es einer sorgfältigen Beobachtung seines 
geistigen und körperlichen Zustandes und seiner häuslichen Verhältnisse. Denn 
hier liegen oft grobe Ursachen einer angeblichen Schwäche, welche beseitigt werden 
können, ich erinnere an Erkrankungen der äusseren Sinnesorgane und des Sprech- 
apparates. Zeigt sich aber, dass ein Kind nach zweijährigem Schulbesuche gänzlich 
erfolglos am Unterricht teilgenommen hat, so ist der beste Beweis der geistigen 


34 
Schwäche erbracht. Länger zu warten wäre zum Schaden der ganzen Schule. Von 
den in den vergangenen 12 Jahren aufgenommenen 197 Schülern hatten 62 ein 
oder weniger, 128 bis 2 und mehr Versuchsjahre aufzuweisen. 7 Kinder traten 
ohne vorhergegangenen Schulbesuch ein. 

Die der geistigen Schwäche verdächtigen Kinder werden nun wie bekannt 
im Februar und März eines jeden Jahres der Hilfsschule zur endgiltigen Unter- 
suchung zugeführt. Ihr fällt die wichtige Aufgabe zu, die wissenschaftlich nicht 
bestimmbare Grenze zwischen geistig normal und schwach praktisch so zu treffen, 
dass nur die geistig Schwachen Aufnahme finden, welche in der ‚Volksschule 
nicht zu fördern sind. Denn darüber darf man sich nicht hinwegsetzen, es giebt 
auch geistig schwach veranlagte Kinder, welche wohl ınit grosser Mühe, aber 
doch gerade noch das Ziel der Volksschule, wenn auch nicht der obersten Klasse, 
erreichen. Derartige Kinder, die oft nur im Rechnen oder in Orthographie minder- 
wertige Leistungen aufweisen, lehnt die Hilfsschule ebenfalls ab. Gottlob braucht 
das aber nur selten einzutreten. 

Aber noch weitere Gruppen werden abgewiesen; es sind die epileptischen 
blödsinnigen, geisteskranken und bloss sittlich verwahrlosten Kinder. Eine Zeit 
lang werden sie zwar zur Probe aufgenommen, nach spätestens 2 Jahren aber 
entlassen. Das geschah in den vergangenen Jahren mit 1 Epileptiker, 11 Blöd- 
sinnigen und 1 Geisteskranken. Bloss Verwahrloste fanden nie Aufnahme. Eine 
besondere Stellung haben wir zu 6 krüppelhatten geistig normalen Kindern ein- 
genommen. Sie wurden von den Eltern der Schule zugeführt. Aus Barmherzig- 
keit haben wir sie behalten und denken zu ihrem Segen. So lange keine be- 
sonderen Erziehungsanstalten für sie errichtet sind, werden wir auch fernerhin 
derartigen Unglücklichen die Hilfsschule öffnen. 

Nach welchen Gesichtspunkten findet nun die Untersuchung 
statt? Die angemeldeten Kinder werden durch unsern Schularzt, Herrn Sanitäts- 
rat Dr. med. Loth, einer eingehenden Untersuchung, besonders ihres körperlichen 
Zustandes und aller jenen Momente des psychischen Lebens, welche geistige 
Schwäche begründen könnten, unterworfen. Sie ist aber für die Aufnahme nicht 
ausschlaggebend. Denn die geistige Schwäche, der Schwachsinn, mit welcher wir 
es zu thun haben, wird nicht hauptsächlich charakterisiert durch körperliche Be- 
gleiterscheinungen, sondern wie schon früher hervorgehoben, durch eine Ent- 
wicklungshemmung des psychischen Lebens. Massgebend kann demnach nur die 
Fixierung des Grades derselben sein. Das ist Aufgabe der pädagogischen Unter- 
suchnng, welche schon ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Moment mit 
dem 2 jährigen erfolglosen Schulbesuch erbracht hat. 

Worauf erstreckt sie sich weiter? Mit Rücksicht auf die vorhergegangene 
Charakterisierung der Individualität kann ich mich jetzt kürzer fassen. Sie 
untersucht die Fähigkeit des Kindes, Empfindungen und Verstellungen zu unter- 
scheiden. Diese Gebilde an sich sind noch kein Entwicklungsgrad, sondern erst 
die Feinheit, mit welcher ihre Unterschiede wahrgenommen werden, zeigt ihn 
an. Das geistig schwache Kind bleibt darin weit hinter dem normalen zurück. 
Das ergiebt sich aus Farben- und Formenkenntnis, Vertrautheit mit Lage, 


Richtung der Dinge und ihrer Grösse. Auch die Schrift der linken Hand wird 
einer Prüfung auf zwangsweise Spiegelschrift unterworfen. Desgleichen ist der 
Grad von Geschicklichkeit und Beweglichkeit von Bedeutung. Es wird beob- 
achtet, wie die neue Umgebung wirkt, ob sie Neugierde erweckt oder gleichgiltig 
lässt. Auch seine sprachliche Entwicklung wird geprüft auf Sprachfertigkeit 
und Sprachverständnis. Charakter und Temperament offenbaren sich im Verkehr 
mit dem ihm fremden Lehrer: ob es ängstlich, still, bescheiden, zutraulich oder 
ungeniert und dreist ist, ob es verstört, verwirrt, unwillig und karg, oder sicher, 
klar und bestimmt antwortet. Der Vorstellungskreis wird ergründet nach Um- 
fäng, Inhalt und Art seiner Verbindungen. Die Untersuchung erstreckt sich 
auch auf die Fähigkeit, Kausalitätsverhältnisse einfachster Art zu verstehen oder 
ein Bedürfnis dafür zu empfinden. Zuletzt werden die vorhandenen Schulkennt- 
nisse geprüft. 

Das alles sieht zwar recht einfach und harmlos aus, und doch ist diese 
Untersuchung nicht nur eine der schwierigsten, sondern auch verantwortungs- 
vollsten Aufgaben unsres Spezialberufes. Sie erfordert gründliche Kenntnis der 
Psychologie des Kindes und der pathologischen Erscheinungen seiner Entwicklung, 
Vorsicht und Geschick, sich das Zutrauen desselben sofort zu sichern, es nicht 
zu ermüden und aus einer Antwort viele zu lesen. Freilich wird die Unter- 
suchung manchmal erschwert oder verhindert, sobald das Kind erziehlich ver- 
wahrlost, ängstlich und verschüchtert erscheint, keine Antwort giebt oder geistig 
zu unentwickelt ist. In diesen Fällen verstehen wir uns lieber zu einer Ab- 
lelınung als Aufnahme, besonders wenn kein oder nur ein kurzer Schulbesuch 
vorliegt. 

Haben ärztliche und pädagogische Untersuchung die geistige Schwäche eines 
Kindes festgestellt, so erfolgt die Aufnahme und Einreihung in die Schule. Die 
Aufnahme ist stets eine freiwillige und muss durch Unterschrift der Aufnahme- 
Bedingungen seitens der Eltern bescheinigt werden. 

Wie wird nun die Hilfsschule der Individualität der geistig 
schwachen Kinder gerecht? 

Sie wird ihre Aufgabe am besten erfüllen, wenn sie in erster Linie Er- 
ziehungsschule ist. So selbstverständlich uus diese Forderung erscheint, da 
sie durch die Erfahrung begründet ist, wird sie doch nicht allseitig anerkannt. 
Man behauptet, diese Kinder seien nicht zu erziehen, sondern nur abzurichten. 
Wenn sich das hier und da vielleicht auch nur auf hochgradig Schwachsinnige 
beziehen sollte, so müssen wir es doch ganz entschieden zurückweisen. Es fehlt 
hier jeglicher Maßstab, die Erziehung nach dem Objekt derselben zu bestimmen, 
nur für die Erfolg versprechenden Kinder zu reklamieren, die andern aber aus- 
zuschliessen. Sie sind ebenso wie normale Kinder erziehbar. Die Möglichkeit 
darf hier nicht vom Erfolg sich bestimmen lassen. Wer allerdings leichthin 
die Schwierigkeiten dieser Erziehung überschlagen wollte, verfiele einer argen 
Täuschung. Rechte Erzieher aber sind nie vor Schwierigkeiten zurückgeschreckt. 
Nnr die können die Möglichkeit der Erziehung leugnen, welche weder mit dem 
Wesen des geistig Schwachen vertraut sind, noch praktische Arbeit geleistet haben. 





36 

Unsrer Erziebung schwebt als lebendiges Vorbild die hocherhabene und 
doch so greifbare Gestalt unsres Heilands Jesus Christus vor, in dessen Wort 
und Wandel auch die geistig Schwachen guten Weg und sichern Halt finden 
können. Es wird nun freilich eingewendet werden, dass unsre Kinder wohl 
kaum zur Höhe der Selbstführung, der Selbsterziehung zum Ideal, in das Gebiet 
der Zucht kommen werden. Wohl recht! Aber die Möglichkeit dazu lehrt die 
Erfahrung. Darum sprechen wir ihnen auch nicht jegliche Verantwortlichkeit 
und Selbständigkeit ab. Die Weite des Weges bestimmt die Individualität. Sie 
lehrt uns erkennen, dass geistig schwache Kinder dauernd weit hinter normalen 
zurückbleiben. Die Erziehung hat sich daher meist in den Bahnen der Ge- 
wöhnung zu halten und wird nur vorsichtig in die der Zucht übergehen dürfen. 
Das ist oberster Grundsatz. Ihm müssen sich alle weiteren Massnahmen unter- 
ordnen. 

Da die beste Gewöhnung im Familienverbande geübt wird, trägt die Schule 
den Charakter einer erweiterten Familie im eigenen Heime. Sie ist das Spiegel- 
bild des späteren Lebens. Sie fordert eine strenge Konsequenz ihrer Massnahmen 
in der Nacheiferung des Guten wie in der Verabscheuung des Bösen. Sie fordert 
unbedingten Gehorsam, ist mild und gerecht. Sie prägt sich dem Wesen des 
Kindes tief ein, das oft so arg verkümmerte Gemüt weckend und wärmend, 
den schwachen Willen kräftigend. Sie trägt seiner persönlichen Eigentüm- 
lichkeit Rücksicht. Die körperliche Erziehung verdient die grösste Auf- 
merksamkeit. Die Schuleinrichtungen haben den höchsten hygienischen An- 
forderungen zu genügen. Die Individualität lehrt uns im guten Vorbild ein 
wesentliches Erziehungsmittel erkennen. Ibm fügen sich alle Bilder, auch die 
Lehrerpersönlichkeit ein. Die Erziehung wecke das gesunkene Selbstgefühl und 
das Vertrauen zum Lehrer. Sie erprobe Arbeitsfreudigkeit und Selbständigkeit. 
Sie weise konsequent auf die Pflicht des Einzelnen gegen sich und das Ganze 
hin. Sie betone aber auch aus gleichen Grunde Bescheidenheit und Mässigung. 

Aus dem Charakter der Schule als erweiterte Familie ergiebt sich auch die 
Pflege der Verbindung zwischen Schule und Haus und die Notwendigkeit: weiterer 
erziehlicher Veranstaltungen, wie Schulfeiern, Spaziergänge, Helferarbeit, Blumen- 
pflege, Spielstunden, Schulsparkasse, Schülerbibliothek, besonderer Konfirmanden- 
unterricht u. s. w. 

Ich habe mich in diesen Ausführungen möglichster Kürze befleissigt, da ich 
einesteils nur das für die Berücksichtigung der Individualität unsrer Kinder 
Beachtenswerte hervorheben wollte, andernteils aber dem Pädagogen wenig Neues 
bieten kann. 

Beharrend auf dem Standpunkte, dass die Hilfsschule um der Individualität 
der Kinder willen in erster Linie Erziehungsschule sein müsse, lassen wir nie- 
mand im Zweifel darüber, dass ung als bedeutungsvollstes Erziehungsmittel der 
Unterricht erscheint nach Ziel, Lehr- und Lektionsplan und Methode. 

Ich werde auch hier nur das bitten, was der Hilfsschule eigentümlich ist, 
sie von den Schulen für normale Kinder unterscheidet. 

Das Unterrichtsziel ist dem der Mittelstufe der Volksschule ungefähr 


ER 


gleich, steht im Rechnen darunter, in andern Fächern, wie Deutsch, Realien und 
Handfertigkeit darüber. Es bietet einen für das kleinbürgerliche Leben noch 
allenfalls ausreichenden und leicht zu erzielesden Abschluss. 

Zur Erreichung dieses Zieles ist die Hilfsschule in 5 aufsteigende Klassen, 
die erste derselben in 2 Abteilungen gegliedert, so dass im ganzen 6 Stufen 
vorhanden sind. Die höchste Frequenz der untersten Klasse sollen 20, die der 
obersten Klasse 25 Kinder sein. Knaben und Mädchen werden zusammen unter- 
richtet. Wir befürworten das Klassenlehrersystem, aber nicht die Durchführung 
der Schulklassen, weil nur ein kleiner Teil der Neuaufgenommenen die Schule 
gleichmässig durchläuft. Massgebend für die Auswahl des Unterrichts- 
stoffes sind folgende Gesichtspunkte: Die geringe Entwicklungshöhe der geistig 
Schwachen fordert einen sorgfältig ausgewählten, nur das Notwendigste fürs 
Leben enthaltenden Lehrplan. Derselbe hat sich langsam und lückenlos aufzu- 
bauen. Er hat sich in allen seinen Teilen nicht wesentlich über die Grenzen 
der Heimat zu erheben, wie er hier seine weitverzweigten Wurzeln hat. 

Da es bei unsern Kindern um die gewöhnlichsten Vorstellungen äusserst 
mangelhaft bestellt ist und jegliche Handtertigkeit sich langsam und schwer 
entwickelt, hat sich der Stoff auch nach diesen Gesichtspunkten zu ordnen. 
Anschauungsunterricht und Handfertigkeit sind die Grundpfeiler unsres Lehr- 
planes. Sie sind nicht nur im Prinzip, sondern auch als Fächer bis in die 
oberste Klasse stark vertreten, wo sich dann noch die Pflege der Leibesübungen 
anschliesst. 

Der Anschauungsunterricht entnimmt für Klasse V demgemäss den 
Stoff der allernächsten Umgebung des Kindes, Stube, Haus, Hof, Strasse, Schule 
u. s. w., verbreitet sich über Stoft, Gestalt, Farbe der Gegenstände und dergl. Er 
ordnet sich ein dem Gange des Religionsunterrichts. In Klasse IV konzentriert 
er sich um die bekanntesten Heyschen Fabeln und in Klasse III um die 
Hölzelschen Anschauungsbilder der 4 Jahreszeiten, weitere Fabeln, Erzählungen 
und Lieder mit einschliessend. Hier endet er als gesondertes Fach. 

Der Handtertigkeitsunterricht beginnt in Klasse V gleichfalls und ist 
bier durch das Stäbchenlegen aufs Innigste mit dem vorigen Lehrfach verbunden. 
Seine Bedeutung schätze ich sehr hoch. „Der Wert dieser Übungen liegt darin, 
dass das Kind die Gegenstände in den wesentlichsten Umrissen scharf aufzufassen 
und darzüstellen gezwungen wird. Auf diese Weise werden Vorstellungskraft 
und Gedächtnis bedeutend belebt, indem geschwundene Bilder aus dem Leben 
mit voller Frische und Verkettung wieder hervortreten; die Kraft der Ver- 
gleichung wird geübt, indem Gleichartiges unbewusst näher an einander tritt; 
der Kreis der Anschauungen und Vorstellungen wird geinehrt. Sodann ist nicht 
zu unterschätzen die ausserordentliche Muskelübung der Hände, Übung des Auges, 
welche dieser Unterricht mit sich bringt.“ Er vermittelt auch die Grundbegriffe 
der Formenlehre, welche später im Anschluss an das Zeichnen gewonnen werden. 
Im eigentlichen Handarbeitsunterricht stricken sowohl Mädchen wie Knaben aller- 
hand nützliche Gegenstände. Beide Fächer setzen sich in Klasse IV, Stricken bis 
in Klasse III fort. In Klassen III und II wird Stäbchenlegen durch das Flechten 


38 
farbiger Papierstreifen ersetzt, welches Farbenkenutnis vermittelt, Aufmerksamkeit 
und Überlegung übt und das ästhetische Gefühl bildet. In Klasse II beginnt 
das eigentliche Zeichnen als Netzzeichnen nach Stuhlmann, welches sich in 
Klasse I als freies Zeichnen ebener Gebilde fortsetzt. Wie wir uns aber hier- 
bei nicht an den gegebenen Lehrgang sklavisch binden, sondern Gegenstände 
und Figuren aus der Kinder Umgebung einfassen, so üben wir sie auch hierbei 
fleissig im Gebrauch von Lineal und Mass. Während in Handarbeit die Mäd- 
chen schon in Klasse II zum Nähen und Zeichnen übergeben und bis zur 
obersten Klasse üben, stricken die Knaben weiter allerlei praktische Gegenstände, 
z. B. auch Waschleinen. Ich kann mich dabei der Ansicht nicht verschliessen, 
dass wir das Stricken für Knaben, welches einst notgedrungen aufgenommen 
wurde, als nicht mehr zeitgemässe männliche Handfertigkeit vom Lehrplan allmäh- 
lich ausschliessen müssen, hoffe aber, dass schon von Ostern 1902 au Unterricht in 
Papparbeiten eingeführt werden kann. Er soll ebenfalls in erster Linie der allge- 
meinen Bildung und nur mittelbar der künftigen Berufsbildung dienen. Er soll 
dem Unterricht dienstbar sein nach dem Grundsatze: „Nur was man darstellen 
kaun, hat man wirklich geistig erworben.“ 

Da die geistig schwachen Kinder in zahlreichen Fällen mit Störungen det 
Sprache behaftet sind, ist für die Sprachleidenden der ganze Schule Artikulations- 
unterricht eingerichtet, dessen Lehrgang sich nach dem phonetischen Prinzip 
aufbaut. 

Der Religionsunterricht geht von der Voraussetzung aus, dass die 
religiösen Vorstellungen, Begriffe und Gefühle, als die am spätesten und 
schwierigsten sich entwickelnden Seelenzustände, einer langsamen und sorg- 
fältigen Vorbereitung bedürfen und ihren ergiebigsten Nährboden im Familien- 
leben haben. Er kann nur den Kern der christlichen Lehre bieten, nämlich das 
Lebensbild unsres Heilandes. Alles, was nebensächlich ist, wird ausgeschieden. 
Wir gehen den allgemein bekannten Weg von Redecker & Pütz. Das Ver- 
hältnis des Kindes zu den Eltern ist ein Gleichnis unsres Verhältnisses zu Gott. 
Aus diesem entstehen die religiösen Vorstellungen, Begriffe und Gefühle, welche 
ihre anschauliche Grundlage wieder in jenem finden. 

Als Überleitung dient das eine Märchen: Die Sternthaler. Ohne nun die 
Kinder in die ihnen völlig fremde und darum unverständliche Welt der alt- 
testamentlichen Geschichte zu führen, schliessen wir das Leben des’ Heilandes 
an, in Klasse V und IV Jugendgeschichten, in den oberen Klassen ein in kon- 
zertrischen Kreisen sich erweiterndes Gesamtbild gebend. Katechismus, Kirchen- 
lied und Spruch werden nur soweit berücksichtigt, als es sich unmittelbar aus 
der Geschichte ergiebt und als religiöses Bekenntnis unentbehrlich ist. So 
denken wir den Kindern ein durch kein Nebenbild geschwächtes Lebensbild des 
Heilandes, dessen Vorbild zur Nachahmung zwingt, gegeben zu haben. Die 
katholischen Kinder besuchen selbstverständlich den Religionsunterricht ihrer 
früheren Schule. 

Im Deutschen bietet der Aufbau des Schreiblesestoffes erhebliche Ab- 
weichungen von dem andrer Schulen. Trotz jahrelangen Suchens ist es nicht 


39 


möglich gewesen, eine unseren Anforderungen nur einigermassen genügende 
Fibel zu finden. Wir verzichten auf die Durchführung eines Prinzips. Die 
Individualität unsrer Kinder ist allein massgebend. Und sie verlangt gebieterisch 
ein langsames, lückenloses Fortschreiten vom Leichten zum Schweren und zwar 
so, dass nur stets eine Schwierigkeit auf einmal geboten wird, damit die 
Steigerung des Stoffes nicht die der psychischen Entwickelung, vor allen Dingen 
nicht die der Handfertigkeit überschreitee Wir behandeln demnach nach der 
reinen Schreiblesemethode, die auch uns als die einfachste erscheint, nacheinander 
S, i e ei n u. 8. w. Wir folgen also auch nicht vom Anfang an nur dem 
jetzt so stark betonten phonetischen Prinzip, da auch die Mehrzahl unsrer 
Kinder die Sprache nicht erlernt, sondern völlig beherrscht. Sodann gehen wir 
von 2 zu 3lautigen, von 1 zu 2 silbigen Wörtern vor, sinnlose Lautverbindungen 
meidend. Wir stossen uns in der ersten Zeit aber nicht daran,’ dass unser Sie, 
Lehm, Moos u. s. w. „si, lem, mos“ geschrieben wird. Der Stoff soll nicht 
mangeln. Das schwache Gedächtnis der Kinder schützt vor Gefahr. Es folgen 
dann Sätze mit 2, 3 und mehr Wörtern. Wir beschränken uns in Klasse V 
auf das Gebiet der Gleichschreibung und schreiben alle Wörter klein. 

Klasse IV erlernt die grosse Schreibschrift mit einfacher Konsonanten- 
häufung, Klasse III die kleine und grosse Druckschrift und darnach die Anders- 
schreibung, welcher leider noch keine bessere Fibel zu Gebote steht, als die von 
Gabriel und Lupprian. Dann folgen in den nächsten Klassen Unter- und 
Mittelstufe des Lesebuches von Steger und Wohlrabe. 

Das Aufschreiben wird von der untersten Stufe an aufs :orgfältigste ge- 
pflegt und ermöglicht von Klasse II an einfache Aufsätzchen auf die Tafel, in 
Klasse Į in ein Heft. Der Inhalt ist dem gesamten Lehrstoff entnommen und 
wird durch intensive Aneignung zur Darstellung fertig. 

Über Musterstücke ist besonderes nicht zu berichten. Die Rechtschreibung 
wird nicht durch Regeln, lediglich durch Anschauung und Übung erlernt. Die 
Grammatik findet nur insoweit Berücksichtigung, als sie Rechtschreibung und 
einfachste Stilübung unterstützt. Die Schrift richtet sich nach dem Neveschen 
Alphabet unter Wahrung der individuellen Anforderungen. 

Der Rechenunterricht ist in Wahrheit ein Stein des Anstosses und 
Prüfstein dieser schwachen Geister. Hier gilt es ebenfalls, den Stoff auf das 
Sorgfältigste aufzubauen Ich kann mir nicht versagen, hier sofort etwas von 
der Methode einzulegen. Wir gründen uns selbstverständlich auf die An- 
schauung, finden aber nicht in deren Mannigfaltigkeit, sondern Einfachheit den 
richtigen Weg. Andere Bezeichnung ist für unsre Kinder ein völlig neues 
Ding. Erst wenn eine Aufgabengruppe mit einer Bezeichnung verstanden ist, 
ergeben sich für andre Veranschaulichungsmittel Apperzeptionshilfen. Es muss 
ferner von Anfang an als unumstössliches Gesetz festgehalten werden, dass 
Zahl, Ding und Ziffer zu einer zusammengesetzten Vorstellung so verschmelzen, 
dass später bei der Reproduktion der reinen Zahl die Teilvorstellungen mit be- 
wusst werden, ein Rechnen mit reinen Zahlen zur Unmöglichkeit gehört. Vom 
Operieren mit schriftlichen Zahlenbildern halte ich nichts, weil einesteils die 


40 
Handfertigkeit, andernteils der Raumsinn unserer Schüler sehr minderwertig 
sind. Wie ich die Zahl als eine Zusammensetzung von Einheiten ansehe, so 
kann ich mich auch nur auf ein hierauf gegründetes Rechnen verlassen. 

Klasse V rechnet im Zahlenraum bis 10 Aufgaben des Addierens und 
Subtrahierens. Das beste Veranschaulichungsmittel sind die 10 Finger. Klasse IV 
arbeitet den Zahlenraum bis 20 ohne Zehnerübergang durch, ebenfalls nur 
obige beide Grundrechnungsarten. Die Hauptschwierigkeit liegt hier im Ab- 
strahieren des ersten Zehners Klasse III rechnet denselben Zahlenraum mit 
Übergängen und allen 4 Spezies durch. Die Hauptarbeit fällt der Übung. des 
Zehnerüberganges zu. Die Vorrechnungsform ist auf Grund der Veranschau- 
lichung an der Rechenmaschine, von welcher jedes Kind ein kleines Hand- 
exemplar besitzt, bis zu vollster Geläufigkeit zu üben. Klasse II rechnet im 
-Zahlenraum bis 100 aber nur mit Grundzahlen. Hier wird sich die Probe aut 
das vorhergegangene Exempel ergeben. Klasse I, Abt. 2 arbeitet sämtliche 
Aufgaben dieses Zahleraumes durch. Der Stoff von Klasse I, Abt. 1 umfasst 
die 4 Grundrechnungsarten des Zahlenraumes bis 1000 und weiter, soweit es 
einstellige Multiplikatoren und Divisoren erlauben. Je nach dem geistigen 
Standpunkte dieser Abteilung können Ausflüge in des Gebiet des Rechnens mit 
mehrfach benannten Zahlen, den einfachsten gemeinen und dezimalen Brüchen 
unternommen werden. 

Heimats- und Vaterlandskunde schliesst sich an den Anschauungs- 
stoff der Klasse III an. Sie betrachtet in Klasse II den Stadtkreis Erfurt und 
seine nächste Umgebung unter Einziehung kleiner naturkundlicher und ge- 
schichtlicher Bilder. Klasse I behandelt den Landkreis Erfurt und die Provinz 
Sachsen. Ist die Klasse geistig fähig, so wird der Stoff knapper gefasst und 
ein Überblick über das deutsche Vaterland hinzugefügt. Diese Klasse weist 
auch für die Realien getrennte Stunden auf. Es erhöht das Interesse für den 
Stoff ungemein. Selbstverständlich ist, dass wir nur Heimatliches bieten, die 
Bilder aus Geschichie eingeschlossen. 

Vom Gesang ist nichts Besonderes zu berichten. 

Der Turnstoff enthält nur Freiübungen, zur Zeit bis Klasse I ohne 
Trennung der Geschlechter, er beginnt in Klasse III mit einfachen Marsch- und 
Taktübungen. Dass wir zu den notwendigen Leibesübungen auch die Spiele 
rechnen, ist schon einmal erwähnt worden. Sie sind um so nötiger, als unsre 
Kinder ungeschickt, ängstlich und die Pointe eines komplizierten Spieles nicht 
erfassend, von den normalen Kindern gehänselt und vom Spiel ausgeschlossen 
werden. 

Der eben gezeichnete Plan enthält das Maximum unsres Bildungs- 
stoffes und muss auf jede Klassenindividualität in jedem Jahre besonders an- 
gewendet werden. Es kann demnach wohl eine Verminderung, nie aber eine 
Vermehrung desselben eintreten. Die Individualität unserer Kinder verlangt 
aber auch ein fast gleiches Tempo in seiner Verarbeitung. Nur nach Ostern, 
also beim Beginn des neuen Schuljahres, ist eine vorsichtigere, langsamere und 
minimalere, niemals aber besonders zu Ende desselben eine sich steigernde, 


ln 


höhere als normale Anforderungen stellende Stoffverteilung vorzunehmen. Die 
erziehlichen Momente wurden dann zu Gunsten der reinen Lernarbeit unter- 
drückt. Die Hilfsschule hat demnach auch keinen Platz für besondere Prüfungen, 
am allerwenigsten für Versetzungsprüfungen. 

Im folgenden möchte ich noch durch eine kleine Übersicht zeigen, in 
welcher Weise die Kinder das Lehrziel erreichten. Aus den Klassen V 
und IV wurden 1 bezw. 4 Kinder entlassen; sie waren geistig sehr schwach und 
sind als erwerbsunfähig zu bezeichnen. Klasse III hatte 7 Konfirmanden, welche 
zum ‚grössten Teil erwerbsfähig waren. 17 Kinder erreichten das Ziel der 
II. Klasse. Aus der 2. Abt. der I. Klasse schieden 24 Konfirmanden. Das 
Ziel der 1. Abt. der Klasse I, also das höchste der Schule, erklommen 
32 Kinder. Von ihnen wurden 13, da sie noch ein oder mehrere Schuljahre vor 
sich hatten, auf besonderen Wunsch der Eltern nach den IV., in einigen Fällen 
auch nach den III. Klassen der Volksschulen zurückversetzt, wo sie sich meiner 
Kenntnis nach zufriedenstellend halten. Es haben demnach von 85 Konfir- 
manden 56 das Ziel der I. Klasse erreicht. 

Als höchst erfreuliches Zeichen dafür, dass sich das Verständnis für die 
Thätigkeit der Hilfsschule auch bei den Eltern vermehrt, führen wir auch die 
Thatsache an, dass in den letzten 2 Jahren sechs auf das ihnen zustehende 
Recht der Zurückversetzung ihrer Kinder nach der früheren Schule verzichteten 
und baten, sie bis zur Entlassung in der Hilfsschule zu behalten. 

Der Lektionsplan weist als neu in allen Klassen gleichliegende Rechen- 
und Lesestunden auf. Zu diesen Fächern findet ein Austausch der Kinder in 
den vorhergehenden Pausen statt. 

Ich komme zur methodischen Bearbeitung des Lehrstoffes. Es 
sollte mich nicht wundern hier und da dem Gedanken zu begegnen, dass in 
der Hilfsschule eine besondere, absonderliche oder keine Methode angewendet 
würde. Hat man doch die Möglichkeit der Anwendung der formalen Stufen 
bestritten. Wer solche Behauptungen aufstellt, hat keine Ahnung vom Wesen 
des Schwachsinnes und verwechselt diese Kinder mit bildungsunfähigen Idioten. 
Wer also in dieser Beziehung etwas ganz Besonderes zu hören hoffte, wird ent- 
täuscht werden. Wir betonen: eine besondere Methode haben wir nicht, und 
wenn doch geringe Unterschiede zu der der Volksschule vorhanden sind, so sind 
sie nur gradueller Natur. Die für die normalen Kinder beste Methode ist auch 
für die geistig schwachen die richtige und besteht im Anschauen, Denken und 
Anwenden. Mechanisches Einlernen kennt die Hilfsschule nicht und betrachtet 
es als leitendes Prinzip, dass die Kinder nur Verstandenes erfassen; denn nur 
das ist bildend. Es entsteht daraus für uns fortgesetzt die Aufgabe, bildungs- 
unfähigen oder schwer apperzipierbaren Stoff auszuscheiden und nach besserem 
zu suchen. 

Selbstrerständlich muss die Methode so einfach angewendet werden, als es 
die Individualität unsrer Kinder bedingt, ohne Sprünge und Künsteleien, aber 
auch ohne Weitschweifigkeiten. Bei der geringen Schülerzahl, der genauen 
Kenntnis der einzelnen Individualitäten kann es für uns keine phrasenhafte 


42 

Forderung bleiben, die Individualität im Unterricht nach Anschauungskreis, 
Denkthätigkeit, Gedächtnis, Phantasie, Sprechfertigkeit, sozialen Verhältnissen, 
körperlichen Gebrechen u. s. w. zu berücksichtigen. Es muss aber auch die 
nötige Vorsicht obwalten. Die Berücksichtigung und Entfaltung der Individualität 
darf nicht in Entartung derselben verfallen. Die Methode darf die Kinder nicht 
zu Schwätzern machen dadurch, dass Kausalitätsverhältnisse ergründet werden, 
für welche sowohl das Verständnis wie die Erfahrung mangelt. Die leichte 
Ermüdbarkeit muss durch Frische und Lebendigkeit, Abwechselung und längere 
Pausen bekämpft werden. Das tief empfindende Lehrerherz wird das arme 
Kinderherz entzünden. | 

Was besonders das Anschauen betrifft, so ist auch für normale Kinder 
beachtenswert, die Perzeption dadurch wertvoller zu machen, dass man mehrere 
Sinnesgebiete zugleich daran teilnehmen lässt. Die Apperzeption geht um so 
leichter und lebhafter vor sich, je enger der neue Stoff dem Erfahrungsleben 
angeschlossen wird. Auch beim Denken ist die fortgesetzte Versinnlichung der 
Vorstellungen und Begriffe zu betonen. Das Ergründen und Erfassen einfachster 
kausaler Verhältnisse ist nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Anwendung 
muss eine zwar kurze, nicht rührselige, aber fortgesetzte sein; nur so wird das 
Schulleben ein Spiegelbild der Wirklichkeit bieten. 

Die Übung hat, ohne zu ermüden, den erarbeiteten Stoff den Kindern zum 
geistigen Eigentume zu machen, da er sonst weder unterrichtlich verwertbar 
noch erziehlich wirksam sein kann. 

Ich bin am Schlusse meiner Ausführungen, welche ein Bild unserer 
Arbeit an den geistig schwachen Kindern geben sollten. Viel ist schon getban, 
aber noch mehr zu thun bleibt der Zukunft vorbehalten. Sie muss besonders 
die wichtige Frage der sozialen Stellung und Behütung dieser Kinder ins Auge 
fassen. Für uns Lelirer ist aber eine zweite Frage von ganz besonderer Wichtig- 
keit, nämlich die nach der allgemeinen pädagogischen Bedeutung der Hilfsschulen. 
Sie liegt ja einesteils so offen da, lat aber andernteils nur hier und da leise 
berührt werden können. Es ist aber zu hoffen, dass sie mit der weiteren Ent- 
wickelung der Hilfsschulen, der Werke der praktischen pädagogischen Pathologie 
stetig zunehmen wird und mit ihren Resultaten auch das Erziehungswesen 
normaler Kinder heilsam beeinflusst. Das wird um so eher und gründlicher 
der Fall sein, je mehr sich das aufrichtige Interesse der gesamten deutschen 
Lebrerschaft diesem Zweige der Jugenderziehung zuwendet. - 

Litteratur: 
Emminghaus. Die psychischen Störungen des Kindesalters. Tübingen, I,auppsche 

Buchhandlung. | ; 
Sengelmgnn. Systematisches I,ehrbuch der Idiotenheilpflege. Norden, Soltaus Verlag. 
Strümpell. Die pädagogische Pathologie. Leipzig, Ungleich. 

Sollier. Der Idiot und der Imbecille.. Hamburg, Leop. Voss. 
Ziehen. Leitfaden der physiologischen Psychologie. Jena, G. Fischer. 
Stötzner. Schulen für schwachbefähigte Kinder. Leipzig und Heidelberg, Winter. 


43 


Wintermann. Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz. Beiträge 
zur Kinderforschung, Heft III. Langensalza, Herm. Beyer & Söhne. 

Ufer. Das Wesen des Schwachsinns. Pädag. Magazin, Heft V. Langensalza, Herm. 
Beyer & Söhne. 

Grohmann. Der Schwachsinnige und seine Stellung in dər Gesellschaft. Zürich, 
Rascher. 

Reinke. Die Erzichung und Unterweisung schwachsinniger Kinder. Berlin, Oehmigkes 
Verlag. 

Redecker & Pütz. Der Gesinnungsunterricht. Mühlheim a. d. R., Baedeckers Verlag. 

Grote. Welche Kinder gehören in die Hilfsschule? — Bericht über den ersten Ver- 
 bandstag der Hilfsschulen Deutschlands 1898. 

Demoor. Welche Bedeutung haben die Täuschungen der Muskelempfindungen bei 
der Diagnose auf Idiotie? Kinderfehler, Jahrg. 99. 

Lehrplan der Hilfsschule zu Erfurt. 

K. Die Beurteilung des kindlichen Geistes durch Spiegelschrift. Zeitschrift für die. 
Bahandlung Schwachsinniger und Epileptischer. Jahrg. 95. 


X. Konferenz für das Idiotenwesen 


und Schulen für schwachsinnige Kinder. 
(Fortsetzung.) 


Zweite Hauptversammlung. 
Donnerstag, den 19. September, vorm. 9 Uhr im Speisesaale der Stadthalle. 
Ich erteile Herrn Direktor Kölle- Regensberg (Schweiz) das Wort: 


Versuch einer Einteilung der Idioten. 
Leitsätze. 
Erste Abteilung: Primäre Idiotie. 


A) Schwachbefähigte 
I. Schwachbefähigte mit angeborenen körperlichen Defekten. 
a) Erethische oder versatile Schwachbefähigte. 
1. Mit einfacher psychischer Schwäche. 
2. Mit psychischen Komplikationen. 
3. Mit moralischen Defekten. 
b): Apathische oder anergethische Schwachbefähigte. 
1. Mit einfacher psychischer Schwäche. 
2. Mit psychischen Komplikationen. 
3. Mit moralischen Defekten. 
II. Schwachbefähigte mit erworbenen körperlichen Defekten. 
Mit denselben Unterabteilungen wie bei I. 
III. Schwachbefähigte ohne körperliche Defekte. 
Mit denselben Unterabteilungen wie bei I und II. 


44 


B) Schwachsinnige. 
Mit denselben Unterabteilungen wie bei A. 
C) Blödsinnige. 
Mit denselben Unterabteilungen wie bei A und B. 


Zweite Abteilung: Sekundäre Idiotie. 


Diese zeigen naturgemäss ein anderes klinisches Bild als die primären 
Idioten und gehören zu den Irrkranken, sie können auch nur ärztlich be- 
handelt werden. 


Hochrverehrte Versammlung! 
Wer sich mit Idiotismus beschäftigt, der hat häufig Gelegenheit, die Wahr- 
heit des Goethe’schen Wortes zu erfahren: 


„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, dass sich 
dabei auch etwas denken lasse.“ 


Wir haben eine Menge von Ausdrücken, mit denen ein geistig zurück- 
gebliebener Mensch, mit dem wir uns beschäftigen wollen, bezeichnet wird, 
allein nur selten deckt sich bei zwei Personen der Begriff, den sie ausdrücken 
wollen, genau mit den Worten, die sie hierfür gebrauchen. Und wie mannig- 
faltig ist die Ausdrucksweise, die angewandt wird. Idiotisch, imbeeill, schwach- 
sinnig, blödsinnig, geistig zurückgeblieben, schwach befähigt, dumm! Dazu 
kommen noch alle die Epitheten, die von denjenigen unserer Haustiere entlehnt 
werden, welche wir als nicht mit besonders grossem Verstande begabt, anzu- 
sehen gewöhnt sind. 

Wir möchten oft so gerne mit dem Schüler im Faust ausrufen: 

„Doch ein Begriff muss bei dem Worte sein!“ 
Gewöhnlich aber erhalten wir darauf die gleiche Antwort, die Mephisto giebt: 
„Schon gut, nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen! 
Denn eben, wo Begriffe fehlen, 
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. 
Mit Worten lässt sich trefflich streiten, 
Mit Worten ein System bereiten, 
An Worte lässt sich trefflich glauben, 
Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.“ 

Warum herrscht wohl eine so grosse Verworrenheit und Unklarheit, wenn 
der Begriff „Idiotismus“ definiert werden soll? 

Mir scheint es daher zu kommen, dass man sich unnötigerweise abmüht’ 
unter den Begriff Idiotismus eine eigene Gattung von Menschen bringen zu 
wollen. Und doch möchte ich mit Sollier behaupten : 

„Es giebt eigentlich gar keinen Idiotismus, sondern nur Idioten.“ 

Auch die Naturwissenschaft hat einigermassen dazu beigetragen, die Ver- 
wirrung, die auf diesem Gebiete herrscht, noch zu vergrössern. 

Darwin will in seinem Werke „die Abstammung des Menschen“ nach- 
weisen, dass Idiotismus Reversion oder Atavismus sei, er sagt darüber: 

„Wenn eine Struktur in ihrer Entwicklung gehemmt ist, aber doch fort- 


45 


fährt zu wachsen, bis sie einer entsprechenden Struktur eines niedern, er- 
wachsenen Mitgliedes derselben Gruppe sehr ähnlich ist, so mag dies in einem 
gewissen Sinne als ein Fall der Reversion betrachtet werden. Die niedern 
Glieder einer Gruppe geben uns einen Begriff davon, wie der gemeinsame 
Vorfahr wahrscheinlich gestaltet war; und es ist kaum glaublich, dass ein 
komplizierter Teil, der in einer frühern Phase seiner embryonalen Entwicklung 
gehemmt wurde, fortfahren solle zu wachsen, bis er schliesslich seine eigene 
Funktion darstellen könnte, sofern er diese Fähigkeit nicht während einer 
frühern Existenzbeschaffenheit erworben hätte, wo die gegenwärtige, exzeptionelle 
oder gehemmte Struktur normal war. Das einfache Gehirn eines mikrocephalen 
Idioten mag in diesem Sinne, sofern es dem eines Affen gleicht, als ein 
Reversionsfall betrachtet werden.“ 

Darwin zeigt hier deutlich das Bestreben, im Idioten einen Atavisten zu 
sehen, und deshalb schreibt er ihm Eigenschaften zu. die der Idiot in Wirklich- 
keit nicht besitzt. Noch deutlicher zeigt sich dies in folgenden Ausführungen, 
in denen er sich an Karl Vogt anschliesst: 

„Es besteht ein Unterschied zwischen gehemmter Entwicklung und ge- 
hemmtem Wachstum; denn Teile, die sich im ersten Verhältnis befinden, wachsen 
weiter, während sie noch ihren frühern Zustand beibehalten. Verschiedene 
Monstrositäten sind hierher zu zählen, und einige, wie der gespaltene Gaumen, 
sind als gelegentlich erblich bekannt. Es genügt für unsern Zweck, sich auf 
die gehemmte Entwicklung des Gehirns von mikrocephalen Idioten zu beziehen, 
wie sie Karl Vogt in einer Schrift („Memoire sur les Mikrocephales“ 1867) 
dargestellt hat. Ihr Schädel ist kleiner, und die Grehirnwindungen sind weniger 
kompliziert als beim normalen Menschen. Die Stirnhöhle oder der Vorsprung 
über den Augenbrauen ist stark entwickelt und die Kinnbacken sind in einem 
erschreckenden Grade prognatisch, so dass diese Idioten den niedern mensch- 
lichen Typen ziemlich gleichen. Ihre Intelligenz und besonders ihre geistigen 
Fähigkeiten sind äusserst schwach. 

Sie eignen sich nicht das Sprachvermögen an und sind einer längern 
Aufmerksamkeit unfähig, jedoch alımen sie leicht nach. Sie sind kräftig und 
merkwürdig beweglich, hüpfen und springen beständig und ziehen Grimmassen. 
Oft ersteigen sie Treppen auf allen Vieren und haben eine besondere Neigung 
auf Möbel oder Bäume zu klettern Wir werden hierdurch an die Freude er- 
innert, mit der die meisten Knaben Bäume erklettern; und dieses wieder er- 
innert uns an die Lust, mit der Lämmer und junge Ziegen — ursprünglich 
Gebirgstiere — selbst auf die geringste Anhöhe hüpfen. 

Idioten gleichen auch in anderen Beziehungen den niedern Tieren; so sind 
mehrere Fälle beobachtet worden, wo sie jeden Bissen Nahrung sorgsam be- 
rochen haben, ehe sie ihn verzehrten. Bei einem Idioten wurde bemerkt, dass 
er, wenn er lauste, oft mit dem Munde die Hände unterstützte. Sie sind häufig 
in ihren Gewohnheiten schmutzig und haben keinen Sinn für Schicklichkeit. 
Auch sind viele Fälle von ihrer auffälligen Behaarung bekannt gemacht worden.“ 

Es wird jedem unbefangenen Beurteiler sofort auffallen, dass Karl Vogt 


46 


und mit ihm Darwin, also zwei Naturforscher, die in vorderster Linie stehen, 
zu Gunsten ihres Lieblingswunsches die Thatsachen zu falschen Schlüssen ge- 
brauchen oder gar ganz verkehrte Behauptungen aufstellen. Wir wissen wohl, 
warum Karl Vogt und Darwin die Idioten gerne auf Möbel, Bäume etc. 
klettern lassen, aber leider ist die Kletterlust und Geschicklichkeit bei den 
Mikrocephalen fast nie vorhanden. 

Da wo Darwin Reversion oder Atavismus nachweisen will, zeigt sich 
immer nur die Verkümmerung des einzelnen Individuums durch Krankheit. 

Auch die sogenannten Azteken, die Berkhan im Jahrgang 1898 unserer 
Zeitschrift beschreibt, und die als die letzten lebenden Azteken ausgegeben und 
dem Publikum unter Erzählung einer romantischen Geschichte vorgestellt werden, 
sind nichts anderes, als mikrocephale Idioten, deren körperliche Bildung und 
Kopfform durchaus nicht durch ihre Abstammung erklärt werden kann. 

Solche mikrocephale Formen kommen auch in Europa vor. Die Vergleichung 
solcher Typen mit Völkerstämmen führten auf Abwege, und alle Einteilungs- 
versuche, welche sich auf diese Typen gründen wollten, mussten fehl schlagen. 

Wir dürfen also wohl sagen: „Es giebt keinen Idiotismus“ d. h. es giebt 
keine besondere Gattung oder keine Spezies unter der Gattung Mensch, den 
man unter dem Namen Idiotismus zusammenfassen könnte. Es giebt vielmehr 
nur einzelne Individuen, die idiotisch sind. 

Idiotie ist also eine Krankheitserscheinung, und wie jede Krankheits- 
erscheinung, so hat auch sie gewisse Merkmale, die immer wieder in ähnlicher 
Weise auftreten. Diese Bemerkungen müssen besonders beachtet werden, wenn 
man versuchen will, die Idioten in gewisse Gruppen einzuteilen. 

Die Krankheitserscheinung kann schon in frühester Jugend aufgetreten 
sein, sie kann aber auch in späteren Lebensjahren sich gezeigt haben, bei einem 
vorher ganz gesunden Individuum. In diesem Falle spricht ınan von sekundärem 
Idiotismus. Es versteht sich von selbst, dass dieser sekundäre Idiotismus ein 
ganz anderes Bild zeigt, als der primäre Idiotismus. Es liegt auf der Hand, 
‚dass sich bei jenem noch einzelne Reste von Verstandesthätigkeiten, von Fertig- 
keiten etc. von früher her erhalten haben. Diese Idioten gehören deshalb auch 
ganz in ärztliche Behandlung. Wir haben uns mit primärem Idiotismus zu 
befassen. 

Wenn wir eine Definition geben wollen von diesen Individuen, so müssen 
wir sagen: Idioten nennen wir alle diejenigen Individuen, deren geistige Anlagen 
tiefer stehen, als diejenigen, die wir als normal anzunehmen gewöhnt sind und 
zwar infolge einer Verkümmerung des Gehirns. 

Es zeigt sich aber sofort, dass diese Definition, der ein weiter SDR 
gelassen ist, sich doch noch mehr dehnen lässt. 

Es ist auf einer der ersten Konferenzen für Idiotenwesen bet worden, 
dass der Ausdruck Idiotismus allgemeine Bedeutung haben soll. Man wolle 
damit alle diejenigen bezeichnen, die infolge einer auf Verkümmerung des Ge- 
hirns beruhenden Entwicklungshemmung geistig tiefer stehen, als diejenigen, 
welche wir als normal anzusehen gewöhnt sind. Nun vermochte aber diese 


47 


Annahme nicht allgemein durchzudringen. Durch Solliers Buch „der Idiot 
und der Imbecille“ ist namentlich auch bei deutschen Ärzten der Ausdruck 
Idiot für die Blödsinnigen angenommen worden, während man unter Imbecillen 
die Schwachbefähigten versteht, damit aber gewöhnlich noch die Nebenbedeutung 
verbindet, dass zu der geistigen Schwäche noch geistige Komplikationen kommen. 
Wir sind nun in Verlegenheit, welchen allgemeinen Ausdruck wir für alle die- 
jenigen gebrauchen sollen, die ausserhalb der Reihe normal beanlagter Menschen 
stehen bis herunter zum vollständig Blödsinnigen. 

Der Ausdruck „geistig minderwertig“, wie ihn Dr. Cassel in Berlin ge- 
braucht, würde vielleicht noch am Besten passen. Allein er drückt das, was 
wir bezeichnen wollen, auch nicht vollständig aus, und schliesslich ist der Dumme, 
der aus Trägheit und Gleichgiltigkeit zurückgeblieben ist, auch geistig minder- 
wertig, obgleich er kein Idiot ist. 

Ich möchte mich deshalb dem früheren Beschluss unserer Konferenz an- 
schliessen und alle diejenigen Individuen, die infolge einer ererbten oder er- 
worbenen Verkümmerung des (Gehirns in ihrer geistigen Entwicklung gehemmt 
sind, Idioten heissen. Der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes 
‘wäre man damit näher gekommen. Unter Idioten verstanden die Griechen einen 
Mann, der sich vom Staatsdienste ferne hielt, für sich lebte und also in Staats- 
angelegenheiten unwissend war. 

Mit der Zeit erhielt das Wort den Beigeschmack eines geistig beschränkten 
Menschen überhaupt, also eines Menschen, der ausserhalb der Reite derjenigen 
steht, die im alltäglichen Leben urteilsfähig sind. In unserer Zeit wird der 
Ausdruck Idiot häufig für einen Blödsinnigen gebraucht. 

Es giebt nun auch Fälle, bei denen man versucht ist, von partiellem 
ldiotismus zu reden, partiell, insofern ein Individuum in einem Fache ganz be- 
merkenswertes leisten kann, während es in allem Übrigen vollständig idiotisch 
ist. Hierher gehören z. B. die sogenannten Rechensimpel, die oft ganz ausser- 
ordentliches leisten. Freilich beschränkt sich ihr Rechentalent meistens auf 
mechanische Fertigkeiten, die sie nicht praktisch verwenden können. Ähnliche 
Fertigkeiten zeigen andere im Zeichnen und Malen. Sogenannte Musiksimpel 
sind häufig, und es zeigen sich ja oft ganz blöde Kinder, die jede Melodie, die 
sie einmal hörten, nachsingen können. 

Es sind dies Individuen, bei denen einzelne Fähigkeiten oder Fertigkeiten 
in ausgedehnter Weise ausgebildet sind, während ihre allgemeinen geistigen 
Anlagen tief stehen. 

Der umgekehrte Fall kommt fast ebenso häufig vor, nämlich der, dass 
geistig hervorragende Männer in einzelnen Gebieten vollständig zurückgeblieben 
sind. Es sind dies partielle Unfähigkeiten, die wir uns kaum recht erklären 
können. Freilich werden wir meistens annehmen müssen, dass ausschliesslich 
geistige Arbeiten auf einem bestimmten Gebiete alles Interesse für praktische 
Dinge erlöschen liess, so dass die Betreffenden sich darin als ungeschickt, blöde, 
täppisch zeigen. Nicht nur die Witzblätter wissen von der Zerstreutheit der 
Stubengelehrten zu erzählen. Neander musste, wie Gerok berichtet, während 


48 
seiner geistreichen Vorträge stets eine Gänsefeder auf seinem Pulte haben, um 
seine Gedanken besser sammeln zu können, wenn seine Hände die Feder zer- 
knitterten. Mancher Schachspieler bleibt nur dann ruhig, wenn er seine Zigarre 
während des Spiels weiter rauchen kann. Wie schwer musste Pestalozzi 
leiden an seinem praktischen Ungeschick, das ihn durch sein ganzes Leben 
hindurch verfolgte! 

Hierher sind auch die verschiedenen Koordinationsstörungen zu rechnen, 
die jeder an sich selbst beobachten kann, wie z. B. die linkshändigen Bewegungs- 
hemmungen u. a. m. Erst in neuerer Zeit wurde man aufmerksam auf ver- 
schiedene Abnormitäten der Intelligenz und der Moral bei Individuen, die man 
sonst nicht zu den psychisch abnormen zu zählen gewöhnt war. 

Es ist das Verdienst von Dr. Koch, früher Direktor der Irrenanstalt Zwie- 
falten, auf diese Erscheinungen aufmerksam gemacht zu haben. Er fasst sie 
zusammen unter dem Namen psychopathische Minderwertigkeiten. 

Er sagt darüber: 

„Unter dem Ausdruck psychopathische Minderwertigkeiten fasse ich alle, 
sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen in seinem Personenleben be- 
einflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusammen, welche auch in schlimmen 
Fällen doch keine Geisteskrankheiten darstellen, welche aber die damit be- 
schwerten Personen auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger 
Normalität und Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen. Der Ausdruck 
Minderwertigkeit soll jedoch keineswegs besagen, dass immer das ganze psychische 
Verhalten der Betrefienden minderwertig und ihre ganze geistige Persönlichkeit, 
an und für sich betrachtet, eine niedrig stehende sein müsse. Nicht wenige 
psychopathisch Minderwertige, obgleich sie in sich geschädigt und gekürzt sind, 
ragen doch in manchen geistigen Leistungen, ja nach dem ganzen Wert ihrer 
geistigen Persönlichkeit über viele normale Menschen weit hervor, über Menschen 
mit „rüstigem“ Gehirn, wie eine treffende, von Schüle herrührende Bezeich- 
nung das ausdrückt. 

Die hier in Betracht kommenden Individuen verhalten sich psychisch nicht 
wie andere Leute etc.“ 

Im Anschluss an dieses Werk von Koch erschien von Trüper das Buch 
„Psychopathische Minderwertigkeiten bei Kindern“. Die hier geschilderten Kinder 
sind häufig in Anstalten und Hilfsklassen anzutreffen, und bei entsprechender 
Behandlung wird manches von ihnen grossen Nutzen für seine Entwicklung 
davontragen. 

Wenn wir vorhin Idioten diejenigen Individuen nannten, deren geistige 
Fähigkeiten tiefer stehen, als wir durchschnittlich bei Menschen im gleichen 
Alter und unter denselben Lebensverhältnissen annehmen dürfen, so wollen wir 
den Begriff jetzt noch enger fassen und sagen: Es sind Individuen, die in ihrer 
geistigen Entwickiung zurückgeblieben sind infolge einer anererbten oder in 
frühester Jugend erworbenen Verkümmerung des Gehirns. Versuchen wir nun 
im Anschluss an diese Bemerkungen, die hervorragenden Erscheinungen zu 
gruppieren, um eine Einteilung der Idioten zu stande zu bringen, 


49 

Es ist dies schon oft versucht worden. Sollier führt in dem Buche „der 
Idiot und der Imbecille“, das von Dr. Paul Brie in Bonn ins Deutsche über- 
setzt wurde und 1891 erschien, die verschiedenen Versuche an, die gemacht 
wurden, eine Klassifikation aufzustellen, es hat ihn jedoch keiner dieser Versuche 
befriedigt. Er sagt schliesslich: „Wir unsererseits müssen, ehe wir einen defi- 
nitiven Standpunkt einnehmen, untersuchen, was die Hauptsache bei der geistigen 
Entwicklung ist. Wir glauben sie in der Aufmerksamkeit zu finden, und dem- 
gemäss werden wir drei Kategorien so aufstellen: 
| 1. Schwere Idiotie: vollständige Geistesabwesenheit und Unvermögen zur 
Aufmerksamkeit. 

2. Leichte Idiotie: Schwäche und Erschwerung der Aufmerksamkeit. 

3. Imbecillität: Unbeständigkeit in der Aufmerksamkeit. 

Wir werden gewiss Sollier beistimmen, und in der Praxis ist es ja auch 
schon geschehen, dass bei der Einteilung der Idioten drei ähnliche Abteilungen 
aufgestellt werden. 

Wenn wir Idiotie als Oberbegriff festhalten, werden wir zu folgenden 


Gruppen kommen: 
A) Schwachbefähigte. 


B) Schwachsinnige. 
C) Blödsinnige. 


Bei dieser Einteilung ist auf dieselbe Hauptsache Rücksicht genommen, 
nämlich auf den Stand der geistigen Entwicklung, oder, vielmehr schärfer aus- 
gedrückt, auf den Stand der geistigen Entwicklungsfähigkeit. 

Wenn Sollier die Aufmerksanıkeit als hauptsächlichen Unterscheidungs- 
grund der Geistesthätigkeit annimmt, so ist Jies ebenfalls nicht genau beob- 
achtet, obgleich er der Sache näher kommt, als viele andere. Das eigentliche 
Unterscheidende ist vielmehr die Schwäche zu unterscheiden, zu vergleichen, zu 
urteilen, oder kurz ausgedrückt: 


„Eins von nicht Eins“ zu unterscheiden, wie ich in meiner letzten Konferenz- 
arbeit nachzuweisen versucht habe*). 


Eine Folge und Begleiterscheinung dieser geistigen Schwäche ist auf allen 
Stufen des Idiotismus der Mangel eines richtigen, sprachlichen Ausdrucks. Max 
Müller leugnet geradezu ein begriffliches Denken ohne Sprache. Die mensch- 
liche Wortsprache ist der Ausdruck von Begriffen durch artikulierte Laut- 
verbindungen. Da das begriffliche Denken bei einem Schwachsinnigen gestört 
ist oder verlangsamt vor sich geht infolge einer Störung im Begriffszentrum, 
so kann ein Begriff auch nicht richtig ansgedrückt werden. Aber auch, wenn 
dies noch möglich ist, treten alle jene Störungen noch hinzu, die ein richtiges 
Lautieren und Artikulieren verhindern, und so zeigte sich die Menge jener Sprach- 
defekte, mit denen sich der Idiotenlehrer fortwährend abzugeben hat. Einen 
Einteilungsgrund aber, wie mau schon annehmen wollte, können diese Sprach- 


*) Vergleiche: Dr. Gündel: „Zur Klassifizierung der Idioten“. Zeitschrift für die Be- 
handlung Schwachsinniger und Epileptischer. Jahrgang 1896. 


50 


‚fehler deshalb nicht geben, weil sie sich in ganz gleicher Weise bei den ver- 
schiedensten Individuen wiederholen. 

Wenn wir nun als ersten Einteilungsgrund den „Grad des Iditotismus“ oder 
die „Quantität des Idiotismus“ angenommen haben, so wäre als zweiter Unter- 
scheidungsgrund die „Qualität“ des Idiotismus massgebend, wie sie sich aus der 
körperlichen Beschaffenheit des einzelnen Individiums ergiebt. 

Hier würden wir unterscheiden: 

1. Idioten mit angeborenen körperlichen Defekten. 

‚2. Idioten mit erworbenen körperlichen Defekten. 

3. Idioten ohne körperliche Defekte. 

Ferner würde die Modalität oder die Art und Weise, wie sich der Idiotis- 
mus äussert, einen Einteilungsgrund bilden; es könnten unterschieden werden: 


a) Erethische oder versatile Idioten. 
b) Apathische oder anergethische Idioten. 


Und endlich als vierten Grund der Einteilung könnten wir die Relation 
annehmen oder die Beziehung des geistigen Lebens der Idioten zu dem normalen 
Menschen in ihren Äusserungen im sozialen Leben. 


Hier werden wir unterscheiden: 

1. Idioten mit einfacher psychischer Schwäche. 
2. Idioten mit psychischen Komplikationen. 

3. Idioten mit moralischen Defekten. 


Damit hätten wir ein weitgehendes Schema gewonnen, in das wir alle 
Idioten, die uns begegnen, leicht einreihen können. 

Wir sehen hier vom sekundären Idiotismus ab und beschäftigen uns nur 
mit dem primären Idiotismus. Dieser zerfällt zunächst in die angeführten drei 
Hauptklassen: 

A) Schwachbefähigte oder geistig Zurückgebliebene, Kinder mit psychischer 
Schwäche, die dem Unterricht einer Normalschule nur mit Mühe 
folgen können und in einzelnen Fächern ganz zurückbleiben. 

B) Schwachsinnige, die dem Unterricht in einer öffentlichen Schule nicht 
mehr folgen können, die aber durch einen zweckmässigen Unterricht 
in Anstalten oder Nachhilfschulen so weit gefördert werden, dass sie 
später im Leben sich nützlich machen können. 

C) Blödsinnige, die nı>ht mehr bildungsfähig sind, sondern nur noch 
verpflegt werden müssen. 

Die Grenzlinie zwischen den einzelnen Gruppen wird nie ganz scharf ge- 
zugen werden können, und nur ein längerer Umgang mit den Zöglingen wird 
das Urteil des Lehrers so schärfen, dass er im stande sein wird, den einzelnen 
Schüler richtig zu beurteilen. 

Immerhin wird auch der Laie bald, wenn auch nicht die Eltern des Kindes, 
sein Urteil abgeben, ob ein Kind geistig zurückgeblieben ist oder nicht. 

Als erste Hauptgruppe hätten wir bei den Schwachbefähigten nach unserer 
vorhin aufgestellten Einteilung: 


öl 


I. Schwachbefähigte mit angeborenen körperlichen Defekten. 

Bei dieser Gruppe ist es wichtig, auf die prädisponierenden Ursachen 
der Krankheit zu achten, dann, ob das Auftreten derselben endemisch oder 
sporadisch ist. 

Unter den verschiedenen Arten der körperlichen Defekte fallen namentlich 
auf der Kretinismus, Skrofulose, Rhachitis, dann die verschiedenen Defekte der 
Sinnesorgane, die Degenerationszeichen. Ebenso auffallend wie Kretinismus ist 
das Auftreten von Mikrocephalie und Hydrocephalie Als erste Unterabteilung 
dieser Schwachbefähigten mit angeborenen körperlichen Defekten führen wir an: 

a) Erethische oder versatile Schwachbefähigte. 

Die Perzeption vollzieht sich bei diesen verhältnismässig rasch, die Apper- 
zeption ist unklar, verworren. Wie die sensorischen, so sind auch die motorischen 
Nerven leicht erregbar, dies zeigt sich in allen möglichen Bewegungen des 
ganzen Körpers oder einzelner Körperteile. Diese Bewegungen werden gewöhn- 
lich für einzelne Individuen eigentümlich, so die Bewegung des Kopfes nach 
rechts oder links, diese Bewegung auch im Bett auf dem Kissen vor dem Einschlafen. 

Weitere derartige Bewegungen sind: 

Bewegung des Oberkörpers nach vorn, pendelartig. — Oder dieselbe Be- 
wegung mit vorgestelltem Bein. — Bewegung eines Armes in bestimmter 
‚Richtung. — Krümmung des Armes und Bewegung der Hand in bestimmter 
Richtung. — Bei gleicher Stellung, Bewegung eines Fingers, namentlich des 
Zeigefingers. — Verbindung einiger der angeführten Bewegungen. — Am meisten 
fällt auf die Begleitung dieser Bewegungen durch Lautäusserungen. 

Unter den motorischen Nerven scheinen die zu den Sprachorganen führenden 
besonders leicht erregbar zu sein. Die Lautäusserungen zeigen sich zuweilen im 
-Absingen von nur wenigemale gehörten Melodien. Die Nervenmechanik scheint 
zu spielen, ohne das Bewusstseinszentrum hervorragend zu affizieren. 

Diese Bewegungen sind unter dem Namen Tik bekannt. Dubois-Reymond 
führt in seinem Vortrage „Über die Übung“ aus, dass jede körperliche Gymnastik 
eine Nervengymnastik sei. Und wenn wir sehen, dass durch ein schwach ent- 
wickeltes Zentralorgan und einen schwächlichen, nervösen Apparat Bewegungs- 
störungen und Hemmungen eintreten, so dürfen wir gewiss auch annehmen, dass 
durch planmässige, gymnastische Übungen eine Stärkung des nervösen Apparates 
und sogar des Zentralorganes eintritt. Und hier muss eingegriffen werden, wenn 
man diese Zwangsbewegungen heilen will. Die Bewegungen, welche unbewusst, 
zwangsweise ausgeführt werden, die können allmählich unterbleiben, wenn die- 
selben Bewegungen mit Bewusstsein ausgeführt werden. Dies ist der grösste 
Nutzen der Gymnastik in Idiotenanstalten. 

Bei den angeführten, erethischen Schwachsinnigen mit körperlichen Defekten 
ist seltener der kretinöse Typus und Hydrocephalie anzutreffen, dagegen ziemlich 
häufig Mikrocephalie. 

Auch Sprachdefekte sind im ganzen etwas seltener. Die erste Unter- 
abteilung der erethischen Schwachbefähigten mit angeborenen körperlichen 
Defekten ist: 


52 


1. Erethische Schwache mit einfacher psychischer Schwäche. 

Es sind dies im ganzen gutmütige Kinder, die durch ihre allgemeine 
geistige Schwäche und die angeborenen körperlichen Defekte auffallen. Wenn 
keine besondern Sprachdefekte sich zeigen und namentlich auch das Auge ein 
helles ist, dann wird der Laie sie beim ersten Anblick immer höher taxieren. 

2. Erethische Schwache mit psychischen Komplikationen. 

Bei dieser Kategorie handelt es sich nicht allein um die geistige Schwäche, 
die freilich recht eigentlich die Basis des ganzen persönlichen Bildes ist, sondern 
es treten noch allerlei krankhafte Abweichungen hinzu, die oft zu einer Behand- 
lung in einer Irrenanstalt nötigen. Es gehören namentlich hierher die an ein- 
facher Seelenstörung leidenden, die mit Manie oder Epilepsie behafteten Kinder. 
Auch bei diesen treten Sprachdefekte in allen Formen auf. 

3. Erethische Schwache mit moralischen Defekten (moral insanity). 

Bei allen Schwachen wird eine gewisse moralische Schwäche anzutreffen 
sein, die im ganzen ihrer psychischen Schwäche entspricht. Immerhin muss 
noch eine Gruppe unterschieden werden, bei welcher diese Defekte in auffallenderer 
Weise sich zeigen, als dies gewöhnlich der Fall ist. Es liesse sich allerdings 
noch fragen, ob man diese Kranken nicht mit denjenigen der vorigen Gruppe 
zusammennehmen, oder ob man sie gesondert behandeln wolle. 

Die psychische Schwäche allein würde die Vergehen nicht begründen, welche 
von dem mit moral insanity Belasteten verübt werden. 

Es sind hier namentlich zu nennen die verschiedenen perversen Triebe 
(Geschlechtstrieb, Nahrungsaufnahme bis zur Fresserei bei oft ekelhaften Stoffen), 
dann die verschiedenen Manien, wie Kleptomanie, Pyromanie, Zerstörungssucht, 
Selbstverstüämmelung etc. Ferner alle die Vergehen, welche gegen das Gesetz 
und die Sitten verstossen und die betreffenden Individuen so oft mit dem Straf- 
gesetz in Konflikt bringen, ohne dass sie sich bewusst werden, etwas Ungehöriges 
verübt zu haben. 

Wir kämen nun zu der zweiten Unterabteilung der Schwachbefähigten mit 
angeborenen körperlichen Defekten. 

b) Apathische oder anergethische Schwache. 

Bei dieser ganzen Gruppe ist die ganze Sinnesthätigkeit eine verlangsamte, 
die sensiblen Nerven sind schwer zu erregen, und die Perception ist deshalb 
nicht nur auf wenige Wahrnehmungen reduziert, sondern auch eine langsame. 
Eine Association und Apperception kommt sehr schwer zu stande. In gleicher 
Weise ist die Auslösung der Empfindungen verlangsamt, da die motorischen 
Nerven in gleicher Weise weniger reagieren wie die sensorischen. Der ganze 
Apparat der Geistesmechanik arbeitet schwerfällig.. Zu dem kommt noch, dass 
die ganze psychische Schwäche durch das verkümmerte Zentralorgan gesteigert 
ist. Körperlich ist noch mehr als bei der vorigen Gruppe auffallend der Kretinen- 
typus mit Hydrocephalie, natürlich kommt er nicht ausschliesslich vor. Häufig 
trifft man bei diesen apathischen Schwachen Schwerhörigkeit, die dann wiederum 
schwere sprachliche Defekte zur Folge hat. Die erste Gruppe dieser apathischen 
Schwachen bilden wieder: 


u. 


1. Apathische Schwache mit einfacher psychischer Schwäche. 

Es sind dies gutmütige Leute, langsam, träg, gewöhnlich mit sprachlichen 
Defekten behaftet, die nie ganz zu beseitigen sind. Die Fortschritte im Unter- 
richt sind sehr langsame, dafür etwas sicherer. 


2. Apathische Schwache mit psychischen Komplikationen. 

Es können dieselben Seelenstörungen vorkommen wie bei den erethischen 
Schwachen. | 

3. Apathische Schwache mit moralischen Defekten. 


Die mit moral insanity behafteten dieser Gruppe zeigen dieselben perversen 
Triebe wie die Erethiker, es kommt bei ihnen noch dazu, dass sie heimtückisch, 
selbstsüchtig, hinterlistig sind. Ein Angehöriger dieser Gruppe kann mit grösster 
Gleichgiltigkeit seinen eigenen Vater wegen einer Wurst ermorden und dann 
die erworbene Speise mit Appetit verzehren. Die sogenannten Kretinenmorde 
wurden meist von Individuen, welche zu dieser Kategorie zu rechnen sind, 
begangen. 

Wir kommen nun zur zweiten Hauptgruppe. 


II. Schwachbefähigte mit erworbenen körperlichen Defekten. 


Es ist schwer zu bestimmen, ob körperliche Defekte sich erst weiter aus- 
prägen infolge der vorhandenen psychischen Schwäche, oder ob sie den ersten 
Anstoss zur Verkümmerung des Zentralorgans geben. Wenn infolge psychischer 
Schwäche eines Kindes, das sonst anscheinend mit normalem Körperbau ge- 
boren wurde (abgesehen von der Verkümmerung des Zentralorgans, die wir nicht 
kontrollieren können), eine Vernachlässigung der Körperbewegungen eintritt, so 
muss die ganze Konstitution darunter leiden. Es wird sich zeigen, dass das 
Kind eine schlechte Haltung gewinnt, schlechten schwerfälligen Gang bekommt. 
Es geifert, ist unreinlich etc., dies sind immerhin noch die leichteren Fälle 
Es kann sich aber ferner noch einstellen Erkrankung der Augen bis zur Blind- 
heit, Erkrankung der Ohren bis zur Taubheit, Erkrankung des Nasen- und 
Rachenraumes, adenoide Wucherungen, Epilepsie in allen ihren Formen. 

Bei den genannten Fällen kann man annehmen, die Erkrankung des Zentral- 
organes sei die Ursache der angeführten Verkümmerungen. 

Dagegen treten in den Kinderjahren viele Krankheiten auf, die direkt das 
Zentralorgan schädigen und dadurch direkt eine Entwicklungshemmung des 
geistigen Lebens verursachen. 


Hierher sind namentlich zu rechnen: 


Masern, Scharlach, Diphtheritis, Typhus, Lungenentzündung, Gelenk- 
rheumatismus, Trauma, Meningitis, eingetretene Lähmungen. Eine weitere Ur- 
sache kann sein Misshandlung der Kinder, schlechte Ernährung, schlechte Er- 
ziehung. Die Einteilung dieser ganzen Gruppe ist wieder dieselbe, wie bei den 
Schwachsinnigen mit angeborenen körperlichen Defekten. Auch das Bild, das 
beide Gruppen zeigen, ist ziemlich ähnlich. Doch wird man im allgemeinen 
beobachten, dass bei Schwachen mit erworbenen Defekten das Aussehen ein 


54 


besseres ist, und auch beim Unterricht ist die Aussicht auf Besserung günstiger 
als bei denjenigen mit angeborenen körperlichen Defekten. Die letzte Gruppe, 
die wir noch betrachten wollen, ist folgende: 


III. Schwachbefähigte ohne körperliche Defekte. 
Da diese im Leben oft zu wenig beachtet werden, ist es nötig, dass man 


besonders auf sie aufmerksam macht. Bei einem Schulbesuch hört man gewöhn-. 


lich das Urteil: Dieses Kind sieht nicht so schlimm aus, dieses gehört wohl zu 
den bessern Schülern! Nicht so selten, als man gewöhnlich annimmt, kommen 
Individuen vor, welche zu dieser Gruppe gehören. 

Am besten wohl hat Andersen sie charakterisiert in seinem Märchen 
„Schön. 

Auch die im Deutschen übliche Charakteristik dieser Individuen, wenn sie 
dem weiblichen Geschlechte angehören, drückt die Sache gut aus: „Sie ist ein 
Gänschen“. Menschen, welche dieser Gruppe angehören, spielen oft, namentlich 
wenn sie gut situierten Familien angehören, eine zeitlaug sogar eine gewisse 
Rolle im gesellschaftlichen Leben. | 

a) Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte. 

Im allgemeinen stimmt der Charakter dieser Gruppe mit dem der unter I, 
und 11. angeführten Personeu überein. Dadurch, dass sie körperlich nicht miss- 
bildet, sondern sogar oft ein schönes Äussere haben, verändert sich ihre Stellung 
in der Gesellschaft zu ihren Gunsten. 


1. Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte mit einfacher 


psychischer Schwäche. 

Es sind dies gutmütige Schwätzer, die im Leben zur Not eine leichte 
Stelle ausfüllen können, namentlich wenn sie unter Aufsicht sind. Von ihnen 
werden leider viele auch zum Militärdienst herangezogen. Die Perzeption voll- 
zieht sich verhältnismässig leicht. Infolge der psychischen Schwäche ist aller- 
dings die Apperzeption erschwert. Sie sind rasch zu allem bereit, schwatzen 
über alles, vergessen aber auch ebenso leicht. 

Von den Sprachdefekten, die bei dieser Gruppe anzutreffen sind, ist das 
Stammeln, Lispeln und Stottern am häufigsten. Die Individuen dieser Gruppe 
stehen am höchsten unter allen denen, die man noch zu den Idioten im weitern 
Sinne rechnen muss. Eine Grenzlinie zwischen ihnen und den normalen Indi- 
viduen zu ziehen, ist sehr schwer. Ob dies mehr oder weniger zu Tage tritt, 
richtet sich, wie sich Wildermuth ausdrückt, nach den sozialen Verhältnissen, 
in denen sich der Einzelne zu bewegen hat. 

2, Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte mit psychischen 
Komplikationen. 

Zu der einfachen psychischen Schwäche kommen hier noch psychische 
Defekte, wie einfache Seelenstörung, Epilepsie, Hysterie et. Kinder, welche zu 


dieser und der nächsten Gruppe gehören, sind schwer erziehbar. Gewöhnlich: 


sind sie von Haus aus verzärtel. Wird ihr Zustand in der Schule nicht er- 
kannt, so haben sie viel unter Prügeln zu leiden. 








55. 


3. Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte mit moralischen 
Defekten. 

Mehr noch als die unter I. und II. angeführten kommen die Individuen 
dieser Gruppe mit dem Sitten- und Strafgesetz in Konflikt. Dadurch, dass sie 
körperlich gut entwickelt, ja zuweilen schön sind, lässt man sich im Urteil über 
sie leicht beeinflussen. Diese Kinder sind die eigentlichen enfants terribles der 
Familie. In der Schule bleiben sie nicht nur zurück und sind so eine fort- 
währende Qual für den Lehrer, sondern sie verüben auch alle möglichen Streiche.: 
Lange braucht es gewöhnlich, bis diese Unarten als moralische Defekte erkannt 
werden, und die verschieden perversen Triebe, denen sie unterworfen sind, tragen 
ihnen nicht nur empfindliche Strafen ein, sondern sie bringen auch die Familie 
in grosse Verlegenheiten. 


Sind sie aus der Schule entlassen, so geht die Not erst recht an. Die 
Knaben können in einer höhern Schule nicht weiter kommen, ein Lehrmeister 
will sie nicht behalten, weil sie bei ihrer Beschränktheit im Lernen noch fort- 
während Streiche machen, und in der Gesellschaft werden sie nach und nach 
unmöglich. Von ihren Genossen werden sie ausgenützt. Den Wert des Geldes 
kennen sie nicht und geben alles für unnütze Dinge aus. Der perverse Geschlechts- 
trieb, Kleptomanie etc. bringen sie vor Gericht. 


Die Mädchen peinigen zu Hause die Eltern. Kommen sie in dienende 
Stellung, so verbittern sie jeder Hausfrau das Leben, und viele enden in Bordellen 
oder Zuchthäusern. Der Ausdruck „seelenlose Geschöpfe“ möchte am treffendsten 
diese Persönlichkeiten charakterisieren. 

Zum Schlusse kämen wir noch zu den 

b) Apathisch Zurückgebliebenen ohne körperliche Defekte. 

Die Einteilung ist wie bei a) Ein näheres Eingehen auf diese Gruppe er- 
laubt die Zeit nicht mehr. 

Und nun, verehrteste Versammlung, will ich Sie nicht mehr länger in An- 
spruch nehmen. Ich habe Ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, indem ich 
ein so abstraktes Thema behandelte, dem sich nur schwer in einem öffentlichen 
Vortrage folgen lässt. Und doch wagte ich es zu thun, da ich glaube, wir 
werden uns in allem besser verstehen, wenn wir für die Kinder, mit denen wir 
uns fortwährend beschäftigen, auch eine gleichartige Benennung haben. 

Es wird auch für den Lehrer von nicht geringem Nutzen sein, wenn er sich 
bei jedem Schüler genau Rechenschaft zu geben sucht, in welche Kategorie er 
ihn unterbringen soll. 

Ebenso müsste eine bestimmte Einteilung für den Fragebogen der Anstalten 
von unschätzbarem Werte sein. 

Ich persönlich möchte nicht durchaus daran festhalten, dass für den Ober- 
begriff der Ausdruck Idioten beibehalten würde, ich könnte mich vielmehr leicht 
einverstanden erklären damit, wenn man der Zeitströmung Rechnung trüge und 
die Idioten und Imbecillen zusammenfasste z. B. unter dem Ausdruck „Geistig 
Minderwertige“. 


56 

Debatte. Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper spricht dem Referenten den 
Dank der Versammlung aus und stellt den Vortrag zur Debatte. 

Anstaltsarzt Dr. Bresler bemerkt zu den Leitsätzen, dass sie auf den ersten 
Blick den Eindruck hervorrufen, als ob sie künstlich hergestellt seien, sie seien aber 
künstlerisch. Ihm scheine die Unterscheidung primäre und sekundäre Idiotie nicht 
zweckmässig. Referent verstehe unter sekundärer Idiotie solche, die durch Krankheit 
in späterer Zeit erworben sei. Wo soll die Grenze sein? In dieser Beziehung müsse 
Referent eine bessere Fixierung treffen. Redner hält auch einen systematischen Auf- 
bau der Klassifikation unter Berücksichtigung der körperlichen Defekte nicht für ganz 
durchführbar. Der Ausdruck „körperliche Defekte* sei anfechtbar. Was der Referent 
darunter angeführt habe, seien eigentlich mehr Erkrankungen. Darum schlage er 
vor, körperliche Erkrankungen oder Erkrankungen und Defekte zu setzen. Ferner 
will er, dass nicht moralische, sondern soziale Defekte gesagt werde. Bei Idioten sei 
von Moral nicht gut zu reden. 

Direktor Trüper: Die Aufgabe des Referenten sei eine ausserordentlich schwierige 
gewesen, und er erkenne gern an, dass seine Arbeit eine künstlerische Leistung sei. 
Er möchte sich aber zu den gebrauchten Ausdrücken einige Bemerkungen erlauben. 
Statt Idiotie werde landläufig der Ausdruck Schwachsinn gebraucht. Das Wort be- 
deute aber nicht das, was es auf den ersten Blick sage, nämlich Schwäche der Sinne. 
Mit einer Schwäche der Sinne haben wir es oft gar nicht zu thun, dieselben könnten 
im Gegenteil sehr scharfe sein. Der Ausdruck könne darum, wenn er einen Sinn 
haben solle, nur bedeuten, dass der Mensch schwach im Sinnen, Denken sei. Dann 
decke er sich mit dem Ausdruck Intelligenz-, Geistesschwäche. Der Ausdrnck 
Geistesschwäche sei nicht umfassend genug. Er bezeichne nur eine Seite, den Denk- 
prozess. Wenn wir vollständig sein wollen, müssen wir bei der Klassifikation auch 
das Gefühls- und Willensleben berücksichtigen. Dass dies nicht geschieht, hat die 
grosse Tragweite, dass man das ganze Heer von abnormen Kindern, die nicht in 
erster Linie an Intelligenzfehlern leiden, nicht für pathologisch hält. Die Kinder, 
welche von dem Fürsorge-Gesetz betroffen werden, seien in der Mehrzahl pathologisch. 
Redner empfehlt, die fremden Ausdrücke, Idiotie etc. durch deutsche zu ersetzen. 

Hilfsschulleiter Frenzel glaubt, dass solche Einteilungen für die Wissenschaft 
einen gewissen Wert haben, für den Pädagogen aber nur von geringer Bedeutung 
seien. Der Pädagoge habe es mit der Erziehung und Bildung der Geistesschwachen 
zu thun, und da komme vor allem die Intelligenz in Betracht, Wenn ihm für einzelne 
Fälle markante Bezeichnungen geboten würden, so werde er sie mit Dank entgegen- 
nehmen. Die Einteilung in Idioten, Imbecille und Debile genüge für die Praxis, 
und diese sei auch die bisher sowohl von den Pädagogen als auch von den Ärzten 
am meisten beobachtete Klassifikation. So halte Dr. Weygandt in seiner Schrift: 
„Die Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder in ärztlicher und pädagogischer 
Beziehung“, welche erst kürzlich erschienen sei, auch an der genannten Dreiteilung 
fest, ohne besondere Unterabteilungen zu gruppieren. Redner weist dann in seinen 
Ausführungen noch besonders auf die Schwierigkeit einer allseitig befriedigenden Ein- 
teilung der Geistesschwachen hin und hebt hervor, dass die Psychiater bei der Ein- 
teilung der Geisteskranken bezw. Geisteskrankheiten (Psychosen) sich in einer ähnlichen 


57 


misslichen I,age befänden. Der berühmte Psychiater Kräpelin habe z. B. im Laufe 
der letzten 16 Jahre seine Ansichten darüber vielfach modifiziert; seine Einteilung 
von 1883 besitze mit der von 1899 kaum mehr viel Ähnlichkeit. Beachtenswert 
erscheine die Einteilung der Geisteskrankheiten von Prof. Dr. Wernicke, die sich 
durch eine gewisse Einfachheit vorteilhaft auszeichne. Er teile das menschliche Be- 
wusstsein in drei Gebiete ein: Bewusstsein der Aussenwelt, der Körperlichkeit und 
der Persönlichkeit. Diesen verschiedenen Bewusstseinsgebieten entsprächen verschiedene 
Schichten der Grosshirnrinde. Er kenne nun Allopsychosen (allos = Aussenwelt), 
Somatopsychosen (soma — Körper) und Autopsychosen (autos = selbst-persönlich). 
Diese Dreiteilung lasse eine gewisse Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit der vorhin 
erwähnten, am meisten gebräuchlichen Einteilung der Geistesschwachen erkennen und 
verdiene auch unsere Beachtung. 

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Die Einteilung habe sowohl einen 
wissenschaftlichen wie praktischen Wert; einen praktischen Wert für den Pädagogen 
insofern, als er gruppieren und verstehen lerne, warum sich das Kind naclı dieser 
Seite hin äussert, welche die Ursachen waren etc. In Bezug auf die Schwachbefähigten 
wünscht Redner, dass dieselben nicht zu den Idioten gerechnet werden möchten. Es 
habe bedeutende Männer gegeben, welche in ihrer Jugend als schwachbefähigt ge- 
golten haben. Wer die Schwachbefähigten zu den Idioten rechne, begehe ein Ver- 
brechen. Sanitätsrat Dr. Borkhan knüpft an die’ Bemerkung des Vorsitzenden an 
und spricht seine Meinung dahin aus, dass in Bezug auf diesen Satz die Pädagogen 
und Ärzte noch eine Zeit lang in Streit bleiben werden, und dass die Schwach- 
befähigten zu den Idioten zu rechnen seien. 

Direktor Trüper schliesst sich den Worten des Vorsitzenden an. Für die 
Schwachbefähigten müsse der Ausdruck Idioten ausgemerzt werden. Welche Kinder 
man für gewöhnlich als schwachbefähigt bezeichne, seien sehr häufig solche, die durch 
Krankheit auf allen Gebieten ihres Seelenlebens in der Entwickelung gehemmt seien. 
Darum Vorsicht! | 

Bei der weiteren Besprechung handelt es sich besonders um Vertauschung von 
Ausdrücken in den Kölleschen Leitsätzen. Der Vorsitzende bittet insbesondere die 
anwesenden Ärzte, ihre Ansichten zu äussern. An der sehr lebhaften Debatte be- 
teiligen sich die Herren Dr. Bresler, Sanitätsrat Dr. Berkhan, Sanitätsrat 
Dr. Jenz, Direktor Trüper, Schulrat Dr. Boodstein, Hauptlehrer Horrix, Kreis- 
schulinspektor Weichert, Direktor Dr. Gündel, Schulinspektor Eickner, Landesge- 
richtsdirektor Jerusalem, der Referent und der Vorsitzende. Für Idiotie wird Geistes- 
schwäche, für Idioten geistig Geschwächte, geistig Minderwertige, seelisch Abnorme, 
für primäre und sekundäre Idiotie wird ursprüngliche, angeborene und erworbene, im 
späteren Leben erworbene Geistesschwäche, für Schwachbefähigte, Schwachsinnige, 
Blödsinnige wird Schwachsinnige leichteren, mittleren, höheren Grades (Blödsinnige) vor- 
geschlagen. Bei der Verschiedenheit der Meinungen stellt I,andesgerichtsdirektor 
Jerusalem folgenden Antrag: Da die Ansichten noch nicht so weit geklärt sind, 
als dass eine allgemein befriedigende Erklärung abgegeben und eine definitive Ab- 
stimmung vorgenommen werden könnte, beantrage ich, eine Kommission zu erwählen, 
welche diese Sätze weiter berate, 


Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper erweitert diesen Antrag, indem er vor- 
schlägt, in die etwa zu wählende Kommission Juristen, Ärzte und Pädagogen zu 
berufen. 

Kreisschulinspektor Weichert hält eine Weiterberatung der Leitsätze in einer 
Kummission für einen Rückschritt und ist deswegen gegen dieselbe. 

Direktor Dr. «ündel beantragt, die Leitsätze, wie sie der Referent gegeben hat, 
anzunehmen mit der einzigen Änderung, dass man für Idiotie Geistesschwäche setze. 

Kreisschulinspektor Weichert will für moralische Defekte den Ausdruck so- 
ziale Defekte. 

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Wir haben zwei Anträge gehört, den des 
Herrn Landesgerichtsdirektor Jerusalem und den des Herrn Direktor Dr. Gündel und 
kommen nun zur Abstimmung (der erste Antrag wird abgelehnt, der zweite angenommen). 

Fortsetzung in nächster Nr 


Die Schulen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten 
in Gefahr! 


Der $ 11 des neuen Lehrerbesoldungsgesetzes mit seinen schädigenden Folgen 
für die Privatanstaltsschulen ist unseren Lesern bereits aus den Nummern 8 
und 9/10 des letzten Jahrgangs dieser Zeitschrift bekannt. Auf der Kon- 
ferenz zu Elberfeld wurde diese Angelegenheit durch ein kürzeres Referat des 
Herrn Direktors Schwenk-Idstein auf die Tagesordnung gesetzt und in mehreren 
Debatten beraten. Das Ergebnis war eine im Sinne des Vortragenden gefasste 
Resolution mit dem Auftrage an den Vorstand, zur Beseitigung der Härte dieser 
Bestimmung sofort geeignete Schritte unternehmen zu wollen. Da in dieser 
Richtung nun bereits — mit allerdings sehr negativen Erfolg —— etwas gethan 
worden ist, glauben wir im Interesse dieser Sache zu handeln, wenn wir dem 
fortlaufenden Konterenzbericht dieser Zeitschrift vorgreifend diesem Thema jetzt 
schon in einem besonderen Artikel Rechnung tragen. 

Herr Direktor Schwenk führte in seinem Vortrage etwa folgendes aus: 
Da es durch den $ 11 des neuen Lehrerbesoldungsgesetzes (Nichtanrechnuug 
der in Privatanstalten zugebrachten Dienstjahre oder nur bei einer Nachzahlung 
von 270 Mk. pro Jahr an die Alterszulagekasse) unseren Anstalten fast ganz 
unmöglich gemacht ist, künftigbin Lehrkräfte für ihre pädagogische Wirksamkeit 
zu gewinnen, wird dadurch der Lebensnerv unserer Anstaltsschulen geradezu 
durchschnitten. Eine solche Behandlung von Seiten des Staates haben unsere 
Anstalten nicht verdient. Denn wenn sie auch privaten Charakters sind, so 
arbeiten sie darum doch nicht minder für das öffentliche Wohl. Da sie ausser- 
dem noch vollständig auf privater Wohlthätigkeit beruhen und dem Staate nicht 
die geringsten Auslagen verursachen, so könnte man erwarten, dass der Staat 
ibnen auch ein besonderes Entgegenkommen und Wohlwollen erzeigte. Statt 
dessen schädigt er sie aber gerade an der bedeutsamsten Stelle ihrer Wirk- 
samkeit. 

Redner weist sodann auf einen höcht sonderbaren Widerspruch hin: Die 


59 

Regierung verlangt, dass in unseren Anstalten im Interesse der Schularbeit nur 
staatlich geprüfte Lehrkräfte zur Verwendung kommen sollen und hebält sich 
bei jeder Anstellung das Recht der Genehmigung vor. Ausserdem lässt sie die 
pädagogische Thätigkeit in den Anstaltsschulen durch ihre schultechnischen 
Organe überwachen. Trotzdem aber schneidet sie ung den Weg ab, vollwertige 
Lehrer zu bekommen, die doch einzig und allein die Garantie für die von der 
Regierung erwarteten guten Erfolge in unseren Anstaltsschulen bieten. 

Aber nicht nur die Anstalten, sondern auch die an diesen arbeitenden Lehrer 
resp. Lehrerinnen werden durch die besprochene Bestimmung in ungerechter 
Weise geschädigt. Es ist gewiss nichts Geringes, seine Kraft in den Dienst der 
Schwachen zu stellen, und es erfordert das eine grosse Aufopferungsfähigkeit, 
was auch alle städtischen Schulverwaltungen anerkennen, indem sie den Lehrern 
an Öffentlichen Hilfsschulen besondere Zulagen gewähren. Um so auffallender 
muss es darum erscheinen, dass dieselben Lehrer, nur weil sie an privaten An- 
stalten arbeiten, dem Staate darum aber nicht weniger nützlich sind, sogar noch 
vernachlässigt, hintenangesetzt und ungerechterweise benachteiligt werden. Noch 
unbegreiflicher wird die Bestimmung, wenn man in Betracht zieht, dass auf der 
anderen Seite solchen Lehrern, die überhaupt noch nie in Preussen thätig waren 
und von einem nichtpreussischen Staat in den ersteren eintreten, ohne jede 
Nachzahlung durch Genehmigung des Ministers ihre frühere, ausserhalb 
Preussens zugebrachte Dienstzeit angerechnet werden kann. Auch die vorbe- 
reitende Bedeutung, die die Anstaltsthätigkeit auf den Beruf eines Hilfsschul- 
lehrers hat, darf‘ nicht überseben werden. „Die Idiotenanstalten sind die Uni- 
versitäten für die Hilfsschullehrer.*“ Schon aus diesem Grunde sollte man den 
Übertritt der Anstaltslehrer an die Hilfsschulen erleichtern. Zum Schlusse be- 
tonte Verfasser noch, dass schon vorgeschlagen worden sei, die Anstalten sollten 
jene 270 Mk. pro Jahr von vornherein auf eigene Rechnung übernehmen. Das 
könne man aber den Woblthätigkeitsanstalten, bei denen die Mittel nie allzu- 
reichlich vorhanden wären, nicht zumuten. 

Auf Grund der Schwenkschen Ausführungen wurde zunächst eine Kom- 
mission gewählt, welche diese Angelegenheit weiter beraten und dann der Ver- 
sammlung das Ergebnis mitteilen sollte. Diese Kommission legte am anderen 
Tage der Konferenz eine Resolution vor, die einstimmig angenommen wurde. 

Ausserdem wurde der Vorstand beauftragt, zunächst eine Eingabe an den 
Herrn Minister zu verfassen. Diese datiert vom 2. Dezember 1901 und hatte 
folgenden Wortlaut: 

An den 
Kgl. Staatsminister und Minister der geistlichen, Unterrichts- und 
Medizinal-Angelegenheiten 
Herrn Dr. Studt, Excellonz, Berlin. 

Die X. Konferenz für das Idiotenwesen, welche in der Zeit vom 17.— 19. Sept. 
ds. Js. zu Elberfeld abgehalten wurde, bat unter anderem eingehend über $ 11 des 
Lehrerbesoldungsgesetzes vom 3. März 1897 beraten, nach welchem die an Privat- 
anstalten zugebrachten Dienstjahre der Lehrer bei einem etwaigen Rücktritt derselben 


60 

in den öffentlichen Schuldienst nicht oder nur teilweise zur Anrechnung kommen und 
zwar nur dann, wenn für jedes der anzurechnenden Jahre eine Summe von 270 Mk. 
an die Alterszulagekasse eingezahlt wird. Wie aus den Beratungen hervorging, wird 
diese Bestimmung nicht allein auf die Privatanstalten im engsten Sinne, d. h. auf die- 
jenigen, welche dem Privat-Interesse Einzelner dienen, angewandt, sondern auch auf 
die privaten Öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten ausgedehnt, welche die christliche 
Liebesthätigkeit ins Dasein gerufen hat und erhält. Für letztere Anstalten ist der er- 
wähnte Paragraph eine bedeutende Schädigung, ja es wird deren unterrichtliche Thätig- 
keit geradezu in Frage gestellt. Hält es ohnehin schon schwer, für den aufupferungs- 
vollen und oft wenig dankbaren Beruf eines Idiotenlehrers die genügenden Kräfte, 
ausgestattet mit der erforderlichen christlichen Gesinnung und pädagogischen Begabung, 
zu gewinnen — durch die Anwendung der fraglichen Bestimmung ist es den Idioten- 
Unterrichtsanstalten unmöglich geworden, ihren Schutzbefohlenen den so nötigen und 
fruchtbringenden Unterricht in zweckmässiger Weise zu teil werden zu lassen. All- 
gemein wurde über den in den letzten Jahren hervortretenden Lehrermangel bitter 
geklagt und daher einstimmig folgende Resolution angenommen: 

„Die X. Konferenz für das Idiotenwesen und die Schulen für schwach- 
befähigte Kinder hält es für eine schwere Schädigung der privaten Wohl- 
thätigkeitsanstalten, dass nach dem Lehrerbesoldungsgesetz vom 3. März 1897 deren 
Lehrkräften bei einem etwaigen Rücktritt in den öffentlichen Schuldienst die 
an diesen Anstalten verbrachte Dienstzeit obne Zahlung eines Beitrages an die 
Alterszulagekasse nicht voll und ganz angerechnet wird und erklärt es für 
dringend erforderlich, dass der $ 11 des genannten Gesetzes für lehrer 
und Lehrerinnen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten nicht zur Anwendung 
komme.“ | 

Diesem Beschluss der Konferenz erlauben wir uns noch folgendes beizufügen. 
Die Anstalten, die sich in dieser Angelegenheit an Eure Excellenz wenden, sind aus- 
schliesslich Wohlthätigkeits-Anstalten, die zum grössten Teil auf allgemeiner 
öffentlicher Wohlthätigkeit beruhen und keineswegs pekuniäre Vorteile privater 
Unternehmer oder Gesellschaften verfolgen, denen auch von den staatlichen Behörden 
die Anerkennung als „milde Stiftung“ zu teil geworden ist. Dadurch, dass diese An- 
stalten sich solcher Kinder annehmen, für die von staatlicher Seite nicht oder nur in 
ungenügender Weise gesorgt wird, arbeiten sie nicht minder für das Wohl der 
Öffentlichkeit, wie die Volksschule und jede andere „öffentliche* Anstalt. 
Unverkennbar ist auch der Segen, der gerade von dieser Art des barmherzigen Wirkens 
an den Schwächsten und Verlassensten im Volke auf das öffentliche Volksleben aus- 
strömt. Um so befremdlicher muss es darum erscheinen, dass diese Institute, die von 
Seiten der Regierung ein besunderes Mass von Wohlwollen und Entgegenkommen 
slauben erwarten zu dürfen, durch den genannten $ 11 des neuen preussischen Lehrer- 
besoldungsgesetzes in so schwerer Weise geschädigt und benachteiligt werden. 

Die Unterrichts- und Bildungsanstalten für schwachbefähigte Kinder sind in ihrer 
Erziehungsarbeit vollständig auf die Thätigkeit und Mithilfe vollwertiger Lehrkräfte 
angewiesen. Da nach dem Inkrafttreten des Lehrerbesoldungsgesetzes sich aber keine 
Lehrer mehr finden, die bereit sind, in den Dienst unserer Anstalten zu treten, so 


61 
liegt der Unterricht in einzelnen derselben in den letzten Jahren immer mehr darnieder, 
und diese Anstalten sehen sich dadurch in die überaus missliche Lage versetzt, den 
Anforderungen, die an sie gerade in unterrichtlicher Beziehung gestellt werden, nur 
noch in mangelhafter Weise nachkommen zu können. 


Trotzdem werden aber die Anstalten künftighin nach dem jüngsten Erlass Eurer 
Excellenz vom 26. März 1901 einer besonderen schultechnischen Beaufsichtigung unter- 
stellt. Dieser Erlass, sowie eine frühere Verfügung, wonach die Anstellung von Lehr- 
kräften in privaten Idioten-Anstalten einer besonderen Genehmigung der Königl. Re- 
gierung bedarf, lassen sich mit der erst erwähnten Thatsache nur schwer in Einklang 
bringen. Obwohl auf der einen Seite den Anstalten die Erlangung staatlich anerkannter 
Lehrkräfte unmöglich gemacht ist, verlangt die Königl. Regierung doch auf der andern 
Seite, dass seminaristisch gebildete Lehrer in den Privatanstalten Verwendung finden, 
und dass die Leistungen der Anstaltsschulen den amtlichen Revisionen genügen sollen. 
Wir sind im Prinzip durchaus nicht gegen eine schultechnische Überwachung unserer 
Unterrichtsarbeit, ja wir wünschen dieselbe sogar, aber solange uns staatlicherseits die 
Möglichkeit genommen ist, tüchtige Kräfte für unsere Schularbeit zu gewinnen, können 
wir unmöglich den an uns gestellten Forderungen, sowie unserem eigenen Streben, 
den schwachbefähigten Kindern in unterrichtlicher und erziehlicher Hinsicht in denkbar 
bester Weise zu dienen, Genüge leisten. 


Als Mittel, diesem Übelstande abzuhelfen, wurde schon empfohlen, die Anstalten 
sollen bei der Anstellung von Lehrern kontraktlich jene Rückzahlungssumme, die bei 
einem etwaigen Rücktritt in den öffentlichen Schuldienst an die Alterszulagekasse zu 
entrichten ist, von vornherein auf eigene Rechnung übernehmen. Dass dadurch der 
Not teilweise abgeholfen wäre, ist sicher; aber kann man Wohlthätigkeitsanstalten, 
die auf milde Gaben angewiesen sind, zumuten, für jeden angestellten Lehrer ausser 
dem Gehalte pro Jahr noch 270 Mk. zu bezahlen? Abgesehen davon, würde es auch 
dann noch den Anstalten unmöglich sein, Lehrer länger als 10 Jahre in ihrem Dienste 
zu behalten. Die meisten Lehrer würden nach einigen Jahren wieder austreten, um 
in den sicheren Staatsdienst zurückzukehren, und dass ein derartiger Wechsel der 
pädagogischen Arbeit unserer Anstalten nichts nützen, sondern nur schaden kann, ist 
bei allen Fachleuten auf diesem Gebiete eine allbekannte Erfahrung. 


Auf Grund der vorstehenden Ausführungen erlauben sich die unterzeichneten 
Vertreter der privaten Idioten-Erziehungs-Anstalten Euere Excellenz gehorsamst um 
baldige entsprechende Massnahmen gegenüber dieser für die privaten Unterrichts-An- 
stalten immer drückender und verhängnisvoller werdenden Notlage zu bitten. Die 
Unterzeichneten geben sich der Hoffnung hin, dass es Eurer Excellenz möglich ist, 
durch eine Verfügung dahin zu wirken, dass unter den „privaten“ Anstalten des Aus- 
nahmepassus in $ 11 des Lehrerbesoldungsgesetzes nur solche verstanden werden, 
welche Geschäftsunternehmungen einzelner Privatpersonen sind, nicht aber auch die 
auf privater Wohlthätigkeit beruhenden und im Geiste der inneren Mission arbeitenden 
Erziehungsanstalten. Sollte es Eurer Excellenz unmöglich sein, in diesem Sinne dem 
besprochenen Missstande Abhilfe zu schaffen, so würde den meisten Leitern der privaten 
Unterrichtsaustalten die tranrige Erfahrung nicht erspart bleiben, die in den letzten 


Jahrzehnten unter dem sichtlichen Segen Gottes aufgeblühten Anstaltsschulen wieder 
zurückgehen und zerfallen za sehen. 

Da aber auf einzelne Anstalten für Schwachsinnige schom jetzt $ 11 des Lehrer- 
besoldungsgesetzes eine Anwendung nicht findet, so hoffen wir zuversichtlich, dass 
Euere Excellenz auch die übrigen auf demselben Boden stehenden Anstalten von den 
Härten des genannten Paragraphen befreien werden. 

Eurer Excellenz gehorsamster 
Vorstand der Vereinignng für das Idiotenwesen. 
Als Antwort traf darauf folgendes ıninisterielle Schreiben vom 11. Januar 
1902 ein. | 
An den 
Direktor der Idioten-Erziehungsanstalt, Herrn Schwenk in Idstein. 
` Auf die Eingabe vom 2. Dezember 1901. 

Unter den „öffentlichen“ Taubstummen-, Blinden-, Idioten-, Waisen-, Rettungs- 
oder ähnlichen Anstalten im Sinne des $ 10 Abs. 7 Nr. 2 des Lehrerbesoldungsgesetzes 
sind nur die von den Gemeinden oder sonstigen kommunalen Verbänden unterhaltenen 
Anstalten zu verstehen. Alle übrigen derartigen Anstalten, auch die auf privater Wohl- 
thätigkeit beruhenden und im Geiste der inneren Mission arbeitenden gehören zu den 
privaten Anstalten. Die an ihnen von Lehrern und Lehrerinnen zugebrachte Be- 
schäftigungszeit kann daher als Dienstzeit nur unter den im $ 11 a.a. O. gedachten 
Vorausseizungen angerechnet werden. 

Wenn ich auch die Schwierigkeiten des I,ehrerersatzes, mit denen diese Anstalten 
zu kämpfen haben, nicht verkenne, so bin ich doch bei der zwingenden Natur dieser 
gesetzlichen Vorschriften nicht in der Lage, Ihrem Antrage entsprechend anzuordnen, 
dass die Dienstzeit an den Anstalten der inneren Mission gemäss $ 10 a. a. O. als 
öffentlicher Schuldienst anzurechnen ist. Dagegen bin ich bereit, wo sich im Einzel- 
falle besondere Härten zeigen, den an solchen Anstalten wirkenden Lehrkräften bei 
ihrem Übertritt in den öffentlichen Schuldienst die Nachzahlung der gesetzlichen Bei- 
träge an die Alterszulagekasse durch Gewährung mässiger Beihilfen otwas zu er- 
leichtern. 


Den Mitunterzeichnern der Eingabe von dem vorstehenden Bescheide Kenntnis 


zu geben stelle ich ergebenst anheim. Im Auftrage: Kügler. 


Was nun? — Dass der Herr Minister kaum in der Lage sein würde, an 
jener gesetzlichen Bestimmung zu Gunsten unserer Wohlthätigkeitsanstalten etwas 
‚u ändern, resp. ihr eine günstigere Auslegung zu geben, war vorauszusehen. 
Darum dürfen wir uns aber doch nicht mit diesem Resultat zufrieden geben, 
auch wenn der Herr Minister verspricht, im einzelnen Falle eine mässige Bei- 
hilfe eintreten zu lassen. Dadurch dürfte sich kaum einer unserer jüngeren 
Lehrer zur Annahme einer Stellung bewegen lassen, die ihn in seinen späteren 
staatlichen Gehalts- und Pensionsverhältnissen nur schädigen wird. Es bleibt 
also nur noch ein Weg, der durchs Abgeordnetenhaus. Wir wissen zwar recht 
wohl, dass, um auf diesem Wege etwas zu erreichen, recht viel Arbeit nötig ist 
und dass auch bier nicht mit Bestimmtheit anf den gewünschten Erfolg ge- 


JRR: UHR 


rechnet werden darf. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir nicht 
bald vor dem pädagogischen Bankeroti unserer privaten Erziehungsanstalten 
stehen wollen. Als erstes Erfordernis bei einem derartigen Vorgehen muss die 
Vollzähligkeit des Mitmarschierens aller Anstaltsvertreter hervorgehoben werden. 
Wir dürfen uns leider nicht mit dem Gedanken schmeicheln, dass bei derartigen 
Anlässen in den Reihen der Idiotenanstaltsleiter ein Übermass von Zusammen- 
gehörigkeitsgefühl und solidarischer Interessenbethätigung vorhanden sei. Eher 
ist das Gegenteil — Gleichgültigkeit und Lauheit — der Fall. Möge es dies- 
ınal anders werden! — Zunächst wäre von jeder einzelnen Anstalt aus eine 
Eingabe an das Abgeordnetenhaus abzuschicken. Ausserdem müssten so viel als 
möglich die Abgeordneten persönlich für unsere Sache gewonnen werden, damit 
diese im einzelnen einen Einblick in die besprochene Notlage unserer Anstalts- 
schulen erhalten. Hier hat gewiss jeder der Anstaltsvorstände Anknüpfungs- 
punkte, die er im Interesse unserer Schulen benützen kann. Dabei sei noch be- 
merkt, dass sämtliches zu diesen Operationen nötige Material — auch die er- 
wähnte Petition an das Abgeordnetenhaus — von der Schriftleitung in Idstein 
in Bälde jeder Anstalt zugeschickt werden wird, wie umgekehrt alle Wünsche 
Ratschläge, Winke oder Anfragen in dieser Angelegenheit dorthin zu richten sind. 
Von hier aus werden auch die übrigen Privatanstalten, soweit sie Unterrichts- 
zwecke verfolgen und ebenfalls unter die Bestimmung jenes Paragraphen fallen, 
in Kenntnis gesetzt und zu einem ähnlichen Vorgehen aufgefordert werden. Z. 


Mitteilungen. 


Schwelm. (Hilfsschule). Die Hilfsschule vollendet Ostern 1902 das zweite 
Jahr ihres Bestehens. Sie wurde im vergangenen Schuljahre von 34 Kindern, 
19 Knaben und 15 Mädchen, besucht. Nach dem Religionsbekenntnis der Eltern 
sind 25 Kinder evangelisch-lutherischh 3 Kinder reformiert und 6 Kinder katholisch. 
Die grosse Schülerzahl veranlasste den Leiter der Hilfsschule, Lehrer Weniger, den 
Antrag auf Errichtung einer zweiten Klasse zu stellen. Die städtische Schulinspektion, 
welche sich durch einen Besuch in der Hilfsschule von der Notwendigkeit dieser 
Forderung überzeugte, beschloss die Errichtung einer zweiten Klasse und die Anstellung 
eines zweiten Lehrers. 

M.-Gladbach. (Freisprechung.) Aus Anlass des von uns in Nr. 1/2 mit- 
geteilten Vorganges in der Blödsinnigen-Anstalt Hephata hatte sich am 9. März der 
Inspektor der Anstalt vor der Düsseldorfer Strafkammer wegen fahrlässiger Tötung 
zu verantworten. Nach eingehender Beweisaufnahme gelangte das Gericht zu der 
Ansicht, dass hier ein Verschulden eines Dritten nicht vorliege Auch der Staats- 
anwalt stellte keinen Antrag. Es wurde festgestellt, dass der Schacht schon seit 
Jahren nicht mehr benutzt wurde und mit Brettern verschlossen war. Das Gericht 
sprach den Angeklaglen frei und legte die Kosten des Verfahrens einschliesslich der 
Verteidigung der Staatskasse zur Last. 

Worms a. Rh. (Hilfsschule). Von jeher schon hatte man in hiesiger Stadt 
für die Schule ein warmes Herz und eine offene Hand. Als man deshalb anfangs 
März 1899 an die Stadtverwaltung herantrat und um Errichtung einer Hilfsklasse or- 
suchte, wurde die Sache anstandslos und einstimmig von Schul- und Stadtvorstand 
genehmigt. Die Führung der Klasse wurde dem Lehrer Gg. Hüttner übertragen, 
der als Taubstummenlehrer ausgebildet ist, und nicht nnr oinen Kursns hei Gutzmann- 


Berlin über die Heilung von Sprachgebrechen mitgemacht, sondern sich auch privatim 
Jahre lang praktisch und theoretisch mit dem Unterrichte schwachsinniger Kinder 
beschäftigt hat. Am 18. April 1899 wurde die Hilfsklasse mit 25 Kindern — 14 
Knaben und 11 Mädchen — eröffnet. Bis Ostern: 1901 sind davon entlassen worden 
7 Kinder, welche alle erwerbsfähig waren. Sie wurden: 1 Näherin, 1 Büglerin, 
1 Dienstmädchen, 1 Kindermädchen, 3 Fabrikarbeiter. Infolge Schwachsinn höheren 
Grades mussten wegen Bildungsunfähigkeit 2 Kuaben der ldiotenanstalt in Bessungen 
überwiesen werden. Die Schülerzahl hatte sich bis Ostern 1901 auf 31 gesteigert, 
wozu noch 10 Neunaufnahmen kamen, zusammen eine Zahl, welche für eine Klasse 
zu viel gab. Deshalb wurde mit Beginn des neuen Schuljahres eine II. Klasse ein- 
gerichtet, welche Lehrer Lautenschläger II, der ebenfalls als Taubstummenlehrer 
ausgebildet ist, übertragen wurde. -— Jetzt haben wir also 2 Klassen, wovon die I. 
22, die II. 19 Kinder zählt. Jede Klasse erhält wöchentlich 28 Stunden, von denen 
26 die beiden Lehrer erteilen. 2 Handarbeits- und 2 Handfertigkeitsstunden werden 
von anderen Kräften gegeben. —- Die Unterrichtsstunden sind in den zwei Klassen 
konform gelegt, damit ein Austausch der einzelnen Kinder in den einzelnen Disciplinen 
nach ihrer Qualifikation stattfinden kann. Bei der Aufstellung des fehrplanes sind 
Lehrpläne verschiedener Hilfsschulen herangezogen worden; Lehrgegenstände sind die- 
selben wie in andern Hilfsschulen. Nach Neujahr wird’ von den Klassenlehrern der 
Klasse VIII der Volksschule eine Liste derjenigen Kinder angefertigt, welche der 
Hilfsschule zugeführt werden sollen. Diese Kinder werden dann von dem Inspektor 
der Stadtschule, dem den Klassen beigegebenen psychiatrisch gebildeten Arzt und 
einem Lehrer der Hilfsschule einer Prüfung unterzogen. Der Arzt kommt auch das 
Jahr über öfters in die 2 Klassen und steht den Lehrern beratend zur Seite. Dafür 
erhält er eine Pauschalsumme. Die Lehrer erhalten eine Personalzulage von 200 Mk. 
Für jedes Kind wird bei der Aufnahme ein Personalbuch (Klaebe) angelegt und bis 
zur Entlassung weitergeführt. — Bei Behörden und Privaten erfreut sich die Schule 
des besten Wohlwollens. Bei einer Kreisschulkommissionsprüfung, im Beisein von 
Herrn Kreisschulinspektor Professor Dr. Karg und Herrn Schulinspektor Scherer, 
zeigten sich gute, zufriedenstellende Resultate, sodass volle Anerkennung und Zu- 
friedenheit ausgesprochen wurde. 


.— du _ 


Briefkasten. 


Auf Wunsch teilen wir hierdurch mit, dass es in dem Berichte über die X. Kon- 
ferenz Seite 93, Zeile 7 und 8 nicht heissen soll .deformiert“ und „Deformität‘, sondern 
„praeformiert“ "und „Praeformität“. — R. W. i. L, Dass dem Konferenzberichte kein 
Inhaltsverzeichnis beigegeben ist, halten auch wir für einen Mangel. Je umfänglicher 
der Bericht mit der Zeit geworden ist, desto berechtigter erscheint der Wunsch nach einem 
solchen Verzeichnisse. — Dir. Sch i. J}. Für freundliche Zusendung der Clichés besten 
Dank! — F. F. I. St, 6. W. i. H., Gesch. 6. I. H., N. i. @.-L., Dir. @. i. L, Br.P. EL. Er- 
halten. — W. 6. i. D. Unsere Mitteilungen aus dem Berichte der X. Konferenz werden 
jedenfalls in Nr. 6 schliessen. — H. P. i. D. Die Mitteilung ist ganz schön, aber doch 
nicht wichtig genug. Im übrigen Dank und Gruss! — E H. i. P. Erhalten und mit 
Mk. 23.50 gutgeschrieben. — M. W. i. Seh. Für diese Nr. kam der B. zu spät, im übrigen 
werden Ihre Wünsche erfüllt werden. Besten Dank und Gruss! - 


Inhalt. Wie wird die Hilfsschule der Individualität geisti schwacher Kinder 
gerecht? (E. Kannegiesser.) X. Konferenz für Idiotenwesen und che für schwach- 
sinnige Kinder. (Fortsetzung.) — Die Schulen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten in 
Gefahr. (Z.) — Mitteilungen: Schwelm, M.-Gladbach, Worms a. Rh. — Briefkasten. 


— mn mn nm EL a m nn nn am an e. eae m un en nn —. — 








Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


N 





Nr. 5. ' XVIIL) Jahrg. 
° = ra, a 
Jeitsch 
für die 


pehandinne sehwachsinnioer und Enileptigcher 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen 
herausgegeben von 
Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitäterat Dr. med. H. A. Wildermuth, 


Spezialarzt 
Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. in Stuttgart. 





Erscheint jährlich in 12 Nummern von i Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

nindestens elnem Bogen. Anzeigen fiir | a e 1902 ' und Postäinter, wle auch direkt von der 

dio gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- ` al . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | | einzeine Nummer 50 Pfy. 


Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


X. Konferenz für das Idiotenwesen 


“und Schulen für schwachsinnige Kinder. 
(Fortsetzung.) 


Herr Sanpitätsrat Dr. Berkhan erhält das Wort zu seinem Vortrage: 


Über einige besondere Gruppen unter den Idioten. 
Meine verehrten Anwesenden! 


Es ist nicht leicht, eine mustergiltige Einteilung der verschiedenen Formen, 
welche die Idiotie (Schwachsinn mittleren und höheren Grades) bietet, zu schaffen. 
Am besten thut man wohl, wenn man dieselben nach den Ursachen und den 
durch diese veranlassten krankhaften Veränderungen im Gehirn in verschiedene 
Gruppen sondert. 

Auf dem internationalen medizinischen Kongress in Paris (August vorigen 
Jahres) war die Einteilung der verschiedenen Gruppen der Idiotie Gegenstand 
einer lebhaften Erörterung 

Shuttleworth (Lancaster) und Fletcher Beach (London) gaben an, dass die 
pathologische Anatomie der Idiotie unter drei Gesichtspunkten sich abhandeln 
liessen. Diese beträfen 

I. Angeborene Bildungsfehler. Zu dieser Gruppe gehörten Mikrocephalie, 
Hydrocephalie, Skaphocepbalie, (langer schmaler Schädel, ron der Gestalt eines 
Bootes, wie er unter den Eingeborenen von Neukaledonien und auf den Karolinen 
vorkommt), sogenannter Mongolentypus, (charakteristischer Schädel, Bildungsfehler 


66 


im Knochen, Haut- und Schleimhautgewebe, fast immer mit einer Anomalie 
des kleinen Fingers verbunden), sporadischer Kretinismus infolge Fehlens der 
Schilddrüse oder abnormen Baues derselben. 

II. Bildungsfehler, die während der Entwickelungsperiode entstehen. Zu 
dieser Gruppe gehören l’älle von Eklampsie oder Schäuerchen. Die anatomische 
Grundlage wird durch Blutaustritt oder entzündliche Veränderungen abgegeben. 
Ferner Fälle von Epilepsie, Syphilis und Lähmungen, welche vor oder nach der 
Geburt in Erscheinung treten, bei denen man Gefässveränderungen oder Atrophie 
des Gehirns fand. 

III. Erworbene Fehler. Zu dieser Gruppe gehören Kompression des kind- 
lichen Schädels während der Geburt durch zu enges Becken, bei allzu langer 
Dauer der Entbindung, seltener nach Anwendung der Zange und durch zufällige 
Gewaltseinwirkung. 

Von allen Einteilungen der verschiedenen Formen oder Gruppen in dem 
Gebiete der Idiotie erscheint diese, von mir hier nur gekürzt wiedergegebene, 
als die zur Zeit beste, da sie die Ursachen derselben und die durch diese ge- 
setzten Veränderungen des Gehirns sondert. 

Ich will nun einzelne dieser Gruppen hier behandeln und zwar Solche, die 
gegenwärtig ein besonderes Interesse bieten, zumal bei einigen derselben eine 
ärztliche Behandlung in den Vordergrund tritt. Dahin gehört zunächst: 


Die Gruppe der mit Wasserkopf behafteten Idioten. 


Der angeborene oder bald nach der Geburt sich zeigende chronische 
Wasserkopf besteht in einer zunehmenden Ansammlung von Flüssigkeit in den 
Hirnhöhlen, besonders den seitlichen, und einer dadurch bedingten Ausdehnung 
des kindlichen Schädels, dessen Nähte und Fontanellen noch nicht geschlossen 
sind. Entweder wächst der Schädel stetig bis zu einer ungeheuren Grösse, oder 
es tritt ein Stillstand im Wachstum ein, so dass die erreichte Grösse eine 
bleibende wird, oder aber es tritt nach einem Stillstande im Wachstum wiederum 
eine Zunahme des Schädels auf. 

Ein ausgesp:ochener Wasserkopf zeigt die Stirn breit vorgewölbt, die Scheitel- 
birne nach aussen gedrängt. Dabei sind die Haare nur spärlich, die Kopfhaut 
mit blau durchschimmernden Venen durchzogen, die Fontanellen weit, die 
Nähte klaffend. 

Der Kopf kann eine solche Ausdehnung gewinnen, dass er nicht ohne 
Schwanken aufrecht getragen werden kann, ja zum ständigen Liegen zwingt. 

Das Gesicht erscheint unter dem grossen Kopfe klein, fast wie ein winziges 
Dreieck unter der mächtigen Stirn. 

Die Augäpfel sind nach abwärts gedrängt, so dass zwischen den Lidspalten 
das Weiss über dem Augenstern und nur ein kleines Segment der Iris über 
dem unteren Lidrand sichtbar ist. Es besteht oft Schielen oder unstäte Be- 
wegungen der Augäpfel. 

Im Gegensatze zu dem grossen Kopfe zeigt sich der übrige Körper im 
Wachstum zurück, klein und abgezehrt, die Beine oft gelähmt. 


67 

Je nach der mehr oder weniger raschen Verlaufsweise, je nach dem mehr 
oder weniger hohen Grade der Krankheit sind die Schädigungen, welche das 
Gehirn durch den gesteigerten Druck der Flüssigkeit in seinen Hirnhöhlen er- 
leidet, verschieden. 

Ein grosser Teil der Kinder, welche mit Wasserkopf geboren werden, stirbt 
während oder bald nach der Geburt. Wächst der Schädel stetig und rasch bis 
zu einer erschreckenden Grösse, dann bleibt das Sprechen aus, ebenso das Ver- 
mögen zu gehen, das Kind zeigt sich blödsinnig und lebt nicht lange. 

Geht das krankhafte Fortschreiten des Wasserkopfes langsam und mit 
endlichem Abschluss eines Stillstandes vor sich, so hat das Leiden nur Schwach- 
sinn eringeren oder mittleren Grades im Gefolge, und wir finden demgemäss 
solche Kinder in den Schulen der Idiotenanstalten, bei geringeren Graden auch 
in Hilfsschulen. Wyss (Zur Therapie des Hydrocephalus, Korrespondenzblatt 
für schweizerische Ärzte 1893) verfolgte das Schicksal von 41 Fällen von Wasser- 
kopf, davon brachten es 5 zum Schulbesuche. Drittens: Es kann das Gehirn 
dem Wasserdruck widerstehen und weiter wachsen, sagen wir, es kann der 
Wasserkopf heilen, so dass die geistigen Thätigkeiten ungetrübt bleiben. So be- 
richten die berühmten Kinderärzte Gölis und West ein paar Fälle, in denen 
die geistige Thätigkeit normal wurde und nichts zy wünschen übrig liess. Ich 
selbst beobachtete und verfolgte die Tochter eines Schuhmachers, welches 
»/, Jahr alt einen Kopfumfang von beinahe 50 cm hatte, 1°, Jahr alt 51 cm, 
13 Jahr alt 57 cm, jetzt 35 Jahr 65'/, cm zeigt. Dieselbe ist geistig voll- 
ständig gesund. Sie sehen auf vorliegender Photographie die Bildung des 
Kopfes und Hackenfuss bei derselben 

Es ist, und das glaube ich hier noch anführen zum müssen, von ver- 
schiedenen Gelehrten (Perls u. Edinger) das nicht seltene Zusammentreffen 
von leichtem Wasserkopf und besonderer geistiger Fähigkeit hervorgehoben worden 
und möchte ich hier Prof. Hermann von Helmholtz erwähnen, von dem ich 
Ihnen eine Abbildung zeige. Er hatte, wie er selbst erzählt hat, in seiner 
Jugend leichten Hydrocephalus, und könnten die letzten Spuren davon bei der 
Sektion noch nachgewiesen werden. Dabei war er einer der grössten Gelehrten, 
Erfinder des Augenspiegels.. Sein Kopfumfang betrug 59 cm*). 

So hat der angeborene Wasserkopf in seiner Verlaufsweise eine Geschichte 
wie wohl keine andere Krankheit. 

Die Erkenntnis dieser Krankheit bietet, wenn der Fall entwickelt ist, keine 
Schwierigkeit, da die Grössenzunahme des Kopfes meist schon auf dem ersten 
Blick sie erkennen lässt. Liegt aber eine Erkrankung geringeren Grades vor, 
so gestaltet sich die Entscheidung zuweilen schwierig. Es kommt dabei haupt- 
sichlich der vergrösserte rhachitische Schädel in Frage, welcher mit Wasser- 
kopf verwechselt werden kann. Ein rhachitisches Kind zeigt aber, wenn es 
auch in der geistigen Entwickelung zurück sein kann, nicht die gestörte Intelli- 
er wie ein wasserköpfiges, sein Blick ist nicht so matt, seine Beweglichkeit 


) David Hansemann: Über das Gehirn von H. von Helmholtz. an! für 
a und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. XX. 1899. 


68 


zeigt nicht die Störungen in Schwäche oder Lähmung. Zudem findet man bei 
letzterem Erscheinungen der Rhachitis in. den verdickten Hand- und Fuss- 
gelenken, in dem sogenannten Rosenkranz an den Rippenenden. Anhaltspunkte 
kann man auch gewinnen, wenn man die Masse gesunder Kinder zu Hilfe 
nimmt und vergleicht, indem der Kopfumfang eines gesunden Neugeborenen 
durchschnittlich 34'/),;, cm, bei Kindern von 1 Jahr = 45 cm, von 5 Jahren 
90 cm, von einem Erwachsenen 53 cm beträgt, beim weiblichen Geschlecht 
in der Kindheit ',—1 cm, bei Erwachsenen 2-2'/, cm weniger. 

Man hat eine Heilung des Wasserkopfes versucht, indem man das Wasser 
durch Punktion und Trepanation aus den Hirnhöhlen entleerte. von Berg- 
mann, Heubner, Rehn und andere haben manche günstige Erfolge erzielt, 
indem nach der Operation ein Stillstand im Wachstum des Kopfes eintrat und 
damit die geistige Entwickelung Fortschritte machte. 

Unter den ÖOperationsweisen verdient zur Zeit am meisten Vertrauen die 
Lumbalpunktion, weil diese am ungefährlichsten ist. Dieselbe wird ausgeführt, 
indem man eine Hohlnadel zwischen dem unteren Rande des 3 und dem oberen 
Rande des 4. Lendenwirbels einstösst und die Hirnrückenmarksflüssigkeit ablässt. 

Dann möchte ich besprechen: 


Die mikrocephalen Idioten 


Die Mikrocephalie besteht in aussergewöhnlicher Kleinheit des Kopfes und 
damit aussergewöhnlicher Kleinheit des Gehirns. Während der Kupfteil auffallend 
klein ist, ist der Gesichtsteil wenig hinter der Durchschnittsgrösse zurückbleibend 
und der übrige Körper im Verhältnis gut entwickelt. 

Durch die Kleinheit des Schädels bedingt, zeigt sich die Stirn niedrig und 
stark zurückgeneigt, die Wölbung des Schädels gering, das Hinterhaupt schein- 
bar fehlend, die Augenbrauenbogen stark hervortretend, die Nase ebenfalls stark 
vortretend, gebogen, das Kinn zurücktretend, die Kopfhaut meist dick und bei 
hochgradiger Mikrocephalie mit einigen Längsfurchen und Wülsten versehen, 
durch das stärkere Wachstum der äusseren Weichteile bedingt. 

Durch diese Merkmale erhält die Kopfbildung etwas Tierähnliches. 

Man hat früher geglaubt, dass eine vorzeitige Verknöcherung der Schädel- 
nähte Ursache für das Zurückbleiben des Schädelwachstums, also der Mikro- 
cephalie sei, was durch Beobachtung nicht bestätigt ist. Im Museum Broca werden 
nach Tacquet (de l’obliteration des sutures du crâne chez les idiots. Paris 
1892) mehr als 40 Mikrocephalen-Schädel aufbewahrt, olıne dass bei einem 
einzigen es sich um frühzeitige Nahtverknöcherung gehandelt hätte. 

Das Gehirn der Mikrocephalen ist klein, seine Windungen und Furchen 
sind flach und einfach; besonders gilt dies von den Stirnwindungen. Die Insel 
liegt meist unbedeckt. Es hat ein solches Gehirn dadurch eine grosse Ähnlich- 
keit mit dem Gehirn der menschenähnlichen Affen, welches in Form und Ge- 
stalt dem Menschengehirn eines 8 Monate alten Foetus gleicht. 

Gegenüber den gewöhnlichen Formen der Mikrocephalen mit kleinem Kopf 
und sonst gut entwickeltem Körperbau giebt es auch Mikrocephalen, die Zwerge 


69 
bleiben. Ihr Wuchs überschreitet nicht den von Kindern von 8 Jahren, ihr 
Körper bewahrt bis in das Alter eines Erwachsenen kindliche Formen. Während 
der Kopfumfang bei den erstgenannten mit sonst gut entwickeltem Körperbau 
42—42,5 cm erreichen kann, schwankt er bei den zwerghaften Mikrocephalen 
zwischen 32 nnd 37 cm. 

Eigentümlich ist, dass nicht selten mehrere Kinder derselben Familie 
mikrocephal sind. 

Früher hielt man das Vorkommen dieser Krankheit für selten. Ich habe 
gefunden, dass in grösseren Idiotenanstalten immer ein bis mehrere Mikro- 
cephalen vorhanden sind. Rechnet man diejenigen hinzu, welche meist unbeachtet 
in ihren Familien verbleiben, so ergiebt sich doch eine nicht geringe Zahl 
derselben. 

Die geistige Entwickelung bei den Mikrocephalen ist nur eine geringe, die 
Sprache gewöhnlich unartikuliert, die Gesichtszüge oft grinsend, die Haltung 
des meist wohlgestalteten Körpers nachlässig, die Bewegungen hastig, zuweilen 
mit Nachahmungssucht verbunden. Bei weniger hochgradigen Formen, wo man 
sie auch Halb-Mikroceplalen zu nennen pflegt. ist der Schwachsinn ein geringerer, 
aber erwerbsmässig wird wohl keiner von ihnen. 

Es giebt gutmütige ruhige Mikrocephalen, aber auch unruhige, in be- 
ständiger Bewegung befindliche, leicht erregbare und auch bösartige. 

In Darwins „Abstammung oder Ursprung des Menschen“ findet sich 
unter dem Abschnitt „Entwickelungshemmungen“ die erregte Form der Mikro- 
cephalen folgendermassen beschrieben : „Ihre Intelligenz und die meisten ihrer 
geistigen Fähigkeiten sind äusserst schwach. Sie sind nicht im stande, die 
Fähigkeit der Sprache zu erlangen und sind einer fortgesetzten Aufmerksamkeit 
völlig unfähig, aber sehr geneigt, nachzuahmen. Sie sind kräftig und merk- 
würdig lebendig, beständig herumtanzend und springend und Grimassen 
schneidend. Sie kriechen oft Treppen auf allen Vieren hinauf und klettern 
merkwürdig gern an Möbeln oder Bäumen in die Höhe. Wir werden hierdurch 
an das Entzücken erinnert, mit welchem alle Knaben Bäume erklettern; und 
dies wiederum erinnert uns an junge Lämmer und Ziegen, welche, ursprünglich 
alpine Tiere, sich daran ergötzen, auf jeden Hügel, wie klein er auch sein mag, 
zu springen“. 

Bei der Gestaltung des Schädels spielt einerseits der Druck eine Rolle, 
welcher von innen durch das wachsende Gehirn ausgeübt wird, anderseits der 
Zug, welcher von aussen durch die Muskulatur wirkt. Die Mikrocephalie nun 
besteht in einer Bildungshemmung des Gehirns, so dass ein Innendruck des 
wachsenden Gehirns fehlt. Diese Missbildung wird nicht veranlasst durch vor- 
zeitige Verknöcherung der Schädelnähte, da dieselbe nur äusserst selten gefunden 
worden ist, wie ich schon zu Anfang erwähnte. 

In der falschen Annahme, dass frühzeitige Nahtverknöcherung das Wachs- 
tum des Gehirns hindere und so Mikrocephalie hervorrufe, hat man in den 
neunziger Jahren verschiedentlich Knochenstreifen längs der Pfeil- und Kranz- 
naht ausgesägt, um so eine Entwickelung des Gehirns zu ermöglichen. Die 


zehn 


Operation hat Todesfälle im Gefolge gehabt; bei denen, welche dieselbe über- 
standen, zeigte sich, dass im weiteren Verlauf die geistige Entwickelung, Rein- 
lichkeit, Sprechenlernen keine bessere wurde, als sie bei andern mikrocephalen 
und nicht mikrocephalen Idioten beobachtet wird. Es dürfte daher wohl niemand, 
der mit den Verhältnissen vertraut ist, eine Operation derart wieder unternehmen. 


Die kretinoiden Idioten. 
Sporadischer Kretinismus, Myxödem*) der Kinder. 

Kretinismus, d. h. Zwergwuchs mit Verunstaltung des Körpers, oft mit 
Kropfbildung und geistiger Schwäche einhergehend, kommt in den Thälern 
hoher Gebirgsstöcke, aber auch in feuchten Niederungen vor, z. B. auf der 
Rheininsel Niederwert. In diesen Gegenden ist der Kretinismus endemisch. 

Demgegenüber giebt es auch einen sporadisch vorkommenden Kretinismus, 
der mit Idiotie einhergeht. 

Diese Krankheit beruht, wie die Neuzeit gelehrt h:t, auf einem Mangel 
der Schilddrüse, jenes drüsigen Organs, welches am unteren Teil des Halses 
vor und neben der Luftrölre und dem Kehlkopfe gelegen ist, oder auf Ver- 
kümmerung derselben, wodurch die genannte Entwickelung gehemmt wird. 

Der sporadische Kretinismus ist entweder angeboren, oder er zeigt sich nach 
dem ersten Lebensjahre 

Ein damit behaftetes Kind zeigt Zwergwuchs und ein altes Aussehen. Der 
Kopf ist verhältnismässig gross und rund, die Haare spröde, die Nasenwurzel 
eingesunken, die Nasenflügel breit, die Augenlider gedunsen, die Lippen dick, 
die Zunge geschwollen, oft blau, zwischen den Lippen hervorragend, die Zähne 
abgestockt, der Leib dick, meist mit einem Nabelbruch verbunden. Die Haut 
des Körpers zeigt sich geschwollen, teigig (myxödematös), blass, trocken und kalt 
anzufühlen, mit reichlicher Venenentwickelung, der Herzstoss verlangsamt, so- 
dass Zunge, Hände und Füsse von Zeit zu Zeit blau werden, das Wachstum 
der Längsknochen zurückgeblieben. 

Die geistige Entwickeluns ist gehemmt und dadurch der Gesichtsausdruck 
ein blöder, die Entwickelung der Sprache eine verspätete, meist nur in dem 
Sprechen einzelner Worte oder Sätze bestehend. Stehen- und Gehenlernen 
tritt ebenfalls erst nach mehreren Jahren auf, der Gang hat etwas Unbeholfnes, 
Unreinlichkeit bleibt jahrelang. 

Es giebt auch Fälle, in denen nicht alle diese eben erwähnten Erschei- 
nungen vorhanden sind, Fälle, welche Abstufungen oder Übergänge bilden, von 
den Franzosen „formes frustus“ genannt. 

Ich muss noch hinzufügen, dass Hofmeister in Tübingen uns an Röntgen- 
Bildern solcher kretinoiden Idioten gezeigt hat, dass das Auftreten von Knochen- 
kernen in den Knochenenden der langen oder Röhrenknochen zwar erfolgt, 
aber ausserordentlich spät und der Fortschritt der weiteren Verknöcherung sich 
ungewöhnlich in die Länge zieht. 

Ich komme nun zur Behandlung dieser eigenen Form von Idiotie und 


*) uvce Schleim, adyu« wässrige Geschwulst. 





71 


möchte dabei folgendes vorausschicken: Kocher in Bern*, hatte gefunden, 
dass sich bei Patienten, die mit Kropf‘ behaftet waren, bald nach der Entfernung 
des ganzen Kropfes Störungen des Allgemeinbefindens einstellten. Es trat 
Schwäche, Ziehen und Schmerzen in den Gliedern und das Gefühl von Kälte 
auf. Dann nahm die geistige Regsamkeit ab. Dies war namentlich bei 
Kindern, welche die Schule noch besuchten, der Fall, so dass die Lehrer eine 
immer zunehmende Abnahme ihıer geistigen Fähigkeiten beobachteten. Die- 
selbe sprach sich vorzüglich in einer Langsamkeit der Gedanken aus, so dass 
die Kinder sich länger als gewöhnlich besinnen mussten, bis sie die Antwort 
gaben. Kinder, welche zu den besten Schülern gehörten, kamen allmählich so 
zurück, dass die Lehrer darauf verzichten mussten, sich um dieselben zu be- 
kümmern. Namentlich das Rechnen wollte nicht mehr gehen. 

Zu der Langsamkeit des Denkens gesellte sich allmählich auch eine Lang- 
samkeit des Sprechens und der übrigen Bewegungen. 

Neben der Schwerfälligkeit der Bewegungen trat Gedunsenheit des Gesichts 
auf, die Lider wurden geschwollen, die Nase dick, die Lippen gewulstet, der 
Bauch aufgetrieben, die Hände und Füsse dicker, ebenso die Haut des ganzen 
Körpers, die sich nur in dickeren Falten emporheben liess, der Wuchs der 
Kopfhaare spärlich. 

Bei denen, welche zur Zeit der Operation noch im starken Wachstum 
begriffen waren, blieb die Längenentwickelung des Körpers in auffälliger 
Weise zurück. 


Diese Fälle ähnelten oder glichen somit dem Bilde der kretinoiden Idiotie, 
hervorgerufen durch das Fehlen der Schilddrüse. 


Durch diese Beobachtungen Kochers wurde die Bedeutung der Schild- 
drüse erkannt, man kam darauf, die kretinoiden Idioten mit Schilddrüse zu 
behandeln, um so einen Ersatz für die fehlende oder verkümmerte Drüse zu 
schaffen. Anfangs spritzte man Saft von der Hammelschilddrüse unter die 
Haut, dann gab man innerlich kleine Stückchen derselben, darauf in Form 
von Täfelchen. 

Der Erfolg war ein überraschender, so dass sich diese Behandlungsweise 
immer mehr Bahn bricht. 

Bei dem Gebrauch von Schilddrüse schwillt die Haut der kretinoiden 
Idioten ab, die Augen werden weiter, die Nase und Lippen dünner, die Zunge 
hängt nicht mehr zwischen den Zähnen und Lippen hervor, das Kopfhaar wird 
reichlicher, der Bauch schlanker, der Nabelbruch geht zurück, die Bewegungen 
werden flinker. Das Wachstum der zwerghaft gebauten Kinder nimmt ge- 
wöhnlich schon früh zu. | 

Hand in Hand mit diesem erfreulichen Fortschreiten geht die Besserung 
der Intelligenz. Die Kinder werden regsamer, sie bekommen einen lebhafteren 
Gesichtsausdruck, vermögen anhaltender aufmerksam zu sein und leichter auf- 
zufassen, ihre Sprache wird eine vollkommenere. 


*, Verhandlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 12. Kongress. Berlin 1883. 


en 


Von den verschiedensten Seiten werden vollständige Genesungen in körper- 
licher und geistiger Beziehung verzeichnet. 

Ich benutze bei der Behandlung wie so viele Andere die Tabloid-Form 
Glandula Thyreoidea, welche Burroughs Wellcome & Co. London zu 1 und 
3 Decigr. liefert, in Deutschland vertreten durch Linkenheil in Berlin. Bei 
jüngeren Kindern lasse ich mit !/,—!/, Tablette, die I Decigr. Schilddrüse 
enthält, anfangen und steige allmählich. Giebt man zuviel oder steigt zu rasch 
mit dem Mittel, dann treten Nebenerscheinungen ein: Erbrechen, Schwitzen, 
Herzklopfen, Schwäche in den Beinen, so dass ein zeitweiliges Aussetzen des 
Mittels nötig wird. Um diese schädlichen Nebenwirkungen zu verhüten, wird 
3 mal täglich 1 Tropfen Fowlerscher Tinktur empfohlen. Fängt man mit 
kleinen Mengen an und steigt man ohne Eile jedes Mal nach längerer Zeit, 
dann hat man Nebenerscheinungen durch den Gebrauch des Mittels nicht zu 
befürchten. 

Man muss mit der Behandlung lange fortfahren, nur mit ganz geringen 
Unterbrechungen. 

Am meisten Erfahrung in dieser Beziehung hat wohl Hertoghe-Antwerpen 
der eine grosse Reihe mit Myxödem und auch nur mit Schilddrüsenmangel 
behaftete Kinder mit Schilddrüsenpräparaten behandelte und seine Erfolge in 
einem kleinen Werke: „Die Rolle der Schilddrüsen bei Stillstand und Hemmung 
des Wachstums und der Entwickelung, übersetzt von Dr. Spiegelberg. 
München 1900“, niederlegte. Eine höchst lesenswerte Schrift. Iclı möchte hier 
nur hervorheben, dass in derselben auch der sogenannte Infantilismus (Typus 
Lorain) besprochen wird, der sich durch sehr lange Beine, schmalen Brustkasten, 
wenig entwickelte Geschlechtsorgane, spärlichen dünnen Haarwuchs und mässige 
geistige Entwickelung auszeichnet und nachweislich durch Behandlung mit 
Thyreoidea zur Genesung geführt wird. 

Ich meine, dass jeder, der das eben angeführte Werk durchliest, den Ein- 
druck bekommt, wie bei der sporadischen kretinoiden Idiotie, so auch überhaupt 
bei verlangsamter geistiger Entwickelung die Möglichkeit einer Schilddrüsen- 
Erkrankung ins Auge fassen zu müssen. 


Der Mongolen- oder Kalmücken-Typus. 


In englischen Werken über Idiotie findet sich diese Form unter den Idioten 
beschrieben, und ist es, so viel ich weiss, Arthur Mitchell gewesen, der zuerst 
auf dieselbe aufmerksam machte. Der Mongolen-Typus soll nach den Be- 
obachtungen englischer Autoren bei 5 unter 100 mehr oder weniger Schwach- 
sinnigen vorkommen und in allen Anstalten Europas und Nord-Amerikas zu 
finden sein. In Deutschland hat man sein Augenmerk noch wenig auf den- 
selben gerichtet. Ich selbst beobachte zur Zeit den ersten ausgesprochnen Fall. 

Ich erlaube mir, hier die Rede darauf zu bringen, damit diejenigen unter 
Ihnen, denen ein reichliches Material zu Gebote steht, darauf achten und durch 
ihre Beobachtungen und Mitteilungen zu weiterer Kenntnis dieser eigentümlichen 
Form beitragen. 


Der Mongolen-Typus ist ein wohl immer angeborener und verdankt seinen 
Namen der Ähnlichkeit mit den Mongolen oder Kalmücken. 

Der Kopf bildet ein kurzes Oval im Umfange, die Längs- und Querdurch- 
me:ser desselben kommen sich nahe, so dass die Stirn- und Hinterhauptsfläche 
beinahe gleichlaufen. 

Kinder dieses Typus haben eine rauhe Haut und straffes Haar, mandel- 
förmige, schräg gestellte Augenlidspalten und eine kurze Nase und bieten da- 
durch das Aussehen eines Mongolen. Eine beachtungswerte Eigentümlichkeit 
findet sich an der Zunge, welche quere Furchen und hypertrophische Zungen- 
wärzchen zeigt. 

Die Hände und Füsse sind plump, die Finger kurz, der kleine Fingeroft eingebogen. 

Das Kind, welches ich augenblicklich beobachte, hat alle diese Merkmale 
und ist unbeholfen in seinen Bewegungen. 

Das Gehirn solcher Kinder ist sehr einfach entwickelt, die Windungen sind 
breit und plump. 


Im allgemeinen sollen sich die eben beschriebenen, mit Schwachsinn be- 
hafteten Kinder langsam entwickeln, sanft, aber auch eigensinnig und sehr zum 
Nachäffen geneigt sein, gewöhnlich nur einen geringen Grad von Intelligenz 
zeigen. So berichtet Ireland, und Shuttleworth sagt, es sei „bemerkens- 
wert, dass beinahe die Hälfte dieser Kinder die letztgeborenen einer zahlreichen 
Familie sind, bei welcher die schaffende Kraft gesunken ist. Man könnte 
glauben, dass sie nicht voll entwickelte Kinder sind, und dass ihr eigentümliches 
Aussehen in Wirklichkeit das eines Abschnitts des Foetallebens ist“. 


Debatte. Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Ich danke dem Vor- 
tragenden im Namen der Versammlung für seinen hochinteressanten Vortrag und 
stelle denselben zur Debatte. 


Sanitätsrat Dr. Jenz: Referent hat uns in seinem Vortrage einige interessante 
Gruppen von Idioten geschildert, die morphologisch mehr oder weniger bestimmt ab- 
grenzbar sind’gegenüber den übrigen Idioten. Ich möchte noch einmal auf die Gruppe 
der Kretinen hinweisen, weil sie das Interesse insofern mehr in Anspruch nehmen, als in 
der Behandlung derselben praktische Erfolge erzielt worden sind. Die praktischen 
Erfolga bei den Hydrocephalen sind ziemlich selten, und ich möchte dabei besonders 
hervorheben, dass die Operation nur Erfolg hat, wenn sie in den allerersten Lebens- 
jahren ausgeführt wird. Bei der Schilderung der Kretinen vermisse ich, dass der 
Referent nicht besonders hervorgehoben hat, dass die charakteristische Gostalt der- 
selben hervorgebracht wird durch eine Hemmung im Knochenwachstum. Diese Hem- 
mung tritt nur in den Knochen auf, die knorplich praeformiert sind. Die Knochen der 
Schädelwölbung haben solche Praeformität nicht aufzuweisen, wohl aber die Knochen 
der Schädelbasis. Durch das Aufhören des Längenwachstums der Knochen, während 
die Weichteile sich weiter entwickeln, erklärt sich der plunpe Körperbau. Der 
Kretinismus beruht auf Anomalien (angeborenen oder erworbenen Defekten oder Er- 
krankungen der Schilddrüse); durch Verabreichung von Schilddrüsenextrakt wird diese 
Krankheit günstig beeinflusst. 





14 


Oberarzt Dr. Kellner: In Bezug auf das Wachstum des Schädels und dessen 
Einwirkung auf die Entwickelung des Gehirns möchte ich mir noch die Bemerkung 
gestatten, dass bei der Betrachtung der Entwickelung des Schädels das Wachstum der 
einzelnen Teile desselben, also des vegetativen und des Gehirnschädels und von 
letzterem wieder das Wachstum der Schädelbasis und des Schädeldaches getrennt zu 
betrachten ist. Der wesentlichste Unterschied zwischen dem Schädel des Menschen 
und dem der höheren Säugetiere beruht darauf, dass beim Menschen der vegetative 
Schädel, also der Teil, der der Atmung. der Aufnahme und Zerkleinerung der 
Nahrung, sowie zum Sitz der Sinnesorgane, Nase, Auge und Ohr dient, gegen den 
Gelbiirnschädel zurücktritt. Gehen wir also von dem Gesichtspunkte aus, dass das 
dem Menschenschädel Eigentümliche in dem Zurücktreten des vegetativen gegen den 
Gehirnschädel liegt, so finden wir die ideal menschlichste Kopfform beim neugeborenen 
Kinde. Bei ihm überwölbt das Schädeldach nach allen Richtungen Stirn, Schläfe und 
Hinterhaupt die Basis, die wir uns durch den unteren Augenhöhlenrand und den 
Gehörgang nach hinten verlängert denken. Diese frühkindliche Schädelform ist die 
sog. bombenförmige. Vom ersten Tage des selbständigen Kindeslebens an, mit dem 
Beginn der Thätigkeit der vegetativen Organe büsst der Schädel immer mehr von 
seiner ideal menschlichen Form ein, die kuppelförmige Überwölbung hört auf, und der 
Schädel nimmt die sog. Hausform, mit grade aufsteigenden Wänden und darüber ge- 
wölbtem Dach an. In manchen Fällen wird aus der Hausform durch Abplattung 
der Wölbung die sog. Zeltform. Der Übergang der Bombenform in die Hausform 
erfolgt dadurch, dass die Endpunkte des langen wie des queren Durchmessers der 
Schädelbasis durch Wachstum der diese Basis bildenden Knochen auseinander rücken, 
wodurch die Basis vergrössert, die Wände der Wölbung aber von der überhängenden 
zur senkrechten und selbst schräg abfallenden Linie werdeu müssen. Fs ist also zur 
normalen Entwickelung des Schädels ein ausgiebiges und schnelles Wachstum der 
Basis notwendig und in der Behinderung dieses Wachstums durch frühzeitige Ver- 
knöcherung der Nähte, wie solches eine häufige Folge der Rachitis ist, liegt zweifellos 
in vielen Fällen der Grund zur Bildung eines Makro-, Hydro- oder Mikrocephalus. In 
vielen derartigen Fällen sehen wir, dass die Natur den Nachteil der zu kleinen 
Schädelbasis dadurch ausgleicht, dass sie eine hochgewölbte Schädeldecke bildet, die 
wir wieder in einfache Grossköpfe, Turmköpfe oder Köpfe mit olynegischen Stneinr 
einteilen, deren Besitzer aber geistig normal sind. In anderen Fällen aber ist es 
zweifellos, dass auch beim Vorhandensein der Anlage eines völlig gesunden Gehirns 
durch die zu klein gebliebene Basis Ernährungsstörungen und besonders Druck- 
schwankungen durch Abflusshinderung des venösen Blutes entstehen, die das Gehirn 
in seiner Entwickelung in hohem Grade hemmen und den Grund zu schweren 
psychischen Defekten legen. Wir müssen mithin doch für manche Fälle von Idiotie 
als alleinigen Grund Wachstumsanomalien des Schädels zugeben. 

Sanitätsrat Dr. Berkhan erwähnt in seinem Schlusswort Fälle von Heilung von 
Wasserkopf und darnach eingetretener Intelligenzentwickelnng. Was die Entwickelungs- 
hemmung im Knochenwachstum bei Kretinen betreffe, so habe er dieselbe deswegen 
nur kurz berührt, weil er vor einer gemischten Versammlung gesprochen habe. 

Schluss in nächster Nr. 


75 


Bericht über die am 15. Februar 1902 in Hagen in Wesif. abgehaltene 
Konferenz für das Hilfsschulwesen. 

Die Lehrer an den Hilfsschulen zu Hagen, Dortmund, Schwelm und Witten 
bildeten seit 1901 eine freie Vereinigung welche in Hagen und Schwelm je eine 
Konferenz abhielt, in denen nach voraugegangener Lehrprobe ein Vortrag gehalten 
und die gemeinsamen Interessen besprochen wurden. Zu der am 15. Februar 1902 
in Hagen vereinbarten Konferenz ergingen Einladungen an die Königl. Regierungen 
zu Arnsberg, Minden und Münster, an sämtliche Kreisschulinspektoren der Provinz 
und an das Lehrerkollegium der Stadt Hagen. Als Tagesordnung wurde festgesetzt: 
1. Vorführung der 1. Hilfsklasse durch Lehrer Franzmeyer, 2. Vortrag des 
Hilfsschullehrers Schmitz-Dortmund über „Zweck und Einrichtung der Hilfs- 
schule“. 

Den Einladungen war sehr zahlreich entsprochen worden. Unter anderen waren 
erschienen Geh. Regierungsrat Dr. Schulz-Münster, Regierungs- und Schulrat 
Dr. Gregorovius-Minden, eine grössere Anzahl von Königl. Kreisschulinpektoren, 
einige Ärzte und viele einheimische Vertreter des Lehrfachs. Der angekündigte Ver- 
treter der Königl. Regierung zu Arnsberg war leider durch Krankheit am Erscheinen 
verhindert. 

Um 2!/, Uhr begann Lehrer Franzmeyer mit seiner Lehrprobe. Er stellte 
Fragen aus dem alten Testamente, den Grundgedanken entwickelnd: der Herr hilft 
in der Not, ging auf das leben unseres Heilandes ein, leitete dann über auf An- 
schauungsunterricht und Heimatkunde und knüpfte an eine Bildertafel, welche in ein- 
fachen Umrissen Haustiere und Wild zeigte, grammatische Übungssätze an. Zum 
Schluss der mehr als einstündigen Lehrprobe führte Lehrer Franzmeyer eine von 
ihm erfandene Rechenmaschine in ihrer Anwendung vor. 

Alle Anwesen len waren davon überzeugt, dass Lehrer Franzmeyer bestrebt 
ist, durch sein väterliches Verhalten den Kindern gegenüber sich deren Herzen zu 
gewinnen und ihr Vertrauen zu erringen. Nach Beendigung der Unterrichtsstunde 
begaben sich die Konferenzteilnehmer in das Hotel „Zum Römer“, woselbst Lehrer 
Franzmeyer die Versammlung begrüsste und allen Teilnehmern, vornehmlich den 
Vertretern der Behörden den Dank der Hilfsschullehrer für das Erscheinen abstattete. 
Kreisschulinspektor Schulrat Stordeur-Hagen wurde zum Leiter der Versammlung 
und die Lehrer Middeldorf-Dortmund und Weniger-Schwelm zu Schriftführern 
gewählt. Lehrer Schmitz-Durtmund hielt sodann einen Vortrag über „Zweck 
und Einrichtung der Hilfsschule‘“. Nachdem Redner den Zweck und die Be- 
rechtigung der Hilfsschule ausführlich klargelegt hatte, beantwortete er folgende 
Fragen, die auf die Einrichtung der Hilfsschule Bezug haben: 

1. Wohin legen wir die Schule? Im allgemeinen in das Zentrum des 
Ortes, so dass die Schulwege nicht zu weit sind, doch braucht man darin 
nicht zu ängstlich zu sein; erblickt doch Geh. Oberregierungsrat Brandi- 
Berlin gerade in der Fähigkeit, weitere Schulwege zu finden, das Kriterum, 
ob solche Kinder noch den Hilfsschulen überwiesen werden können. 

2. Wie viel Klassen soll eine Hilfsschule erhalten? Das hängt von 
der Kinderzahl ab; mehr als 15—20 Kinder soll eine Klasse nicht haben. 


76 


Die Geschlechter brauchen nicht getrennt zu werden. Man gliedert die Hilfs- 
schule gern in drei Klassen, wozu oft als vierte eine Vorbereitungsklasse tritt. 

83. Welche Kinder gehören in die Hilfsschule? Weder Idioten noch 
normule Kinder, welche infolge von Krankheit, Faulheit oder öfterer Um- 
schulung zurückgeblieben sind. Epileptische und verwahrloste Kinder sind 
auszuschliessen. 

4. Wann soll ein Kind in die Hilfsschule aufgenommen werden? 
Iu der Regel ist es zweckentsprechend, wenn das Kind erst nach zweijährigem, 
erfolglosen Besuch der Unterklasse aufgenommen wird. Die Prüfung und 
Zuweisung erfolgt durch eine Kommission, bestehend aus dem Lokal- und 
Kreisschulinspektor, dem Schularzte und dem Hilfsschulleiter.. Die Kommission 
kann umso schneller und sicherer die Entscheidung treffen, je genauer die 
Erhebungen über körperliche und geistige Entwicklung, über die häuslicheu 
Verhältnisse etc. vorliegen. 

5. Stundenplan. In allen Klassen sind zu gleicher Zeit dieselben Fächer 
anzusetzen, damit jedes Kind seiner Beanlagung entsprechend in der betr. 
Abteilung unterrichtet werden kann. 

6. Der Lehrplan der Hilfsschule unterscheidet sich von dem der Volksschule 
dadurch, dass er keine streng verbindlichen Ziele feststellt; er soll dem Lehrer 
eine Richtschnur, aber keine Zwangsjacke sein. Eine gewisse Bewegungs- 
freiheit muss dem Lehrer gestattet sein, doch sei er sich seiner Verant- 
wortlichkeit bewusst, 

7. Die Hilfsschule muss in ihrer Leitung nicht einem Volksschulsystem an- 
gehängt, sondern selbständig sein. Die fortdauernde Arbeit am Lehr- und 
Stundenplan, die Beobachtung der Kinder. auch nach der Schulzeit, der Ver- 
kehr mit den Eltern und die mannigfachen Fragen, die sich beim Unter- 
richte und in der Erziehung schwachsinniger Kinder ergeben, erfordern eine 
ganze Arbeits-, eine Manneskraft. 

8. Wenn ministerielle Verfügungen Angaben über die Entwickelung der ein- 
zelnen Schüler verlangen und die Militärverwaliung von Einstellung solcher 
Rekruten absieht, deren Schwachsinn sich beim Besuche der Hilfsschule 
ergeben hat, so erhellt daraus die Notwendigkeit, über jedes Kind ein 
Personalbuch zu führen. 

Redner schluss mit der Hoffnung, dass die Arbeit an Schwachsinnigen einst vor 
dem Richterstuhle Gottes ebenso anerkannt werden würde, wie jede andere und dass 
sic ein Wirken im Sinne Wilhelms des Grossen und seines erhabenen Enkels sei, weil 
sie den einzelnen rettet und das ganze Volk hebt und da einsetzt, wohin noch kein 
Schatten der Selbstverschuldung fällt. 

Dem anregenden Vortrage*), der grossen Beifall erntete, fulgte eine lebhafte 
Debatte. Sanitätsrat Dr. Mayweg-Hagen regte an, die Dauer einer Unterrichts- 
stunde festzusetzen, und man einigte sich dalıin, die Unterrichtsstundo in der Hilfs- 
schule auf 30, höchstens 45 Minuten zu bemessen, so dass nach jeder Stunde eine 


*) Derselbe wird in einer der nächsten Nrn. zum Abdruck kommen. 


77 


— m m mn 


Pause von wenigstens 15 Minuten einzutreten hat. Derselbe Arzt hält es ferner für 
wünschenswert und für notwendig, dass schwachsinnige Kinder während der Schulzeit 
und der Pausen von den normalen Kindern getrennt würden. Er stiess mit dieser 
Forderung ganz besonders bei den Rektoren auf Widerspruch, welche gerade im Ver- 
kehr des normalen Kindes mit dem schwächsinnigen einen erziehlichen Einfluss auf 
ersteres erbuffen. Hilfsschulleiter Weniger-Schwelm hält aber eine Trennung für 
dringend geboten. In seiner fünfzehnjährigen Praxis als Lehrer für schwachbefähigte 
Kinder hat er die Erfahrung gemacht, dass die Hilfsschüler vielfach mit körperlichen 
Gebrechen behaftet sind, dass sie, su zurückgesetzt sie sich in Gegenwart normaler 
Kinder fühlen, im Verkehr unter sich glücklich und zufrieden sind. Überdies müssen 
die Hilfsschüler auch währen der Pausen unausgesetzt beaufsichtigt, zu den Spielen 
herangezogen und erziehlich boeiuflusst werden, was bedingt, dass der boaufsichtigende 
Lehrer seine Schwachen immer im Auge zu behalten im stande sein muss. Auf 
Vorschlag des Vorsitzenden stimmten zu diesem Punkte nur die Hilfsschullehrer ab. 
Es ergab sich, dass von 8 anwesenden 5 für, 3 gegen die Isolierung stimmten. 
Reg.- nnd Schulrat Dr. Gregorovius-Minden ersuchte um Besprechung der Fragen: 
Welche Kinder sollen der Hilfsschule überwiesen werden und wer 
bestimmt die Überweisung? Aus der Diskussion ergab sich, dass in der 
Regel die Kinder aufgenommen werden sollen, welche 2 Juhre ohne Erfolg in der 
Fibelstufe gesessen haben. Ausnahmen, welche mit Rücksicht auf Gesundheit und 
häusliche Verhältnisse der Kinder geboten sind, bestätigen die Regel. Über dio Auswahl 
der Kinder beschliesst eine Kommission, welche aus dem Lokal- und Kreisschul- 
inspektor, dem Schularzt, dem Hilfsschalleiter und dem Rektor — Hauptlehrer des 
Kindes besteht. Die Prüfung erfolgt durch den bisherigen Klassenlehrer und den 
Hilfsschulleiter.. In Schwelm hat Hilfsschulleter Weniger einen Fragebogen 
ausgearbeitet, den die städtischen Behörden haben drucken lassen. Im Februar eines 
jeden Jahres wird er von dem Klassenlehrer und dem Schularzt beantwortet. Dieser 
Anmeldeschein und voraufgehende Eiternbesuche seitens des Leiters der Hilfsschule 
geben der Kommission genügende Anhaltspunkte für die Beurteilung des Kindes. Die 
Frage, ob Eltern gezwungen werden können, ihr Kind in die Hilfsschule zu schicken, 
blieb unentschieden; doch war man der Ansicht, dass eine gütliche Beeinflussung und 
Belehrung über die Zwecke der Hilfsschule fast immer von Erfolg sein werden. — 
Die Versammlung erachtete es ferner für notwendig, im Sinne der Referenten Abtei- 
Jungen und Klassen zu bilden, in einklassigen Hilfsschulen die Kinderzahl aber 
höchstens auf 20 steigen zu lassen. 

Als letzter Punkt stand sodann der Lehrplan der Hilfsschulen zur Erörterung. 
Das Ergebnis der wegen vorgerückter Zeit kurzen Besprechung war die Bildung einer 
Kommission, bestehend aus den Hilfsschullehrern der Städte Dortmund, Hagen, Schwelın 
und Witten. Der Kommission wurde aufgegeben, einen Lehrplan auszuarbeiten und 
ihn einer für den 25. Juni nach Dortmund einzuberufenden Versammlung vorzulegen. 
Diese Konferenz soll im „Franziskaner“ tagen und vormittags 11 Uhr beginnen. 
Reg.- u. Schulrat Dr. Gregorovius- Minden sprach den Vertretern der Städte gegen- 
über die Bitte aus, den Hilfsschullehrern eine angemessene pensionsberechtigte Zulage 
zu gewähren, damit die Lehrer, welche in der Arbeit der Hilfsschulen ständen, ihr 


18 


auch erhalten blieben. Ein häufiger Wechsel der Lehrkräfte stelle den gedeihlichen 
Erfolg dieser Rettungsschulen in Frage. 

Der Vorsitzende schloss sodann die offizielle Sitzung mit herzlichem Dank an die 
Anwesenden und die Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen in Dortmund. 

Ein gemeinsames Abendessen bielt noch einen grossen Teil der Konferenzteilnehmer 
einige Zeit zusammen. 

Die Schriftführer: Weniger-Schwelm, Middeldorf- Dortmund. 
Der Vorsitzende: Stor deu r- Hagen. 


Mitteilungen. 


Borna. (Hilfsschule.) Seit Ostern 1901 besteht hier ein Hilfsklasse für 
schwachbefähigte Kinder. Der Unterricht in derselben liegt in der Hand des Lehrers 
A. Hoffmann. Die Schulerzahl betrug im ersten Jahre 7. — 

Kiel. (Neue Hilfsschule) Ostern 1902 soll in Kiel eine Hilfsschule für 
Schwachbefäliigte, und zwar zunächst vierklassig, errichtet werden. Diese Schnle soll 
den Namen einer Theodor Witte-Schule führen zum Gedächtnis des Stifters des für 
Kieler Schulzwecke bestimmten Millionen-Legats, aus dessen Zinsen zum bei weitem 
grössten Teil die Kosten für die Errichtung und Unterhaltung der Schule bestritten 
werden sollen. Man rechnet vorläufig auf eine Frequenz von 80 Schülern, mithin 
durchschnittlich 20 für jede der vier Klassen. Demgemäss wird die Anstellung eines 
Rektors, zweier Lehrer und einer Lehrerin geplant, die das Grundgehalt der in gleicher 
Eigenschaft an der Volksschule amtierenden Lehrkräfte, jedoch mit einer Zulage von 
400 bezw. 300 bezw. 200 Mk. beziehen sullen. (Ztschft. f. Schlgsdhtspfi.) 

Magdeburg. Am Ende des vergangenen Schuljahres feierte die hiesige Hilfs- 
schule ihr zehnjähriges Bestehen. Dieselbe wurde 1892 mit 3 Klassen eröffnet 
und zwar waren davon in der Altstadt 2 Klassen und in der Neustadt 1 Klasse. 
1893 kam in der Neustadt noch 1 Klasse dazu. Zu gleicher Zeit wurde auch in 
Sudenburg 1 Klasse eingerichtet. Die Schule blieb in dieser Weise bis 1897 be- 
stehen. Die Kinder wurden immer nach 2 Jahren wieder der Volksschule überwiesen. 
Die einzelnen Klassen unterstanden dem Rektor, in dessen Schulgebäude die betreffende 
Klasse untergebracht war. 1897 beschloss die städtische Schuldeputation die Hilfs- 
schule woiter auszubauen und selbständig zu machen. Es wurden deshalb die Klassen 
in. der Altstadt und in der Nenstadt. um je eine vermehrt und die Leitung der ganzen 
Schule dem bisherigen Lehrer derselben, Giese, übertragen. Derselbe wurde zugleich 
zum Hauptlehrer erhoben. Im Jahre 1899 wurde die Schule um je eine Klasse in 
der Altstadt, Neustadt und Sudenburg vermehrt. Im Jahre 1901 kamen nochmals 
3 Klassen dazu und zwar in der Altstadt 2 und in Sudenburg 1, so dass augen- 
blicklich die Schule 13 Klassen hat, und zwar sind davon in Magdeburg 6 
(3 Unter-, 2 Mittel-, 1 Oberstafe), in Neustadt 4 (2 Unter-, 1 Mittel-, 1 Ober- 
stufe) und in Sudenburg 3 (Unter-, Mittel-, Oberstufe). Jede Stufe hat 2 Jahr- 
gänge, so dass eigentlich die Schulen in den einzelnen Stadtteilen sechsstufig sind. Die 
Zahl der Unterrichtsstunden ist für die Unterstufe auf 22, für die Mittel- und 
Oberstufe auf je 24 festgesetzt. In jeder Klasse sollen nicht mehr wie 25 Kinder 


79 


—— 1 — 


sein. Der Unterricht wird nur vormittags erteit. — Die Aufnahme in die Hilfs- 
schule geschieht in der Regel nach einem zwe:jäbrigen erfolglosen Besuche der Volks- 
oder Bürgerschule. Vielfach kommt es aber vor, dass besonders Eltern aus den 
besseren Ständen ihre Kinder sofort der Hiifsschule überweisen lassen. Die Kinder 
verbleiben gewöhnlich bis zu ihrer Konfirmation in der Hilfsschule Falls sie sich 
ausserordentlich gut entwickeln und noch mehrere Schuljahre vor sich haben, können 
sie in die Volks- oder Bürgerschule zurückversetzt werden. In den letzten Jahren 
hat aber höchst selten eine Zurückversetzung stattgefuuden. Dagegen ist mit Freuden 
zu konstatieren, dass die Vorurteile, welche die Eltern gegen die Hilfsschule haben, 
immer mehr schwinden, und dass gerade Eltern aus den besten Ständen unserer Stadt 
um Aufnahme in die Hilfsschule für ihre armen Kinder bitten. — Welche Erfolge 
hat nun unsere Hilfsschule aufzuweisen, wenn sie auf ihre zehnjährise Thätigkeit zu- 
rückblickt? Nach der von uns aufgestellten Statistik wurden über °/, der Kinder 
sd weit geistig gefördert, dass sie ihr Brot selbst verdienen können Welchen Ein- 
fluss aber sonst die Arbeit in den Hilfsschulen auf das Öffentliche Volksleben hat 
und der nicht zahlenmässig nachgewiesen werden kann, wissen die Leser dieser 
Zeitschrift, und es erübrigt sich, dies hier besonders zu betonen. — Unsere städtischen 
Behörden haben bis jetzt der Hilfsschule immer ein besonderes Augenmerk geschenkt 
und es ist deshalb zu hoffen, dass sie die Hilfsschule immer weiter ausbauen. Das 
Nächstliegende wäre, dass die Klassen in . den einzelnen Stadtteilen unter ein Dach 
kämen. Für die Altstadt wäre dann die Möglichkeit geschaffen eine sechsstufige 
Schule mit einer Vorstufo zu errichten. Dadurch würde nicht nur die Arbeit der 
Lehrer bedeutend erleichtert, sondern auch die Erfolge, welche die Hilfsschule auf- 
zuweisen hat, würden bedeutend gesteigert werden. Weiter ist notwendig, dass der 
Stadtteil Buckau, welcher über 25000 Einwohner zählt, eigene Klassen bekommt, 
damit auch dort sämtliche geistig schwache Kinder einem gesonderten Unterricht 
erteilt bekämen und nicht nur die, welche imstande sind, jeden Tag Jen weiten 
Schulweg nach der Altstadt zurückzulegen. Dann wäre von grossem Segen, wenu 
Magdeburg, das so bahnbrechend in der Errichtung von Furtbildungsschulen gewesen 
ist, auch für die aus der Hilfsschule entlassenen Knaben eigene Fortbildungsschul- 


klassen errichten würde, — Mögen diese unsere Wünsche recht bald erfüllt werden 
zum Segen für unsere geistig Schwachen, Kranken und Defekten und zum Wohle 
unserer Stadt. Wilh. Busch. 


Mainz. (Verbandstag der Hilfsschulen) Gutem Vernehmen nach wird 
der nächste (4.) Verbandstag für die Hilfsschulen Deutschlands nicht, wie ursprüng- 
lich in Aussicht genommen war, in Dresden, sondern hier stattfinden und zwar während 
der Osterferien. 


Litteratur. 


Ernstes und Heiteres aus meinen Erinnerungen im Verkelr mit 
Schwachsinnigen. Von A. Grohmann. Zürich, Melusine, 1901. 183 Seiten. 
Preis Mk. 2,40. 

Der Verfasser, Besitzer eines Instituts für Nervenkranke, ist den Lesern unserer 
Zeitschrift wohl noch aus einem Artikel über Schwachsinnige (Jahrgang 1899) be- 


80 


kannt. In der vorliegenden Schrift schildert er meist in der Erzählungsform einer 
Novelle verschiedene Erlebnisse aus seinem Verkehr mit Schwachsinnigen geringen 
Grades, an die er kritische Bemerkungen anschliesst. Diese zeigen von grossem 
psychologischen Scharfblick und bieten wichtige Richtlinien für die Behandlung 
einzelner Typen der Schwachsinunigen, wenn sie in der Hauptsache auch nichts Neues 
bringen. Wer Neuling auf dem Gebiete der Erziehungs- uud Bildungsbestrebungen 
mit Geistesschwachen ist, wird manche Anregungen in der Schrift finden, wer aber 
mitten in der Thätigkeit steht, hat sicher derartige und noch viel andere Erfahrungen 
mit dieser Gruppe von Menschen in der Weise, wie sie der Verfasser schildert, viel- 
leicht schon vielfach gemacht. Immerhin aber liest man solche Schilderungen mit 
Interesse, da sie alte Erinnerungeu in uns wachrufen und Gedanken erwecken, die 
zur Überlegung und Erwägung mancher Erlebnisse im Verkehr mit Schwachsinnigen 
führen. Uns zum Beobachten in ihrer Umgebung und zum Nachdenken über die ge- 
machten Wahrnehmungen zu animieren, das ist der Zweck, welchen der Verfasser mit 
seinem Buche verfolgt. Einzelne Schilderungen sind gut gelungen, besonders das 
Kinderbild. Wer sich daran stossen wollte, dass der Verfasser auch Heiteres an 
diesen Menschen findet, mag sich zufrieden geben, die Darstellung ist edel und die 
Sprache decent. Zur Orientierung auf dem Gebiete des Seelenlebens, namentlich des 
krankhaften, können wir die Schrift ohne Bedenken empfehlen. 

Verhandlungen der IIJ. Schweizerischen Konferenz für das Idioten- 
Wesen in Burgdorf am 10. und 11. Juni 1901. Herausgegeben im Namen 
des Konferenzvorstandes von C. Auer, F. Kölle und H. Graf. DI. Zschudy- 
Aeblv Buchdruckerei, Schwanden 1901. 

Der Bericht giebt ein Bild von den Konferenzverhandlungen und enthält ins- 
besondere die auf derselben gehaltenen trefflichen Vorträge. Derselbe ist für 
Fr. 1,60 bei dem Präsidenten der Konferenz, Sekundarlehrer C. Auer in Schwanden, 
Kt. Glarus, zu haben. 





Gesucht eine evangelische Lehrerin, 
welche Lust und Liebe hat, an der Erziehung und dem Unterricht geistig schwacher 
Kinder teilzunehmen. Gehalt nach Übereinkunft neben vollständig freier Station. — 


Jede nähere Auskunft wird gern erteilt. Erziehungsanstali Idstein 


Direktor Schwenk. 





Inhalt. X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder. 
(Fortsetzung.) — Bericht über die am 15. Februar 1902 in Hagen in Westf. abgehaltene 


Konferenz für das Hilfsschulwesen. — Mitteilungen: Borna, Kiel, Magdeburg, Mainz. — 
Litteratur: Ernstes und Heiteres, — Verhandlungen der III. Schweizeriscden Konferenz 
für das Idiotenwesen. — Anzeigen. 











m Emm nn 2m LE nn nn UL nn nn nn mn un 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Konmissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


ot us NET 


CA \ BIN | | 
| \ 
Nr. 6 u 1. en | XVIL A) Jahrg. 


für die 


Behandiung sehwachsinniger und Epileptischer 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden - Strohlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. in Stuttgart. 
Erscheint Jährlich in 13 Nummern von | ; Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. Anzeigen für . J e 1902 | und Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzeile 25 Pig. Litte- uni . ‚ Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 


rarische Beilagen 6 Mark. | einzeine Nummer 5V Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





X. Konferenz für das Idiotenwesen 


und Schulen für schwachsinnige Kinder. 
(Schluss.) 


Es folgt eine kurze Rubepause. Nach Wiederaufnahme der Sitzung erhält 
das Wort Herr Hauptlehrer Horrix. 


Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitet 
zur Arbeit an den Schwachen? 


| Leitsätze: 

l. Durch die Pflege eines echt christlichen Geistes, der die wahre Liebe 
zu den Armen am Geiste fördert, werden Seminaristen und Lehrer von dem 
Masse idealen Sinnes erfüllt, der unbedingt an erster Stelle nötig ist, um die 
bei der Arbeit an geistig Minderwertigen erforderliche Selbstverleugnung, Liebe 
und Geduld zu erlangen und sich für immer zu bewahren. 

2. Ohne eine gründliche mit diesen Tugenden verbundene Kenntnis der 
Psychologie und Logik, der methodischen und didaktischen Grundsätze, die bei 
Erziehung und Unterricht geistig normal entwickelter Kinder zur Anwendung 
kommen, kann von einem Eindringen in den anormalen Kindesgeist nicht die 
Rede sein; daher ist und bleibt eine eingehende methodisch-didaktische Durch- 
bildung der Seminaristen und Lehrer in Theorie und Praxis auf streng psycho- 
logischer Grundlage ein Haupterfordernis, soll die Mitarbeit der Volksschullehrer 
am Werke der Erziehung Schwachsinniger und Schwachbegabter von Dauer 
und Erfolg sein. 


82 


3. Ausserdem muss Seminaristen und Lehrern Gelegenheit geboten werden, 
von erfahrenen Männern in diesem Fache und auf dem Wege des Selbststudiums 
die Geschichte der Schwachsinnigenbildung, die Einrichtungen für Schwachbe- 
gabte und Schwachsinnige, die pädagogische Tathologie und Therapie, vornehm- 
lich die verschiedenen Arten des Schwachsinns, kurz alle geistigen Abnormitäten 
des Kindesalters, sowie die Art und Weise ihrer unterrichtlichen und erziehlichen 
Behandlung theoretisch und womöglich auch praktisch kennen zu lernen. 

4. Damit eine solche, Seminaristen und Lehrern dargebotene Gelegenheit 
thatsächlich auch nach allen Seiten hin gehörig ausgenutzt werde, sind bei den 
verschiedenen Lehrerprüfungen und Schulrevisionen stets auch Erhebungen 
darüber anzustellen, inwieweit die Examinanden sich durch Studium una Praxis 
mit diesem Zweige der Erziehungskunst befasst haben. 

5 Da aber die Lehrer in vollbesetzten Schulklassen der normalen Schüler 
wegen während der Schulstunden sich nicht hinreichend genug mit den geistig 
Schwachen beschäftigen können, so haben die miassgebenden Faktoren in den 
Orten, wo keine Hilfsschulen oder Anstalten bestehen, dafür Sorge zu tragen, 
dass die von den Lehrern nach der Schulzeit geopferte Zeit und Mühe ent- 
sprechende Anerkennung finde. 


Hochverehrte Damen und Herren! 


Die Arbeit des Erziehens ist schon mühevoll beim normal veranlagten 
Kinde, um wie viel schwieriger muss sie sein bei den bemitleidenswerten Ge- 
schöpfen, deren geistige Entwickelung nicht bei einem leisen Anstoss, woher er 
auch kommen mag, in ruhiger, steter Weise fortschreitet, sondern deren Bildung 
im grossen und ganzen von dem geschickten Eingreifen des Erziehers abhängig 
sich erweist, nämlich bei den Schwachen am Geiste. Man braucht kein weich- 
licher Humanitätsduseler zu sein, um freundliche Teilnahme mit diesen Stief- 
kindern zu empfinden, aber es zeugt auch keinesfalls von wahrer Nächstenliebe, 
wenn von ihnen in Wort und Schrift als von einem Ballast, der die Schule 
sehr belästige, gesprochen wird. Das Wort erinnert zu sehr an „über Bord 
werfen“. Und gerade diese Kinder haben ein nicht wegzuleugnendes Anrecht 
auf die weitgehendste Fürsorge auch von seiten der Schule Mit kühlem Kopf 
und warmem Herzen hat die Neuzeit dies erkannt und ihre werkthätige Liebe 
den geistig Armen geoffenbart durch Gründung von besondern Anstalten und 
Schulen. Manches ist zwar trotzdem ein frommer Wunsch geblieben, und viele 
Schwachbegabte wachsen noch auf ohne eine ihre Eigenheiten ins Auge fassende 
Erziehung, weil es unmöglich ist, sie alle in den bestehenden Anstalten und 
Schulen unterzubringen oder an jedenı kleinern Orte eine Hilfsschule zu errichten. 
Aus diesem Grunde kann jeder Lehrer in die Lage kommen, sich eines schwach- 
sinnigen Kindes annehmen zu müssen, denn wie es Pflicht aller Menschen ist, 
Hilflosen und Bedrängten ein Helfer zu sein, so erfüllt der Lehrer, welcher 
einen schwachbefähigten Schüler in seine Obhut nimmt, einfach nur eine Ritter- 
pflicht und ein Gebot der ewigen Vorsehung. Wenn allerdings jemand den 
Erziehungsberuf als Tagelöhner ausübt, wenn er ilın bloss als die milchgebende 


83 


Kuh ansieht, so wird er von diesem Gebote allgemeiner Menschenliebe nicht 
durchdrungen sein und es darum auch nicht befolgen. Wohl darf dem Lehrer 
ein gesunder Realismus innewohnen, aber nicht ein Realismus, der die Ideale 
von Samaritertum an geistesschwachen Kindern aus der Brust verdrängt. Der 
deutsche Lehrerstand hat, gottlob, noch stets seinen idealen Sinn zu so edlem 
Thun bekundet, und es genügt, dess sind wir gewiss, ein Hinweis, um ihn noch 
mehr für die Mitarbeit an den Schwachen zu begeistern. Erfahrungsgemäss 
steigert sich aber die Begeisterung mit dem Gelingen, und dieses ist binwiederum 
vornehmlich abhängig von der Sachkenntnis, mit welcher der Erzieher, den 
Eigentümlichkeiten des schwachen Geistes nachspürend, die geeigneten Mittel 
und Wege zu dessen planmässiger Bildung anwendet. Dass bis jetzt vielleicht 
mancher Amtsgenosse nach dieser Richtung seine Hände in den Schoss gelegt 
hat, sei nicht so sehr der fehlenden Begeisterungsfähigkeit als dem Mangel an 
der richtigen Anleitung zu dieser Arbeit zugemessen. Der ideale Sinn an und 
für sich reicht noch lange nicht hin ; er muss sich unbedingt mit dem erforderlichen 
Verständnisse für die gute Sache und deren gedeihlicher Bebandlung paaren. 
In dem Masse, wie dem Lehrerstande dafür die Flügel erstarken, wird auch 
das Streben, wirklich Hilfe zu leisten, bei ihm zunehmen, um so mehr, als der 
Lehrer, welcher mit Eifer und Bedacht an den Schwachen seiner Klasse arbeitet, 
sicherlich auch auf die Schwächen normaler Schüler gebührende Rücksicht 
nimmt und infolgedessen die Resultate der ganzen Klasse mit weit geringerer 
Mühe verbessert. 

Unter „Anleitung“ verstehen wir jedoch nicht das programmatische Auf- 
zählen aller, auch der kleinsten Massregeln, die der Lehrer bei geistig Zurück- 
gebliebenen ergreifen muss; das hiesse, dem Erzieher die lebendige Macht 
seiner Persönlichkeit rauben. Wer den Geist des Ganzen erfasst hat, der wird 
für das Einzelne die Art der Ausführung schon zu finden wissen. In grossen 
Zügen geschieht deshalb hier nur der Faktoren Erwähnung, welche durch die 
Beseitigung hemmender und die Pflege fördernder Einwirkungen möglichst alle 
Lehrer zu erfolgreicher Mitarbeit an den geistig Schwachen zu gewinnen 
vermögen. 

„Mit einer erwachsenen Generation ist nicht viel anzufangen, weder in 
körperlicher noch in geistiger Beziehung, weder in Dingen des Geschmacks noch 
des Urteils, fängt man aber mit der Jugend an, dann wird es gehen.“ Dieser 
Satz des Altmeisters Goethe rechtfertigt unsere Absicht, den Seminaristen eine 
solche Anleitung zu geben, während sein anderer Ausspruch: „Wer fertig ist, 
dem ist nichts recht zu machen, ein Werdender wird immer dankbar sein“ 
bezüglich der Weckung des Interesses und der Anleitung für die schon ange- 
stellten Lehrer seine volle Berechtigung behält, mögen sie nun bisher dieser 
Frage gegenüber sich passiv verhalten oder sich so eingehend mit ihr beschäftigt 
haben, dass für sie die folgenden Auseinandersetzungen nur wenig oder gar 
nichts Neues enthalten. 

Zu ungezählten Malen werden von den Kathedern und in den Lehrbüchern 
der Pädagogik Liebe und Geduld als die Haupttugenden eines Erziehers und 


84 


Lehrers geschildert. Die thätige Nächstenliebe liegt ja in der Natur des 
Christentums zu fest begründet und macht einen zu wesentlichen Bestandteil 
desselben aus, als dass ein Lehrer, der die Schwachen berücksichtigen will, 
ihrer auch nur einen Augenblick entbehren könne. Wenn der ermunternde 
Ausspruch des grössten Erziehers aller Zeiten: „Was ihr dem geringsten meiner 
Brüder gethan habt, das habt ihr mir gethan“ sein Leitstern ist, so überwindet 
er auch in Geduld — ruhig und selbstbewusst — alle Verstimmungen, die ihn 
wegen Nichtkönnens oder nicht befriedigender Aufmerksamkeit seiner geistig 
schwachen Schüler zu befallen drohen. In dieser Entäusserung des eigenen 
Ichs, welche ihn dahin bringt, mit unentwegter Konsequenz und unberührt von 
den zahllosen Hindernissen wie unangenehmen Eindrücken das Dasein der 
schwachsinnigen Kinder zu verschönern, steckt ein grosses Stück unverfälschten 
Christentums. | 

Die Verhältnisse sind jedoch mitunter zwingender als die stärkste Berufs- 
liebe, und daher ist es leicht erklärlich, dass viele Lehrer, wenn sie auch vom 
wärmsten Wohlwollen für die Schwachen beseelt und auf diesem Arbeitsfelde 
zu Hause sind, diese Zöglinge dennoch nicht gehörig unterstützen können, weil 
eine zu grosse Zahl von normalen Schülern ihre Zeit und Kraft vor, in und 
nach der Schulzeit in so hohem Grade in Anspruch nimmt, dass sie, sollen die 
andern nicht zu kurz kommen, kaum noch an eine eingehende Beschäftigung mit 
den Schwächsten denken dürfen. Wo die Höchstzahl der Schüler einer Klasse auf 
ein vernünftiges Mass herabgesetzt ist, wird der Lehrer, den guten Willen 
vorausgesetzt, seine geistig Anormalen schon dem süssen Nichtsthun entreissen. 

Nicht minder aber trifft ein Verschulden an der Zurücksetzung der Schwachen 
viele mit Stoff überfüllte Lehrpläne und Pensenverteilungen. Diese werden 
häufig für einzelne Disziplinen von Lehrern angefertigt, die sich das Fach als 
Steckenpferd erkoren haben und darin mit verhältnismässig kleinem Kraftauf- 
wand hervorragende Leistungen aufweisen, die aber eben deswegen auch nur 
zu leicht in dem Wahn befangen sind, dasselbe könne und müsse von jedem 
andern auch erreicht werden. Bei der Aufstellung von Pensenverteilungen muss 
der Durchschnittslehrer, der theoretisch sich auf der Höhe gehalten hat, der 
als allseitig praktischer Schulmann mit den Bedürfnissen der Volksschule, aber 
auch mit der Leistungsfähigkeit der Schüler und Lehrer voll und ganz Bescheid 
weiss, mehr zu Worte kommen. Darin liegt zugleich die beste Schutzwehr 
gegen die Einführung von allerhand unerprobten Neuerungen, gegen die Jagd 
nach künstlichen Systemen und Methoden, die der Naturgemässheit, dem synthe- 
tischen, lückenlosen Aufbau, den Gesetzen der Apperzeption geradeswegs Hohn 
sprechen. Das unseres Erachtens in der Gegenwart zu stark betonte Prinzip 
der Anschauung hat eine unausgesetzte, intensive Übung vielfach verdrängt 
und das Können der Schüler auf unsichere Füsse gestellt. Ist es da merk- 
würdig, wenn unsere Schwachen am meisten davon betroffen werden und bald 
einsam einen Schritt vom Wege stehen, da ihnen die Art und Weise der Dar- 
bietung, Verknüpfung und Vertiefung des Unterrichtsstoffes durchaus nicht 
zusagt ? 


85 


Der Lehrer nun, welcher für die Bildung des normalen Kindesgeistes 
methodisch und didaktisch durch und durch vorgebildet ist, der auf Grund ge- 
schickter Belehrung, gesammelter Erfahrung und gediegener Selbsterziehung 
jedes Kind als eine eigenartige Pflanze des Schöpfers ansieht und es behandelt 
mit rechter Innigkeit und rechtem Interesse, wie es die jeweilige Eigenart er- 
heischt, der, kurz gesagt, die geistige Förderung aller Schüler, nıcht der 
befähigten allein, auf seine Fahne geschrieben hat, ich meine, der Lehrer wird 
nach Hebung obiger Schwierigkeiten auch die Schwachen selbst im Klassen- 
unterrichte heranzuziehen nicht unterlassen oder sie durch zweckmässige stille 
Beschäftigung vor Langeweile schützen. Gern widmet er ihnen dann und 
wann ein Viertelstündchen, damit ihr Geist, zur Thätigkeit aufgerüttelt, nicht 
rückwärts gehe und das Gefühl bei ihnen nicht Platz greife, dass sie nichts zu 
leisten imstande sind, deshalb sich nicht anzustrengen brauchen und mit 
dumpfem Hinbrüten ihre Stunden in der Schule absitzen. 

Zu dieser Kunst, dem „suum cuique“ der Pädagogik müssen die an- 
gehenden Erzieher Anleitung erhalten zunächst durch eine vernünftige Ein- 
führung in die Lehre von der Seele des Kindes, nicht auf die Weise, dass nıan 
sie die psychologischen Wahrheiten bloss nach Abschnitten und Unterabteilungen 
kennen lehrt, sondern vor allem auch so, dass ihnen dargethan wird, wie gereifte 
Lehrer aus den kindlichen Handlungen, Antworten und Mienen auf die innern 
Seelenzustände schliessen, dass sie also ihre Schüler sorgfältig beobachten und 
beurteilen lernen. Beobachternaturen verlangt jede Kunst, und wahrlich die 
Kunst des Erziehens. Diese Beobachtungsgabe, die Gabe eines gehaltvollen 
Sehens und eines lauschenden Erfassens ist den wenigsten von Natur aus ver- 
liehen. Deshalb, und weil an und für sich das Beurteilen von Handlungen, 
das Forschen nach deren Ursachen und den kleinen sie begleitenden Umständen 
der gesamten Jugend, demzufolge auch dem angehenden Lehrer meist fern 
iegt, haben die Erzieher der Erzieher die heilige Pflicht, durch fortgesetzte 
Übung das Interesse und den Blick der Seminaristen für die Individualität 
zu schärfen, indem sie die zukünftigen Volksbildner immer und immer wieder 
zur Beobachtung des Kindes bei jedem Blicke, jedem Worte und jeder Thätig- 
keit anhalten und, an der Hand der verschiedensten Beispiele stets das „Warum 
und Weil“ betonend, den Werdegang des jungen Geistes und die Beweggründe 
seines Handelns vor ihrem geistigen Auge aufrollen. Dann wird auch derjenige, 
dem es fürs erste schwer fällt, alles zu sehen, worauf es ankommt, allgemach 
hingeleitet, Auge und Verstand in den Dienst dieser unumgänglichen Forderung 
zu stellen und nicht auf Treu und Glauben das für wahr anzunehmen und 
nachzusprechen, was im Handbuch schön geordnet untereinander gesetzt ist. 
Selbstverständlich ist nur der Lehrerbildner dazu befähigt, dem neben einer 
tausendfältigen Erfahrung im Unterrichten und Erziehen von Kindern ein 
reiches psychologisches Wissen zu Gebote steht, der in geschickter Weise oft 
schon durch einen packenden Einwurf oder durch ein Wort, das, wenn auch erst 
später in der Erinnerung, sich zu bewegen beginnt wie ein spriessendes Samen- 
korn, zu einem mit Liebe gepflegten Beobachten, zu einem Sichversenken in 


86 
die Kindesseele anregt. Nicht zufrieden damit fordert ein solcher Meister von 
seinen Zöglingen schriftliche Aufzeichnungen über das von ihnen Beobachtete 
in gediegenen Aufgaben und Charakterbildern — für den Anfang nach festge- 
legten Gesichtspunkten — mit der angefügten Beurteilung und der Angabe von 
Mitteln, durch welche diese oder jene Eigentümlichkeit bei voller Wertschätzung 
der Kindesnatur entweder einzudämmen oder zu beleben sei. 

Überhaupt führe aller Unterricht im Seminar die Zöglinge bewusst wie 
unbewusst zum scharfen Beobachten und richtigen Beurteilen. Hierzu bieten 
besonders auch die oft wohl etwas stiefmütterlich behandelten Naturwissenschaften, 
in denen die jungen Leute ihre Augen gebrauchen, ihr Beobachtungsvermögen 
auf die herrliche Natur anwenden und deren Leben — Werden, Sein und Ver- 
gehen — betrachten sollen, ein ebenso ergiebiges wie schönes Feld. Den besten 
Beweis dafür liefert uns Goethe, „der feine Kenner aller Regungen des mensch- 
lichen Innern mit seinen umfangreichen naturwissenschaftlichen Studien“. 

Der also zum selbstthätigen Erforschen der Kindesseele auf wissen- 
schaftlicher Grundlage vorbereitete Lehrer tritt vortrefflich ausgerüstet in sein 
verantwortungsvolles Amt. Entgegen dem mechanisch drauf los arbeitenden 
Erzieher ist er schon von vornherein durch seine Vorbildung ein angesagter 
Feind alles schablonenhaften, gedankenlosen Wirkens, und wenn er durch emsige 
Weiterbildung auf dieser Basis sich zu vervollkommnen strebt, wird er ganz 
gewiss dereinst in des Wortes schönster Bedeutung ein bildender Künstler, 
nicht — sit venia verbo — ein Flachsmann, sondern ein Flemming werden, 
der nicht alle Schüler über einen Leisten schlägt, vielmehr weil er weiss, was 
ihnen zukommt, auch dem Schwachen das Seine giebt, das ist: auf ein Minimum 
beschränkte Anforderungen, Nachsicht und fortdauernde Aneiferung. 

Trotzalledem verursacht das Hinuntersteigen zu den mangelhaften Begriffen, 
Urteilen und Schlüssen eines schwachveranlagten Kindesgeistes und das Ein- 
dringen in denselben noch manches Kopfzerbrechen. Viele wissen eben. nicht, 
wo und wie sie den Hebel ansetzen müssen, und das hat unter anderm seinen 
Grund auch darin, weil ihnen nicht hinlänglich genug bekannt ist, wie in dem 
normal veranlagten Kinde die ersten Keime geistiger Bildung zu legen und 
zu hegen sind. Die Methodik des vorschulpflichtigen Alters sowie hauptsächlich 
auch die des ersten Schuljahres bedarf, wenn für unsere Schwachen ein Körnchen 
abfallen soll, einer viel eingehenderen Durchnahme, als sie gewöhnlich erfährt. 
Wer kein vollendeter Meister für dieses so überaus wichtige Jahr im Kindes- 
leben ist, „wer,“ um mit Kellner zu reden, „den Unterricht der Kleinen lang- 
weilig und einförmig findet, wer ihn nicht mit hingebender Liebe betreiben 
kann“, der hält den Unterricht Schwachbegabter für noch langweiliger und ein- 
förmiger, der wird sich ihrer auch schwerlich in Liebe hingeben. Die neuere 
Pädagogik geht mit einem überlegenen Lächeln über die Gepflogenheit früherer 
Seminarlehrer hinweg, welche ihren Unterricht bei den neu eintretenden 
Seminaristen im Lesen mit der Fibel oder im Aufsatzunterrichte mit der Be- 
schreibung einfacher Gegenstände aus dem Anschauungskreise der Kinder be- 
gannen; und doch liegt in dieser Thätigkeit ein hochwichtiges Moment für die 


87 


Erziehung künftiger Erzieher, denn diese wurden dadurch gehalten, ihren 
geistigen Standpunkt zu verlassen und sich in die kindliche Denkweise und in 
die Sprache hineinzuleben, in welcher man zu den kleinen Rekruten, denen, da 
sie auch noch schwach im Geiste sind, der Anfang des Lernens recht sauer 
wird, reden muss, will man von ihnen verstanden werden. 

Je gründlicher überdies Seminaristen und Lehrer sich mit allen Schöpfungen 
der Heilpädagogik vertraut machen, je mehr es ihnen klar wird, dass thatsäch- 
lich mit geistesschwachen Kindern noch etwas zuwege gebracht werden kann, 
und je mehr sie einsehen, dass die zwar harte Arbeit an diesen Unglücklichen 
eiuer stark verbreiteten gegenteiligen Ansicht zum Trotz höchst interessant ist 
und den Lehrer nicht abstumpft, falls sie nur nicht als Handwerk betrieben 
wird, desto entschiedener nehmen sie einen Anlauf, sich an dem menschen- 
freundlichen Werke zu beteiligen. Anstatt mit einer kurzen Bemerkung über 
das Wesen der segensreichen Einrichtungen, wie Anstalten und Schulen für 
Schwachsinnige, Blinde und Taubstumme oder Heilkurse für sprachgebrechliche 
Schulkinder, hinwegzugehen, müssten die pädagogischen Lehrbücher diesem Teile 
der Erziehungslehre, über welchen bei vielen Seminaristen und Lehrern noch eine 
nicht verzeihliche Unwissenheit herrscht, die grösste Sorgfalt zuwenden. Das 
jugendliche, begeisterungsfähige Herz des Seminaristen, aber auch das nicht 
mehr so schnell überschäumende des ältern Erziehers schlägt zweifellos höher, 
wenn sein Besitzer von der selbstverleugnenden Aufopferung hört und liest, mit 
welcher wahrhaft philantropische Männer ihr Können, ja ihr ganzes Sein 
geistigen Aschenbrödeln geweiht haben. Wo fänden die Worte Smiles: „Be- 
wundere edle und gute Männer, so bist und wirst du immer mehr ein solcher“, 
ausgezeichnetere Verwendung als bei der Anleitung der Erzieher zur Arbeit an 
den Schwachen? Deswegen ist es kein unbilliges Verlangen, dass Seminaristen 
und Lehrer in der Geschichte der Pädagogik auch bekannt gemacht werden 
mit den Biographieen und der verdienstvollen Wirksamkeit uneigennütziger 
Menschenfreunde, wie auch mit der geschichtlichen Entwickelung der Schwach- 
sinnigen-Erziehung. 

„Die Lehre von den Fehlern der Kinder ist,“ wie Professor Strümpell in 
der ersten Auflage seines bahnbrechenden Buches bemerkt, „bis jetzt nicht 
ebenso wissenschaftlich ausgebildet, wie die Lehre von der Erziehung und dem 
Unterrichte.. Während in den Schriften namhafter Pädagogen früherer Zeit, 
welche mehr Praktiker als Theoretiker waren, dieser Gegenstand noch in einer 
Weise behandelt wird, welche noch jetzt volle Beachtung verdient, nimmt dies 
aber allmählich immer mehr ab und zwar, wie es scheint, in einem gewissen 
Verhältnisse mit der Zunahme der überwiegend theoretischen und idealen 
Richtung der Erziehungslehre. Die Lehre von den Fehlern der Kinder oder 
die pädagogische Pathologie ebenso, wie demnach die Lehre von der Be- 
handlung dieser Fehler, also die pädagogische Therapie darf nicht länger ver- 
nachlässigt werden.“ Mit dieser Erörterung, der wir uns anschliessen, ist eo 
ipso ausgesprochen, dass die Einführung in das Wesen und die Arten des 
Schwachsinns, in die andern Psychosen und psychopathischen Mifderwertigkeiten 


88 

des Kindesalters, sowie die Belehrung über alle Krankheiten, welche für die 
geistige Verfassung der Kinder von ungünstigen Folgen begleitet sind, nicht 
zum kleinsten Teile auch die Unterweisung über die verschiedenen Sprach- 
gebrechen in den Bereich der Volksschulpädagogik fallen. Wie leicht würde 
es nicht schon manchem Lehrer, den Schwachen beizustehen, wenn er in der 
Sprachphysiologie und der Heilung von Sprachstörungen bewandert wäre! Da 
sind die Lehrer bedeutend ım Vorteil, die einem Seminare ihre Bildung ver- 
danken, mit welchem eine Taubstummenanstalt in naher Verbindung stand. 
Was die Heilpädagogik betrifft, so haben sich sogar Ärzte in das ihnen ur- 
sprünglich fremde methodisch -didaktische Gebiet vorzüglich eingelebt, warum 
sollte sich nicht auch der psychologisch nach den angeführten Grundsätzen 
geschulte Lehrer durch Fleiss und feine Beobachtung die Fertigkeit aneignen, 
dass er krankhafte Seelenäusserungen des Kindes entdecken und durch Ver- 
gleichen mit den gesunden Geisteszuständen tadellos beurteilen und zweckdienlich 
behandeln kann. Die Analyse pathologischer Naturen, das Niederschreiben von 
Krankheitsbildern betreffs des geistigen Befundes enthält zudem sehr viel des 
Belehrenden und Interessanten, es weckt in jedem, der nur ein einziges Mal 
hinter die damit verbundenen Geheimnisse geschaut hat, den Trieb, sich von 
neuem darein zu vertiefen, wo es vonnöten ist. 

Das Mitleid mit den Schwachen aber, der beste Ansporn, ihnen zu helfen, 
muss sich nicht beschränken auf eine Gruppe derselben, auf die geistig Schwachen, 
sondern auch die körperlich Belasteten umfassen. „Eins muss ins andre greifen, 
eins durch das andre blühen und reifen.“ Der Gesundheitslehre ist daher 
fürderhin ein breiterer Raum in dem Unterrichte für Seminaristen und Lehrer 
anzuweisen. Wenn auch die vorsätzliche Nichtbeachtung der körperlichen Leiden 
seiner Schüler durch den Lehrer als vollständig ausgeschlossen gilt, so ist 
damit noch nicht erwiesen, dass er den kranken Zustand erkennt und gegebenen 
Falls auch hilfreiche Hand anzulegen versteht. Wäre dies immer der Fall 
gewesen, so würden wahrscheinlich die übereinstimmenden Berichte von Kuss- 
maul, Henoch u. a. nicht entstanden sein, wonach Lehrer choreakranken 
Kindern nicht bereitwillig beistanden, sondern sie bestraften, weil sie die patho- 
logische Ungeschicklichkeit für Ungezogenheit ansahen. Allein schon wegen 
des mittelbaren Vorteils für unsre geistig Schwachen begrüssen wir mit Genug- 
thuung die Verfügung des preussischen Kultusministers, Sanitätskolonnen aus 
Lehrern zu bilden, da erstens ohne sachgemässe Vorbildung den meisten die 
Geschicklichkeit, bei leiblichen Gebrechen wirksame Hilfe zu leisten, abgeht, 
und weil zweitens der ausbildende Arzt sich diese passende Gelegenheit nicht 
entgehen lassen wird, seine Zuhörer auch einigermassen über die Schulhygiene 
zu orientieren. Was bezüglich dieses Punktes ausserdem noch in Düsseldorf 
geschieht, das müsste allen Gemeinden zur Pflicht gemacht werden, nämlich 
die Beschaffung von Verbandkasten für Schule und Turnhalle zum Gebrauch 
bei Unglücksfällen oder auch, um bei gewissen Verletzungen das gleichgiltige 
Elternhaus zu ersetzen. 

Zur Verwirklichung des schönen Zweckes, Seminaristen wie Lehrer zur 


89 
Arbeit an den Schwachen heranzuziehen und zu erziehen, sind alle ohne Aus- 
nahme berufen, denen die Bildung und Beaufsichtigung der Lehrer, sowie die- 
jenigen, welchen besonders die Erziehung geistig zurückgebliebener Kinder 
obliegt, die letztern wegen ihrer Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Zweige 
der Pädagogik, endlich aber auch die Vertreter der medizinischen Wissenschaft. 

Sind erst einmal auch durch staatliche Verordnung alle Forderungen der 
Heilpädagogik als berechtigt und notwendig anerkannt, dann werden alle 
städtischen und ländlichen Verwaltungen sich die Erziehung und den Unterricht 
der Schwachsinnigen ernstlich angelegen sein lassen müssen. So lange es, 
wenn auch nur vereinzelt, noch grosse Kommunen giebt, die aus nicht stich- 
haltigen Gründen sich sträuben, Bildungsstätten für geistig geschwächte Kinder 
zu schaffen, ungeachtet der allerwärts darin zutage getretenen Erfolge, kann 
man es ihren Lehrern nicht ganz verargen, wenn sie bezüglich schwachbegabter 
Schüler denken: „Warum soll ich mich denn bei meiner sonstigen schweren 
Arbeit auch noch mit den Schwachen abquälen? Für andere Bildungszwecke, 
wie Theater, Volksbibliotheken u. a. werden Tausende verausgabt, aber für 
geistig arme Kirder ist kein Geld vorhanden“ 

Mit der Aufnahme der Heilpädagogik in den Lehrplan der Seminare ergeht 
an die Seminarlehrer der eindringliche Ruf, Umschau zu halten auf diesem 
Gebiete, wie auch durch Hospitieren in Anstalten und Hilfsschulen die opfer- 
freudige Arbeit praktisch kennen zu lernen, sich an ihr zu begeistern und diese 
Begeisterung lehrend auf ihre Zöglinge zu übertragen. Leider haben die 
Seminarübungsschulen durchgehends ausgewähltes, vorzügliches Schülermaterial. 
Schwachbegabte Kinder werden dort nicht zugelassen, aber darum können sie 
auch im wahren Sinne des Wortes keine Musterschulen sein, weil sie inbetreff 
der Veranlagung ihrer Schüler von den gewöhnlichen Schulen grundverschieden 
sind. In ihnen geht das Arbeiten viel zu glatt von statten, und die Seminaristen 
lernen nicht, die Schwachen regelrecht anzufassen. 

Dem Lehrerstande, wenigstens den Mitgliedern desselben, welche es mit 
der Erziehung schwachsinniger Kinder gut meinen, muss ferner der Staat 
periodisch wiederkehrende Gelegenheit zu diesbezüglicher Fortbildung geben, 
wie dies die Ferienkurse zu Jena und Zürich schon vor längerer Zeit gethan 
haben Solche amtliche Kurse, die unter Mitwirkung von erfahrenen Psychiatern, 
Anstalts- und Hilfsschullehrern alljährlich abgehalten werden müssen, sind nach 
unserer Meinung ebenso unentbehrlich wie die Kurse zur Ausbildung für das 
Turn- und Obstbaumfach oder auch wie die Spiel- und Handfertigkeitskurse. 
Damit der Besuch dieser Veranstaltungen dem der andern nichts nachgiebt, 
sind den Teilnehmern ordentliche Beihilfen aus der Staatskasse zu gewähren 
und auch nicht nur Lehrer zuzulassen, welche sich ausschliesslich der Schwach- 
sinnigenbildung widmen wollen. Ob diese Kurse an einer Zentralstelle oder in 
jeder Provinz eingerichtet werden sollen, möchten wir dahingestellt sein lassen, 
doch kommen bei der Wahl die Orte am ersten in Betracht, die eine gut aus- 
gebildete Anstalt oder Hilfsschule besitzen, denn über den Vorlesungen dürfen 
die praktischen Übungen und Lehrproben keineswegs versäumt werden. 


90 


Einige deutsche Staaten beabsichtigen nach Zeitungsnachrichten die Mittel- 
schullehrer- und Rektorenprüfung wissenschaftl cher zu gestalten. Es würde 
ein bemerkenswertes Verdienst sein, wenn auch nach der in Frage stehenden 
Seite hin die Anforderungen an diese Examinanden vergrössert würden, denn 
die aus diesen Prüfungen hervorgehenden, in der Heilpädagogik beschlagenen 
Schulleiter reissen ganz gewiss manchen Lehrer durch belehrendes Wort und 
gutes Beispiel mit. Selbst im zweiten Volksschullehrer-Examen könnten Themen 
heilpädagogischer Art an die Reihe kommen. Sobald die betreffenden Lehrer 
in Erfahrung gebracht haben, dass ständig über diese Dinge geprüft wird, 
fügen sie sich schon um ihrer selbst willen in das Unvermeidliche und gehen 
der Sache in der Schulstube wie im Studierzimmer auf den Grund. 

Viel vermag der Schulrevisor für die Arbeit der Lehrer an den Schwachen 
zu vollbringen, nicht etwa dadurch, dass er dem Lehrer, dessen schwachbefähigte 
Schüler nicht auf dem Standpunkte der Klasse stehen, einen derben Verweis 
erteile; nein, er lasse sich bei seinen Revisionen nur immer auch die Kinder 
vorstellen, welche geistig minderwertig sind und frage: „Warum ist der Knabe 
hinter den andern Schülern zurückgeblieben? Worin besteht seine geistige 
Schwäche?“ Ohne sichere Beherrschung der pädagogischen Pathologie kann 
der Lehrer diese Fragen unmöglich exakt beantworten, sondern er sucht sich 
durchweg mit allgemeinen Redensarten: „Der ist zu dumm, blödsinnig oder 
gar bildungsunfähig“ herauszuwinden Da ist denn der Zeitpunkt gekommen, 
wo der Herr Schulinspektor anfeuernd einsetzen muss, indem er dem Lehrer 
vorhält, wie der abnorme geistige Zustand, die Art der Beschränktheit eines 
Kindes sich nur durch eine gründliche psychische Diagnose feststellen lässt, 
und wie das Ergebnis dieser pädagogischen Untersuchung auf die zur Besserung 
anzuwendenden Mittel hinweist. Es schadet auch durchaus nicht, wenn er 
zum Beweise seines lebendigen Interesses und herzlichen Mitgefühls mit den 
Schwachen etliche Minuten einem geistig minderwertigen Kinde opfert. Nicht 
selten tauen diese Schüler in solchen Augenblicken auf und widerlegen zum 
Erstaunen des Lehrers dessen Urteil über ihre geistige Beschaffenheit. 

Des weitern trägt das einmütige Zusammengehen von Arzt und Lehrer für 
unsere Schwachen die prächtigsten Früchte Ein der Psychiatrie und Heil- 
pädagogik kundiger Arzt hat inbezug auf diesen Punkt wohlthuenden Einfluss 
auf den Lehrer, sei es nun, dass er sich bisweilen nach dem einen oder andern 
ihm bekannten schwachsinnigen Schüler und seinen Fortschritten erkundigt, 
oder sei es, dass er dem Lehrer in zwangloser Unterhaltung die Kenntnis 
geistiger Gebrechen und Erkrankungen vermittelt oder ihn bittet, durch peinliche 
Beobachtung geistig schwacher Schüler sich ihm und folglich auch der medi- 
zinischen Wissenschaft nützlich zu erweisen. 

Zuletzt, aber nicht als die letzten, welche befruchtend auf Seminaristen 
und Lehrer einzuwirken in der Lage sind, seien wir alle genannt, die wir die 
Erziehung und den Unterricht schwachbegabter Kinder zu unserer Lebensaufgabe 
erwählt haben. Wofern wir nicht jederzeit freudig durch Vorträge in Orts- 
konferenzen und auf grösseren Lehrerversammlungen oder auch in Bildungs- 


91 


und ähnlichen gemeinnützigen Vereinen unsere Erfahrungen mitteilen, die aus 
Lehrerkreisen an uns gestellten Fragen über die Behandlung eines schwachver- 
anlagten Schülers gewissenhaft beantworten, die Kollegen auf den ungemein 
thātigen Verein für Kinderforschung aufmerksam machen, mit einem Worte, 
wofern wir nicht allerwegen durch sachverständigen Rat das grösste Interesse 
für die Bildung der Schwachen an den Tag legen, ist eine Teilnalımlosigkeit 
der übrigen Lehrer gar nicht zu verwundern. Und stehen uns zur Veröffent- 
lichung und Verbreitung unserer Bestrebungen in Form von Statistiken, Lehr- 
plänen, Berichten über Vorträge, Jahresberichten von Anstalten und Hilfsschulen 
nicht neben den Fachzeitschriften auch Lehrer- und politische Zeitungen zur 
Verfügung? Die Litteratur über die Erziehung Schwachsinniger hat in den 
letzten Jahren einen tüchtigen Aufschwung genommen, aber was nützt eine 
noch so reichhaltige Schriftsammlung, wenn Seminaristen und Lehrer sie nicht 
kennen. Daher geht unser Vorschlag dahin, dass die Konferenz für das Idioten- 
wesen und die Schulen für schwachsinnige Kinder inı Verein mit dem Verbande 
deutsclhier Hilfsschulen eine Kommi-sion einsetze, die einen genauen Nachweis 
über die erschienenen einschlägigen Schriften, wie auch über Novitäten dieser 
Art nebst kurzen erläuternden Bemerkungen über dieselben liefere und sowohl 
in den Schulzeitungen veröffentliche wie auch in einer Sonderausgabe den 
Kreisschulinspektoren und Seminardirektoren zustelle, damit von Amts wegen 
für Seminar- und Kreislehrerbibliotheken die besten Bücher und Zeitschriften 
daraus beschaflt und zur Benutzung empfohlen und ausgegeben werden. 


Für die verehrten Anwesenden aber, welche der Arbeit an den Schwachen 
noch nicht näher getreten sind, vielleicht auch für weitere Kreise mögen endlich 
noch einige ohne bestimmte Ordnung hingeworfene Fragen zum Nachdenken 
und zur Mitarbeit reizen: 


Was versteht man unter einem Viersinnigen ? 

Wie lernt der Blinde lesen? 

Wie unterscheidet sich ein Taubstummer von einem Hörstummen ? 

Welches ist der Unterschied zwischen Stammeln und Stottern ? 

Was ist Lispeln ? | 

Wie erklärt man sich den geistigen Vorgang beim Sprechen? 

Welche Pädagogen haben die Berücksichtigung der Individualität be- 
sonders empfohlen ? 


Wie legt man ein Individualitätenbuch oder einen Personalbugen an? 

Wie erwacht die Seele im Säugling ? 

Welche Thätigkeiten gehören in die Bewahrschule oder in den 
Kindergarten ? | 

In welche Klassen werden geistig anormale Kinder eingeteilt? 

Woran sind Idioten und Schwachsinnige erkenntlich ? 

Was versteht man unter torpiden, was unter agilen Idioten ? 

Wie unterscheiden sich Idioten und Imbecille? 

Welche Klassen von Dummen giebt es? 


92 

Nenne Methoden zur Untersuchung und Prüfung des geistigen Stand- 
punktes schwachbefähigter Kinder! 

Wie werden die Psychosen, wie die psychopathischen Minderwertigkeiten 
des Kindesalters eingeteilt ? 

Welche Folgen kann eine Gehirnentzündung für die geistige Veran- 
lagung haben? 

Welche Erscheinung in der Sprache tritt häufig nach Diphtheritis auf; 
was kann der Lehrer zu ihrer Hebung thun? 

Welches Verdienst haben Preyer, Gutzmann, Stötzner? 

Welches sind die hervorragendsten heilpädagogischen Bestrebungen 
der Neuzeit? 

Welche Werke und Zeitschriften beschäftigen sich mit dem schwach- 
sinnigen Kinde? 

Wie sind Anstalten für Schwachsinnige, wie Hilfsschulen eingerichtet? 

Welche Lehr- und Erziehungsgrundsätze finden in diesen Einrichtungen 
hauptsächlich Anwendung ? 

Welche Unterschiede weisen die Lehrpläne für geistig normale und 
solche für anormale Kinder auf? 

Weshalb ist der formalen Bildung bei Schwachsinnigen und Schwach- 
begabten der Vorzug vor der materiellen zu geben? 

Wie soll man sich zu der Behauptung stellen: „Die Arbeit an den 
Schwachsinnigen ist vergeudete Mühe ?* 

Welche Anforderungen in unterrichtlicher Hinsicht müssen an einen 
Lehrer Schwachbegabter gestellt werden ? 

Wie soll man seine geistig schwachen Schüler behandeln? 

Welche Eigentümlichkeiten zeigt das schwache Kind in seinem Wollen ? 

Wie lässt sich das Wort: „Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren 
und hören nicht“ auf Schwachveranlagte anwenden? 

Welche Erklärung giebt es für das Träumen mancher schwachbegabter 
Schüler im Unterrichte ? 

Warum stammeln viele geistig schwache Kinder? 

Wie unterscheidet sich nach den formalen Stufen die (Greistesthätigkeit 
eines normalen und eines schwachbegabten Schülers? 

Welche Lage der Tafel ist für Linkshändige zu empfehlen ? 

Was versteht man unter Spiegelschrift, und welche Bedeutung hat sie 
für die Pädagogik ? 


Einem Erzieher aber, der die Schwachen in sein Herz eingeschlossen hat, 
der ihnen wie ein Vater in Liebe, Selbstentsagung und Festigkeit während des 
Unterrichts oder gar nach der Schulzeit begegnet, gebührt höchstes Lob und 
ungeteilte Anerkennung von Eltern und Vorgesetzten. Er ist ein Mensch wie 
andere Menschen, und ein freundlicher Zuspruch bewegt ihn, wenn er auch den 
strengsten Inspektor in seiner Brust trägt, doch zu weiterm menschenfreundlichen 


Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und deshalb bewillige man dem 


Lehrer, der in seiner freien Zeit sich mit arınen Schwachbegabten und Schwach- 


93 


sinnigen abmüht, entsprechende Remunerationen, wie denn im allgemeinen die 
(Gemeinden oder, wenn sie nicht über die notwendigen Geldmittel verfügen, die 
Provinz oder der Staat noch grössere Summen für den Unterricht und die Er- 
ziehung schwachsinniger Kinder in ihren Haushaltsetat einstellen mögen. Viel, 
sehr viel ist schon geschehen, das sei nochmals rühmend und dankbar anerkannt, 
und das Liebeswerk an geistig Schwachen treibt reichere Blüten als je zuvor. 
Schauen wir darum auch voll Zuversicht und mit der fröhlichen Hoffnung in 
die Zukunft, dass der Tag herannahe, wo durch die einträchtige Anregung von 
allen Seiten beeinflusst, sämtliche Erzieher unseres herrlichen Vaterlandes sich 
zur Mitarbeit an den Schwachen bestimmen lassen; vergegenwärtigen wir uns 
aber unaufhörlich bei der Werbung um treue Bundesgenossen den erhabenen 
Gedanken Schillers: 

„Nur in der Kräfte schön vereintem Streben 

Erbebt sich wirkend erst das wahre Leben.“ 


Es folgt hierauf der Vortrag des Herrn Direktor Trüper über „Die An- 
fänge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelenleben“. 
Eine Debatte fand auch über diesen Vortrag nicht statt, und da derselbe inzwischen 
in erweiterter Gestalt in Broschürenform erschienen ist (Oskar Bonde, Altenburg), 
müssen wir darauf verzichten, ihn im Wortlaute wiederzugeben. Nicht versagen 
können wir uns aber, die dem trefflichen Vortrage zu Grunde gelegten Leitsätze 
mitzuteilen. 


„l. Es giebt abnorme Erscheinungen und Zustände im kindlichen Seelenleben, 
die nicht als Schwachsinn im landläufigen Sinne des Wortes und auch nicht als 
eigentliche Geisteskrankheiten bezeichnet werden können, aber doch pathologischer 
Natur sind und in der Erziehung einer besonderen Beachtung und in manchen 
Fälıen auch einer besonderen Behandlung unter nervenärztlichem Beirate bedürfen. 


2. Sie können auftreten als Schwächen wie als Regelwidrigkeiten der Sinnes- 
empfindungen, der Denkvorgänge, des Gefühlslebens, des Wollens und des 
Handelns und müssen nach allen diesen Seiten hin beachtet und heilpädagogisch 
berücksichtigt werden. 


3. Ernste Massnahmen zur Verminderung der nervenzerrüttenden Ursachen 
und zur Fürsorge für die mit psychopathischen Minderwertigkeiten behafteten 
Kinder und Jugendlichen, sei es im Ralımen der öffentlichen höheren und 
niederen Schulen, sei es — namentlich in schweren Fällen ethischer Entartung 
— durch besondere Anstalten, sind nicht bloss im Interesse der betreffenden Indi- 
viduen, sondern auch im Interesse der Mitschüler wie der Familien und aller 
sittlichen Gemeinschaften sowohl ein Gebot christlicher Nächstenliebe als ein 
notwendiger Akt der Selbsterhaltung unseres Volkes. 

4. Es ist darum dringend erwünscht, dass nicht bloss Ärzte und Idiotenlehrer, 
sondern auch Lehrer aller Schulen, sowie Eltern und Erzieherinneu, Seelsorger, 
Kriminalisten und Verwaltungsbeamte, die über das Wohl und Wehe der späteren 
Jugend zu bestimmen haben, sich mehr, als es bisher geschehen ist, dem Studium 
der abnormen Kindesseele und ihrer vorbeugenden Fürsorge widmen.“ — 


94 





Nach den Vortrage des Herrn Direktor Trüper berichtet Herr Direktor 
Antensteiner über den gegenwärtigen Stand der Idiotenpflege 
in Österreich-Ungarn. Der Umfang des Berichts verbietet es uns zu 
unserm Bedauern, auf denselben hier näher einzugehen, wir behalten uns aber 
vor, nächstens einmal den Lesern unsres Blattes ein Bild von den einschlagenden 
Bestrebungen in Österreich-Ungarn zu geben. — 

Nachdem die Versammlung als Versammlungsort für die nächste (XI.) 
Konferenz Stettin gewählt hat, wird die X. Konferenz vom Vorsitzenden 
geschlossen. — 

Der 3. Konferenztag (Freitag) war dem Besuche der Idiotenanstalt 
in M.-Gladbach gewidmet. Von dem Vorstand der Anstalt am Bahnhof be- 
grüsst, fuhren die Teilnehmer per Droschken und Gesellschaftswagen nach der 
vor der Stadt am Fusse einer bewaldeten Anhöhe liegenden Anstalt. Auf der 
Hinfahrt war den Besuchern Gelegenheit geboten, einen Überblick über die Bau- 
thätigkeit der im Interesse der Arbeiterfamilien wirkenden Baugesellschaft zu 
gewinnen und ausserdem den zum Gemeinwohl der Bevölkerung angelegten 
Volksgarten zu besichtigen. 

Bei der Begıüssungsrede im Betsaal gab Direktor Barthold einen kurzen 
Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Anstalt. Herr Pastor Lie. 
Weber sprach im Namen des Vorstandes und Herr Beigeoräneter Dr. Porzelt 
bewillkommnete die Gäste im Namen der Stadt M.-Gladbach. 

Hieran schloss sich ein Gang durch die Schulen und Werkstätten. Nach 
der Schule versammelten sich die Knaben in der Turuhalle, um einige Turn- 
übungen und Turnspiele vorzuführen. Die Geräumigkeit und Finrichtung der 
Turnhalle fanden besondere Anerkennung. Auch eine eiserne Radschaukel im 
anschliessenden Austaltswäldchen lenkte das allgemeine Interesse auf sich. In 
den Arbeitswerkstätten wurde selır fleissig gearbeitet. Nach einen: kurzen Frübstück 
wurden noch die verschiedenen Anstaltsräumlichkeiten, der Anstaltsgarten und 
der Wald besichtigt. Namentlich das neue Asyl lockte viele Besucher an, und 
verschiedene Einrichtungen desselben fanden auch allgemeine Bewunderung. Nach 
Beendigung des Rundganges lud das Komitee der Anstalt zu einem Diner in dem 
grossen Saale des städtischen Gesellschaftshauses „Erholung“ ein. Das vorzügliche 
Menu und die noch vorzüglicheren Weine bewirkten in der Tischgesellschaft recht 
bald eine fröhliche, heitere Stimmung, bei der die Herzen warm, die Köpfe 
„erleuchtet“ und die Zungen log wurden. Nur zu frühe musste die Tafelrunde 
auseinandergehen. Eine Anzahl der Teilnehmer fuhr wieder nach Elberfeld 
zurück, andere reisten von hier direkt nach Hause, und nur ein kleiner Rest 
blieb noch einige Stündchen bei gemütlichem Geplauder in den herrlichen Garten- 
anlagen der „Erholung“ zurück. 

Für den 21. September hatte die Konferenz einen Besuch ins Franz Sales- 
Haus in Essen-Huttrop in Aussicht genommen. An diesem Besuch nahmen 
etwa 30 Konferenzmitglieder teil. Dieselben versammelten sich in der Aula der 
Anstalt, wo Herr Pfarrer Bornewasser im Namen des Vorstandes sie herzlich 
begrüsste. Er wies darauf hin, dass die Anstalt sich aus kleinen Anfängen 


95 


entwickelt hat. Es war nämlich im Jahre 1883, wo Herr Direktor Ochs in 
einem Nebenraum der Taubstummenanstalt das erste schwachsinn,ge Kind unter- 
richtete. Gottes Segen waltete sichtlich über der Anstalt, die jetzt in dem 
Hauptgebäude 360 Kinder, in einem zweiten Hause 50 bildungsunfähige und in 
einem dritten Hause 50 schwachsinnige, taubstumme Kinder enthält. Zum 
Schluss seiner Ansprache begrüsste Herr Pfarrer Bornewasser speziell Herrn 
Geh. Laudesrat Klausener, Herrn Beigeordneten König, Herrn Direktor Ochs, 
Herrn Rektor Laaf und Herrn Sanitätsrat Dr. Meerscheiın, sowie Herrn Direktor 
Piper aus Dalldorf. Herr Direktor Ochs bemerkte, dass es selbstverständlich 
nicht möglich sei, sämtliche 10 Klassen vorzuführen. Man müsse sich daber 
begnügen, eine untere, eine mittlere und eine Oberklasse vorzuführen. Es wurde 
dann eine Lehrprobe vorgenommen. Eine Lehrerin stellte an die Knaben und 
Mädchen einer unteren Klasse verschiedene Fragen, die zumeist treffend beant- 
wortet wurden. Auf einem Tische lagen eine Anzahl Blumen, und die Lehrerin 
zeigte den Kindern, wie diese zu Sträusschen zusammengebunden werden. Die 
Blumen wurden dann unter die Kinder verteilt, die sie recht geschickt zu 
Sträusschen banden und den anwesenden Damen und Herren anboten. In der 
mittleren Klasse wurde eine Lehrprobe aus der biblischen Geschichte vor- 
genommen (Auferweckung eines Toten), während die obere Klasse im Anschluss 
an ein Gedicht: „Die drei jüngsten Soldaten des Kaisers“ über den deutschen 
Kaiser und die Prinzen befragt wurde, deren Bilder ausgestellt waren. An die 

Lelirprobe schloss sich die Besichtigung der ausgestellten Arbeiten der Zöglinge 
und der Anstalt an. Die Räume sind gross und sauber. Luft und Sonne dringen 
von allen Seiten ungehindert herein. Die Anstalt hat Dampfheizung und eigene 
elektrische Anlage. In den geräumigen Höfen und Gartenanlagen ist den Kindern 
ausreichend Gelegenheit geboten, sich herumzutummeln. Hinter dein Hauptge- 
bäude ist eine Turnhalle mit Tbeatersaal errichtet und weiter zurück finden 
wir das Taubstummenhaus und die Anstalt für unheilbare Blödsinnige. Mit 
grosser Befriedigung nahmen die Besucher von der Einrichtung der Anstalt, die 
man mit Recht als eine Musteranstalt bezeichnen kann, Kenntnis. — 


Volksschule und Hilfsschule. 
Eine sozial-pädagogische Erwägung. 
Von Fr. Frenzel-Stolp i. P. 


Unter dem obigen Titel ist von Professor Dr. Witte, Kreisschulinspektor 
zu Thorn, eine Schrift*) erschienen, welche die Förderung der Schwachen 
im Rahmen der normalen Volksschule behandelt und die Errichtung von 
Hilfsschulen als Schulen nur für schwachbegabte Kinder wegen mehrfacher 
Bedenken verwirft. Seine Ausführungen beruhen jedoch vielfach auf falschen 
Voraussetzungen, auf richtigen Behauptungen mit falschen Folgerungen und auf 


*, Verlag von Ernst Lambeck in Thorn. Preis brosch. 1.20 Mk. 


96 
Urkenntnis vieler Verhältnisse auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungs- 
wesens. Es erscheint deshalb im social-pädagogischen Interesse geboten, des 
nähern hier auf seine Darlegungen einzugehen. 

Seine Hauptforderung: „Esist inerster Linie und in der Hauptsache 
nicht sowohl eine ärztliche und medizinische als vielmehr eine 
pädagogische Hilfe und Fürsorge, welche den Schwachen in der 
Schule angedeihen muss“, erscheint rationell, und wir stimmen ihr bei, 
jedoch nicht ganz bedingungslos. Es giebt abnorme Erscheinungen und Zustände 
gerade in dem Seelenleben der Schwachen, die pathologischer Natur sind. Diese 
zu erforschen, namentlich ihre Ursachen zu untersuchen und die körperlichen 
und geistigen Krankheitszustände, die in vielen Fällen als Komplikationen der 
Geistesschwäche auftreten, festzustellen, ist nicht unsere Sache, sondern die des 
Arztes. Eine gewisse Mitwirkung des Aıztes erscheint deshalb auch für 
später, also bei der Erziehung und Unterweisung schwachbegabter Kinder, 
erwünscht. Erfreulicherweise ist in dieser Angelegenheit eine Verständigung 
zwischen Ärzten und Pädagogen vielfach zu stande gekommen, sodass beide 
häufig gemeinsaın auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens segensreich 
wirken. Die Notwendigkeit ärztlichen Beirats resp. ärztlicher Mitwirkung spricht 
auch der Ministerialrunderlass vom 6. April 1901*) für die Auswahl der Schüler 
für die Hilfsschule aus. Sonstige Giünde, die uns bestimmen, die Mitwirkung 
des Arztes bei der Erziehung und Unterweisung der Schwachen zu erheischen, 
sind in meiner Arbeit: Die Mitwirkung des Pädagogen bei der ärzt- 
lichen Untersuchung schwachbegabter Kinder (Sonderabdruck aus 
der Zeitschrift für Schulgesundbeitspflege) zur Genüge aufgeführt, sodass ich auf 
deren Wiedergabe hier verzichte. 

Dr. Witte behauptet in seiner Schrift, dass in der Volksschule jedes Kind 
durchschnittlicher Begabung der einfachen Volksschichten das Unterrichtsziel 
im wesentlichen erreiche. Bei durchschnittlicher Begabung müssten also ungefähr 
90°/, aller Schüler, denn bei so vielen Schülern können wir doch nach der landläufig 
gewählten Bezeichnung des Verfassers durchschnittliche Begabung voraussetzen, 
bei ihrer Konfirmation von der Oberstufe aus entlassen werden. Wie steht's 
aber damit in der Praxis? Ich glaube, dass der Prozentsatz sich erheblich 
niedriger belaufen wird. Die städtischen Schulstatistiken von Berlin, Breslau, 
Königsberg i. Pr., Hamburg und Mannheim weisen über die Schüler der Gemeinde- 
schulen nach, dass das Schulziei überall nur höchst unvollkommen erreicht; 
etwa nur die Hälfte aller Schüler hat beim Abgange dasjenige Mass von Wissen 
aufgenommen, welches ihnen von vornherein zugedacht war. — Die Begabung 
vieler Schüler ist eben individuell derart beschaffen, dass sie kaum das Ziel 
der Mittelstufe zu erreichen vermögen, selbst wenn der Lehrplan Rücksicht auf 
„reichliche und häufige, planvoll geordnete Wiederholung des Stoffes Bedacht nimmt“. 
Es erscheint auch völlig ausgeschlossen, dass die Volksschule, wie es Dr. Witte 


*) Der Erlass billigt durchaus die Einrichtung der Hilfsschulen und spricht sich 
sehr anerkennend über deren Thätigkeit aus. 


97 


behauptet, alle Schüler möglichst gleichmiässig zu fördern und sogar die Schwachen 
ihrem Unterrichtsziele mindestens in der Hauptsache anzunähern vermag. Wer 
das behauptet und verlangt, stellt entweder ganz geringe Anforderungen an die 
Schule, oder er besitzt keine Kenntnis von der schwierigen Sachlage, in welcher 
sich viele unserer Volksschulen auch bei Normallehrplänen etc. noch befinden. 

Eben diese schwierige Sachlage hat zu jenen Bestrebungen geführt, besondere 
Schulen fürschwachbegabte Kinder bezw. besondere Nebenklassen 
für diese mit besonders ausgearbeiteten Lehr-, Stunden- und Beschäftigungsplänen 
und mit besonderer Unterrichtszeit einzurichten. Es ist so vieles für und gegen 
diese Massnahmen geschrieben worden, sodass ich mich hier nur auf die Wider- 
legung derjenigen Bedenken, welche Dr. Witte in seiner Schrift hervorbringt, 
"beschränken will. 

Es hat, entgegengesetzt Dr. Wittes Meinung gerade etwas Menschen- 
freundliches an sich, den schwachen Schüler von dem begabten zu trennen, 
denn meist dient er trotz aller Ermahnungen und Warnungen des Lehrers dem 
letzteren doch nur als Zielscheibe seines Mutwillens, oft seines Spottes. Diese 
Behandlung raubt ihm gewöhnlich den letzten Funken von Selbstvertrauen, er 
fühlt sich schwach, ja ohnmächtig und zieht sich gewöhnlich einsam in einen 
Winkel zurück. Im Unterrichte befürchtet er, nichts Rechtes jenem gegenüber 
leisten zu können, und lässt infolgedessen in seiner Bethätigung allmählich nach. 
Der Lehrer hat gewöhnlich sein Augenmerk auf die Gesamtheit der Klasse zu 
richten, um diese möglichst gleichmässig zu fördern; ist es ihm da zu 
verargen, wenn er nach und nach den Schwächsten unter den Schwachen zurück- 
lässt oder sich ihm, trotz besten Wollens, nicht so widmen kann, wie er es 
gerne möchte? Nach einem bezw. zwei Schuljahren ist er dann zurückgeblieben 
und gilt als Ballast in der Klasse. Wie steht’s aber mit einem solchen Kinde, 
das gleich zu Anfang zurückbleibt? Darf ein Lehrer 50 oder 60 Kinder auf 
Kosten eines oder zweier Schüler vernachlässigen oder sitzen lassen, um sich 
ausschliesslich mit diesen allein zu beschäftigen® Ich glaube, der Herr Kreis- 
schulinspektor würde das riesig übeldeuten! Solche Kinder aber verlangen vor- 
züglich eine individuelle, eingehende Behandlung, ohne diese bleiben sie 
geistig tot und finden absolut keine Förderung. Das beweisen die den Hilfsschulen 
bei ihrer Eröffnung überwiesenen, teilweise schon am Ende ihrer Schulzeit 
stehenden Kinder. Es vergehen in der Regel einige Wochen, während welchen 
sie trotz andauernder Anregung und wiederholter Heranziehung zur Mitbethätigung 
am Unterrichte doch noch geistig stumpf dasitzen, bis sie dann allmählich ein 
wenig regsamer werden, ab und zu Antworten geben und auch sonstiges Interesse 
für Unterricht und Schulleben bekunden. 

Dr. Witte glaubt voreingenommen, dass die schwachbegabten Kinder gerade 
beständig in Gemeinschaft mit den begabten Schülern leben müssten, die ihnen 
durch ihr gutes Beispiel dienen könnten. Dieser Glaube erweist sich leider als 
Aberglaube und eine solche Meinung als leere Theorie. Alle Lehrer, die in 
ihren Klassen ein oder zwei solche Kinder gehabt haben, wissen dieses wohl zu 
bestätigen. Die Schwachen bleiben in den gewöhnlichen Klassen meistens dieselben, 


98 


oft verschlimmert sich sogar ihr Übel. Sie würden sich gebessert haben, wenn 
der Erzieher sie einzeln nach einer ihrer Lage angepassten Methode hätte 
behandeln können, nach der allgemeinen Methode finden sie eben keine 
Förderung. Es ist ein Vorurteil, wenn Dr. Witte glaubt, man müsste den 
Ungehorsamen unter die Gehorsamen, den Unaufmerksamen unter die Aufmerk- 
samen, den Faulen unter die Fleissigen mischen. Dieses Vorurteil entspringt 
gewöhnlich dem Gedanken, dass der Schüler, der nicht regelrecht vorwärts 
kommen kann, für seinen Zustand verantwortlich zu machen sei. Das ist jedoch 
nicht richtig; das Kind zeigt gewöhnlich seine wahre Natur, und wenn sein 
Wesen ungesund ist, wie es bei den Schwachen zutrifft, so kann es nichts für 
seine mangelhaften und geringen Leistungen. Es ist dann besonders zu be- 
handeln, und die ganze Umgebung, in der es lebt, muss für seine Erziehung und 
für seine Heilung angepasst werden. Das kann aber nie und nimmer in der 
Volksschule mit ihrer festgesetzten Ordnung und mit ihren bestimmten Normen 
geschehen, dazu sind andere Massnahmen erforderlich. 

„Den Schwachen an den Schwachen zu koppeln, ihn mit seinesgleichen 
zusammenzubringen, ihn dem belebenden (?) Einflusse, sowie dem anregenden (?) 
Beispiele des befähigten Mitschülers, mithin auch dem anspornenden (?) Wett- 
eifer“ zu entziehen, muss deshalb im Interesse seiner gedeihlichen Förderung 
gefordert werden, indem die genannten günstigen Einflüsse bei ihm gar nicht zur 
Geltung kommen, sondern sich gewöhnlich als neutrale, ja als hemmende Um- 
stände für seine Weiterentwicklung erweisen. Wie glücklich und froh aber fühlen 
sich die Schüler der Hilfsschule unter ihresgleichen; sie benehmen sich bald so 
wie ihre befähigten Mitschüler, es ist eine Lust, ihrem Treiben, ihrem Spiele, 
ebenso ihrem Wetteifer jm Unterrichte, der auch erwacht und bald sich mächtig 
regt, zuzusehen. Von oberflächlich beobachtenden Personen, welche dem Spiele 
und dem Unterrichte der hiesigen Hilfsschulschüler beiwohnten, ist mir sogar 
gesagt worden: „Das sind doch keine schwachbegabten Kinder !“ 

Als einen gewichtigen Grund für die Unmöglichkeit der Errichtung 
von Hilfsschulen besonders in grössern armen Städten giebt Dr. Witte die 
Kostspieligkeit der Hilfsschulen an. Die Hilfsschulen kosten mehr Geld als die 
gewöhnlichen Schulen, das ist ein Vorwurf, den man ihnen mit Recht machen 
könnte. Sie kosten deshalb mehr, weil ihre Aufgabe verwickelt und schwierig 
ist, weil ihre Einrichtung verschiedenen Zwecken angepasst werden muss, und 
weil die Hilfsmittel, über die sie verfügen müssen, äusserst verschiedenartig sind. 
Im allgemeinen aber sind sie weniger kostspielig als manche unvernünftig ein- 
gerichtete Fachschulen, die oft noch dazu ohne durchschlagende Wirkung bleiben. 
-- Was für ungeheure Summen verschlingt die Armenpflege, die Polizei- 
verwaltung, das Gefängniswesen, die Arbeitshäuser etc. Die Ausgaben 
dafür werden sicher geringer werden, wenn man den schwachbegabten Kindern, 
die an jenen Kosten später auch nicht nnerheblich beteiligt sind, eine zweck- 
mässige Erzielung und Unterweisung angedeihen lassen wollte. Wie die Aus- 
dehnung der Fürsorgeerziehung auf solche Kinder, bei denen eine Verwahrlosung 
schon möglich erscheint, günstige Resultate, namentlich in England, erzielt hat, 


99 





so wird eine geeignete Beschulung schwachbegabter Kinder auch von günstigem 
Erfolge sein. Und in der That lassen Erhebungen, welche die Hilfsschulen in 
dieser Angelegenheit bereits hie und da gemacht haben, zu den schönsten 
Hoffnungen berechtigen. — Eine gleichmässige, intensive erziehliche 
Einwirkung auf die schwachbegabten Kinder kann nur in eigens für sie 
bestimmten Klassen oder Schulen stattfinden, und nur eine solche Erziehung 
bietet die Gewähr, dass die Schwachen brauchbare Mitglieder der menschlichen 
Gesellschaft werden. Wenn also die Stadtgemeinden für eine besondere 
Beschulung der schwachbegabten Kinder ausserbalb der gewöhnlichen Volks- 
schule auch eine grössere Summe als für die letzte durchschnittlich aufwenden 
wollten, so käme ihnen diese Ausgabe doch insofern später zu gute, als sie 
weniger für die Armenpflege, die Polizeiverwaltung, das Gefängniswesen, die 
Arbeitshäuser etc. zu zablen hätten, indem eben ein grosser Teil der Schwachen 
durch die Hilfsschule für das Leben gerettet würde und dadurch der Gemeinde 
nicht zur Last fallen möchte. Das Kapital, welches für diese Zwecke verbraucht 
werden würde, möchte unbestritten die schönsten Zinsen tragen. 

Die Einrichtung und Existenz der Hilfsschulen hat allerdings auch manche 
Bedenken gezeitigt; Dr. Wittte giebt folgendes zu erwägen: „Für zweisprachige 
Gegenden hat die Trennung der sogenannten Schwachen, als welche leicht die 
nicht die eigene Sprache des Lehrers redenden Schüler dürften angesehen werden, 
noch ganz besondere Gefahren.“ Er meint also, dass Lehrer solche Schüler, die 
die deutsche Sprache nicht genügend beherrschen, zu Schwachen stempeln möchten 
und anstatt sich Mühe mit ihnen zu geben, sie einfach der Hilfsschule zuweisen 
würden. Ebenso könnten Fälle eintreten, in welchen Lehrer, die sich ihren 
schwachen Schülern nicht widmen wollen, diese einfach sitzen lassen unter dem 
Eipwande: „Wozu haben wir eine Hilfsschule?* Ja, wenn keine eingehende, 
sachverständige Prüfung der für die Hilfsschule bezeichneten Schüler vorher 
stattfände, könnten unter Umständen Schüler abgeschoben werden; allein bei 
unsern üblichen Prüfungen und Untersuchungen (pädagogischen und ärztlichen) 
werden derartige Manipulationen gewöhnlich sofort erkannt, dazu besteht noch 
die Massnahme, dass ein Kind, welches sich vorzüglich in der Hilfsschule ent- 
wickelt, in die Volksschule zurückversetzt werden kann. Eine besondere Gefahr 
liegt also im allgemeinen in dieser Beziehung für die Schwachen nicht vor. 

Dr. Witte führt auch hygienische Bedenken gegen die Einrichtung der 
Hilfseschulen vor, indem er meint, dass die Schulen für schwachbegabte Kinder 
infolge ihres gebrechlichen, skrophulösen, schlecht gekleideten, leicht frierenden 
Schülermaterials leicht Ausgangspunkte und Herde epidemischer Krank- 
heiten werden könnten. Daraufhin will ich ihm versichern, dass diese Möglichkeit 
in den gefüllten Volksschulklassen weit eher eintreten kann, als in unsern saubern 
und geräumigen, gut eingerichteten, den hygienischen Anforderungen meist ent- 
sprechenden, mässig besetzten Schulzimmern, in welchen grösste Ordnung herrscht 
und gewissenhafte Beobachtung aller hygienischen Massnahmen stattfindet- 
Unsere Schulen können deshalb Horte der Erstarkung und Gesundung 
genannt werden im Gegensatze zu den Volksschulklassen; ein Einblick in die 


292790 


100 
meisten Hilfsschulen dürfte ihn davon genügend überzeugen. Der Gesundheits- 
zustand der Schüler in den Hilfsschulen wird auf Grund von Berichten als ein 
durchaus guter bezeichnet, wozu auch der gesamte Unterricht, welcher weit 
mehr als der in der Volksschule einer vernünftigen Schulhygiene Rechnung 
trägt, ein gut Teil beisteuert. 

Trotzdem Dr. Witte nicht für die Errichtung von besonderen Schulen für 
Schwachbegabte zu haben ist, so befürwortet er dennoch für grössere Gemeinden 
die Einrichtung einer Schule mit einfachen Verhältnissen, er möchte 
womöglich eine geringe Anzahl von Schulen in einer grössern Stadt gründen, 
die ganz einfache Systeme wären. Ist denn die Hilfsschule nicht auch eine 
solche Anstalt? Er erkennt also die Notwendigkeit der Eröffnung von Schulen 
mit einfachen Verhältnissen neben grössern Systemen an, will aber von der 
einfachsten Schule, der Hilfsschule, nichts wissen. Es besteht darin offenbar ein 
Widerspruch in seinen Meinungen, der ganz und gar unerklärlich erscheint. 

Durch die Begründung von Schulen mit einfachen Verhältnissen wäre seiner 
Ansicht nach auch den Schwachen geholfen. Er erwartet von der Wirksamkeit 
dieser Anstalten gehörige Förderung der schwachbegabten Kinder in der Weise, 
dass der Schulmann dann von sich mit Stolz sagen könnte: „Ich verstehe es, 
mit eigenen Mitteln den Schwachen zu helfen, ohne Zuflucht zu fremder Hilfe 
nehmen zu müssen!“ Den Hilfsschullehrern macht er hierbei den Vorwurf, dass 
sie mehr von ärztlicher und medizinischer als von pädagogischer und 
didaktischer Heilung Erfolge erwarten. Diese Beschuldigung beruht offenbar 
auf falscher Auffassung der Sachlage, und wir weisen sie mit Entrüstung zurück. 
Es scheint, als ob Dr. Witte unsere Arbeit gar nicht kennt, denn sonst müsste 
er doch wissen, dass wir in erster Linie pädagogisch und didaktisch 
thätig sind und keineswegs unsichern Lehren der Medizin und der „sogenannten 
experimentellen Psychologie“ anhängen, sondern nur ihre gesicherten Ergebnisse 
verfolgen und sie bei der Erziehung und Unterweisung schwachbegabter Kinder 
beobachten. 

Sehr eigenartig ist Dr. Wittes Auffassung über das Zustandekommen 
des Geisteslebens. „Alles geistige Leben ist göttlichen Ursprungs, daher so 
tief gegründet und so reich, dass es rein wissenschaftlicher Erforschung sich 
entzieht“ etc. Nach seiner Ansicht müsste also unsere Kinderforschung zweck- 
los sein, denn zu den „Tiefen und zu dem Reichtume geistigen Lebens“ vorzudringen, 
vermögen selbst „Röntgen-Strahlen“ nicht. Ich will Dr. Witte nur sagen, dass 
es trotz seiner geglaubten Unmöglichkeit doch gelungen ist, ein gutes Stück auf 
dem Gebiete der Erforschung des kindlichen Leibes- und Seelenlebens vorzu- 
dringen, und dass manche Arbeit darüber geleistet worden ist, die Hervorragendes 
bedeute. Es mögen hier nur folgende Schriften zur Aufzählung kommen: 
1. Wundt, Völkerpsychologie, 2. Ament, Die Entwicklung von Denken und 
Sprechen beim Kinde, 3. Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde 
und bei der Rasse, 4. Compayré, Die Entwicklung der Kindesseele, 5. Tracy, 
Psychologie der Kindheit, 6. Sully, Untersuchungen über die Kindheit u. a. m. 
Wenn man diese Werke ohne Vorurteil gelesen hat, dann muss man auch 


as 


unumwunden eingesteben: „Wir sind auf dem besten Wege zur Erforschung 
des kindlichen Geisteslebens!“ 


Es lässt sich nicht ableugnen, und das wird Dr. Witte auch zugestehen, 
dass pädagogische Einsicht und Kunst erst durch die Kenntnis der 
Kinderpsyehologie kommt. Wenn wir uns daher dem Studium der Kinder- 
psychologie, der pädagogischen Pathologie und womöglich auch der 
Psychiatrie zuwenden, so thun wir das aus dem Grunde, um uns vor pädagogischen 
und didaktischen Missgriffen zu bewahren. damit wir unsern eigenartigen Schülern 
eine gerechte, ihrer Eigenart entsprechende Behandlung bieten können. Nur zu 
diesem Zwecke beachten wir die Lehren der Medizin und auch der „experimentellen 
Psychologie“, jedoch nur soweit, als sie für uns reellen Wert besitzen. Wenn 
wir dabei in einen Irrtum geraten sollten, so wird er jedenfalls sich nicht so 
nachteilig erweisen, als es unsere Thätigkeit ohne Beachtung jener Lehren und 
ihrer Ergebnisse oft wäre. 


Dr. Wittes Schilderungen über die Massnahmen, welche ein Schulmann 
im allgemeinen zur Förderung der Schwachen in der Schule zu beachten 
hat, bekunden viel pädagogisches Verständnis und richtige Beurteilung der Sach- 
lage in mancber Beziehung. Allein, welche Massnahmen zu beobachten sind, um 
einen Schwachen soweit zu bringen, dass seine Bethbätigung am Unterrichte in 
einer ergiebigen Art und Weise ermöglicht wäre, giebt er nicht an. Er glaubt 
vielmehr, dass alles gut und glatt ginge, wenn der Lehrer seine gemachten Vor- 
schläge nur genügend befolgen würde. Das ist aber ein grosser Irrtum! Der 
Schwache muss, namentlich zu Anfange der Unterweisung, besonders angeregt 
und geleitet werden und zwar in einer solchen Weise, dass die Behandlung vor- 
züglich individuell auszuüben ist, sonst zeigt er sich in der Klasse geistig tot. 
Der Klassenunterricht, wie er in der Volksschule gegeben werden muss, ist dazu 
in der Regel vollständig ungeeignet, und wäre er noch so vollkommen und 
individualisierend. Erweist sich der Schwache geistig soweit gefördert und 
gestärkt (wie ihn sich Dr. Witte jedenfalls von Hause aus denkt), dass er 
unterrichtsfähig in weitgehendster Beziehung erscheint, dann werden seine an- 
empfohlenen Vorschläge und Massnahmen sicher von Erfolg sein. 


Widerspruch verlangt auch Dr. Wittes Behauptung, welche den bekannten 
Satz: „Gesunder Geist nicht ohne gesunden Leib“, darin umkehrt: 
„Gesunder Leib nicht ohne gesunden Geist!“ Gewiss besitzt der Schwache 
wohl in den meisten Fällen ebenso wie der Begabte einen gesunden Leib 
namentlich in Bezug darauf, was wir gewöhnlich unter der Bezeichnung „gesund“ 
verstehen. Ja, manche Schwachen strotzen förmlich vor Gesundbeit und seben 
blühend und schön aus. Allein ihr Gehirn ist krankhaft und abnorm, sodass 
sie also dennoch keinen gesunden Leib besitzen, daher ist auch ihr Geist und 
infolgedessen ihr Geistesleben abnorm und krankhaft. Wir können die Erforschungen 
der Pathologen in dieser Sache nicht ohne weiteres ignorieren, das hiesse der 
Wissenschaft einen Faustschlag versetzen. Als erwiesen gilt in dieser Beziehung, 
dass die Geistesschwäche auf einem Hirndefekt beruht, welcher auf anatomischem 


ee 


Wege sich nachweisen lässt. Danach kann also der obige Satz nicht Anspruch 
auf Allgemeingültigkeit erheben. 

Dr. Witte stellt im weitern seiner Schrift folgende Vorschrift auf: „Die 
wirklich geisteschwachen Schüler bedürfen übrigens der Anstalts- 
erziehung.“ „In Bezug auf die nur Schwachbegabten wird es aber bei der 
Schulerziehung docl sein Bewenden behalten müssen.“ Die Frage, für welche 
Fälle von schwacher Begabung Anstalts- bezw. Schulerziehung eintreten müsse: 
ist noch lange nicht spruchreif, obwohl meistens die Ansicht vorherrscht, dass 
die tief stehenden Geistesschwachen am besten in Anstalten, die mehr 
begabteren dagegen in Schulerziehung untergebracht werden müssten. Diese 
Scheidung ist durchaus nicht zutreffend, die Grenzregulierung hat ganz andere 
Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Wenn ein schwachbegabtes Kind ohne 
Sohädigung seiner eigenen und seiner Mitmenschen Interessen zu Hause behalten 
werden kann, dann ist Schulerziehung am Platze, andernfalls muss Anstalts- 
erziehung eintreten. Dieser Umstand wäre im wesentlichen bei der Lösung 
obiger Frage überhaupt zu beachten. 

Dr. Witte giebt später die Notwendigkeit besonderer Erziehungs- 
anstalten für Schwachbegabte, ja eigens für sie bestimmte Schulen, im 
allgemeinen zu, betont aber ganz besonders, dass ihre Unterweisung in der Form 
des gemeinsamen Unterrichts, also mit begabten Kindern, erfolgen müsse. Die 
Zwecklosigkeit eines solchen Unterrichts ist schon vorhin beleuchtet worden. Die 
Erfolge, welche die Hilfsschulen aufweisen, schreibt er dem Unterrichte trefflicher 
Lehrer zu und der geringen Anzahl der zu unterrichtenden Kinder. Im allge- 
meinen aber scheint er dennoch Zweifel in Bezug auf die Unterrichtsresultate 
zu hegen, da die geringfügige Zahl und die Dauer des Bestehens der Hilfsschulen 
ihm keine gehörige Garantie dafür zu bieten vermögen. Er bezweifelt dann 
wieder überhaupt die Zweckmässigkeit dieser Schuleinrichtungen in der bestehenden 
Form und meint, dass die bisher bestehenden Hilfsschulen durchaus nicht die 
Grundlage für eine Erfahrung bilden können, auf die man sich als auf eine 
schon bewährte stützen und auf Grund deren man Gemeinden Ausgaben zumuten 
darf. Ich will ihm darauf nur erwideru, dass Gemeinden, welche Versuche mit 
Hilfsschulen vor etwa 15—20 und mehr Jahren anstellten (Elberfeld, Braun- 
schweig, Dresden, Leipzig u.a.), nun Hilfsschulen mit 5—10 und mehr 
Klassen besitzen, da sie die denkbar günstigsten Erfahrungen mit diesen Schul- 
anstalten gemacht haben. Sollten die genannten Gemeinden etwa die Vor- und 
Nachteile dieser Einrichtung weniger erwogen haben, als es Dr. Witte thut, 
oder soll ihr Gesichtskreis so enge begrenzt sein, dass sie die Zwecklosigkeit 
dieser Schulen mit ibm nicht einzusehen vermögen? — Oder was sollte sie 
sonst veranlassen ‚solche kostspielige Schulanstalten zu errichten, da ja die 
schwachen Kinder im Rahmen der gewöhnlichen Volksschulen gehörig gefördert 
werden könnten? — Sie haben jedenfalls diese Angelegenheit auch iu Beherzi- 
gung des Wortes: „Videant consules, ne quid detrimenti capiat res- 
publica!“ reiflich erwogen, sind aber im Interesse der Schwachen zu einer 
bessern Ansicht als er gekommen. 


108 





Nach Dr Wittes Angaben beträgt die Gesamtzahl aller städtischen Ge- 
meinden in T'reussen etwa 1300; von diesen haben sich 45 zu Versuchen mit 
Hilfsschulen bisher (1900) verstanden, das sind etwa 3"/,°%, aller städtischen 
Gemeinden. Nach der bis jetzt üblichen Auffassung können Hilfsschulen nur für 
Gemeinden mit 20 000 Einwohnern in Frage kommen, da solche erst genügendes 
Schülermaterial für derartige Schuleinrichtungen bieten. Das Städte-Lexikon des 
Deutschen Reiches von Petzold giebt nach der Zählung vom 1. Dezember 1900 
die Zahl der Städte mit über 20000 Einwohnern auf 134 an; es hat also 
jede dritte Stadt von über 20 000 Einwohnern für eine geeignete Be- 
schulung der Schwachen, sei es in Hilfsschulen, sei es in 
besonderen Nebenklassen, gesorgt. Äusserst gering sind allerdings 
die Städte des Ostens daran beteiligt, ausser Königsberg i. Pr, Danzig, 
Bromberg, Posen und Stolp i. P. besitzt keine andere Stadt bis zur Oder 
eine Hilfsschule. Für die kleinern Gemeinden kommen die Idiotenanstalten 
in Betracht, diese werden auch von den genannten Gemeinden frequentiert. 
Wenn aber eine Gemeinde von 20 000 Einwohnern 20 schwachbegabte Kinder 
in der Idiotenanstalt unterhalten und ausbilden lassen sollte, so würden ihr 
dadurch grössere Kosten entstehen, als wenn sie eine Hilfsschule für schwach- 
begabte Kinder errichtete. 

Dr. Witte ist aber in betreff der Hilfsschulen auch einer bessern Einsicht 
fähig, er giebt über sie nachstehende Erklärung, der wir als sachgemäss gehalten 
durchaus beipflichten müssen, wohl erwogen ab: „Die Schulen für Schwachbe- 
gabte sind gerade in den Bezirken, in welchen sie ihren Ursprung genommen 
und zum Teil eifrigste Förderung gefunden haben, nichts anders als in Bezug 
auf Gediegenbeit der Einrichtung, der Leitung und des Unterrichtsver- 
fahrens, namentlich der Schulzucht, der Schulgesundheitspflege, 
sowie der Ausbeutung der Vorteile des Gesamtunterrichts besonders 
günstig gestellte Volksschulen, vor allem auch hinsichtlich der geringen 
Schülerzahl, der reichen Bewilligung und Verwertung aller Mittel 
für Veranschaulichung des Unterrichtsstoffes, sowie sorgfältigster 
Aufsicht und genauster Anpassung des Unterrichts-Zieles und -Stoffes 
an die örtlichen und jeweiligen Bedürfnisse.“ Wenn also gewissen 
Schülern, die unter den bestehenden Verhältnissen nicht genügende Förderung 
in der Volksschnle finden, wie es Dr. Witte auch stillschweigend zugiebt, die 
Wohlthat solcher Massnahmen geboten werden kaun, wo sie vor allem auch 
einen abschliessenden Unterricht erhalten, so thut die Gemeinde diesen Kindern 
gegenüber nur ihre Pflicht, und die Notwendigkeit der Hilfsschulen erscheint 
deshalb nicht nur erwünscht, sondern sogar dringend erforderlich. Der 
preussische Kultusminister spricht in dem erwähnten Erlasse den opferwilligen 
Gemeinden in Würdigung ihrer Massnahmen seinen wärmsten Dank aus und 
gewährt den beteiligten Gemeinden für den ersten Lehrer der Hilfsschule eine 
Staatsbeihilfe von 500 Mk. 

Es ist ferner richtig, dass wir auf die Wohlthat des gemeinsamen, 
des Gesamt- oder Klassenunterrichts, nicht verzichten, aber wir treiben 


104 





in den untern Klassen vorwiegend Einzelunterricht, daher sind die untern 
Klassen der Hilfsschule auch durchschnittlich geringer frequentiert als die obern. 
Doch die Schwachen gemeinsam mit den Begabten zu unterrichten, halten wir/für 
schädigend für beide Arten von Schülern und verlangen eine Isolierung 
beider im Interesse gegenseitiger Vorteile. 

Dr. Witte empfiehlt den Geineinden zur bessern Beschulung der Schwachen 
ganz eigenartige Massnahmen, über deren Zweckmässigkeit wir bedenklich den 
Kopf schütteln müssen. Er sagt, die Gemeinden müssten dafür sorgen, „dass sie 
alle ihre schwachbegabten Kinder in solchen Klassen unterbrächten, die nicht 
mit mehr als 30 Kindern besetzt wären, von denen jedoch nur ein Drittel 
schwachbegabte, die übrigen zwei Drittel gut oder doch durchaus ncrmal begabte 
und möglichst gesittete Kinder sein dürften“. „Diese Klassen müssten dann 
überdies einen besonders tüchtigen Lehrer haben, der durch gute Schulzucht und 
durch das Geschick, auch beim Gesamtunterrichte und durch ihn zu individuali- 
sieren, sich auszeichnet.“ „Ja, sie müssten überhaupt auch sonst so 
eingerichtet sein, wie es für die Hilfsschulen empfohlen wird.“ — 
Den gemeinsamen Unterricht halten wir aus den schon vorhin vielfach erwähnten 
Gründen im Interesse beider Arten von Schülern für zwecklos und die gauze 
Einrichtung für kostspieliger als die einer Hilfsschule.. Fs hätte z. B. eine 
Gemeinde (Thorn, Stolp, Insterburg, Tilsit u. a.) 30 schwachbegabte 
Kinder, danach wären nach Dr. Wittes Vorschlag drei Schulklassen einzurichten, 
die Hilfsschule aber beansprucht für 30 Kinder höchstens 2 Schulklassen. 
Welche Einrichtung käme da den Gemeinden teurer zu stehen, die der drei 
Normalklassen mit je 30 Schülern oder die der Hilfsschule mit zwei Klassen? 
Zweifelsohne doch die Einrichtung der drei Normalklassen! Daher erscheint es 
geboten, die Forderungen des preussischen Kultusministers über die Einrichtung 
von Hilfsschulen als massgebend gelten zu lassen und nicht Massnahmen zu 
erwägen, deren Ausführungsmöglichkeit im Bereiche der Utopie liegen dürfte. 

Dr. Witte kommt im Verlaufe seiner Ausführungen noch einmal auf die 
ärztliche Mitwirkung bei der Errichtung von Hilfsschulen zu sprechen und er- 
wähnt besonders, dass von Seiten der Ärzte die Feststellung der für die 
Hilfsschule geeigneten Kinder für äusserst schwierig gehalten wird. Dieser 
Umstand darf uns weiter nicht wundernehmen, denn erst in letzter Zeit sind 
die Ärzte erfreulicherweise dem Schwachsinnigenbildungswesen näher getreten 
und haben seine Litteratur durch wertvolle Arbeiten wesentlich bereichert. Ich 
will hier nur folgende Schriften nennen: 1. Dr. Liebmann, Die Untersuchung 
und Behandlung geistig zurückgebliebener Kinder, 2, Dr. Möller, Über Intelligenz- 
prüfungen bei schwachsinnigen Kindern, 3. Dr. Berkhan, Über den angeborenen 
und früh erworbenen Schwachsinn, 4. Dr. Schmid-Monnard, Die Ursachen 
der Minderbegabung von Schulkindern, 5. Dr. Laquer, Die Hilfsschulen für 
schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und soziale Bedeutung, 6. Dr. Weygandt, 
Die Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder in ärztlicher und pädagogischer 
Beziehung, 7. Dr Cassel, Was lebrt uns die Untersuchung der geistig minder- 
wertigen Kinder?, 8. Dr. Demoor, Die anormalen Kinder und ihre erziehliche 


105 
Behandlung in Haus und Schule, 9. Dr. Ziehen, Die Geisteskrankheiten des 
Kindesalters u. a. m. Wenn Dr. Witte diese Schriften gekannt hätte, dann 
würde er sicherlich die Mitwirkung des Arztes in der Hilfsschulangelegenheit 
anders bewertet hahen. Der ärztliche Referent auf dem Ill. Verbandstage der 
deutschen Hilfsschulen war jedenfalls auch nicht gehörig orientiert, denn sonst 
wäre er zu einem so fraglichen Eingeständnis, am alleıwenigsten zu einem solcher, 
wie es Dr. Witte passt, nicht gekommen. — Im Gegenteil muss uns das 
Urteil, das die vorhin genannten Autoren gerade über die Zweckmässigkeit 
und Wirksamkeit der Hilfsschulen abgeben, zu dem „Experiment der Hilfsschule“ 
anspornen und nicht abschrecken. 

Dr. Witte behauptet ferner, dass es eine schier unmögliche Aufgabe 
sei, viele Schwachköpfe oder gar nur solche gleichzeitig zu unter- 
richten. Nun, den Beweis für die Möglichkeit dieser Wirksamkeit mag er 
sich durch Besuch von Idiotenanstaltsschulen und von Hilfsschulen selbst er- 
bringen. Ich lade ihn ganz ergebenst zum Besuche der hiesigen Hilfsschule 
ein, hoffentlich gelangt er dann zu einer andern Überzeugung in der beregten 
Angelegenheit. 

Soll es uns zum Vorwurfe gereichen, dass wir sorgfältige Aufzeich- 
nungen über unsere Schüler in Bezug auf ihre leibliche und geistige Be- 
schaffenheit machen, Krankengeschichten anfertıgen und noch andere 
Massnahmen treffen, um sie vor falscher Beurteilung, vor Verunglimpfung 
und vor Schädigung im spätern Leben zu bewahren? Ich glaube, diese 
humane Fürsorge müsste doch von solchen Personen, die im Dienste der Volks- 
wohlfahrtsbestrebungen stehen, anerkannt und gebilligt werden. Leider ver- 
mögen wir in unsern Bestrebungen oft nicht so weit zu gehen, wie es in vielen 
Fällen erforderlich wäre, es geht manches über unsere Kraft. Schon aus diesem 
Grunde können unsere Ziele in dieser Beziehung nicht für bedenklich und 
weitgehend und bezüglich ihrer sozialen Wirkung nicht für überspannt bezeichnet 
werden. Der Starke bedarf oft der Stütze und des Trostes, um wieviel mehr 
wird Fürsorge für den Schwachen notwendig sein! Er müsste in der Schule auch 
nach seiner Entlassung noch die Stütze finden, die sie ihm ehemals war. 
Wenn wir dahingehende Einrichtungen erstreben, so erscheint dieses nur recht 
vnd billig und bedeutet durchaus keine Blüte, wie sie „zuweilen auch die Pflanze 
nichtfachmännischen Übereifers und einseitiger Schwärmerei“ treiben kann. 

Ich will es Dr. Witte gerne glauben, dass der Anblick der Hilfsschulen 
sowie der Betrieb in ihnen nicht selten das Kopfschütteln gar manches er- 
fahrenen (?) Schulmannes erregt haben; meistens aber geschieht das aus ganz 
andern Gründen, als er sie vielleicht vermutet. Der Anblick der Hilfsschulen 
erweckt bei den Schulmännern, die nicht an ihnen wirken, meist Neid über die 
bessere Besoldung der Hilfsschullehrer, über ihre oft geringere Stundenzahl, 
über die würdigere Ausstattung der Hilfsschulen etc. Wiederum andere, ge- 
wöhnlich ältere Schulmänner (also wohlerfahrene), schütteln den Kopf über die 
eigenartige Einrichtung, obwohl sie dieselbe nicht einmal kennen und es auch 
der Mühe nicht für wert halten, sich die Einrichtung un! den Betrieb der 


106 


Hilfsschulen anzusehen. Es giebt eben Schulmänner, die über alles Neue den 
Kopf schütteln in der Vermutung, es könnte ihnen vielleicht mit der Zeit un- 
angenehm werden. Noch andere sind sofort mit ihrem Urteile fertig, wenn sie 
etw.s über eine Sache gehört haben, zu einer reiflichen Erwägung und Prüfung 
kommt es bei ihnen gewöhnlich nicht. Wir bitten um augenscheinliche, 
eingehende Prüfung unserer Einrichtungen, dann werden wir gewiss 
eine viel günstigere Beurteilung erfahren auch von Seiten der Schulmänner, die 
jetzt noch den Kopf über unsere Bestrebungen schütteln sollten. 

Das Urteil eines einzigen Schul.ufsichtsbeamten, der früher Universitäts- 
professor war, also jedenfalls erst in der letzten Zeit der Volksschule und ihren 
mannisfachen Bedürfnissen näher getreten ist und vielleicht noch gar keine 
Hilfsschule bisher besucht bezw. inspiziert hat, kann in der beregten Angelegen- 
heit nur auf \Viderspruch stossen und auch nicht massgebend sein. Geradezu 
überspannt aber sind seine Befürchtungen, die er darin zum Ausdrucke 
bringt, dass er behauptet, die Hilfsschulen schädigen die andern 
Schuleinrichtungen. Im Gegenteil gereichen die Hilfsschulen den Volks- 
schulen vielfach zum Segen, namentlich dadurch, dass sie diese von den 
hindernden und hemmenden Elementen zum Besten der durchschnittlich Begabten 
entlasten. Ein schädigender Einfluss der Hilfsschulen ist bisher noch 
nirgendss verspürt worden, auch da nicht, wo unsere Bestrebungen sehr strenge 
beurteilt worden sind. 

Ernste Bedenken erregt die bisherige Gestalt der Hilfsschule 
durchaus nicht, denn 

I. sie bringt, entgegengesetzt der Meinung Dr. Wittes, der Volksschule 
und der Kunst des Gesamtunterrichts absolut kein Misstrauen entgegen, 
sondern sie entlastet die Volk:schule von gewissen hemmenden 
Elementen in derrichtigen Erkenntnis, dass diese nur durch 
besondere Massnalımen gefördert werden können; 

II. sie nimmt nur wirklich schwachbegabte Kinder auf; der Lehrer 
der Volksschule behält noch Schwachköpfe genug zurück; es ist also 
keine Gefahr vorhanden, dass die Volksschullehrer in dem Eifer, die 
Schwachen zu fördern, erlahmen und das Geschick, sie vorwärts zu 
bringen, verkeren werden ; 

IJI. sie entzieht die Schwachen dem Mutwillen und daher dem schädigenden 
Einflusse ihrer begabten Mitschüler und sucht in ihnen Selbstvertrauen 
und gehörige Mitbethätigung am Unterrichte zu wecken; 

IV. sie schafft nur Klassen für schwachbegabte Schüler, in welchen der 
Eigenart der Schwachen durch entsprechende Erziehung 
und Unterweisung am vollkommensten Rechnung getragen 
werden kann; dass dieses nicht unmöglich ist, hat die Hilfsschule 
durch die Praxis hinlänglich erwiesen ; 

V. sie sucht die Schwachen thunlichst weit zu fördern, Selbst- 
thätigkeit zu wecken und Erwerbsfähigkeit anzubahnen unter 
stets fürsorgender Leitung auch über die Schulzeit hinaus. 


107 


Danach komme ich im Gegensatz zu Dr Witte zu folgendem Resultat: 

I. Die angelegentlichste und angemessenste Förderung finden 
die Schwachen nur in besonders für sie eingerichteten 
Klassen oder Schulen (Hilfsschulen). 

Il. Im Interesse einer gedeihlichen Förderung der Schwachen 
müssen Pädagoge und Arzt zusammen wirken. 

III Die Einrichtung von Hilfsschulen kann allen Gemeinden, 
die genügendes Schülermaterial besitzen, im sozial-päda- 
gogischen Interesse dringend anempfohlen werden. 

Zum Schlusse sei noch erwähnt, dass nach Erscheinen der Schrift Dr. Wittes 

(soweit mir bekannt) folgende Städte neue Hilfsschulen errichtet haben: Kiel, 
Wilhelmshaven, Saalfeld i. Thür. und Koeslin. 


Die pädagogische 
Gymnastik in den Schulen für Schwachsinnige. 
Von Otto Legel, Uchtspringe. 


Die Unterrichtsveranstaltungen für Schwachsinnige haben den Zweck, sie 
möglichst brauchbar zu machen fürs Leben, für ihre spätere soziale Stellung, 
ihnen hinwegzuhelfen über die Hindernisse, die die mangelnden Geisteskräfte 
ihnen entgegenstellen, und den Ärmsten unter den Armen ein menschenwürdiges 
Dasein zu schaffen Didaktik und Methodik unserer Disziplinen sind noch zu 
jung, sind eben erst im Entstehen begriffen. Aber immerhin liegen schon Er- 
folge hinter uns, wenn auch noch ein weites Feld zu beackern ist. Die metho- 
dische Vertiefung unserer Unterrichtsfächer bedarf noch mehr als die anderer 
Unterrichtsgebiete, die auf eine lange Periode ihrer Entwicklung zurückblicken, 
einer eingehenden Berücksichtigung. Von den einzelnen Disziplinen tritt diese 
oder jene in unsern Schulen mehr in den Vordergrund als in der Volksschule, 
oder sollte es thun. Namentlich sollte der Gymnastik ein weit grösseres Feld 
eingeräumt werden, als sie bis jetzt inne hat, und ihrer Methodik gebührt 
gerade für unsere Schulen eine allseitige Ausgestaltung 

Das Turnen der Schwachsinnigen ist nicht nur in derselben Weise wie das 
ihrer vollsinnigen Brüder zu berücksichtigen, sondern ınuss in der Orduung der 
Disziplinen mit an erster Stelle stehen und verlangt eine rationelle Unterrichts- 
methode. Ausser Gesundheit, Gewandtheit und Kraft des Körpers zu fördern, 
kann man die Zöglinge durch das Turnen an Gehorsam, Aufmerksamkeit und 
Ordnung gewöhnen, kann ihren Mut, ihre Willenskraft erhöhen und den Gemein- 
geist wecken und entwickeln. Kein anderer unserer Unterrichtsgegenstände 
wirkt so unmittelbar durch Veranschaulichung der Begriffe wie der Turn- 
unterricht. Die Ausführung der Übungen giebt dem Zögling zum Wort sofort 
das richtige Verständnis des Inhalts. Gerade die Vermittlung des Sprach- 
verständnisses spielt doch in unserm Unterrichtsbetriebe eine wesentliche Rolle. 
Und der Gewinn, den der Turnunterricht !ier bringt, ist kein geringer. Sehen 


108 


wir uns unsere Kinder an! Gesetzt den Fall, dass das schwachsinnige Kind 
mit derselben körperlichen Kraft geboren wird wie das vollsinnige, so bleibt 
doch Kraft ohne Übung schwach Die häufig unmenschliche, manchmal auch 
übertrieben verzärtelnde Behandlung im Elternhause, das Verspottetwerden von 
seiten der vollsinnigen Altersgenossen haben die Kinder scheu gemacht in ihrem 
Auftreten Während das geistig gesunde Kind sich im fröhlichen Spiel in 
Feld uni Wald, auf Strasse und Spielplatz tummelt, steht das „dumme Kind“ 
abseits von der Schar oder sitzt daheim in stiller Stube, kaum geduldet. Dazu 
gesellt sich häufig mangelhafte Ernährung. Sie und die fehlende Bewegung 
hemmen den Körper in der richtigen Entwicklung. Jegliches Selbstvertrauen 
ist geschwunden und hat einer scheuen Angst Platz gemacht. Vom Turn- 
unterricht der Altersgenossen sind sie, namentlich die mit Epilepsie beliafteten, 
ausgeschlossen. So bekommen wir die Zöglinge körperlich schlechter aus- 
gerüstet als die Lehrer an der Volksschule. Und doch müssen unsere Zöglinge 
mindestens eine ebenso vollkommene körperliche Ausbildung geniessen wie die 
normalen Kinder Denn infolge des Mangels an geistigen Fähigkeiten bleiben 
sie im späteren Leben nur auf die Benutzung ihrer körperlichen Kräfte an- 
gewiesen, eine Spekulation auf Verwendung der Geisteskräfte ist für sie wohl 
fast ausgeschlossen. Bedenken wir nun, dass einem grossen Teile unserer Zög- 
linge Gebrechen der Sprache und mit diesen der sonst nur den Taubstummen 
eigene schleppende Gang, das Vorbeugen des Körpers anhaften, so muss es 
eine Hauptpflicht unserer Schulen und Anstalten sein, die körperliche Ausbildung 
so rationell wie möglich zu betreiben. 

Also eine Vorbereitung fürs Leben müssen auch unsere Schulen geben, 
und zu dieser gehört die gymnastische Erziehung in erster Linie. In ihr ver- 
einigen sich die gymnastische Bethätigung der Organe, bei welchen das Prinzip 
der „Einübung“ vorwaltet, das Turnen, und die, bei welcher das Prinzip der 
„Ausübung“ vorwaltet, die Gymnastik im engern Sinne. Sie umfasst also die 
sogenannte Wehr- und ästhetische Gymnastik und die Heil- und diätetische 
Gymnastik. Beim Turnen unserer Jugend muss nun ein Zweig in den andern 
hinübergreifen ; sämtliche Bewegungsformen müssen von dem Turnlehrer in An- 
wendung gebracht werden, die willkürlichen und unwillkürlichen Be- 
wegungen. Besonders werden die willkürlichen Bewegungen ihre Anwendung 
finden, umsomehr, als dem Lehrer dabei Gelegenheit gegeben wird, den oft so 
eigenartigen Willen unserer Kinder zu leiten, damit er zu der Herrschaft ge- 
langt, die es ihm möglich macht. dem Guten nachzustreben. Bei den willkür- 
lichen Bewegungen können wir nun unterscheiden solche, die selbständig 
durch den Willensimpuls erzeugt werden, also aktive, und solche, welche noch 
eine zweite Bewegungsursache haben, die duplizierten Bewegungen. Für die 
Normalschulen werden die aktiven Bewegungen wohl das ausschliessliche Material 
der gymnastischen Übungen buden Für uns haben die duplizierten Bewegungen 
einen bedeutenden Wert. Von dem ganzen Gebiete der heilgymnastischen Praxis 
zu reden, würde zu weit führen; es tritt übrigens noch die Thätigkeit des Arztes 
dabei notgedrungen neben die des Lehrers. Soweit aber die Heilgymnastik in 


109 


den Schulunterricht fällt, findet sie ihre Berücksichtigung im Artikulationsunter- 
richte Die Stimm- und Atmungsgymnastik und die Übung der beteiligten 
Muskeln ist ja ein wichtiges Unterrichtsgebiet, namentlich in den Sprechklassen. 
Durch diese Übung der lautreinen Sprache in der Artikulation der einzelnen 
Laute, als auch in dem weitern mechanischen Sprechunterrichte wird also ein 
Teil der Heilgymnastik gepfiegt. Somit stellt sich unsere Gymnastik auf den 
Boden Lings. 

Nun stellen sich der praktischen Durchführung der pädagogischen Gym- 
nastik bei schwachsinnigen Kindern grosse Schwierigkeiten entgegen. Abgesehen 
von den körperlichen Mängeln und Gebrechen, deren Heilung und Abschwächung 
in das später zu erwähnende Gebiet der Heilgymnastik fällt, treten die geistigen 
dem Lehrer hemmend entgegen. Es fehlt unsern Kindern häufig das Vermögen, 
ihre Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren, ihre Sinne so zu beeinflussen, 
dass sie das Vormachen von Übungen durch den Lehrer aufnehmen und ihre 
Muskeln zum Nachmachen anspornen. Wohl ist ein Teil der Zöglinge dazu 
im stande, ein anderer Teil steht teilnahmlos da. und ein dritter beschäftigt sich 
mit andern Dingen. Da muss sich der Lehrer der Schwachsinnigen nach 
Hilfsmitteln umsehen. Als treffliches Hilfsmittel gilt die Musik Schon lange 
ist man von deren hoher Bedeutung in den Hilfsschulen Antwerpens und 
Brüssels überzeugt. Durch die Güte der Herren Kollegen Demeulemeester 
und Jaecks ist Verfasser dieses mit der Art des dortigen Betriebes bekannt 
geworden Kollege Jonckheere-Brüssel zeigt übrigens in einer Abhandlung 
in der Zeitschrift für Kinderforschung den Einfluss der Musik auf die gym- 
nastischen Übungen. (Siehe Zeitschr. für Kinderforschung 1901, Heft III.) 
Genauere Anleitung geben noch: Musical Drill for Infants by Alexander. 
I& I. und Manuel of Musical Drill by George Cruden — VII Aus- 
gabe 1896. Verlag: London: Simpkin, Marshall & Cie. und Aberdeen: 
A. Murray. 271 Union Street. Beide sind sehr empfehlenswert: namentlich 
das letztere ist sehr einfach geschrieben, sodass selbst jemand, der wenig mit 
der englischen Sprache vertraut ist, es verstehen kann. Zu den Übungen sind 
meist englische Volkslieder verwendet. Die über 400 Zeichnungen tragen das 
Ihrige zum Verständnis bei. Namentlich der II. Teil enthält das für uns 
Wichtigste: 1. Marchning Drill 2. Irée Gymnastik Exercises. 3. Hoop 
Drill. 4. Dumb-bell Exercises. 5. Bar. bell Exercises ete Als zweites 
hervorragendes Disziplinmittel sind die langen Stäbe zu schätzen. Sie wirken 
nicht nur kräftigend auf den Körper, sondern sie zwingen auch den Teilnahm- 
losesten sowie den Unruhigsten ohne seinen Willen zu ausgiebiger Muskel- 
anstrengung. Dazu sind sie ein sehr leicht zu beschaffendes Gerät. Die be- 
kannten Hochsprungstäbe erfüllen voll und ganz ihren Zweck. Drei bis fünf 
Zöglinge, nach Grösse abgestuft, kommen auf einen resp. zwei Stäbe Die 
grosse Mannigfaltigkeit der Übungen, die sich mit den lan en Stäben vornehmen 
lassen, macht dem Lehrer die Auswahl leicht. Sämtliche Übungen werden 
durch Musikbegleitung oder durch Gesang der Kinder reguliert. 

Für die g:schulteren Kinder kommen dann die duplizierten Bewegungen 


110 


zur Verwendung. Hier tritt zur alleinigen Kraft des Zöglings noch eine zweite 
Kraft eines Objektes hinzu. Diese Einwirkung der objektiven Kraft oder der 
zweiten Person auf die erste Person kann in zweierlei Weise erfolgen. Entweder 
fördert die objektive Kraft die Bewegungen des Subjekts oder hindert sie. Die 
letztere Thätigkeit der objektiven Kraft führt zu den „Widerstandsbewegungen‘“. 
Bei diesen Bewegungen stehen sich die beiden Kräfte gegenüber in dem Masse, 
dass das Objekt die Bewegungen des Subjekts nicht etwa aufhält, sondern nur 
verstärkt Stehen z. B. die Zöglinge in doppelter Stirnreihe, so bildet die erste 
Reihe das Subjekt, die zweite das Objekt. Das Subjekt A soll die Arme nach 
oben bewegen. Soll diese Bewegung eine duplizierte Widerstandsbewegung 
sein, so fasst Objekt B die Hände des Subjektes und lässt allmählich die Arme 
von A nach oben bewegen. Dieselbe Bewegung kann nun in entgegengesetzter 
Weise ausgeführt werden. Für unsern Unterricht nun ist es notwendig, diese 
Bewegungen auf sämtliche Muskeln zu übertragen. Diese duplizierten Übungen 
erfordern einen höhern Grad vun Schulung als die aktiven Bewegungen. Darum 
treten sie auch erst bei einer gewissen geistigen Reife im Turnunterrichte auf. 
Es erübrigt sich wohl, an dieser Stelle weiter auf die Art und Weise, auf den 
mannigfachen Vorteil der Widerstandsbewegungen etc. einzugehen. Jedes Lehr- 
buch der schwedischen Gymnastik bietet ja genügenden Anhalt. Wie es scheint, 
finden die duplizierten Bewegungen in unsern Schulen noch lange nicht die 
Berücksichtigung, die sie verdienen. Durch diese Bewegungen lernen die Zög- 
linge ihre Bewegungen und Kräfte in Gemeinschaft mit andern zu einem und 
demselben Zwecke verwenden; sie bilden dann aber auch das Gefühl für richtige 
Bewegungen in einem überaus feinem Grade aus, da ja ein Zögling die Be- 
wegungen des andern zu kontrollieren hat Überhaupt geben die duplizierten 
Bewegungen die Möglichkeit eines spezifischen Einwirkens auf einzelne Muskel- 
gruppen. Ist nun die Möglichkeit eines spezifischen Einwirkens auch haupt- 
sächlich in der Heilgymnastik mit Vorteil zu verwenden, so ist dieser Umstand 
doch auch besonders bei Schwächezuständen etc. und namentlich im Mädchen- 
turnen, wo sich aus bestimmten Rücksichten nur eine Auswahl von Übungen 
an Geräten vornehmen lässt, wobl zu beachten. Zuletzt aber gewähren die 
duplizierten Bewegungen noch die Möglichkeit einer systematischen, stufen- 
mässigen Kräftigung der Bewegungsorgane. Kann z B. ein Kind aus dem 
Streckhang an der wagerechten Leiter nicht in den Beugehang übergehen, da 
es noch nicht die genügende Kraft besitzt, um die Schwere des Körpers zu 
überwinden, so muss es entweder die Übung unterlassen, oder der Lehrer muss 
es unterstützen Durch duplizierte Bewegungen der Armmuskeln wird jedoch 
eine sytsematische Kräftigung ohne ein Gerät möglich. 

Als Vorstufe für diese beiden Gebiete, der aktiven Bewegungen, wie sie 
das Schulturnen verwendet, und der duplizierten Bewegungen, dienen solche 
Übungen, die mit Zöglingen schwächlicher Muskulatur, mit Kindern, die mit 
Gebrechen der Gliedmassen behaftet sind, denen die Fähigkeit des Stehens, 
Gehens, des Greifens und Haltens fehlen, vorgenommen werden Sie spielen 
in das Gebiet der Heilgymnastik hinüber und erfordern eine individuale Be- 


111 


handlung. Es sind von uns versuchsweise Übungen vorgenommen nach Art 
und Weise der Methode von Dr. Bourneville im Bicêtre bei Paris Auf An- 
regung von Direktor Dr. Alt-Uchtspringe wurden 6 Knaben im Alter von 
4 bis 7 Jahren genau nach dem Jehrgange Bournevilles behandelt. Es 
waren Kinder mit schwachentwickelten Beinen und Armen Mittels einfacher 
Apparate, als Stützen, Strickleitern, Treppen, Stäben etc. liess sich nach der 
Versuchszeit von 4 Monaten schon ein merklicher Fortschritt feststellen. Genaue 
Anleitung und Beschreibung der Apparate giebt Assistance traitement et 
éducation des enfants idiots et arrières par Bourneville. Burcaux 
du Progrès médical, Paris. 

Dass neben diesen skizzierten Gebieten der pädagogischen Gymnastik das 
Spiel eine weitausgedehnte Verwendung finden muss, bedarf wohl nur der Er- 
wähnung. Möchten diese Zeilen dazu beitragen, dem Turnen, der Gymnastik 
in unseren Schulen einige Aufmerksamkeit zu schenken und möchten sie zur 
Förderung der Sache im Interesse unserer Zöglinge beitragen. „Bewegung er- 
hält das Woblsein aller Geschöpfe.“ 


Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein.*) 


Eines der wichtigsten Erziehungsmittel in unseren Anstalten ist der Handfertig- 
keitsunterricht. Dieser bat den Zweck, unsere Zöglinge an regelmässige Arbeit zu 
gewöhnen und sie in freien Stunden nützlicb zu beschäftigen. Weun wir dabei auch 
nicht in erster Linie den Erwerb verfolgen können uud dürfen, to darf derselbe doch 
nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Nun ist es aber sehr schwer, aus der Menge 
von Berufszweigen und Handarbeiten solche herauszuwählen, welche von unseren 
schwachsinnigen Kindern erlernt werden können und dabei doch nicht gänzlich wert- 
los sind. Ganz besonders schwierig ist es aber, die auf der untersten Grenze stehenden 
bildungsfähigen Zöglinge zu beschäftigen, und doch dürfen wir diese nicht tagelang 
beschäftigungslos dasitzon lassen, wodurch die letzten Kräfte des verkümmerten Geistes 
nur vollends ganz abgestumpft würden. Für die besseren Zöglinge ist die Auswahl 
schon eine leichtere, wird aber duch auch wieder durch mancherlei Umstände sehr 
erschwert. Wir glauben darum, allen Leitern von Anstalten für Schwachsinnige einen 
kleinen Dienst zu erweisen, wenn wir in folgendem eine eingehende Beschreibung 
einiger Industriezweige resp. Handarbeiten, welche seit Jahrzehnten in der Mariaborger 
Anstalt mit Erfolg betrieben wurden und auch in Idstein sich bisher gut bewährt 
baben, veröffentlichen. Wir selbst schaffen uns dadurch eine wesentliche Erleichterung, 
insofern uns soit dem Besuch der Heidelberger Konferenz hier am 20. September 1895 
sehr viele diesbezügliche Anfragen — teils auch Aufträge — zugegangen sind, die 
zu befriedigen immer viol Zeit in Anspruch nahm. 


*), In Rücksicht auf die Wichtigkeit der Arbeit und die Erziehung zu derselben 
glauven wir den Lesern unseres Blattes einen Dienst zu erweisen, wenn wir ein in der 
Idsteiner Anstalt entstandenes Schriftchen „Einige einfache Industriezweige“ bier 
zum Abdruck bringen. Die Anstalt versendet das Schriftchen gegen Einsendung von 
Mk. 0,20 in Briefmarken — Die Schriftleitung. 


ME a 


Waschseil- Strickerei. 

Hierzu braucht man: 1. einen Strickapparat, l. einen Pfriemen oder 
Stocher, 3. ein Kästchen. 

Der Strickapparat (siehe Zeichnung) hat eine 
Länge von ca. 12 cm, einen Durchmesser von 
31/ cm und ist der Länge nach durchbohrt. Die 
Rohrweite beträgt ca. 1'/, cm. In eine der beiden 
kreisförmigen Stirnflächen sind 3 ziemlich starke 
Schrauben oder Nägel eingetrieben, welche — in 
gleichseitigem Dreieck verteilt — etwa U cm vom 
Holze senkrecht vorstehen. 

Den Pfriemen zeigt die Abbildung nebenan. 

Das Kästchen, welches zur Aufnahme des 
Kordelknäuels dient, hat cubische Form und eine 
äussere Dimension von 17 cm. Der Deckel ist 
durch 2 Schrauben derartig befestigt, dass man ihn 
beliebig losschrauben kann. In seiner Mitte befindet 
sich eine runde, etwa fingerbreite Öffnung, durch 
welche der Bindfaden beim Stricken gezogen wird. 

Der Deckel des Kastens wird mittelst Schrauben- 
ziehers geöffnet und der Kordelknäuel in den Kasten 
gebracht. Zu merken ist, dass die Kordel nie von 
aussen, sondern stets von innen heraus abgewickelt 
werden muss. In der Höhlung im Innern des 
Knäuels wird sich nach kurzem Suchen und Probieren 
ein Ende bezw. der Anfang der Kordel finden 
lassen. Das gefundene Ende wird durch das Loch Ferm. 
des Kastendeckels gesteckt und von oben in den Apparct gebracht. Ein kleines 
Stück lässt man als Schwanz unten heraushängen. Bis der Anfang gemacht 
ist, wird der Apparat samt Kordelschwanz mit der linken Hand gehalten. Die 
rechte Hand wickelt, um anfangen zu können, die Kordel oben um die 3 Stifte 
(Schrauben) und zwar in der Weise, dass man an irgend einem Nagel, den wir 
mit a bezeichnen, beginnt. — Die rechte Hand fährt mit der Kordel, die sich 
schon in der Höhlung des Apparates befindet, zuerst um Nagel a aussen herum, 
ohne jedoch den Nagel ganz zu umwickeln. Von der Aussenseite des Nagels a 
wird die Kordel nach der Innenseite des Nagels b geführt: und um Nagel b 
ganz herumgewickelt. Sodann läuft die Kordel auf die Innenseite des Nagels c, 
der ebeufalls einmal umwickelt wird. Hierauf kommt die Kordel wieder zu 
Nagel a und zwar auf dessen Aussenseite.e Nun wird mit den Pfriemen, auch 
Stocher oder Stecher genannt, die untere Kordel an Nagel a (es ist diejenige, 
welche gleich beim Anfang aussen an Nagel a vorbeiführt) über den Kopf des 
Nagels heraufgehoben und über Nagel a nach innen gezogen, wodurch eine 
Schleife (Masche) entsteht. Dann wird die Kordel zu Nagel b geführt und 
zwar 80, dass sie über der schon an Nagel b befindlichen Kordel zu liegen 





113 
kommt. Die untere Kordel an Nagel b wird ebenso mit dem Stocher über den 
Kopf des Nagels gehoben, wie bei a u.s.w. 

So oft die Kordel über einen Nagel gehoben wird, muss dieselbe ziemlich 
gut angezogen werden. 

Wenn sich die unten herauskommende fertige Waschleine durch die 
Drehung verwickelt (verdreht), so muss dieselbe, ehe sie zusammengebunden 
werden kann, erst auf- resp. retourgewickelt werden. 

Ist ein Knäuel aufgebraucht, so wird ein neuer in den Kasten gebracht, 
dessen Anfang mit dem Ende des ersten durch einen festen sogenannten Weber- 
knoten verbunden wird, und die Arbeit geht weiter. Auf diese Weise können 
Seile in beliebiger Länge gestrickt werden. Ein Pfund Kordel (Preis 60 bis 
70 Pfennige) giebt ca. 12 m Waschleinen, die zu 10 Pfenuige pro Meter ver- 
kauft werden. Wir benützen hier den Bindfaden 4 Dr. 21, T. II, welchen wir 
in Paketen & 3 kg kaufen. 

Hat das Seil die gewünschte Länge, so werden die 3 Maschen abgehoben, 
das Ende durch dieselben geführt — durch die zuletzt entstandene Schlaufe 
zuletzt — und dasselbe dann fest angezogen. Ein Knoten dicht über diesem 
Abschluss giebt deinselben Halt und verhindert das Aufgehen. 


Bandweberei. 

Hierzu braucht man: 1. einen Webstubl, 2. ein Schiffchen, 3. ein 
Spulrad, 4. einen Haspel, 5. einen Zettelrahmen, 6. mindestens 20 Spulen 
oder Rollen. 

1. Der Webstuhl. 





Welbatsehl 





VE makor! Ir 


besteht aus: 

a) der Vorderwand (ca. 30 cm hoch, ca. 18 cm breit und ca. 1,5 cm 
dick), welche durch Einschnitte, ca. 5 cm vom Boden bis 2 cm vom oberen 
Rande, in 20 Längsteile geteilt ist. Jeder dieser Teile hat in der Mitte ein 
kleines Loch zum Einschieben des Garnes. 

b) dem hinteren Gestell, welches aus 2 vierkantigen Pfosten besteht; 
diese sind 2 cm dick, 3 cm breit und 20 um hoch. Zwischen diesen Pfosten 
bewegt sich eine Walze, an den beiden Enden mit 2 Scheiben versehen, von 





114 
denen jede einen Durchmesser von ca. 15 cm hat. Die eine dieser Scheiben 
(die rechte) ist mit Zacken versehen. 

c) dem Boden, der rechten, linken und hinteren Leistenwand, welche 
letztere 5—7 cm hoch und ca. 1,5 cm dick sind. 

d) einem Halter, welcher mittelst einer Schraube an der Innenseite der 
rechten Leistenwand angebracht ist. Mit diesem Halter wird die Walze mit 
den beiden Scheiben festgehalten, indem man ihn in die gezackte Scheibe ein- 
legt, so dass die Walze beim Weben nicht nachgeben kann. 

e) einem Triebel (oder Wendel), welcher an dem durch den rechten 
Pfosten gehenden Zapfen der Walze angebracht ist. 

f) eineın eisernen Haken, der an der Aussenseite der hinteren Leiste be- 
festigt ist und zum Festhalten des Webstuhls am Tisch dient. 


2. Das Schiffchen. 
Ah feher. 


MN 


Es besteht aus einem Brettchen und ist t em dick, 4 cm breit und 
18 cm lang. An den deiden Enden befindet sich je ein Ausschnitt, welcher 
2,5 cm breit und ebenso tief ist. Die Kanten müssen abgerundet und die 
beiden Flächen ganz glatt sein. 
3. und 4. Spulrad und Haspel 
sind dieselben, wie man sie bei Webern im Gebrauche findet. 
5. Der Zettelrahmen. 


Aoki aditi: 





115 


Der Zettelrahmen ist aus Latten verfertigt und hat eine Höhe von 1,12 m 
und eine Breite von 1,10 m. Die Latten sind 7 cm breit und ca. 2 cm dick. 
Der ganze Rahmen ruht auf 2 Füssen. Durch die 6 senkrecht stehenden Latten 
sind in gleichen Entfernungen 6 Eisenstängchen durchgeschoben, welche eine 
Länge von ca. 1,20 m und einen Durchmesser von ungefähr !/, cm haben. Die- 
selben dienen als Axen der Spulen (oder Rollen). 


6. Die Spulen (oder Rollen), ` 


deren einige bei der vorigen Abbildung eingezeichnet sind, haben eine Länge 
von ca. 13 cm und einen Durchmesser von ungefähr 5 cm. Die beiden Scheiben 
auf den Seiten messen 10 cm im Durchmesser. 

Das Garn wird mittelst des Spulrads und des Haspels auf die Rollen ge- 
bracht. Ist die genügende Anzahl Rollen, welche sich nach der Zahl der zum 
Zettel zu verwendenden Fäden richtet, vollgewunden, so kommen diese in den 
Zettelrahmen. Von diesem aus werden nun die Faden durch die Vorderwand 
des Webstuhls gezogen und zwar etwa 4 Stück durch die Löcher und 5 Stück 
durch die Einschnitte. Es richtet sich die Zahl der Fäden natürlich nach der 
Breite des zu webenden Bandes; man nimmt aber immer einen Spaltfaden mehr 
ala es Lochfäden sind, d. b. bei 4 Lochfäden 5 Spaltfäden, bei 5 Lochfäden 
6 Spaltfäden u. s. w. Ist dies nun geschehen, so werden die Fäden gemein- 
schaftlich auf die am Webstuhl befindliche Walze, welche vermittelst des 
Triebels gedreht wird, aufgezogen. Die Enden der Fäden werden, ehe sie die 
Vorderwand des Webstuhles ganz erreicht haben, zu einem Knoten zusammen- 
gebunden. Ist auch das Schiffehen mit dem nötigen Faden vollgewunden, so 
kann mit dem Weben begonnen werden. 


Das Weben. 


1. Das Schiffehen in die rechte Hand; 
Spaltfäden hoch; 


2. Schiffehen hinein und Spaltfäden ab; an- 
klopfen; Schiffchen links heraus; 

3. Schiffchen zurück; anklopfen; rechts 
heraus; Tau; 
4. Spaltfäden hoch; Schiffehen rechts hinein; ET T}|} 
Spaltfäden ab; anklopfen; Schiffehen links Fi}! 
heraus; 

5. Schiffchen links hinein; anklopfen; heraus; 
u. S. W. u. 3. W. 


Das Trum muss immer zwischen Daumen 
und Zeigefinger festgehalten werden, bis es ge- 
nügend angezogen ist. Die beistehende Zeich- ei 
nung zeigt die Spaltfäden das eine Mal hoch, = 
das andere Mal tief. 





116 


Die Verwendung der Bänder richtet sich ganz nach dem Garn, aus 
welchem sie gewoben sind. Hat man zu ihrer Herstellung weisses Garn be- 
nützt, dann geben sie dauerhafte Sackbänder, Henkel an Handtücher u. s. w. 
Blaues Garn giebt Bänder an Schürzen u. s. w. Auch schwarzer Faden kann 
zu Schuhnesteln verwoben werden. Schluss in nächster Nr. 


Mitteilungen. 


Worms. (Augenuntersuchung in der Hilfsschule.) Ausser dem 
der Hilfsschule beigegebenen psychiatrischen Arzte Dr. Bayerthal unterstützen uns 
erforderlichen Falls in uneigennütziger Weise noch zwei Ärzte und zwar ist dies 
Dr. Kilian, Spezialist für Ohren-, Hals- und Nasenleiden, sowie Dr. Gebb, Augen- 
arzt. Letzterer untersuchte im Laufe des Jahres unsere Kinder und es ergaben sich 
folgende Resultate: Lidrandentzündung 15,8 °;,, Pupillendifferenz 10,5 %,, Hornhaut- 
flecken 5,26 °/,, Strabismus 5,26 °/,, Bindehautentzündung 2,63 °/,. Jn liebens- 
würdiger Weise nahm er verschiedene Kinder unentgeltlich in Behandlung und erzielte, 
soweit es eben den Umständen nach möglich war, recht günstige Resultate. Weiter 
wurden unsere Schüler auf ihre Sehschärfe und Sehleistung geprüft. Es ge- 
schah das von seiten der Lehrer mit Hilfe der Tafeln von Professer Dr. Hermann 
Cohn in Breslau, welche neben leichter, sicherer Handhabung den Vorzug nicht 
allzugrosser Kostspieligkeit haben. Erläuternd sei erwähnt, dass wir es mit normaler 
Sehstärke zu thun haben, wenn das Kind die vorgehaltenen Zeichen auf eine Entfer- 
nung von 6 m deutlich erkennen kann. Die Sehleistung ist dann gleich ©, — normai. 
Bei einer Entfernung unter 6 m ist Kurzsichtigkeit vorhanden z. B. bei 3 m ist Seh- 
leistung °/,. Bei grösserer Entfernung haben wir stärkere Sehleistung. So ist z. B. 
bei 12 m eine doppelte Sehstärke vorhanden gleich '?/,. Es ergaben sich folgende 
Resultate: Bei 1 m Entfernung (!/, Sehleistung) sahen 2 Kinder, bei 2m (?/,) 1 K., 
bei 3m(?/,) 4 K., bei 4 m (%,) 2 K., bei 5m (/,) 1 K., bei 6m (%,) 4 K., bei 
7 m (7j) 2 K., bei 8m (8/6) 3 K., bei 9m (®/,) 6 K., bei 10 m (!°),) 1 K., bei 
11 m (?!/;) 4 K., bei 12 m (1?) 6 K., bei 13 m (134) 4 K Durch die Freundlich- 
keit des Dr. Gebb und durch die liebenswürdige Unterstützung der Armen -Ver- 
waltung war es möglich, den kurzsichtigen Kindern unentgeltlich entsprechende 
Brillen anzuschaffen. Büttner. 

Kristiania. (Anstalt für schwachsinnige Knaben in Lindern.) Aus dem 
vom Direktor der Anstalt, John Grue, herausgegebenen Bericht ist zu ersehen, dass 
zu Beginn des Berichtsjahres, also am 1. Juli 1900, 95 Knaben im Internat und 
1 Externer in der Anstalt waren. Bis zum 30. Juni 1901 traten 40 Zöglinge neu 
ein, so dass 136 die Schule besuchten, von denen 12 epileptisch waren. Im Laufe 
des Jahres gingen 36 Zöglinge ab; 17 davon wurden konfirmiert. Eine über die 
Anstalt hinausgehende Fürsorge geniessen die Zöglinge nicht. — Der Schul- 
unterricht dauert von 9—-1'/, Uhr vormittags. An den Nachmittagen werden die 
ZJöglinge von 3—6 Uhr in 6 Abteilungen von 3 Lehrern und 3 Lehrerinnen in 
industriellen Arbeiten unterwiesen. Es bestellen 6 Gruppen: 


I, 


1. Gruppe: Maler-, Bau- u. Tischlerarbeiten | 4. Gruppe: Bürstenbinden, 
2. „  Schuhmacherarbeiten, 5. : Tuchälechtarbeiten, 
3. u  Korbflechten, 6. h Stricken, Stopfen und Weben. 

In Gruppe 5 und 6 sind die neueingetretenen und ungeschicktesten Zöglinge 
beschäftigt. Ausserdem werden noch 2— 20 Zöglinge unter Aufsicht des Gärtners 
im Gaıten, Hof und Stall beschäftigt. — Aus dem Berichte des Austaltsarztes ist 
zu ersehen. dass 26 ärztliche Inspektionen stattfanden, bei denen der Arzt mit dem 
Direktor die Einrichtungen der Anstalt, auch das Essen, auf die hygienischen An- 
forderungen hin prüften. Im Laufe des Winters und Frübjahrs traten verschiedene, 
gut verlaufende Epidemien (Masern, Influenza, Scharlacb) auf. 1 Todesfall an 
organischem Herzfehler trat ein. Bei Untersuchung der neu Eintretenden fand man 
9 mit bedeutenderen, körperlichen Gebrechen. Besondere Aufmerksamkeit wurde den 
Zähnen der Zöglinge gewidmeil. Es erbot sich dann Zahnarzt Hans Holmsen die 
erstmalige Visitation gratis zu besorgen. Im März und April wurden sämtliche Zög- 
linge untersucht, und es ergab sich, dass von den 3600 untersuchten Zähnen 1170 
beschädigt, und von diesen wiederum 845 so defekt waren, dass sie gezogen werden 
mussten. Die übrigen 825 liessen sich plombieren. Am 20. Oktober beging die 
Anstalt das Fest ihres 25 jährigen Bestehens. 

Aus Amerika. (Die Verbreitung des Schwächsinns.) In der Augustsitzung 
1901 der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft hielt der Vor- 
sitzende der Sektion H. Amos W. Butler, einen Vortrag über die Verbreitung des 
Schwachsinns und seine Bekämpfung, der unter dem Titel „a notable factor of sociai 
degeneration“ in der Zeitschrift „Sciense“ Nr. 581 Sept. 20, 1901 (New-York, 
Macmillan & Co.) erschienen ist. B. beschränkt sich in seinen Mitteilnngen fast aus- 
schliesslich auf den Staat Indiana, für den er eine genaue Statistik aufgenommen hat. 
— Die Mehrzahl der Schwachsinnigen, führt er aus, bilden infolge ibrer lasterhaften 
Neigungen eine zerstörende Macht im Volksleben. Ausserdem sind sie fast alle für 
längere oder kürzere Zeit von der Armenpflege, sei es der privaten oder öffentlichen, 
abhängig und finden dann in Armenhäusern, Kinder in Waisenhäusern, Aufnahme, in 
denen sie ein elendes Dasein führen. In jedem einzelnen der 92 Armenhäuser des 
Staates Indiana befinden sich schwachsinnige Personen von der Höchstzahl 25 abwärts 
bis zu 2, im ganzen 970. Fast allo sind erwachsen, viele sind bilflos und bedürfen 
grösserer oder geringerer Pflege. Ohne Zucht aufgewachsen, auch der geringsten, 
ihrer Fähigkeiten angemessenen Ausbildung ermangelnd, können sie nicht nur nicht 
ihren Unterhalt erwerben, sondern bilden häufig einen Gegenstand der Sorge für ihre 
Pfleger. Dies ist besonders bei schwachsinnigen Frauen der Fall. 480 solcher Un- 
glücklichen, das ist 49,,°/, der gesamten schwachsinnigen Insassen, bevölkern die 
Armenhäuser. Eine Trennung der Geschlechter ist nur unter strengster Aufsicht durch- 
zuführen; wo diese infolge fehlender Einrichtungen nicht geübt wird, ist eine ständige 
Zunahme der Schwachsinnigen zu beobachten, was wiederum eine Erhöhung der Armen- 
lasten herbeiführt. — Von dem Bureau des Board of State Charities of Indiana ist 
seit 12 Jahren umfangreiches Material über die Schwachsinnigen gesammelt worden. 
Zum Zwecke einer statistischen Darstellung der Lebensverhältnisse dieser Klasse hat 
Butler aus den Registern 511 Familien ausgeschieden, in denen Schwachsinn ver- 


118 
breitet ist. Die Zahl der hierzu gehörigen Personen betrug 1924. 18343 dieser Personen 
und zwar 889==46,, °), Männer und 1085—53,, °/, Frauen werden in öffentlichen 
Anstalten verpflegt. 1249 —64,,°/, (532 Männer und 717 Frauen) waren schwach- 
sinnig; 54 (21 Männer 33 Frauen) waren geisteskrank; 44 (25 Männer 19 Frauen) 
waren mit anderen Gebrechen (Blindheit, Taubheit, Lähmung, Epilepsie) bebaftet; 
577 (311 Männer 268 Frauen) waren normal, oder ihre Gebrechen waren unbekannt. 
Es waren im ganzen vorhanden: 79 Epileptiker, 35 Blinde, 21 Taube, 19 Gelähmte, 
101 körperlich und geistig Gebrechliche. Von diesen sind 267 —= 13,,°/, unehelich 
geboren. Die Eltern der 1924 Personen waren in 1042 (mehr als 54 °/,) Fällen 
minderwertig und zwar in 666 Fällen die Mutter, in 151 Fällen der Vater, in 225 
Fällen (122 Männer und 108 Frauen) waren beide Eltern schwachsinnig. In 860 
Fällen —= 44,, °/, waren die Eltern entweder unbekannt oder als normal bekannt; in 
22 Fällen (= 1, °/,) waren die Eltern miteinander verwandt. Von den 717 schwach- 
sinnigen Frauen hatten 163— 22°/, zusammen 248 uneheliche Kinder (die einzelne 
Mutter 1—8 Kinder). — Der Verfasser teilt eine ganze Reihe von Beispielen mit, 
aus denen hervorgeht, welche ungeheure Summe moralischen, geistigen und körperlichen 
Elends durch die sich ausserordentlich stark vermehrende schwachsinnige Bevölkerung 
hervorgerufen wird. Unter 241 Familien mit insgesamt 970 Personen ist beispiels- 
weise bei 221 Familien in 2 Generationen, bei 16 Familien in 3, bei 3 Familien in 
4 und bei einer Familie sogar in 5 Generationen Schwachsinn nachgewiesen. — Ernstere 
Aufmerksamkeit wurde diesen Unglücklichen zuerst im Jahre 1800 zugewendet. Den 
ersten Versuch, einen Idioten zu erziehen, machte, soweit bekannt, der berühmte 
Pariser Arzt Isard, der den als „Wilden von Avegron* bekannten schwachsinnigen 
Knaben zu bilden versuchte In Amerika war es das American Asylum for the Deaf 
and Dumb in Hartford, Conn., das im Jabre 1818 zum erstenmale idiotische Kinder 
unterrichtete. Anfang der 50er Jahre (New-York 1851, Pennsylvania 1852, Ohio 
1853) wurden öffentliche Einrichtungen für schwachsinnige Kinder getroffen, und all- 
mählich erkannte ein Staat nach dem andern die Pflicht, für diese Unglücklichen durch 
Erziehung, Ausbildung und Pflege zu sorgen. — Die Lösung dieser Frage liegt nach 
B.s Ansicht in einer allgemeinen Kenntnis dieser Dinge seitens des Publikums, vor- 
beugenden Massregeln, wie gesetzlicho Ehebeschränkungen und dergleichen, Erziehung 
schwachsinniger Kinder und Überwachung schwachsinniger Frauen. 

(Aus Heft 11 der „Jugendfürsorge* 1901.) 


Litteratur. 


Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine social- hygienische 
Studie von Dr. A. Baer, Geh. Sanitäts-Rat in Berlin. Leipzig 1901. Verlag 
von Georg Thieme. 84 Seiten. Preis Mk. 2.— 

In der Tagespresse begegnen wir unter anderen Neuigkeiten nicht selten einer 
Mitteilung, dass sich hier und dort ein Kind im zarten Alter ertränkt, aufgehängt 
oder durch einen Sturz aus dem Fenster seinem Leben ein Ende gemacht habe. 
Die meisten Leser gehen wie über so viele andere Mitteilungen auch über diese gleich- 
giltig hinweg, und nur wenige empfinden das Betrübende, Tragische und Seltsame in 


119 


diesen Ereignissen. Welch ein grausiger Widerspruch liegt aber darin, dass ein 
Kind, zum freud- und unschuldsvollen Lebensgenuss bestimmt, selbstmörderisch durch 
eigene Hand aus dem leben scheidet. Der Verfasser konstatiert, dass im allgemeinen 
eine Abhängigkeit der Grösse der Kinderselbstmorde von der Gesamtfrequenz der 
Selbstmorde nicht nachgewiesen werden kann, ebensowenig ein Parallelismus beider. 
Diese Thatsache liefort nach seiner Ansicht den Beweis, dass bei dem Selbstmorde 
im kindlichen Alter nicht dieselben Ursachen und Beweggründe vorherrschen wie bei 
dem Selbstmorde der Erwachsenen, sondern dass hier noch eine eigenartige und be- 
sondere Kausalnexität vorwaltet. Es würde zu weit führen, des Nähern auf die Aus- 
führungen des Verfassers’ betreffend die Ursachen und die Prophylaxis des Kinder- 
selbstmordes einzugehen. Nach Dr. B.s Darlegungen ist der Selbstmord im kindlichen 
Alter ein Produkt unseres modernen Kulturlebens und unserer sozialen Verhältnisse. 
Degeneration und Geistesstörung auf der einen, schlechte Erziehung und Frühreife 
auf der anderen Seite erklären das häufige Vorkommen der Kinderselbstmorde und 
ihre Zunahme in neuerer Zeit. Welche Massnahmen sind zur Verminderung des 
Selbstmordes im kindlichen Alter zu ergreifen? Eine geeignete Erziehung und eine 
rationelle unterrichtliche Behandlung. Insbesondere sind die körperlichen und geistigen 
Fähigkeiten der Kinder frühzeitig zu erforschen und festzustellen und danach die 
Grundsätze für Erziehung und Unterricht einzurichten. Dazu sind auch wir in unserer 
eigenartigen Wirksamkeit berufen als ein kleines Glied in der grossen Reihe der 
sozialen Bestrebungen der Jetztzeit.. Wir empfehlen unseren Lesern das vorliegende 
Buch recht warm. 

Lehrgang der Zukunftsschule nach psychologischen Experimenten für 
Eltern, Erzieher und Lehrer dargestellt von Berthold Otto. Leipzig 1901. Ver- 
lag von H. G. Th. Scheffer. 220 Seiten. Preis Mk. 4.—. 

Von Reformbestrebungen ist zur Zeit fast die gesamte pädagogische Welt erfüllt; 
die vorliegende Schrift bildet auch einen Beitrag zu denselben. Der Verfasser hätte 
vielleicht besser gethan, an Stelle des Lehrgangs der Zukunftsschule zunächst seine 
Darlegungen über Einrichtung und Begründung derselben der Öffentlichkeit zu über- 
geben. Man müsste doch in erster Linie die Zukunftsschule kennen, um über die 
Zweckmässigkeit eines Lehrgangs für dieselbe sich ein Urteil bilden zu können, be- 
sonders wenn man die bisherigen Bestrebungen des Verfassers wenig oder gar nicht 
kennt. Trotzdem haben wir den Lehrgang mit immer grösser werdendem Interesse 
bis zu Ende verfolgt und müssen den darin ausgesprochenen Reformvorschlägen fast 
durchweg beistimmen. Namentlich haben uns die Kapitel über den Begriff des natür- 
lichen Unterrichts und über den Anschauungs- und Sprechunterricht sehr gefallen, 
sie bieten geradezu eine Fülle von anregenden Gedanken auch für den Lehrer der 
Geistesschwachen. Es liegt auf der Hand, dass wir unsere Schüler dann am besten 
fördern würden, wenn wir einen naturgemässen, auf psychologischer Grundlage basieren- 
den Unterricht erteilen möchten. Einem sclchen Unterrichte redet der Verfasser in 
überzaugender, zutreffender und durchsichtiger Darstellungsweise das Wort. Der Lehr- 
gang will im wesentlichen zeigen, wie ein Kind lediglich durch die von seiner eigenen 
Natur verlangte begriffliche Bearbeitung aller Anschauungen, die ihm sein tägliches 
Leben selbst darbietet, zur formalen Geistesbildung und zur Weltanschauung gelangt. 


120 


Die Befreiung des Kindes von der Gewaltherrschaft einer fehlgeleiteten Erziehungs- 
und Unterrichtsweise wird energisch gefordert; der Geist des Kindes soll sich zum 
Wahren, Schönen und Guten frei enthalten können bei einer naturgemässen, vernünftig 
wirkenden Fürsorge. Der Erzieher muss gewissenhafte Selbstbeobachtung der Schüler 
üben und Kenntnis des natürlichen Entwicklungs- und Bildungsganges der Kinder 
besitzen. — Die in der Schrift gegebenen Formulierungen und Termini sind vielfach 
eigenartig gewählt und klingen befremdend, allein sie bezeichnen die Suche meist 
treffeııder als die sonst üblichen. -- Wer etwas wirklich Gehaltvolles lesen will, dem 
können wir die vorliegende Arbeit, welche auf dem Gebiete der Reformbestrebungen 
sicher zu den hervorragendsten gezählt werden muss, sehr warm empfehlen, 

Rechenbuch in 4 Heften von J. Giese, Hauptlehbrer in Magdeburg und 
F. Loeper, Rektor in Barmen. Heft 4. Die Grundrechnungsarten bis 1000 
und über 1000 hinausgehend. Aufgaben aus der Bruchrechnung, Zinsrechnung 
und Arbeiterversicherung. Zu beziehen durch: Hauptlebrer Giese, Magdeburg. 
Preis 30 Pfe. 

In den bereits in Nr. 5 und 6 vorigen Jahrgang sbesprochenen drei Heften ist 
jetzt das vierte erschienen. Es bietet auf 55 Seiten ausreichenden und methodisch 
geordneten Übungsstoff für die Oberstafe der schwachsinnigen Schule. Die Aufgaben 
aus der Bruch- und Zinsrechnung, sowie die aus dem Gebiete des Kranken-, Unfall- 
Invaliditätsversicherung sind einfach gehalten, aus dem praktischen Leben gegriffen 
uud für die in das praktische Bernfsleben tretenden Schüler belehrend zusammen- 
gestellt. Auch Heft 4 sei zur Anschaffung bestens empfohlen. W. 


An unserer Hilfsschule (für schwachbegabte Kinder) ist die Stelle einer 
Lehrerin zu besetzen. Anfangagehalt 960 Mk. pro Jahr, bei definitivor Anstellung 
Grundgehalt 900, Alterszulagen I><100, Wohnungsgeld 240 Mk. und eine persönliche 
Zulage. Befähigung für den Handarbeitsunterricht ist erforderlich. Lehrerinnen, welche 
auf dem Gebiete der Heilpädagogik thätig sind, erhalten den Vorzug. Meldungen 
sind schleunigst an das Mitglied der Stadtschuldeputation, Herrm Oberpfarrer 
Bartholdy hier, einzundesen. 

Stolp i. Pom., den 16. Juni 1902. Der Magistrat. 








Inhalt. X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder. 
(Schluss). — Volksschule und Hilfsschule. (F. Frenzel.) — Die pädagogische Gymnastik 
in den Schulen für Schwachsinnige. (O. Segel.) — Einige einfache Industriezweige der 
Anstalt Idstein (Schwenk.) — Mitteilungen: Worms, Kristiania, Aus Amerika. — 
Litteratur: Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. — Lehrgang der Zukunftsschule. 
— Rechenbuch in 4 Heften. — Bekanntmachung. 








Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Nr. 8. XVIIL (Ill) Jahrg. 


Zeitschrift  * 


THENEW YORK 
fär die 


Pehandinne Sehwachsinniger und Epilept 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 









ASTOR, LENOX 
‚AND 
LDEN FOUNDATIONS. 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden - Strehlen, für Norvenkranklältch 
Residenzetrasse 27. . In Stuttgart. 
Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 


die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 


mindestens einem Bogen. Anzeigen für A und Postämter, wie auch direkt von der 
ugust 1902. 
rarische Bellagen 6 Mark. 9 einzeine Nummer 50 Pfg. 


Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Sind Zahlenbilder oder Zahlenreihen beim ersten 
Rechenunterrichte in der Hilfsschule vorzuziehen? 
Von Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfsschule in Düsseldorf. 

Heutzutage spricht man viel und mit besonderer Vorliebe von „Zahl- 
vorstellung und Zahlbegriff“; selten wird aber darüber nachgedacht, ob es denn 
in der That wirkliche Zahlvorstellungen giebt und in welchem Umfange solche 
in Betracht kommen. Als die ersten Menschen den Wert von „Mein und Dein“ 
erkennen lernten, als sie erfuhren, wie schwer es wurde, mehrere nützliche 
Dinge irgend welcher Art durch ihrer Hände Arbeit oder vermöge der Über- 
legenheit des Geistes zu erringen, da haben sie wohl zuerst auf die genauere 
Unterscheidung zwischen der Einheit und den verschiedenen Vielheiten geachtet 
sowie zur Bezeichnung dieser Unterschiede die Zahlwörter erfunden und durch 
dieselben das Mehr und Weniger ausgedrückt. Dass sich in ihrem Geiste 
anfangs jedes Mal bei Nennung einer Zahl zugleich auch eine Vorstellung von 
dem Inhalte und zwar eine solche, die stets an die betreffenden Gegenstände, 
um die es sich handelte, gebildet hat, wird niemand bezweifeln wollen. Dies 
konnte jedoch nur solange geschehen, als ihr Geist noch auf den allerersten 
Staffeln der Entwicklung stand, in einer Zeit also, in welcher er .noch nicht 
die Fertigkeit schnellen Abstrahierens sich angeeignet hatte und in welcher. die 
Erwerbsthätigkeit noch nicht mit grossen Zahlen rechnete. Verhält es sich 
etwa heute mit dieser Zahlvorstellung beim Kinde, beim werdenden Menschen 
anders? Durchaus nicht! An Gegenständen des Anschauungskreises, vor- 
nehmlich an solchen, die dem leiblichen Bedürfnisse des kleinen Erdenbürgers 
dienen oder doch sonstwie einen Reiz auf ihn ausüben, lernt dieser zunächst 


122 


neben der Einheit die „Vielheit im allgemeinen“ und dann erst in allmählicher 
Abstufung auch die einzelnen Vielheiten in ihrer Reihenfolge bis 10 kennen. 
Wenn er nach dieser Periode nun 7 Äpfel sieht, so weiss er also: „Das sind 
7 Äpfel“; aber diese Schlussfolgerung liefert noch lange keinen Beweis dafür, 
dass sich das Kind jetzt auch immer, wenn es die Zahl 7 hört, 7 Äpfel oder 
7 andere Dinge vor seinen Geist zaubert. In dem Stadium der Anschauung 
für die Zahlen von 1—10 könnte dies bedingterweise zugegeben werden, aber 
sobald der Schüler den Inhalt der Zahlen erfasst hat, stellt er sich gar nichts 
mehr darunter vor, und in grösseren Zahlräumen hat sich noch niemals jemand 
die Zahl der Einheiten vorgestellt, zumal dann nicht, wenn die Zahl ohne den 
ausdrücklichen Hinweis, sie sich vorzustellen, gegeben wurde. Wie merkwürdig 
würde es uns vorkommen, müssten wir uns bei Aufgaben wie 2736,45 : 3,50 
stets bemühen, die richtige Vorstellung von dem Inhalte dieser Zahlen zu er- 
langen. Nicht alle Zahlen haften an Gegenständen, wohl aber werden wir uns 
beim Betrachten von Dingen auch der Anzahl bewusst, indem wir sie zählen 
oder vergleichen. Es ist also die Ansicht, dass sich mit einer Anzahl von an- 
geschauten Gegenständen der sogenannute Zahlbegriff verbindet, grundverschieden 
von der Meinung, dass zugleich bei dem Hören eines Zahlwortes jemand die 
betreffende Zahlvorstellung hat. 

Um dem Kinde nun einen Begriff davon zu geben, was es mit den Zahlen 
soll, um es mit dem Vermehren und Vermindern derselben bekannt, zu machen, 
ist allerdings eine klare Veranschaulichung des Zahlinhaltes sowie der genannten 
Thätigkeiten zweifellos nötig. Dadurch erhält demnach der Schüler gewisser- 
massen einen Begriff von dem Unterschiede zweier oder mehrerer Zahlen und 
zwar auf der Basis des Hinzulegens und Wegnehmens, welche Thätigkeiten er 
sich aber später in die einfachen Begriffe „mehr und weniger“ überträgt. Diese 
Thätigkeiten sollen ihm also vor die Seele führen, um was es sich handelt und 
gleicherzeit sein Interesse für die Sache wachhalten; sie leiten den kleinen 
Rekruten jedoch keineswegs dazu an, in seinem Kopie mit den verschieden- 
artigsten Vorstellungen von Nüssen, Äpfeln, Kegeln u dgl zu hantieren. Sind 
diese Thätigkeiten ihm in Fleisch und Blut übergegangen, hat er an den vor 
ihm liegenden Gegenständen oder an graphischen Darstellungen einsehen gelernt, 
dass sie sich um ein Bestimmtes vermehren oder vermindern lassen, und dass 
man je nach der Art der Veränderung für jede ein anderes Wort gebraucht, 
kennt er ferner die Reihenfolge dieser Veränderungen und die Bezeichnungen 
dafür, also die Zahlwörter von 1—10, so erweist sich das eigentliche Rechnen 
mit unbenannten Zahlen nur als ein gedächtnismässiges Festhalten von drei 
Zahlwörtern, die sich in ihrem Zusammenhange so fest eingeprägt haben müssen, 
dass, wenn zwei davon genannt worden sind, das dritte sofort ins Gedächtnis 
tritt, gerade wie dies in der Musik beim Dreiklang der Fall ist, dessen dritten 
Ton wir unwillkürlich hören, wenn die beiden andern erklingen. Je häufiger 
diese drei Zahlwörter an das Ohr des aufmerksamen Schülers schlagen, desto 
tiefer prägen sie sich ein, desto inniger verbinden sie sich, und desto sicherer 
wird das jeweilige dritte reproduziert. 


123 

Von den Veranschaulichungsmitteln, die diesem Zwecke dienen, hat bei 
normalen wie schwachbegabten Kindern dasjenige selbstverständlich die meiste 
Berechtigung, welches die Veränderungen an den einzelnen Zahlen am nach- 
haltigsten dem Gedächtnisse einverleibt. Zur Klärung der Ansichten, ob dies 
die Reihendarstellung oder gruppierte Darstellungen, welche wir Zahlenbilder 
nennen, bei schwach veranlagten Schülern besser vermögen, sollen die folgenden 
Ausführungen zu einem bescheidenen Teile beitragen. 

Von vorneherein sei bemerkt, dass wir recht gut wissen und es auch nicht 
leugnen, dass jede folgende Zahl durch Anreihung von 1 an die vorhergehende 
entsteht, und dass, so betrachtet, das Zahlengebiet eine ins Unendliche fort- 
laufende Reihe ist. Damit hat man für uns aber noch lange nicht den Beweis 
erbracht, dass nun auch die Veranschaulichung von Zahlengrössen, besonders 
im ersten Rechenunterrichte bei geistig schwachen Individuen, immer in einer 
Reihe geschehen muss. Vielmehr scheinen uns ganz gewichtige Gründe gegen 
dieses Verfahren zu sprechen. Thatsächlich hat die Veranschaulichung in 
Gruppen keinerlei Hemmnis in sich für die Vorstellung, dass die Zahlen von 
1—x eine fortlaufende Reihe von Einheiten sind und zwar deshalb nicht, weil 
sich durch die Gruppendarstellung mindestens so sicher, aber noch um vieles 
leichter die stetig um 1 sich vermehrende Zahlenreihe entwickelt. Die Ver- 
anschaulichung durch eine Reihe entspricht an erster Stelle schon bei einer 
kleinen Summe von Einheiten nicht mehr den Gesetzen der Optik und des 
natürlichen Sehens. Viele wilde Menschenrassen können z. B. nicht über 5 
zählen, d. i. über jenen Punkt hinaus, bis zu welchem die Zahlunterschiede für 
das Auge deutlich sichtbar sind. Unser Auge sucht beim Zählen von Reihen 
gleichartiger Gegenstände, wie z. B. der Wagen eines Eisenbahnzuges, neben- 
einanderstehender Bäume, einer Frontlinie von Soldaten, einer dahinziehenden 
Prozession, einer Flucht von Fenstern, einer Schar davonfliegender Zugvögel, 
einer fortlaufenden Reihe brennender Laternen u. s. w. u. s. w. ganz von selbst 
nach Merkmalen, durch welche auf natürliche Weise diese Reihe, dem jeweiligen 
Gesichtsfeld entsprechend, in kleinere Reihen von 2, 3, 4 und 5, selten schon 
von 6 zerlegt wird. Solche Stützen für das Auge, die nicht gerade immer in 
gleichen Abständen zu sein brauchen, sind kleine Verschiedenheiten in der Form 
der Gegenstände, Ungleichheit der Entfernung, Nüancierungen in der Farbe und 
sonstige Abweichungen von der Regelmässigkeit. So weist, wie Gutzmann 
ausführt, die geschriebene oder gedruckte Sprache zwischen den einzelnen 
Wörtern Zwischenräume, die sogenannten Interverbalräume auf, und es fällt uns 
ausserordentlich leicht, vermöge dieser Interverbalräume lange Sätze und Ge- 
schichten zu lesen; unser Auge gewinnt an ihnen einen Ruhepunkt; die einzelnen 
Wörter, welche die Sätze zusammensetzen, treten deutlicher hervor — alles Er- 
leichterungen des Lesens an sich. Geschähe diese Erleichterung nicht, so würde 
es recht schwer, das Gelesene leicht zu übersehen, und der Scherz ist wohl oft 
genug gemacht worden, dass eine Anzahl von Sätzchen ohne Interverbalräume 
und ohne grosse Anfangsbuchstaben, die ja schliesslich auch Lesehilfen sind, 
gedruckt wird. Man merkt dann erst, wie eminent diese Hilfsmittel zur Er- 


124 


leichterung des Lesens dienen. Warum schreibt denn der kluge Lehrer bei der 
Schärfung durch „nn“ und „mm“ für den Anfang die beiden „n“ oder „m“ 
etwas auseinander? Doch wohl nur deshalb, um seinen Schülern den Überblick 
zu erleichtern. Dieses krampfhafte Spähen nach allerlei Hilfsmitteln beim Zäblen 
ist das sicherste Zeichen dafür, dass unser Gesichtssinn eine grössere Reihe 
durch das Auge nicht aufzufassen vermag, selbst dann nicht, wenn man lediglich 
mit den Augen die einzelnen Dinge aus ziemlicher Ferne, in der bekanntlich 
das Gesichtsfeld grösser ist, zählen wollte. Jedem von uns wird es sicherlich 
schon vorgekommen sein, dass er beim Abzählen einer solchen Reihe trotz eines 
jedesmaligen Kopfnickens und sogar ungeachtet des das Zählen gleichsam be- 
gleitenden Zeigens mit dem Finger, wie man zu sagen pflegt, darin verkommen 
ist, weil keine hinreichenden Unterschiede für die Auffassung durch das Auge 
da waren und weil auf Grund dieses Mangels an Ruhepunkten der Gesichtssinn 
und folglich auch der Zählsinn sich verwirrten. Erst dann, wenn die Möglichkeit 
vorhanden war, durch Vorbeigehen an den einzelnen Gegenständen oder durch 
Abteilen derselben in bestimmte Gruppen, das Auge zu unterstützen, konnte 
man zu einem Resultate gelangen. Nun macht aber das Vorbeigehen an 
den Gegenständen, wie das Daraufzeigen mit dem Finger oder auch ein Be- 
fühlen der Einheiten das Zählen zu einer rein mechanischen Thätigkeit, die 
auch von äusserst gering veranlagten Geschöpfen, wenn sie vermittelst eines 
nicht ganz fehlenden Gedächtnisses die Reihenfolge der Zahlwörter von 1—10 
hersagen können, noch verrichtet wird, die aber für das Rechnen durchaus 
keinen Wert hat. Wer also das Finden der dritten Zahl für den Anfang einzig 
und allein durch Bilden der Reihe, also durch Weiterzählen nach oben oder 
unten hin, bewerkstelligen will, der ist, gelinde ausgedrückt, auf einem sehr 
schwer zu befahrenden Wege. Warum denn? Für den richtigen Aufbau einer 
Reihe sind z. B. bei der Aufgabe 7 — 2 folgende Operationen der Veran- 
schaulichung nötig. 7 Stäbchen, 7 Kugeln, 7 Punkte u. a. werden von 1 an- 
gefangen, indem man sie nebeneinander stellt, abgezählt.e. Darauf werden die 
zwei, wiederum von 1 angefangen, abgezählt und in die Reihe gesetzt; zum 
Schlusse findet dann die Abzählung von 1—9 statt. Ist damit in der Auf- 
fassung und Schnelligkeit für das Rechnen etwas gewonnen? Nein, denn das Ab- 
zählen geschieht so mechanisch, dass nur im günstigsten Falle hier und da ein 
Kind sich die Zahlwörter 7, 2, 9 merkt und in seinem Geiste festhält. Dazu 
hätte es aber dieser Manipulation nicht einmal bedurft; dasselbe würde es auch 
thun, wenn ihm diese Zahlwörter in obiger Reihenfolge mehrere Male bloss vor- 
gesprochen worden wären. So angeleitete Schüler greifen darum auch bei jeder 
sich darbietenden Gelegenheit verstohlen zu den Fingern, suchen bei gleich- 
zeitigem Befühlen von 1 bis zum ersten gegebenen Zahlwort daran die Reihe 
herzustellen, zählen in gleicher Weise die zweite ab und zuletzt die ganze Reihe 
von l an. Der Inhalt der drei Zahlen sowie auch der Begriff der sich auf- 
bauenden Reihe bleibt ihnen dabei in der That völlig fremd und zwar so lange, 
bis ihrem Gedächtnis endlich nach tausendfältiger Übung vom Klangzentrum 
her, vielleicht nebenbei auch durch den Tastsinn diese drei Zahlwörter sich 


einverleiben. Der Gesichtssinn spielt dabei eine sehr untergeordnete Rolle, und 
da versteigen sich noch Methodiker zu der Behauptung, die Finger seien das 
natürlichste aller Veranschaulichungsmittel. Wie wenig also bei der Reihen- 
darstellung für das Operieren herauskommt, liegt nach dem Gesagten klar auf 
der Hand. Dass aber auch die Reihendarstellung, wenn sie über 5 hinausgeht, 
selbst für die noch wichtigere Anschauung schwierig, fast zu schwer ist, weiss 
jeder von uns aus Erfahrung, denn zu dieser Überzeugung muss derjenige ge- 
langen, welcher einmal Gelegenheit hatte, bei gleichem Lehrgeschicke, bei gleicher 
Hingebung für die Sache und endlich auch bei gleich schwachveranlagtem 
Schülermaterial die ganz verschiedenen Erfolge, ja bei der Veranschaulichung 
nach der Reihenmanier schier unübersteigbare Hindernisse zu sehen. Und wenn 
dabei in der Reihendarstellung durch die verschiedene Farbe der Klötze oder 
Punkte die Sache erleichtert werden soll, so ist das eben gar nichts anderes 
als ein Bestreben, die Reihe zu gruppieren. Würden die Anhänger der Zahlen- 
reihe nur noch den kleinen Schritt machen und die zweite Reihe von 6—10 
nicht neben, sondern unter die erste von 1—5 setzen, so wären wir, die wir 
ihnen gerne zugeben, dass wir auch die Reihe von 1—5 anerkennen, die besten 
Freunde. Diese Gruppierung der Einheiten ist keineswegs am grünen Tisch 
entstanden, sie ist im Gegenteil hervorgegangen aus dem praktischen Leben, 
denn, um Raum zu gewinnen, um ferner einen leichtern Überblick zu haben, 
werden selten viele Gegenstände, welcher Art sie auch sein mögen, nebeneinander- 
gelegt, vielmehr verteilt man sie je nach der Zweckmässigkeit auf verschiedene 
Gruppen. Auch in Natur und Kunst kommt eine Bildung langer Reihen sehr 
selten vor; es sei nur erinnert an die vier Füsse vieler Tiere, an die Blatt- 
stellungen bei den Pflanzen, an die Personen auf einem Bilde u. s. w. Manche 
Gruppierungen sind natürlich sehr unregelmässig; dass bei diesen der Überblick 
schwieriger wird, hat der denkende Mensch schon längst erkannt. Darum 
machte er des leichteren Unterscheidens wegen auf Karten, Würfeln, Domino- 
steinen, auf Kegelbahnen u. s. w. regelmässige Gruppen und bediente sich so 
der Zahlenbilder in des Wortes eigenster Bedeutung. Und ist nicht, un auf 
den Aufbau des Zahlensystems hinzuweisen, auch die dekadische Abstufung der 
Unendlichkeit der Zahlenreihe eine Gruppierung gleichartiger Zahleninhalte, ge- 
schaffen zum Erfassen eines bestimmten Teiles der unendlichen Zahlenreihe, 
was ohne diese Gruppen thatsächlich unmöglich wäre? Diese Gruppen nun, 
mögen sie Zehner oder Hunderter heissen, stellt sich nicht der eine wie der 
andere vor, das richtet sich immer nach derjenigen Zusammensetzung, die sich 
uns in der Jugend am tiefsten eingeprägt hat. Aber in den allerwenigsten 
Fällen denken wir dabei an eine fortlanfende Reihe, wenn auch das Zählen den 
Trugschluss fördern könnte, dass, weil dieses immer weiter geht, auch die Vor- 
stellung von den Einheiten in einer Reihe geschehen müsse. Wir zählen Gegen- 
stände ab nach Zehnern, Dutzend, Ries und wie die Ordnungen alle heissen mögen. 
Weshalb geschieht es so? Doch wohl nur der bequemern Übersichtlichkeit 
halber. Und eben darum hat auch die Veranschaulichung der Zahlen von 
1—10 in Gruppen und zwar in geordneten Gruppen ihre volle Berechtigung. 


126 

Viele der Reihenmethodiker geben dies unbewusst auch zu, indem sie trotz ihrer 
Antipathie gegen das Wort „Zahlenbild“ die Zahlen von 1—10 in regelmässiger 
Gruppierung ihren Rechenfibeln einverleiben; alle Gegner der Zahlenbilder 
werden deren Lobredner, sobald der Zahlenkreis bis 10 durchgenommen ist, weil 
sie dann alle trotz der Reihe zur russischen Rechenmaschine greifen, welche das 
Prinzip der Reihenbildung durchbricht und Gruppen d. i. Zahlenbilder darstellt. 
„Wenn das Kind daran 5 volle Stäbe Zehner sieht, dann braucht es die Einheiten 
nicht mehr zu zählen“, so sagt man und spricht dadurch dasselbe aus, was wir 
mit unsern Zahlenbildern bezwecken. Wenn das aber erlaubt ist, warum soll 
denn nicht auch die Reihe von 1—10 nochmals in der Weise zerlegt werden, 
dass man zwei kleinere Reihen von je 5 untereinanderstellt und dadurch eine 
weitere Beihilfe dem schwachen Geiste leistet zur Erlangung der Kenntnis eines 
Zahlinhaltes? Am meisten kommt es auf eine klare Unterstützung des Ge- 
dächtnisses durch die Veranschaulichung der Zahlen von 1—10 an, denn die 
andern Zahlen werden in Anlehnung an diese Veranschaulichung bald erfasst. 
Wenn aber der Schüler auf Grund der Veranschaulichung durch die Zahlen- 
bilder den Inhalt der einzelnen Zahlen bis 10 auf den ersten Blick erkennt, so 
ist dies doch mindestens besser, als wenn er sie jedesmal wie dies bei einer 
Reihe nötig ist, zählen müsste. 

Dazu gesellt sich noch der Umstand, dass wir uns sämtliche Operationen 
des Zerlegens, der Addition und Subtraktion, der Multiplikation und Division 
doch wohl viel eher in Gruppierungen von Zahlen als in nebeneinandergesetzten 
oder unterbrochenen Reihen vorstellen, falls wir uns einmal bestimmt vor- 
nehmen, sie uns vorzustellen. Dies hat wieder seinen Grund darin, dass man 
im geschäftlichen Leben, wo diese Operationen oft praktisch ausgeführt werden, 
wie z. B. bei Teilungen, die Anzahl der einzelnen Teile räumlich, in Gruppen 
getrennt, auseinanderlegt. Oder wird da eine zu zählende Gruppe erst in Reihen 
gelegt, bevor man ihre Einheiten addiert oder von der ganzen Gruppe solche 
abzählt ? 

Je einfacher nun diese Gruppierungen der Zahlen von 1—10 zusammen- 
gestellt sind, je gesetzmässiger sich die eine Gruppe aus der anderu entwickelt, 
je bestimmter in der Form also diese Gruppierungen sich dem Auge darstellen, 
desto fester prägen sie sich zunächst als Ganzes, dann aber auch als verschiedene 
kleine Gruppen und endlich auch in allen ihren Einheiten dem Gedächtnisse 
ein, Ohne jedoch der Vorstellung von einer fortlaufenden Reihe der Einheiten 
auch nur im geringsten Abbruch zu thun, weil nämlich diese Vorstellung beim 
Kinde und erst recht beim schwachbegabten gar nicht aufkommt. Wir sind 
der Meinung, dass die Vorstellung von der sich allmählich aufbauenden Reihe 
von Zahlengrössen bis in die Unendlichkeit hinein nur demjenigen klar ins 
Bewusstsein tritt, der über den Aufbau des Zahlensystems zu wissenschaftlichen 
oder unterrichtlichen Zwecken nachdenkt, niemals aber dem, der bloss zu rechnen 
hat, am allerwenigsten darum unsern geistig schwachen Schülern. Es ist deshalb 
auch eine grundverkehrte Ansicht, die einförmige Reihe, welche gar keine Ab- 
wechselung bietet und folglich leicht das Auge ermüdet, müsse als Ver- 


127 


anschaulichungsmittel gerade bei Schwachbegabten angewendet werden. Da 
nehmen die Vertreter der Zahlenbildertheorie denn doch für ihre Methode den 
Vorzug in Anspruch, dass sie ausser dem Gehörsinn durch Beseitigung dieser 
Einförmigkeit auch den Gesichtssinn zu einer angestrengten, aber erfolgreichen 
Thätigkeit zwingt, dem Gedächtnis in die Hände arbeitet und zugleich den 
Formensinn anregt, welcher rückwirkend den Gesichtssinn unterstützt. Weil 
der Formensinn in Verbindung mit dem Gesichts- und Tastsinn in mancher 
Beziehung für den Menschen von grosser Wichtigkeit ist, indem er in seinem 
Geiste Bilder hervorruft, die dieser bei der nötigen Ausbildung jederzeit zu 
reproduzieren vermag, so muss er ohne Zweifel auch dem ersten Rechenunter- 
richte schwachbefähigter Kinder insbesondere einen guten Dienst erweisen durch 
Einprägung von Zahlenbildern, die dem Zählsinn bei seiner Arbeit helfen und 
dadurch Jen sogenannten Begriff einer Zahl von 1—10 auf zweifache Weise 
festlegen. Diesen Schluss rechtfertigt in jeder Beziehung unsere eigene Er- 
fahrung sowohl bei normal veranlagten als auch bei schwachbegabten Schülern. 
Besonders zwei Fälle aus unserer Hilfsschule sind es, welche zum Beweise 
obiger Behauptung hier angeführt zu werden verdienen. 

Der Kuabe P. M. konnte in seinem 12. Lebensjahre weder bis 10 zählen 
noch in diesem Zahlenraume rechnen. Als derselbe uns vorgestellt wurde, 
konnten wir nach genauer Beobachtung folgendes feststellen. Der Knabe, welcher 
durch den Biss eines Hundes plötzlich erschreckt worden war, hatte seit jenem 
Augenblicke eine eigenartige Agilität seines Geistes behalten, die es ihm nicht 
gestattete, eine kleine Weile seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu 
richten. Bei Betrachtung von Dingen, die ihm gerade zu besonderm Zwecke 
vor das Auge gebracht wurden, liess sich diese Flüchtigkeit des Geistes an dem 
unstäten Hin- und Herschweifen seines Auges erkennen. Dasselbe zeigte sich 
selbstverständlich auch bei ihm, wenn man ihm Gegenstände zum Zählen vor- 
legte. Wurden diese Gegenstände einzeln nach einander vorgeführt, oder durfte 
er die nebeneinanderliegenden Gegenstände einzeln mit dem Finger berühren, 
so konnte er wohl mechanisch bis 10 zählen, aber sobald eine Reihe von Gegen- 
ständen oder Punkten an seinen Geist herantrat, irrte das Auge vorwärts und 
rückwärts, ohne die Zahl der Dinge — und wenn es selbst bloss 5 waren — 
zu erkennen. Nachdem es endlich den Bemühungen des Lehrers gelungen war, 
das Auge des Schülers auf einen Punkt zu dirigieren, glaubte der erstere auch 
die Schwierigkeiten für das Erfassen einer Zahlreihe gehoben zu haben und 
ging deshalb aufs neue rüstig an sein schwieriges Werk. Sobald jedoch mehr 
Gegenstände oder Punkte als 2 in einer Reihe sich befanden, stellte sich das 
alte Übel wieder ein, und nur wenn der Schüler bei jedem folgenden Punkte 
den Kopf etwas nach rechts bewegte, brachte er es mit grosser Mühe fertig, 
eine Reihe zu zählen. Aber von Vorstellen und Behalten war noch keine Spur 
vorhanden. Darum griff der Lehrer zum Zahlenbild und siehe, das Auge blieb 
auf jedem ihm vorgelegten Zahlenbild von 1—4 ruhig haften. Sofort lernte 
der Schüler die 3 von 2 und 1 sowie die 4 von 1, 2 und 3 unterscheiden, 
wenn auch zunächst nur durch den Totaleiudruck, durcli die Form. Selbst die 


128 


Aufgaben des Zerlegens, Addierens und Subtrahierens prägten sich ihm für den 
Anfang nur als Veränderungen der Form ein, die den jeweiligen Namen der 
betreffenden Zahlen trugen. Auf diese Weise lernte er die Zahlen als Bilder 
unterscheiden, die im Bilde enthaltenen Einheiten zählen und mit ihnen operieren ; 
aber niemals hat er es zum Auffassen einer dargestellten grösseren Reihe von 
Einheiten gebracht. 

Ein zweiter von uns beobachteter Fall, bei welchem die Form des Zahlen- 
bildes eine Hauptrolle spielt, möge das Gesagte auch noch begründen. Der 
Knabe H. v. St. hatte in früher Jugend an tuberkulöser Entzündung der beiden 
Mittelfinger seiner rechten Hand gelitten. Nach einer daran vorgenommenen 
Operation trat bei demselben eine Lähmung der rechten Extremitäten und zugleich 
eine Schwächung des bis dahin gut veranlagten Geistes ein. Erst in seinem 
achten Lebensjahre war das Kind körperlich wieder soweit erstarkt, dass mit 
dem Unterrichte begonnen werden konnte. Da die Eltern jedoch einsahen, dass 
der Schulunterricht wenigstens in der ersten Zeit ihrem Sohne keinen Vorteil 
bringen werde, liessen sie ihm von einem Lehrer Privatunterricht geben. Dieser 
gab sich mit dem Kinde die grösste Mühe, konnte es aber nicht fertigbringen, 
dem Schüler die Zahl 3 einzuprägen, weshalb er nach unzähligen Versuchen 
den Unterricht einstellte, weil er sich sagte, dass er es mit einem abnormen 
Geisteszustande zu thun habe. Nun gab sich der bekümmerte Vater selbst 
daran, seinen Sohn zum Erfassen der 3 zu führen. Jedoch vergebens! Inzwischen 
verlegten die Eltern ihren Wohnsitz und baten mich, einmal zu versuchen, ob 
das innen schier unmöglich Scheinende vielleicht doch noch bei ihrem Schmerzens- 
kinde erreicht werden könne. Die angestellte eiigehende Prüfung seines Geistes- 
zustandes ergab inbezug auf Sinnesthätigkeiten, Unterscheidungsvermögen für 
Farben, Formen, Eigenschaften u. s. w. gar nichts Abnormes. Betreffs seines 
Vorstellungsvermögens konnte allerdings sehr bald festgestellt werden, dass er 
an Zwangsvorstellungen litt; er sprach dieselben, wenn sie sich ihm aufdrängten, 
immer offen aus. Merkwürdiger aber als diese psychopathische Minderwertigkeit 
war die, dass ihm jede Zahlvorstellung fehlte. Die Einheit vermochte er wohl 
von der Vielheit, die er mit „zwei“ bezeichnete, zu unterscheiden. Zuweilen 
nannte er sie auch „vier, acht“, einerlei wie viel Einheiten vor ihm lagen. Es 
geschah dies jedoch nur, wenn ich ihm auf seine Antwort „zwei“ bedeutete, 
dass das nicht richtig sei. Auch wollte es mir beim besten Willen nicht ge- 
lingen, ihn zur Erkenntnis der 3 zu bringen, obgleich hundertfache Ver- 
anschaulichungen sowie die Inanspruchnahme von Gesicht, Gehör und Gefühl 
zu diesem Zwecke wohl den Weg zu seinem Geiste nach unserer Ansicht hätte 
finden müssen. Nun verfiel ich auf die sinnreiche Idee des Bopparder Seminar- 
lebrers Schüller, die charakteristische Form der 2 aus 1 und der 3 aus 2 
entstehen zu lassen. Es wurden zwei Punkte untereinandergezeichnet und durch 
einen senkrechten Strich miteinander verbunden. Dann liess ich ihn sagen: 
1 Punkt oben am Strich, 1 Punkt unten am Strich sind 2 Punkte. Nach 
zweimaliger Wiederholung hatte sich der Begriff „2 festgesetzt, und der Knabe 
freute sich, mir 2 Griffel, 2 Streichhölzer u. s. w. richtig geben zu können. Als nun 


129 


der dritte Punkt oben rechts daneben gesetzt und mit dem ersten durch einen 
wagerechten Strich verbunden worden war, gab ich ihm für die entstandene 
Figur den Namen „Haken“. Aus mehreren Zahlenbildern lernte er nun zunächst 
den Haken herausnehmen, und da dies fast sogleich fehlerlos gelang, so ver- 
tauschte ich das Wort „Haken“ mit dem Worte „Drei“ und liess ihn jetzt ab- 
wechselnd 1, 2, 3 heraussuchen. Nach erlangter Sicherheit versuchte ich, ob 
er das Bild der „Drei“ auch ohne die Striche, welche den Haken bildeten, von 
den andern Zahlenbildern unterscheiden könne. Auch dieses brachte er zu 
meiner grossen Freude bald fertig. Damit war es mir zur Gewissheit geworden, 
dass durch den Formensinn der Zählsinn des Knaben Anregung und thatkräftige 
Unterstützung erhalten hatte. Dass ich mich in meiner Ansicht nicht täuschte, 
bezeugte mir die von dieser Zeit an fast normale Entwickelung des Schülers 
im Rechnen. — Diese zwei Fälle, von allen andern ganz abgesehen, waren, weil 
Erfahrung doch die beste Lehrmeisterin bleibt, für mich der mächtige Antrieb 
zu der Thatsache, dass in unserer Hilfsschule die Zablenbilder eine grosse Rolle 
spielen dürfen und sie auch spielen werden aus dem einfachen Grunde, weil 
zwei Untersinne des Auges — Zähl- und Formensinn — sich gegenseitig helfen 
und ergänzen und daher entschieden mehr leisten, als wenn der Zählsinn allein 
herangezogen würde, wie dies bei der Reihendarstellung nicht anders möglich 
ist. Dieser Erkenntnis wird sich niemand verschliessen können, und selbst 
unsere Gegner werden zugeben müssen, dass dieses Moment, welches nach unserer 
Meinung so sehr für die Zahlenbildertheorie spricht, keineswegs gering an- 
zuschlagen ist. Auch der häufig gemachte Einwand, dass in der Anwendung 
zweireihiger Zahlenbilder, welchen wir das Wort reden, Aufgaben vorkommen, 
bei welchen uns die so viel gerühmte Form schnöde im Stiche lasse, hält vor 
der sachlichen Entgegnung keinen Stand. Es wird aber auch keinem Lehrer 
schwachbegabter Zöglinge einfallen, einzig und allein sich auf die Form 
der Zahlenbilder zu verlassen; er wird dieselbe vielmehr nach der besondern 
Anlage jedes Zöglings mehr oder weniger in den Vordergrund treten lassen. 
Bei manchen prägt sich die Form dem Geiste ohne Zuthun des Lehrers Bhz 
unbewusst ein, bei andern hingegen wird der Lehrer wiederholt auf dieselbe 
hinweisen müssen. Was nun die Aufgaben betrifft, in denen das Zahlenbild 
oder die Form sich nicht so den Augen der Kinder präsentiert, wie sie es zu 
Anfang haben kennen gelernt, so ist die Sache gar nicht so schlimm, als es 
den Anschein hat. Es kommen dabei nur Operationen mit der 3* in Betracht, 
wie dies eine Veranschaulichung der umstehenden Aufgaben von 1—10 auf den 
ersten Blick darthut.*) | 

Die schwierigen Fälle sind hiernach das Addieren ungerader Zahlen zu 
ungeraden und das Subtrahieren ungerader Zahlen von geraden. Von diesen 
können aber gleich mehrere als nicht dazu gehörig ausgeschieden werden. So 
lässt sich das Zerlegen einer Zahl in 1 und das übrige ohne besondere Schwierig- 
keiten in normaler Weise veranschaulichen. Auch das Zerlegen in 5 und das 


*) Siehe auch „Die Zahlenbilder‘. Methodische Bemerkungen zum ersten Rechenunter- 
-ichte von Hermann Horrix. Verlag von Baedeker, Essen. 


N 





andere geht leicht von statten bei 6 und 10; bei 10 deshalb, weil die 
Gleichheit der Summanden dem Kinde das Behalten der Aufgaben 5 +5 = 10, 
10 — 5 = 5 erleichtert. Dasselbe gilt von den Aufgaben 3 + 3 = 6, 
6 — 3 = 3. Somit bleiben als die schwierigsten Fälle, wo eben die Form 
in Frage kommt, was ja noch lange nicht immer der Fall ist, nur das Zerlegen 
der 8 in 5 und 3 sowie in 3 und 5, ferner das Zerlegen der 10 in 7 und 3 
sowie in 3 und 7. Da jedoch 8 = 3 + 5 in derselben Weise veranschaulicht 
werden darf wie 8 =— 5 + 3 und 10 = 3 + 7 ebenso wie 10 = 7 + 3, 
so leuchtet sofort ein, dass nur das Zahlenbild 3 zuweilen auch in umgekehrter 
Form gehandhabt werden muss. Inwiefern dies nun ein grosses Hindernis für 
die von uns betonte Auffassung der Form ist, überlassen wir der geneigten 
Beurteilung. Die Praxis hat uns vom Gegenteil überzeugt und bewiesen, dass 
bei einiger Übung die umgekehrte Form des Hakens, welchen die 3 bildet, sehr 
leicht von den Schülern aufgefasst wird, schon deshalb, weil wir selbstverständlich 
unsere Schüler auch zählen lehren. Die Hantierung mit diesem Zahlenbild 3 
bringt sie schon nach einigen Versuchen dahin, es umgekehrt, wo es nötig ist, 
anzusetzen; sie haben vorher hinlänglich Zeit und Gelegenheit, sich dasselbe 
in der eigentlichen Form genau zu besehen. Was schadet es aber auch, wenn 
ihnen hierbei wirklich ein kleines Hemmnis entstehen sollte; in Anbetracht der 
grossen Erleichterungen, welche ihnen die Zahlenbilder in allen andern Aufgaben 
gegenüber der Reihendarstellung gewähren, kann dies von gar keiner Wichtigkeit 
sein. Die Vorzüge der erstern lauten, kurz zusammengefasst, also: 

l. Die Zahlenbilder tragen den Gesetzen des Sehens und Anschauens 
Rechnung; sie können mit einem Blicke überschaut werden und lassen daher 
leicht die Vielheit erkennen, ohne dass man genötigt ist, jedesmal alle Ein- 
heiten mechanisch abzuzählen. 


131 

2. Sie vermitteln jedoch auch eine klare Vorstellung von den Einheiten jeder Zahl. 

3. Sie haben eine bestimmte Form, die sich dem Gedächtnisse leicht und 
sicher einprägt. 

4. Ein dem Gedächtnisse etwa entschwundenes Zahlenbild lässt sich ohne 
grosse Schwierigkeit wieder in dasselbe zurückrufen im Anschluss an ein be- 
kanntes, weil die Art und Weise der Darstellung sich stets gleich bleibt. 

5. Die normalen zweireihigen Zahlenbilder veranschaulichen nicht bloss 
jede Zahl, sondern auch jede Aufgabe des Zahlenkreises von 1—20 und vor- 
nehmlich auch die Aufgaben mit Überschreitung des ersten Zehners recht 
deutlich. Selbst in der Veranschaulichung der Aufgaben von 20—100 leisten 
sie vortreffliche Dienste. 

6. Durch die Anwendung der Zahlenbilder wird Zeit und Mühe gespart. 

7. Sie lassen sich von Lehrer und Schüler bequem herstellen. 

8. Deshalb sind sie besonders für die erste Schulzeit eine recht passende 
schriftliche Beschäftigung für unsere schwachbegabten Schüler. 

9. Die an der Wand vor den Augen der Schüler aufgebängten Zahlenbilder 
ermöglichen eine stete und darum tief gehende Anschauung. 

10. Nach der Durcharbeitung des ersten Zahlenkreises dienen sie unsern 
Schwächsten zur Selbsthilfe, wenn der schwache Geist der Stütze bedarf. 

11. Sie erleichtern — und das ist die Hauptsache — dem Lehrer und 
den Schülern die schwierige Behandlung des Zahlenkreises von 1—20. 

Das mag genügen zur Empfehlung der Zahlenbilder und zugleich zur Ver- 
teidigung eines Veranschaulichungsmittels für den ersten Rechenunterricht 
unserer schwachbegabten Zöglinge, von dem wir auf Grund langjähriger Er- 
fahrung in der Praxis der Hilfsschule nach reiflicher Überlegung behaupten, 
dass es, richtig angewandt, zu einem geistanregenden, geistbelebenden 
und geistunterstützenden Hilfsmittel wird. Möge daher ein jeder, der bis 
jetzt den Zahlenbildern feindlich gegenübergestanden hat, das Widerstreben gegen 
dieselben beiseite setzen und sich ihrer probeweise einmal beim ersten Rechen- 
unterrichte seiner schwachbegabten Schüler bedienen und dieselben erst dann, 
wenn sie die Feuerprobe bei ihm nicht bestehen, wieder in die Rumpelkammer 
werfen. Vielleicht erwerben sie sich doch, wenn ihre Vorteile und Mängel gegen 
die Reihenmethode sine ira et studio abgewägt werden, neue Freunde in unsern 
Hilfsschulen, was im Interesse von Lehrer und Schüler, deren schwere Arbeit 
— es sei noch einmal gesagt — sie unseres Erachtens ungemein fördern, nur 
zu wünschen wäre. 


Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. 
(Fortsetzung.) 
Tuchend -Schuhmacherei. 
Hierzu ist an Handwerkszeug und Material folgendes nötig: 
1. Partie Schuhleisten in aufsteigender Grösse von 0—18, von denen 
Nr. 13—18 noch mit abnehmbaren Aufsätzen zur Verfertigung von Stiefeln 
versehen sein sollten. ! 





Macher 12 mul. Sache 


2. Ein Häkchen zum Flechten (siehe Zeichnung). Die Länge beträgt 
20 cm; obere Breite ohne Bögchen 3 mm, mit dem Bögchen 6 mm; untere 
Breite 7 mm; Dicke bei dem oberen Ende 1 mm, beim unteren 2 mm; innere 
Weite des Bögchens 3 mm, innere Höhe desselben 2 mm. Die Ränder dürfen 
nicht zu scharfkantig aber auch nicht zu sehr abgerundet sein, dies gilt be- 
sonders für die Ränder des Bögchens. Die Rundung am obern Ende des Bög- 
chens muss ein wenig scharf, jedoch nicht schneidig sein. 

3. Ein Arbeitskasten — ca. 40 cm lang, 24 cm breit und 20 cm hoch —, 
welcher die noch übrigen nötigen Handwerkszeuge (Hammer, Beisszange, Nägel, 
Schere, Nadel, Faden) enthält. 

4. Ein Schraubenzieher oder ein kleines Stemmeisen mit hölzernem 
Handgriff zum Abheben des oberen Teils des Leistes (Spickels), nachdem der 
Schub fertig ist. 

Über das Zurichten der Tuchenden ist folgendes zu bemerken: 

Zum Schuhmachen werden nur Militärtuchenden verwendet; dieselben 
müssen zunächst gerissen und auf Knäuel gewickelt werden. Je nach seiner 
Breite und Stoffart wird das einzelne Stück der Länge nach in 2—4 Bänder 
gerissen. Die Breite des einzelnen Bandes richtet sich nach der Nummer des 
Schuhes, zu welchem man es zu verarbeiten beabsichtigt. Für die Nummern 
0—12 genügt eine Breite von 4—10 mm, für die Nummern 13—18 ist eine 
solche von 10—15 mm nötig. Beim Wickeln ist darauf zu achten, dass man 
nur Bänder von der gleichen Farbe und der gleichen Webart auf einen Knäuel 
windet, und dass man ferner von derselben Bandsorte immer eine gerade Anzahl 
von gleichgrossen Knäueln erhält. Die Knäuel werden paarweise zusammen 
gebunden. Zu 1 Paar Schuhe braucht man 2 Paar Knäuel, wovon 2 Stück je 
dieselbe Farbe haben müssen; also etwa 2 Knäuel schwarz und 2 Knäuel grau. 
Zu einem Schuh nimmt man 1 schwarzen Knäuel zum Zettel und den grauen 
zum Eintrag. 

Fertigung eines Schuhes. 

Der Anfang geschieht am Leisten hinten und zwar oben rechts, woselbst 
das Ende (Zettel) so angenagelt werden, dass noch ein etwa fingerlanges Stück 
oben übrig bleibt. 


ul 
À 7a 
` 


CRE Ie — i 
w~ o o mm W- Ey, 
H Z = e 5 = EN 
PAR k j 2 


g Ue 
f 


" N r 


K 
ar Br 





138 


Die Enden, welche ziemlich straff anzuspannen sind, laufen alsdann abwärts, 
am untern Nagel bei B innen vorbei, der Sohle entlang, über die Leistenspitze 
(bei C) und gehen dann auf dem Rücken des Leistes nach D, um den 1. Nagel 
der betreffenden Seite. Beim Umkehren an den 4 Nägeln hat man sich zu 
merken, dass der Endstreifen sowohl beim Aufwärts- wie beim Abwärtsgehen 
gleiche Lage hat, und zwar haben die Streifen vorn am Leist bei D Neigung 
nach links, während sich diejenigen auf der hinteren Seite nach rechts neigen. 

Sind die Enden um den letzten 4. Nagel (bei A) gezogen, so geht der 
Streifen nicht mehr auf der Sohle zurück, sondern wendet sich an der Schuh- 
spitze (C) ausserhalb des dort sich befindlichen Nagels nach rechts und flicht 
sich unter dem 2., 4. und 6. Längsstreifen durch. Nun läuft der 
Streifen nach hinten, wird durch die dort abwärtslaufenden Enden dicht unter- 
halb der 4 Nägel bei A durchgeflochten und zwar so, dass man beim Flechten 
zum erstenmal unten vorgeht, damit die abwärtslaufenden Streifen ihre natürliche 
Lage beibehalten. Von hier aus geht es links vor, an der Schuhspitze wieder 
durch (diesmal unter dem 1., 3., 5. und 7. Streifen), dann nach hinten, 
dort wieder durch, links vor u. s. w. bis der Platz zwischen den 4 Nägeln an der 
Spitze voll ist. 

Ist der Zettel soweit gemacht, dann beginnt man mit dem sogenannten 
Eintrag. Dieser fängt auf der rechten Seite in der Mitte der Sohle unten an, 
woselbst die Tuchenden mittelst eines Nagels befestigt werden. Auch hier muss 
ein kleines Stück, etwa von der Länge eines kleinen Fingers, übrig gelassen 
werden. Der Eintrag läuft dann auf der rechten Kante zwischen B und C 
nach vorn, innerhalb des an der Spitze (unten) stehenden Nagels vorbei, von 
hier aufwärts und am oberen Nagel, der rechts an der Spitze steht, aussen vor- 
bei, dann nach links, hier abwärts unten herum (immer ausserhalb der Nägel) 
rechts aufwärts u. s. w. 

Ist man mit dem Eintrag soweit fertig, dass an den sogenannten Schlitz 
(am Oberfuss) gedacht werden muss, so sieht man nach, wie oft man etwa bis 
zu den vorn obenstehenden Nägeln mit den Enden umkehren könnte. (Bei 
Nr. 1—4 kehrt man meist zweimal um; bei 5 —12 dreimal, bei 13 und den 
folgenden Nummern 3—4 mal.) Hier aber ist beim Anfang des Schlitzes 
(also vor dem Umkehren) eines noch recht genau ins Auge fassen, von dem es 
hauptsächlich abhängt, ob das Geflecht beim Aufhören stimmt. Man darf 
nämlich nicht beliebig umkehren, sondern man hat dabei zuerst nachzusehen, 
wie sich das Geflecht, das man eben mit dem Eintrag macht, zu dem verhält, 
das hinten am Leisten durch die abwärtsgehenden und die der Länge nach rings 
um den Schuh laufenden Zettelstreifen schon gemacht ist. Kommt man mit 
dem Eintrag vorn, mit dem man den Schlitz anfangen will, auf der rechten 
Seite herauf, so sieht man sich dabei den allerersten Zettelstreifen hinten an, 
der ganz am Anfang am ersten Nagel befestigt und als erster Streifen abwärts 
geführt wurde. Bildet dieser hintere (erste) Streifen mit dem auf der rechten 
Schuhseite der Länge nach (von vorn nach hinten) laufenden Zettel genau das- 
selbe Geflecht, so darf diesmal nicht mit dem Schlitz begonnen, also auch noch 


nicht umgekehrt werden. Vielmehr muss noch einmal ringsum geflochten und 
erst dann mit dem Schlitz begonnen werden, wenn der Eintrag vorn sich anders 
(also entgegengesetzt) durch den Zettel flicht, als es hinten beim allerersten 
abwärtsgehenden Streifen der Fall ist, d.h. wenn der Eintrag sich unten durch- 
flicht, muss der hintere erste abwärtsgehende Streifen sich oben durchflechten. 


Ist der Schlitz fertig, dann kehrt man daneben, wenn man am obersten 
Zettelstreifen rechts oder links angekommen ist, wieder um und so fort, bis der 
Eintrag ganz fertig ist. Doch ist zu merken, dass immer auch wieder ein 
Stück vom Zettel gemacht werden muss, so dass beides so ziemlich mit. einander 
fertig wird. Der Zettel wird, wenn es vorn an der Spitze zu voll ist, da um- 
gekehrt, wo man nicht mehr weiter kann, so dass er sich im schon geflochtenen 
Eintrag umkehrt. Es ist jedoch soweit als möglich mit dem Zetttel vor- 
zudrisgen und müssen die Enden gut zusammen geschafft werden, da es sonst 
leicht lockere (löcherartige) Stellen giebt. Ist dann der Zettel ganz gut zu 
Ende gebracht, so flicht man ihn zum letztenmal noch von links nach rechts 
zurück zu dem Stückchen, das man beim Anfang des Eintrags übrig liess und 
näht den Zettelschluss und den Eintrag zusammen. 


Beim Umkehren des Eintrags an den beiden oberen Zettelstreifen links und 
rechts ist darauf zu achten, dass man die Enden nur ganz leicht anzieht, da 
sonst die Längsstreifen mit nach unten gezogen werden, wodurch der Schuh 
eine schlechte Form bekommt und auch nicht warm hält, da er viel zu niedrig 
ist. Um dies gänzlich zu verhüten, ınuss auch, da sich der Zettel von selbst 
schon abwärts schafft, mit dem Häkchen immer wieder dementsprechend (nach 
oben schaffend) nachgeholfen werden. (Schluss in nächster Nr.) 


Zur reichsgesetzlichen Regelung des Irrenwesens. 


In der Ersten Morgenausgabe der „Kölnischen Zeitung“ vom 15. Mai d. J. be- 
findet sich ein Leitartikei, der sich mit der „reichsgesetzlichen Regelung des Irren- 
wesens* beschäfiigt und zwar mit besonderer Bezugnahme auf die privaten Anstalten 
für Irre, Epileptische und Idioten, sowohl weltlichen als kirchlichen Charakters. Wenn 
wir auch mit der Grundtendenz dieses Artikels, wonach im Interesse einer einwand- 
freien Verpflegung der Geisteskranken eine Verstaatlichung der Privatanstalten an- 
zustreben wäre, der Hauptsache nach einverstanden sind, so musste uns doch die 
recht unfreundliche und manchmal wenig objektive Kritik befremden, welche an den 
erwähnten Anstalten — und zwar denken wir dabei in erster Linie an die kirch- 
lichen — geübt wurde, und wir glauben es dem Öffentlichen Ansehen dieser Institute 
schuldig zu sein, jener Kritik durch einige Bemerkungen entgegenzutreten. 


Dass in der staatlichen Fürsorge für Geisteskranke insofern eine Lücke besteht, 
alẹ die Zahl der öffentlichen Anstalten nicht ausreicht, um allen Irren, Epileptischen 
und Idioten die erforderliche Unterkunft zu gewähren, giebt der Schreiber jenes Artikels 
indirekt selbst zu. Damit ist die Existenzberechtigung all jener Anstulten, welche im 


. 135 





Geiste der inneren Mission und auf Grundlage privater Wuhlthätigkeit diese seit Jahr- 
zehnten lebhaft empfundene „Lücke* auszufüllen bestrebt sind, von vornherein dar- 
gethan. Solange der Staat nicht selbst in umfassender Weise die Sorge für die 
Geisteskranken in die Hand nimmt, werden sie immer unentbehrlich bleiben, und man 
sollte ihnen nur mit den Gefühlen der Dankbarkeit entgegentreten dafür, dass sie sich 
jener Verlassenen und Kranken annebmen. 

Nun haben allerdings verschiedene Umstände, so namentlich die noch heute in 
guter Erinnerung stehenden Enthüllungen aus dem Alexianerkloster Mariaberg im 
Jahr 1894, aber auch die fortwährenden nicht immer objektiven Angriffe von seiten 
der Ärzte auf die Privatanstalten dazu beigetragen, in der Bevülkerung ein gewisses 
Misstrauen gegen dieselben wachzurufen. 

Jedoch abgesehen davon, dass in solchen Fällen der Schluss von einzelnen Bei- 
spielen auf die Allgemeinheit immer als einseitig erscheint, so ist namentlich darauf 
hinzuweisen, dass durch die Bestimmungen vom 20. September 1895 und durch die- 
jenigen vom 20. März 1901 alle Privatanstalten nicht nur ganz bestimmten Vor- 
schriften, sondern auch einer regelmässigen staatlichen Kontrolle unterstellt sind, 
welche in Bezug auf die Interessen der in diesen Anstalten untergebrachten Pfleglinge 
kaum noch etwas zu wünschen übrig lassen. Manche dieser Vorschriften zeigen sogar 
eine Schärfe, die zu wiederholten Klagen seitens der Privatanstalten Anlass gaben. 
(Wir erinnern z. B. nur an die Unterrichtsanstalten für geistig zurückgebliebene Kinder, 
welche, obwohl in erster Linie pädagogische Ziele verfolgend, trotzdem mit den Irren- 
häusern in eine Linie gestellt und mit diesen gleich behandelt wurden.) Jedenfalls 
ist durch jene Bestimmungen der Mitwirksamkeit des Arztes bei der Aufnahme und 
Entlassung von Kranken in und aus diesen Anstalten so viel freier Spielraum zuge- 
sichert, dass es beispielsweise völlig unmöglich erscheint, „bei der Frage der Ent- 
lassungsfähigkeit einzelner Kranken unbewusst eigennützigo Motive mitspielen zu lassen“, 
wie es in dem erwähnten Artikel heisst. 

Auch bezüglich der Wartepersonalsfrage besitzen sowohl der leitende resp. be- 
suchende Arzt als auch die revidierende Besuchskommission auf Grund der Bestim- 
mungen so viel freies Einspruchsrecht, dass in diesem Punkte ornstliche Bedenken 
kaum noch berechtigt sind. Nicht unerwähnt möge bei dieser Gelegeuheit bleiben, 
dass ee auch nicht an solchen Beispielen fehlt, wonach ärztliche Leiter staatlicher 
Irrenkliniken bei der Revision privater Anstalten christlichen Charakters gerade über 
die Tüchtigkeit des Wartepersonals derselben sich sehr anerkennend aussprachen und 
- dies sogar im Gegensatz zu den Erfahrungen mit ibren eigenen Tflegern resp, 
Pflegerinnen. 

Wenn ferner den Privatanstalton zum Vorwurf gemacht wird, dass sie ihre 
Lieferungen „nach eigenem Belieben und nach Willkür* ohne Ausschreiben an Ge- 
schäftsleute übertragen, soll das etwa heissen, dass dadurch allerlei unebrlichen Mani- 
pulationen zu Gunsten des Vorteils Einzelner Gelegenheit geboten sei? Dann müsste 
dem entgegengehalten werden, dass die Privatansta:ten in der Regel nicht nur weit 
mehr auf Sparsamkeit angewiesen sind als die staatlichen, sondern dass auch sie 
e stets einem Kuratorium unterstehen, welchem der Leiter regelmässig Rechnung abzu- 
logen hat. Dadurch ist ja allerdings die Möglichkeit unrcoller Vorkommnisse in der 


136 


angedeuteten Richtung keiueswegs vollständig ausgeschlossen; aber sind etwa die 
Staatsanstalten vor solchen Unregelmässigkeiten im finanziellen Betriebe absolut ge- 
sichert? Auch darf wohl daran erinnert werden, dass Männern, die sich aus eigenem 
Antriebe dem Dienste der innereu Mission widmen, im allgemeinen doch ehrliche, 
selbstlose, gewissenhafte Gesinnung zugetraut werden kann. Der Verfasser jenes 
Artikels freilich — und damit kommen wir auf den bedenklichsten Satz seiner Aus- 
führungen — schreibt dem ärztlichen Gewissen eine höhere sittliche Kraft zu, 
wenn es gilt die selbstsüchtigen Gelüste der eigenen Person niederzuhalten, als allen 
andern — z. B. theologischen, pädagogischen u. s. w. — Gewissen. Dass tüchtige, 
ehrliche Gesinnung, welche sich aus freier Entschliessung dem einmal erkannten Guten 
widmet, etwas ist, das von dem akademischen resp. nicht akademischen Bildangsgrad 
des einzelnen Individuums abhängt, diesen Satz haben wir allerdings noch nirgends — 
auch in keinem ethischen Werke — gefunden. So wie wir die Menschen im all- 
gemeinen kennen, kann der tüchtigste Arzt seinen Kranken gegenüber zum gewissen- 
losen Geschäftsmann werden, während die einfachste Bausrsfrau imstande ist, an 
Leidenden völlig interessenlose Liebe zu üben. Mit anderen Worten: Hat ein Arzt 
einmal Neigung zu eigennützigen Bestrebungen, so wird ihm seine ärztliche Bildung 
an sich ebensowenig davon zurückhalten, so wenig ein selbstsüchtiger Theologe sich 
durch sein theologisches Wissen, oder ein gewinnsüchtiger Pädagoge sich durch seine 
pädagogischen Kenntnisse die genannten sittlichen Mängel korrigieren lassen wird 
vorausgesetzi, dass diese intellektuellen Fähigkeiten auf die Gemüts- und Willens-- 
spbären keiuen tieferen Einfluss gewonnen haben. Wo es gilt, in einem Berufe 
Selbstlusigkeit und Aufopferung zu üben, da entscheidet nie die theoretische oder 
praktische Bildung, sondern immer der Mann an sich. 
J. on Sch. 


> Krankheiten +} 


selbst schwerster Natur, lindert, wenn nicht heilt, Dr. Harry Wilson’s amerik. 
Nährkur durch Zufuhr richtigster Nährstoffe. Kein chem. Produkt. Für Kinder 
bestes Entwickelungsmittel. Erfolge überrasch. Zahll. Dankschr. Preis per Dose 
Mk. 1.80 Nachn. Nährmittel-Laborat. Hygieia, [62] München 19. 








ER mn mm IM H MMIiIiĖÃIiI II—I 





Inhalt. Sind Zahlenbilder oder Zahlenreihen beim ersten Rechenunterrichte in der 
Hilfsschule vorzuziehen? (H. Horrix) — Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. 
(Fortsetzung.) — Zur reichsgesetzlichen Regelung des Irrenwesens. (J. Sch.) — Anzeige. 






Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Hierzu eine Beilage von J. M. Lehmann’s Verlag in München. 





Nr. 9 u. 10. XVII. (Al) Jahrg 








NEW YORK 


Zeitschrift |. 


Behandlung sehwachsinmger und Fpileptischer 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 





Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten . 
Residenzstrasse 27. in Stuttgart. 
Erscheint jährlich in 12 Nummern von ! Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 


mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- September 1902. Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | 


einzeine Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Das 
Personalheft im Dienste der Schwachsinnigenbildung.*) 
(Ein Beitrag zur Psychologie des Schwachsinns.) 
Von Fr. Frenzel, Leiter der Hilfsschule in Stolp i. Pom. 


Es wird von verschiedenen Seiten immer mehr und zwar mit Recht betont, 
dass fortlaufende Beobachtungen unserer Zöglinge über den Zustand ihrer 
geistigen und körperlichen Beschaffenheit, über ihre Bildsamkeit und Gesundheit, 
sowie über den Fortschritt ihrer leiblichen und geistigen Entwicklung nötig 
seien. Dabei wären schriftliche Fixierungen unerlässlich. Die nötigen Auf- 
zeichnungen müssten für ein jedes Kind in einem eigens dazu angelegten Hefte, 
dem Personalhefte, nach einem bestimmten Schema nach Massgabe der vorhin 
angedeuteten Gesichtspunkte erfolgen. Für die Anlage des Personalheftes mögen 
im folgenden einige Richtlinien gegeben werden, die Ausgestaltung desselben 
kann den mannigfachen Bedürfnissen entsprechende Abänderungen erfahren. 
Die folgenden Zeilen wollen auch nur weitere Anregung in der Sache bieten 
und zu ferneren Erörterungen Veranlassung geben. 

Personalhefte, Personalbücher, Personalakten, Individualhefte, 
Individuallisten, Erziehungslisten oder Erziehungsberichte führen die 
meisten Schulen und Erziehungsanstalten für 'schwachsinnige (schwachbegabte, 
geistesschwache) Kinder und zwar auf Veranlassung der vorgesetzten Behörden. 


*) Die vorliegende Arbeit ist eine erweiterte Umarbeitung meiner am Schlusse dieser 
Ausführungen näher bezeichneten Abhandlung aus der Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 
Jahrgang 1900. 11. Heft. 


138 

Es ist mir bekannt, dass eine Königl. Preussische Regierung in einer Nachfrage 
über eine Hiltsschule für schwachbegabte Kinder speziell darauf hinwies, dass 
Aufzeichnungen über die eingeschulten Kinder erfolgen müssten und auch 
halbjährliche Erziehungsberichte zu fertigen wären. Wegen der besseren 
und bequemeren Handhabung eines Heftes insbesondere für den Lehrer habe ich 
mich für Personalhefte entschieden; lose Berichte gehen häufig verloren, ihre 
Einverleibung in die Akten erfordert Zeit und Mühe und erscheint wenig 
praktisch, der Lehrer müsste beim Gebrauche der Aufzeichnungen stets zum 
ganzen Aktenstücke greifen. Die Versuche, welche man bisher mit der Ein- 
führung und Handhabung von Personalheften im Interesse einer zweckmässigeren 
Erziehungs- und Unterrichtsweise der Schwachsinnigen an den verschiedensten 
Orten gemacht hat, befriedigen voll und ganz und bieten mithin die beste 
Gewähr ihrer Zweckmässigkeit. 

Das Titelblatt des Personalbeftes (Heftformat hochquart, 10 Blätter 
Konzeptpapier) erhält etwa nachstehende Aufschrift: 


Personalheft 
dt: 

Schüler........ bezw. Zögling der...........oeoooeoo: en er ee 

Near 

1. Seite. 

Als a 
Vor und. Zupame::-. ae 
geboren aM ann nennen ABU ect ie 
Name, Beruf oder Stand der Eltern resp. des Vormundes oder der sonstig 


Verpflichteten senioren A a 
eingeschult resp. aufgenommen am... aesir RN 


Unter dem Kopfe: 
Bemerkungen über die gemachten Beobachtungen. 
1. Das Wesen des Kindes _....... .............. 0.0 0000 00 nn nnnnnsnnnnsnnennnnnnnnnnnenennennnnn nn 
. Sein Sprachvermögen el ee en | 
3. Sein Auffassungsvermögen .....oecooeeeeee ee 


D 


4. Bein "Gedächtnis: en. E ea e ETE 
5. Etwaige sonstige Neigungen und Triebe ........... een 
6. Körperliche Entwicklung, Gebrechen bezw. Missbildungen (Läh- 

mungen, Erkrankungen der verschiedenen Organe, hereditäre Belastung etc.) 


Doade r e en E AA re ee ee ons 


7. Elterliche Auskunft (Familienverhältnisse, Krankheiten des Kindes, seine 
häusliche Beschäftigung, Führung ete.) . u | 
Zwischen den einzelnen Zeilen muss der nltige Raum für die Aufzeichnungen 


139 
übrig bleiben. Das vorstehende Schema*) berücksichtigt den geistigen und 
körperlichen Zustand des Kindes, seine Eigenarten und Fähigkeiten, 
seine Krankheiten, sein Milieu und verlangt bei genauer Ausfüllung die 
Mitwirkung von Eltern, Pädagogen und Ärzten; es dürfte somit den 
Forderungen der Gegenwart in ausıeichender Weise entsprechen. 

Da es stets einer längeren Beobachtung und eines längeren gegenseitigen 
Verkehrs bedürfen wird, um ein Kind genügend erforschen zu können, so em- 
pfieblt es sich, die Bemerkungen zu den einzelnen Punkten erst nach Verlauf 
einer längern Zeit einzutragen. Man wird dann wohl nur in den seltensten 
Fällen fehl gehen, während in einer kürzeren Beobachtungszeit Irrtümer sich 
leicht einschleichen könnten. 


3. Seite u. ff. 
Halbjährlich einzutragende Notizen. 
(Ostern, Michaelis). 

1. Das Betragen des Kindes .................eennennneennnennanennn 
2. Sein Fleiss und seine Aufmerksamkeit .......... .............e.eceon. 
3. Seine Fortschritte (in den einzelnen Unterrichtsdisziplinen) _.................... 
4. Angaben über etwuige besonders hervortretende Befähigungen, sowie über 

die körperliche Entwicklung 


Lern nr nen een ar 


Zwischen den einzelnen Zeilen ist wiederum seling Raum für die Be- 
merkungen zu lassen. Da das Heft 20 Seiten enthält, jede Eintragung aber 
nur eine Seite beansprucht, so genügt es zum mindesten für eine Zeit von 
8 Jahren. Die Notizen, in der angedeuteten Weise fixiert, geben gleichzeitig 
eine Zeugnisliste ab; es könnte deshalb die sonst gebräuchliche Zensurenliste 
in Fortfall kommen. Bei Umschulungen eines Schülers der Hilfsschule wäre 
das Personalheft nebst dem Überweisungsschreiben an die neue Schule des 
Kindes zu senden; die dortigen Lehrkräfte könnten sich auf Grund der Auf- 
zeichnungen des Personalheftes sofort über das betreffende Kind im wesentlichen 
orientieren. 

Auf allseitige beifällige Aufnahme dieser Vorschläge wird von Hause aus 
verzichtet; es wäre aber im allgemeinen Interesse sehr erwünscht, wenn man 
sich über eine bestimmte Form in betreff des Personalheftes einigen möchte, 
um eine möglichst gleichmässige Handhabung der Aufzeichnungen durch- 
zuführen. 

Was soll nun in das Personalheft bei den einzelnen Punkten eingetragen 
werden? 

Für die Beantwortung der einzelnen Punkte sind thunlichst Beispiele an- 
zugeben, mit allgemeinen, dehnbaren Ausdrücken ist wenig gedient. Kurze 
skizzenartige Aufzeichnungen über Vorgänge, Zustände, Beobachtungen, 
Wahrnehmungen etc. liefern ein deutlicheres Bild, als allgemein abgegebene 
Urteile und Bezeichnungen. 


*) Zur Vermeidung des vielen Schreibwerks sind in dem Schema nur verhältuismässig 
wenige Punkte aufgenommen. 


Er 


Für die Bezeichnung des Wesens mögen folgende Ausdrücke Verwendung 
finden: Lebhaft, erethisch-plapperhaft, ruhig, apathisch -sprechfaul, zutraulich, 
abstossend, dreist, bescheiden, zänkisch, eigensinnig, leicht gereizt, mitteilsam, 
träge etc. Einzelne kleine charakteristische Züge aus den gewonnenen Beob- 
achtungen sind hierbei anzugeben, wo es angebracht erscheint, auch die Grade 
der Geistesschwäche (Idiotie, Imbecillität, Debilität) resp. etwa vorhandene Typen 
(Microcephale, Aztekentypus etc.) näher zu benennen, um ein möglichst treues 
Individualbild des fraglichen Kindes zu entwerfen. Ich muss hierbei verzichten, 
das Eigenartige im Wesen des Schwachsinnigen, das Pathologische seines Vor- 
stellungs-, Gefühls- und Willensleben, weiter zu illustrieren, die Schilderungen 
würden über den Rahmen dieser Ausführungen hinausgehen; ausserdem existiert 
eine Menge wertvoller Schriften, die diese Materie in der weitgehendsten Weise 
erörtern. 

Bei dem Sprachvermögen ist anzugeben, ob das Kind in seiner sprach- 
lichen Entwicklung annähernd normal vorgeschritten bezw. auf welcher Stufe 
der Sprachentwicklung es stehen geblieben ist. Auch sind etwaige Ursachen 
des sprachlichen Rückstandes namhaft zu machen. 

„Der Gedankenausdruck ist bei dem Geistesschwachen, wenn nicht schon 
organische Fehler au sich die Entwicklung der Sprache aufhalten, nur daun 
nennenswert, wenn äussere Reize an ihn herangeführt und zur Empfindung ge- 
staltet werden, wenn er die Anschauung unterbrochen fortsetzen kann.“ „Sobald 
die Sprache allein auf die Gedankenbewegung angewiesen ist, wird sie unsicher, 
stockend, ungenau und arm; in vielen Fällen schwindet der sprachliche Aus- 
druck gänzlich.“ „Aus demselben Grunde gestaltet sich das schwachsinnige 
Kind, wenn es einige Geläufigkeit in der Wiedergabe von Erzählungen besitzt 
oder erlangt hat, einen Satz, der mehrere aufeinander folgende Handlungen be- 
zeichnet, in aufeinander folgende dem Sinne nach zusammenhangslose Einzel- 
handlungen um * „Es denkt in Anschauungen, Bildern und Handlungen und 
nicht in Begriffen“; ähnlich ist die Denkungsart mancher Taubstummen. 

Bei dem Sprachvermögen kommen auch die Sprachstörungen, an denen 
schwachsinnige Kinder so häufig leiden, sowie die Ursachen jener Mängel und 
etwa vorhandene Defekte und Anomalien der Sprachorgane und des Gehörs 
zur Vermerkung. Zur Konstatierung letzterer ist nötigenfalls der Arzt heran- 
zuziehen. 

Das Auffassungsvermögen wird bei schwachsinnigen Kindern kaum 
normal funktionieren; es erscheint meistens infolge mangelhafter Sinnesthätigkeit, 
physischer und psychischer Trägheit, sprachlicl.er Mängel etc. behindert. Der 
Wahrnehmungsprozess vollzieht sich bei manchen Kindern nur oberflächlich, 
oft ohne psychischen Parallelvorgang; bei andern wiederum beschränkt er sich 
unter Verwendung von speziell konkreten Vorstellungen nur auf Wieder- 
cıkızncı und Unterscheiden. Dabei gelingt ihnen die Konzentration auf einen 
Gegenstand meist selten. Beim Vorstellungsablauf sind die Urteils-Associ- 
ationen nur normal, wenn es sich um die Verknüpfung von Empfindungen mit 
einfachen konkreten Vorstellungen handelt. Urteile, welche unabhängig von 


141 


Empfindungen sind und auf der Association mehrerer Erinnerungsbilder beruhen, 
werden selten gebildet, desgleichen solche, zu deren Bildung abstrakte Begriffe 
nötig sind. Zudem zeigen alle Associationen gewöhnlich eine auffällige Ver- 
langsamung. Der Urteilsmangel tritt besonders beim Schulunterrichte in viel- 
facher Hinsicbt recht fühlbar auf. In der deutschen Grammatik bleiben 
schwachsinnige Kinder meistens in den Anfangsgründen stecken; mit der Ortho- 
graphie ist es gewöhnlich ganz schlecht bestellt. Fast stets wird ihnen das 
Rechnen schwer. Addieren lernen manche, Subtrahieren schon wenigere; Multi- 
plikation (abgesehen von dem mechanischen Auswendiglernen des Einmaleins) 
und Division werden selten oder gar nicht begriffen, höhere Rechnungsarten 
überhaupt nicht mehr. In der Geschichte werden Namen, Thatsachen uud 
Zahlen wohl in einigen Fällen aufgefasst und behalten, dann aber, da der Zu- 
sammenhang zwischen denselben sehr locker ist oder oft gänzlich fehlt, in der 
Regel in ungenaue und mangelhafte Beziehungen zu einander gebracht. Zu 
einem Verständnis historischer Thatsachen kommt es nur in vereinzelten Fällen. 
Auch bei der biblischen Geschichte zeigen sich ähnliche Mängel; mangelhafte 
Reproduktion zusammenhangsloser Einzelheiten ist sehr häufig zu beobachten. 
In Unterrichtsgebieten mit sogenanntem „Anschauungsmaterial* zeigt sich da- 
gegen des Öftern ein gewisses Mass von Wissen und auch mitunter ein hoher 
Grad von Interesse. 

Zur Beurteilung des Auffassungsvermögens ist eine genaue Kenntnis und 
längere, eingehende Beobachtung des einzelnen Zöglings nötig; nur bei ein- 
gehender Beobachtung, die sich auf das Reden, das Handeln, das Mienen- 
spiel und auf die Gesten und Gebärden des Schülers beziehen muss, wird 
man die Art und Weise der Bethätigung des Auffassungsvermögens und den 
Vorgang und Verlauf des Vorstellungsprozesses näher zu bestimmen vermögen. 
Es fällt uns dieses um so schwerer, da „die allgemeine Psychologie uns viel- 
fach noch nicht die genaue Beschreibung der seelischen Fähigkeiten und be- 
sonders noch nicht eine gründliche Analyse der natürlichen Entwick- 
lung des Kindes gegeben hat.“ 

Die Angaben beim Gedächtnisse mögen die verschiedenen Grade seiner 
Zuverlässigkeit (treu, oberflächlich, unzuverlässig), sowie seine besonderen Fähig- 
keiten (Gedächtnis für Namen, Zahlen, Memorierstoffe etc.) näher bestimmen. 

Das Gedächtnis der Schwachsinnigen erweist sich gewöhnlich in Bezug auf 
Aufnahme und Wiedergabe des Stoffes mehr oder minder mangelhaft. Die 
Aufnahme wird infolge unbeständiger und geschwächter Aufmerksamkeit schwer 
beeinträchtigt; aber dennoch ist es durch hundertfältige, sich wiederholende 
Einwirkungen möglich, ilınen einen bestimmten Kreis von Kenntnissen zu ver- 
mitteln. Die Wiedergabe lässt gewöhnlich auch vieles zu wünschen übrig, 
sie geht nur in einzelnen Fällen und bei einigen Individuen, besonders wenn 
die Reproduktion nach Reihenfolge und Rhythmus erfolgen kann, ziemlich leicht 
von statten. Staunenswert ist es, wie manche, geistig ziemlich tief stehende 
Kinder längere Gedichte und Liederstrophen hersagen bezw. hersingen, allerdings 
manchmal in so monotoner Weise, dass mau dabei lebhaft an das Geplauder 


142 


der Papageien und an das Abschnurren mechanischer Spreebmaschinen erinnert 
wird. Man ist in solchen Fällen geneigt, sich die Frage vorzulegen: „Wer, 
resp. was spricht in diesen Kindern?!“ — Ich möchte an dieser Stelle, ohne 
weitere Erörterungen anzustellen, nur noch einen eigenartigen Fall von Ge- 
dächtnis bei einem Geistesschwachen, den ich in einer Anstalt für Geistesschwache 
zu beobachten Gelegenheit fand, anführen. Der Fall betrifft einen Knaben mit an- 
geborenem, rechtsseitigem Lähmungszustand, welcher zunächst lauge Zeit mit der 
linken Hand Spiegelschrift schrieb, dann aber auch allmählich mit derselben Hand 
richtig schreiben lernte; er war nur äusserst mässig begabt, machte sogar automa- 
tische Bewegungen. Dieser Knabe besass ein sehr gutes Gedächtnis, er konnte 
z. B. die Geburtstage seiner Mitschüler (ungefähr 20 bis 30 Termine), die Geburts- 
tage der Lehrkräfte und ihrer meisten Angehörigen, sowie eine grsse Zahl der Ge- 
burtstage des Pflegepersonals richtig angeben. Auch wusste er die Nummern der 
Kleidungsstücke (von 1—80) sämtlicher Knaben zu nennen. Seine Gedächtnis- 
leistungen waren noch in vielen anderen Beziehungen hervorragend, er erregte 
besonders bei Laien die grösste Verwunderung; bisher ist mir auch nicht an- 
nähernd etwas Derartiges von Gedächtnis unter Schwachsinnigen vorgekommen. 

Bei den besonderen Trieben und Neigungen werden Notizen über etwa 
sich äussernde Stehlsucht, Verlogenheit, Unsittlichkeit, Pyromanie, Vagabundage, 
Tierquälerei, Zerstörungssucht, Necklust, Sammelwut etc. gemacht. Die dabei 
wahrgenommenen Vorgänge sind kurz zu skizzieren. 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch auf die ästhetischen Neigungen 
der Schwachsinnigen hinweisen, die, wenn sie auch unbestimmt sich äussern, 
doch eine gewisse Rolle bei ihnen spielen. Der Schwachsinnige ist im allgemeinen 
für Schönheit, Glanz und äussern Schmuck sehr eingenommen und freut sich 
dessen, was ihm prächtig erscheint. Wie eigenartig erstrahlt z. B. sein Auge 
unter dem Zauber des schön geschmückten, brennenden Weihnachtsbaumes, und 
wie freudig bewegt wird er davon! Er schmückt sich selbst gerne und ver- 
wendet dazu auch unansehnliche, ganz wertlose Dinge, wenn sie nur recht bunt 
sind und gehörig in die Augen fallen. — Auch eine lebhafte Freude am 
Rhythmus ist bei dem Schwachsinnigen festzustellen. Wenn man an die 
Schwierigkeiten denkt, die mancher Zögling selbst bei ganz einfachen Verrich- 
tungen, 2. B. bei den ersten Schreibversuchen dem Erzieher bereitet, so muss 
man sich über die geringe Mühe wundern, die es kostet eine ganze Schar 
schwachsinniger Kinder dahin zu bringen, einen gespielten Marsch durch Hände- 
klatschen genau im Takte zu begleiten. Man müsste deshalb rhythmische 
Übungen, sowie die Musik in Dienst der Schwachsinnigenerziehung_ stellen, 
wie es z. B. in Frankreich, Holland und Belgien geschieht. 

„Alle Neigungen, soweit sie nicht schädigend wirken, benutzen, hierbei 
das Interesse für irgend eine Thbätigkeit gewinnen, die Gelegenheit 
zu letzterer, wo sie sich bietet, olıne Verzug erfassen, ist eins der wichtig- 
steu Momente in der ganzen Schwachsinnigenbildung.“ 

Über Punkt 6 entscheidet der Arzt, besonders in solchen Fällen, wo ein 
Krankheitsbild vorliegt, oder wenn Zweifel bezüglich der Persönlichkeit des 


143 


Kindes obwalten. (Defekte der Sinnesorgane, der Sprachwerkzeuge, eigenartige 
psychopatliische Zustände etc.). 

Die Aufnahme der Schüler in die Hilfsschule erfolgt in der Regel unter 
Mitwirkung eines ärztlichen Sachverständigen, welcher auch die Aufzeichnungen 
zu Punkt 6 des Personalheftes zu besorgen hat. Bei dem grossen Interesse, das 
die Ärzte der Schwachsinnigenbildung heutzutage vielfach widmen, steht zu erwarten, 
dass uns auch von dieser Seite kräftige und wirksame C uterstutzang in unseren 
Bestrebungen zu teil werden wird. 

Die meisten Erziebhungsanstalten für schwachsinnige Kinder verlangen über 
die aufzunehmenden Zöglinge ärztliche Gutachten. Gewöhnlich wird den 
Eltern resp. den Anmeldenden des Kindes ein ärztlicher Fragebogen zur Be- 
antwortung zugesandt. Die Eltern begeben sich damit und mit dem Kinde zu 
einem Arzte, der dasselbe beobachtet, untersucht und die in dem Fragebogen 
gestellten Fragen unter Mitwirkung der Eltern beantwortet. Da schwachsinnige 
Kinder in Gegenwart fremder Personen sich meistens äusserst scheu zeigen, 
so werden die ärztlichen Aufzeichnungen des Fragebogens namentlich bezüglich 
der geistigen Veranlagung des Kindes keinen Anspruch auf Vollgiltigkeit erheben 
können. Viel leichter dürfte man zu einem richtigen Urteil gelangen, wenn die 
ärztliche Untersuchung erst nach stattgefundener, längerer pädagogischer Be- 
obachtung erfolgen würde, sie hätte dann die Bedeutung einer Ergänzungsunter- 
suchung. So liess ich z. B. meine Schüler der Hilfsschule, die bei der Über- 
weisung dem Arzte vorgestellt waren, nach vierteljährigem Besuche der Schule 
noch einmal eingehend untersuchen. Ich vermochte den Arzt nun auf verschiedene 
Wahrnehmungen, die ich an den Kindern im Laufe des Unterrichts beobachtet hatte, 
aufınerksam zu machen, er gab mir die gewünschten Auskünfte; die ärztliche 
Untersuchung gewann so viel mehr an Wert für die pädagogische Behandlung. 

Bei der Aufnahme eines Kindes in die Anstalt findet gewöhnlich eine ärzt- 
liche Untersuchung desselben unmittelbar statt; bei dieser Gelegenheit wären 
die Aufzeichnungen für Punkt 6 des Personalheftes einzutragen. Die Notizen 
des ärztlichen Befundes könnten darauf dem beteiligten Lehrer zur sofortigen 
Kenntnisnahme unterbreitet werden. Falls über das Kind ein ärztlicher Frage- 
bogen vorliegt, muss der Austaltsarzt bei seiner Untersuchung darauf Rücksicht 
nehmen und bei etwa sich ergebenden Widersprüchen genaue Untersuchungen 
anstellen; sein Urteil sull ausschliesslich massgebend sein. 

Ärztlicher Beirat müsste dem Lehrer der Schwachsinnigen recht oft zu 
Gebot stehen. Ich erinnere mich noch gerne der Zeit, wo ich an einer Er- 
ziehungsanstalt für Geistesschwache den Rat des Anstaltsarztes stets einholen 
durfte. Die gemeinsam gepflogenen Besprechungen eröffneten mir in vieler Be- 
ziehung Aussichtspunkte, die mir vollständig ferne lagen, ich erhielt Anregung 
zur Weiterbildung, auch mein Interesse für die Schwachsinnigenbildung, welches 
vorher nicht besonders gross war, bekam kräftige Impulse. 

Die Aufzeichnungen für Punkt 7 des Personalheftes erfolgen in den An- 
stalten auf Grund des ärztlichen Fragebogens, dieser ist dabei als Unterlage 
bezw. zur Vergleichung der darin verzeichneten Angaben mit den während des 


Aufenthalts in der Austalt über das Kind gemachten Wahrnehmungen heran- 
zuziehen. Wo sich die Ergebnisse der Anstaltsbeobachtung mit den Aufzeichnungen 
des ärztlichen Fragebogens nicht decken, wäre Rückfrage bei den Eltern resp. 
Vormündern des Kindes oder den Ortslehrern bezw. Ortsgeistlichen erforderlich. 

Die Hilfsschule macht ihre Aufzeichnungen für diesen Punkt nach Rück- 
sprache mit den Eltern des Kindes und nach augenscheinlicher Prüfung der 
Sachlage der Familienverhältnisse. Der Hilfsschule würde es sehr zum Vorteile ge- 
reichen, wenn sie öfters Beziehungen zum Elternhause ankuüpfen und pflegen 
wollte. Der öftere Verkehr zwischen Haus und Schule hat sich vielfach als 
eine segensreiche Einrichtung erwiesen, ich erinnere nur an die Versammlungen 
und Zusammenkünfte der Eltern im Schulhause, die Elternabende, welche in 
neuster Zeit auch bereits in weiteren Kreisen Eingang gefunden haben. Der 
Umstand einer genauen Kenntnis der häuslichen Verhältnisse des Kindes wird 
gewöhnlich beiderseits gewisse Vorteile im Gefolge haben, deren Wert jedoch 
hier unerörtert bleiben mag. 

Die Eintragungen der halbjährlich zu machenden Notizen sollen am 
Schlusse eines Semesters geschehen; eine kürzere Zeit würde für die Be- 
obachtungen nicht ergiebig genug erscheinen, während nach einem halben Jahre 
auch schon geringe Veränderungen in der einen oder der andern Richtung der 
seelischen oder körperlichen Beschaffenheit des Kindes sich deutlicher äussern 
und besser ausgeprägt hervortreten. Wenn Kinder schon bei ihrer Aufnahme 
Kenntnisse und Fertigkeiten nachweisen, so sind Vermerke hierüber unter 
Punkt 7 der allgemeinen Beobachtungen niederzuschreiben; dieses wird haupt- 
sächlich bei den Kindern zutreffen, die in einem vorgerückteren Alter zur Auf- 
nahme gelangen, sei es in die Hilfsschule, sei es in die Erziehungsanstalt für 
schwachsinnige Kinder. 

Bei Punkt 4 des Schemas der halbjährlich zu fertigenden Aufzeichnungen 
ist auch wiederum auf die körperliche Entwicklung Rücksicht genommen; 
bei ungünstiger körperlicher Entwicklung muss selbstverständlich der Arzt zu 
Rate gezogen werden. Es dürfte sich, wie bereits schon vorhin angedeutet 
wurde, sehr empfehlen, denselben sofort zu konsultieren, falls unerklārliche und 
aussergewöhnliche Veränderungen im Leben des Kindes eintreten sollten. 

Bei Kindern, die in ihren Leistungen nur unerhebliche Fortschritte machen, 
wird man die Ursachen davon zu erforschen suchen, um ihnen im Bereiche der 
Möglichkeit die rettende Hand reichen zu können. Besonders hervortretende 
Fähigkeiten, wenn sie sich nicht gar zu einseitig kund geben, verdienen eine 
gewisse Pflege; schädigende und krankhafte Erscheinungen dagegen müssen wo- 
möglich schon im Keime unterdrückt und beseitigt werden. 

Einst entdeckte ich unter meinen schwachsinnigen Schülern einen Knaben, 
der ausserordentlich viel Geschick im Zeichnen besass. Diese Fähigkeit wurde 
von mir weiterentwickelt; der Knabe leistete später so Erfreuliches, dass seine 
Leistungen allseitige Anerkennung fanden. Derartige Fähigkeiten entdeckt man 
gewöhnlich ganz zufällig, man darf sie dann aber nicht unbeachtet lassen, 
sondern muss sie möglichst vorteilhaft zu entwickeln suchen. 


145 


Die Führung des Personalheftes veranlasst den Lehrer, sich mehr und 
mehr in das Wesen des Kindes zu vertiefen. Er muss, um ein massgebendes 
Urteil gewinnen zu können, mit dem Schüler in innige Beziehung treten, seine 
Gaben, Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten lernt er dadurch viel besser kennen 
und würdigen, als es sonst der Fall wäre. Es entsteht leicht ein Band der 
Sympathie und des gegenseitigen Verständnisses zwischen ihm. und jedem 
einzelnen Kinde, wodurch die Zahl der missverstandenen Kinder ganz erheblich 
vermindert wird. Aus den Aufzeichnungen vermag der Erzieher und Lehrer 
das Mass der Leistungsfähigkeit und den Grad der geistigen Entwicklung 
eines jeden Kindes annähernd schon im voraus zu erkennen; es liest vor ihm 
klar, was die Erziehung durch Pflege, Aufsicht, Unterricht und Zucht zu fördern 
und was sie zu unterdrücken hat. Die fortlaufenden Beobachtungen fördern 
den pädagogischen und psychologischen Scharfblick des Lehrers und er- 
schliessen ihm ein äusserst interessantes Arbeitsfeld auf dem Gebiete der Kinder- 
forschung, Psychologie und Psychiatrie. 

Die Aufzeichnungen bieten auch dem Arzte ungemein wertvolle Aufschlüsse, 
er wird seine Diagnose sicherer stellen und die therapeutischen Mittel zweck- 
mässiger zu wählen vermögen als ohne Kenntnis der früheren Vorgänge. Sämtliche 
Aufzeichnungen des Personalbeftes gewähren schliesslich wenn auch ein knappes, so 
doch ein klar umrissenes Bild des Entwicklungsganges, den ein Kind genommen hat. 

Unsere Bestrebungen auf dem Gebiete der Erziebung und des Unterrichts 
erheischen volle Berücksichtigung der Individualität des Kindes, 
dieser Forderung werden wir um so mehr nachzukommen vermögen, wenn wir, 
wie es unser Personalheft verlangt, praktische Psychologie unter Mit- 
wirkung von Familie und Arzt treiben würden. Kein Teil der päda- 
gogischen Bildung ist im stande, auf die Berufsthätigkeit des Pädagogen einen 
so unmittelbaren Einfluss auszuüben, wie das praktische Studium der Psy- 
chologie, namentlich das Studium der anormalen und pathologischen 
Vorgänge und Zustände des kindlichen Seelenlebens. 


THENEW YOR 
PUBL EA 







ASTOR, LENOX ANU 
TILDEN FOUNDATION 








Litteratur: 


. Dr. Kühner. Das Lebensbuch. Kinderfehler 1897. 5. Heft. 
. J. Trüper. Schema zur Feststellung des leiblichen und seelischen Zustandes 
eines Kindes. Kinderfehler 1897. 5.—6. Heft. 

. Dr. Michel. Personalbogen. Adorf i. V. 1900. 

W. Schumann. Die Grundzüge der päd. Pathologie. Weimar 1900. Seite 98 u. ff. 

Fr. Frenzel. Das Lebens- und Personalbuch im Dienste der Pädagogik und 
Schulhygiene. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 1900. 11. Heft. (Auch 
als Sonderabdruck erschienen.) 

6. Personalbuch für die Hilfsschule der Stadt Stolp i. Pom. 

7. Individualitätenheoft der Schröter’schen Erziehungsanstalt zu Dresden. 

8. Erziehungsliste der Königl. Erziehungsanstalt zu Wabern. 

(Die Eintragungen erfolgen in jedem Monat.) 


N me 


poe go 


ie. 


Nochmals die neue Anweisung vom 26. März 1901 
und noch einiges andere. 
Von K. Ziegler, Idstein, Reg. Bez. Wiesbaden. 


Zur Zeit, da der in den Nummern 9 und 10 des vorigen Jahrgangs dieser 
Zeitschrift abgedruckte Artikel über die Anweisung vom 26. März geschrieben 
wurde, tagte (am 23. Juli 1901) in Kassel bereits eine ausserordentliche Konferenz, 
der Anstaltsleiter Preussens, auf der über die neuesten Bestimmungen und über 
die Art und Weise, wie zu denselben Stellung zu nehmen sei, beraten wurde 
und bei welcher auch ein vom Kultusminister eigens zu diesem Zwecke ent- 
sandter Ministerialbeamter zugegen war Die Verhandlungen drehten sich im 
wesentlichen um die Thatsache, dass auch in der neuen Anweisung die von den 
Anstaltsleitern immer wieder betonte und gewünschte Trennung zwischen Idioten- 
anstalten und Irrenhäusern nicht stattgefunden habe und dass die Unterscheidung 
zwischen Bestimmungen für Kranke im Alter über 18 Jahren und solchen für 
Kranke im Alter unter 18 Jahren eine ganz unsachliche und unzweckmässige 
sei. Diese Unterscheidung zwischen jugendlichen und erwachsenen Geisteskranken 
hätte zwar den Unterrichtsanstalten, sofern dieselben nicht Zöglinge über 18 Jahren 
beherbergen, eine grosse Erleichterung gebracht, nicht aber den Anstalten für 
Kranke aller Altersstufen. Diese fielen vielmehr unter die Bestiinmungen des 
Abschnitts A, und da derselbe in erster Linie Irrenanstalten im Auge hälte, so 
seien die Pflegeanstalten dadurch aufs neue voll und ganz den früheren Härten 
ausgesetzt. Am besten und einfachsten wäre es — darin einigten sich die an- 
wesenden Anstaltsvertreter — wenn die Bestimmungen des Abschnitts B nicht 
nur auf Anstalten für jugendliche Kranke, sondern überhaupt auf sämtliche 
Idioten- und Epileptischen-Anstalten ohne Rücksicht auf die Altersunterschiede 
ihrer Insassen angewendet würden. Dass auf die Erfüllung dieses Wunsches 
jedoch kaum zu hoffen sei, waren sich die Leiter auf Grund ihrer früheren 
Erfahrungen recht wohl bewusst. Aber es sollte einmal der Versuch gewagt 
und in diesem Sinne eine Bittschrift an das Königl. Kultusministerium abge- 
schickt werden; ausserdem beschloss die Versammlung, ihre Wünsche event. 
noch durch eine besondere Deputation bei dem Herrn Minister vertreten zu 
lassen. Durch Vermittlung des Herrn Pastors von Bodelschwingh- Bielefeld 
wurde eine Audienz im Kultusministerium für Oktober in Aussicht gestellt. 
Vorher tagte aber noch die allgemeine Konferenz für das Idiotenwesen in Elberfeld. 

Im Programme derselben war auch ein Vortrag über die Anweisung auf- 
genommen. Leider verzichtete der Referent (Direktor Schwenk-Idstein) wegen 
vorgerückter Zeit auf seinen Vortrag, infolgedessen diese Angelegenheit in der 
öffentlichen Debatte gar nicht zur Besprechung kam. Es wäre dies schon des- 
halb wünschenswert gewesen, als auch von ärztlicher Seite verschiedene Ver- 
ir ter anwesend waren und durch eine gegenseitige Aussprache und Verständigung 
am ehesten eine sichere Grenzregulierung zwischen den medizinischen und päda- 
gogischen Forderungen hätte stattfinden können. Übrigens scheinen die ärztlichen 
Teilnehmer an der Konferenz von den Verhandlungen derselben keine besonders 


147 
hohe Meinung mit nach Hause genommen zu haben, wenn anders das vollständige 
Verschweigen der Elberfelder Versammlung in der psychiatrischen Fachpresse 
(z. B. auch in der „Psychiatrischen Wochenschrift“,*) deren Herausgeber persönlich 
anwesend war) in diesem Sinne gedeutet werden darf.**) 

Am 13. Oktober sodann fand die Audienz der in Kassel zu diesem Zwecke 
gewählten Kommission beim Herrn Kultusminister statt. Ihr ging eine mehr- 
stündige Konferenz mit dem Unterstaatssekretär von Wever und anderen zu- 
ständigen Medizinalbeamten voraus, in der die Wünsche der Anstaltsvertreter 
nochmals einer eingehenden Erörterung unterzogen wurden. Das Ergebnis dieser 
Konferenz war eine recht günstige Vereinbarung, die auch die Sanktionierung 
seitens des Herrn Ministers fand. Der nähere Inhalt dieser Vereinbarung, die 
schon damals durch die Schriftleitung den einzelnen Anstaltsvorstehern mitgeteilt 
wurde, ist auch aus folgendem ziemlich spät bekannt gewordenen Schreiben des 
Herrn Kultusministers an die Herren Regierungspräsidenten vom 25. Januar 1902 
ersichtlich. 

„In der Anweisung über Unterbringung in Privatanstalten für Geistes- 
kranke-Epileptische und Idioten vom 26. März v. Jahres — J. M. I 1853, 
M. d. J. IIa 2311 M. d. g. Ang. M. 5020 — ist Ew. Hochwohlgoboren 
durch die §§ 15, 19 Nr. 2. Abs. 1 Nr. 4. Abs. 2 und 1 und $ 21 Nr. 2 
die Ermächtigung erteilt, nach gewissen Richtungen im Einzelfalle Be- 
stimmungen zu treffen. 

In Erweiterung dieser Befugnisse wollen wir Ew. Hochwohlgeboren ferner 
allgemein ermächtigen, bei den Privatanstalten für Idioten auf Antrag eine 
Regelung der ärztlichen Thätigkeit nach dem $ 22 Nr. 7 der Anweisung 
„für Kranke unter 18 Jahren‘ gegebenen Vorschriften auch dann zu ge- 
nehmigen, wenn in den Anstalten Idioten im Alter von über 18 Jahren ver- 
pflegt werden. Vor der Genehmigung ist die Besuchskommission zu hören. 
Die Erteilung der Genehmigung wird sich, sofern es die Beschaffenheit der 
Kranken überhaupt gestattet, solchen Anstalten (insbesondere Wohlthätig- 
keitsaustalten) gegenüber empfehlen, welche sich mit der Verpflegung sowohl 
jugendlicher, wie auch erwachsener Idioten und gleichzeitig mit ihrem Unter- 
richt, ihrer Erziehung und Ausbildung beschäftigen. 

Angesichts der doppelten Aufgabe, welche sich diese Anstalten in der 
Regel stellen: „der Pflege und der Unterweisung“, ist die Thätigkeit des 
Arztes soweit die Bestimmungen des $ 22 Nr. 7 der Anweisung in Frage 
kommen, vornehmlich auf medizinische, diätetische und hygienische Angelegen- 
heiten gerichtet. Es unterliegt keinen Bedenken, dies in deom Statute oder 
der Hausordnung der Anstalt zum Ausdrucke zu bringen. 

Die in dem $ 20 Nr. 5 erwähnte Beantwortung schriftlicher und münd- 


*) (Seit April 1902 „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“). 

**) Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Herr Sanitätsrat Dr. Berkhan aus 
Braunschweig, eines der ältesten Mitglieder der Konferenz, sich gerade in Elberfeld über die 
Fortschritte und Leistungen der Konferenzen während der letzten Jahrzehnte in sehr aner- 
kennenden Worten äusserte. 


148 


licher Anfragen kann, soweit die Ausbildung, das äussere Verhalten u. s. w. 
des Pfleglings in Frage kommt, dem Unternehmer oder der mit dem Unter- 
richte betrauten Person, in geeigneten Fällen im Einvernehmen mit dem 
Arzte, überlassen bleiben. 

Auch kann die für Kranke im Alter unter 18 Jahren im $ 22 Nr. 4 
vorgesehene Bestimmung, betreffend Benrlaubungen auf in solchen Anstalten 
verpflegte Kranke im Alter über 18 Jahre ausgedehnt werden. 


Die Befugnisse, Ausnahmen von der Bestimmung im $ 19 Nr. 3 über 
das Wohnen des Arztes in der Anstalt zu genehmigen, wird dem Regierungs- 
Präsidenten übertragen. 

Vorstehende Anordnungen finden entsprechende Anwendung auf Anstalten, 
in welchen Epileptische unter ähnlichen Verhältnissen, wie in den oben cr- 
wähnten Anstalten, verpflegt werden, jedoch mit der Massgabe, dass die er- 
forderliche Genehmigung dem mitunterzeichneten Minister der Medizinal- 
Angelegenheiten vorbehalten bleibt. 

Ferner bestimmen wir, dass diejenigen Anstalten, welche nur Kranke 
unter 18 Jahren verpflegen, für welche also die Ausfüllung des der An- 
weisung beigegebenen statistischen Formulars C ($ 21 Nr. 5 der Anweisung) 
bisher nicht vorgeschrieben ist, bis zum 8. Januar jeden Jahres dem zu- 
ständigen Kreisarzte eine Anzeige in 2 Exemplaren einzureichen haben, in 
welcher die Zahlen des Bestandes, des Zugangs und des Abgangs im letzten 
Jahre — bei dem Abgange getrennt nach Entlassung und Tod — aufzu- 
führen sind und zugleich anzugeben ist, wie viele der Verpflegten auf private 
und wieviele auf Öffentliche Kosten untergebracht waren. Der Kreisarzt hat 
ein Exemplar der Anzeige an Ew. Hochwohlgeboren weiterzureichen.“ 


Wider Erwarten sind damit die Wünsche der Anstaltsleiter in Erfüllung 
gegangen. Wenn die Angelegenheit auch nicht durch eine allgemeine Verfügung 
definitiv geregelt wurde, so ist jetzt doch den einzelnen Anstalten die Möglich- 
keit gegeben, durch besondere Eingaben an die zuständigen Regierungspräsidenten 
sich von den Bestimmungen des Abschnitts A frei zu machen.*) Bereitet die 
Besuchskommission, die der Regierungspräsident vor der Genehmigung hören 
soll, in den einzelnen Fällen keine Schwierigkeit — eine Möglichkeit, die nicht 
ganz ausser acht gelassen werden darf — so wäre damit ein langjähriger 
Konflikt, der eine ganz respektable Reihe von Konferenzen, Eingaben, Denk- 
schriften, Audienzen u. s. w. im Gefolge hatte, zu einem gewissen Abschluss 
gekommen. 

Freilich die Frage, ob ärztliche oder pädagogische Oberleitung, ist damit 
keineswegs aus der Welt geschafft Diese dürfte noch oft die Gemüter be- 
schäftigen und wird wohl erst dann ganz von der Tagesordnung verschwinden, 


*) Diese Eingaben wurden bereits im November v. J., also bald, nachdem die erwähnte 
Audienz beim Herrn Minister stattgefunden hatte, von den einzelnen Anstalten nach einem 
von der Schriftleitung ausgegebenen Vorgang eingereicht. Als Antwort ging denselben der 
oben abgedruckte Ministerialerlass vom 25. Januar 1902 zu. 


149 


wenn die Ärzte in die nach ihrer Meinung ausschliesslich angezeigte Stellung 
unseren Anstalten gegenüber eingerückt sind. Denn dass die medizinischen 
und namentlich psychiatrischen Fachorgane immer wieder Einspruch erheben 
werden, wenn „Geisteskranke“ (und zu diesen werden trotz unserer Proteste eben 
auch die Idioten gerechnet) einer anderen als der unmittelbaren Aufsicht des 
Arztes übergeben werden, ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen *) Das An- 
sehen, das die medizinische Wissenschaft augenblicklich in der Öffentlichkeit 
geniesst, ist nun einmal im Steigen begriffen, und damit wächst auch der Ein- 
fluss, den die Medizin auf den einzelnen Gebieten auszuüben vermag. Und nament- 
lich die Psychiatrie wieder ist es, die zur Zeit mit ihren Theorien vom gesunden 
und kranken Geistesleben immer aufklärender und umgestaltender auf die dies- 
bezüglichen volkstümlichen Anschauungen einwirkt, was umgekehrt zur Folge 
hat, dass auch ihr immer grösseres Vertrauen entgegengebracht wird. Man hat 
es bier mit einer ausser allem Zweifel segensreichen Strömung in der allgemeinen 
kulturellen Entwicklung zu thun, der man sich nicht aus beruflichem Sonder- 
Interesse oder weil ihr Wellenschlag neben dem morschen Alten auch einzelnes 
Gute umzureissen droht, entgegenstemmen darf. Mitschwimmen, auch wenn 
die Strudel manchmal über dem eigenen Kopfe zusammenschlagen, soviel als 
möglich davon profitieren und einzelne Bächlein auf die eigene Mühle leiten, 
das ist in solchen Fällen immer das Vernünftigste. Jetzt, nachdem uns die 
Regierung so grosses Entgegenkommen gezeigt hat, müsste es unsere Aufgabe 
sein, das Misstrauen gegen die Ärzte, wo es in unbegründeter Weise vor- 
handen ist, niederzukämpfen und dieselben zu einem friedlichen Wettstreit auf 
dem Gebiete der heilpädagogischen Pflege und Erziehung zu gewinnen suchen. 
Halten wir dabei in unermüdlichem, selbstlosem Streben die Fahne unserer 
Wissenschaft nur immer hoch, so braucht es uns um die Führerschaft und Ober- 
leitung im eigenen Hause nicht bange zu sein. Nur durch tüchtige, hervor- 
ragende Leistungen vermögen wir unserem Wirken in der Öffentlichkeit die 
nötige Achtung zu verschaffen, und nur wenn unsere heilpädagogische Gesamt- 
arbeit sowohl in theoretischer wie praktischer Beziehung sich als innerlich ge- 
festigtes, planvoll gegliedertes, aber doch einheitlich verbundenes Gebäude 
repräsentiert, wird sie sich dauernd einer einseitigen medizinischen Bevormundung 
erwehren können. 

Vorläufig haben wir aber diese Ziele noch nicht erreicht. Denn dass unser 
Austalts-Unterrichtswesen in seiner Gesamtheit nicht das Bild darbietet, das 
es darbieten könnte, ist eine Thatsache, an der sich auch durch einzelne rühm- 
liche Ausnahmen nichts ändern lässt. Die Anstalten, in denen mit wirklich 


*) Diese Vermutung hat sich bereits mehrfach bestätigt. Bekannt sind die zwei Artikel 
der „Kölnischen Zeitung‘ und des „Berliner Tageblattes‘‘, welche beide — namentlich der letztere 
— in fast gehässiger Weise gegen unsere Anstalten kritisieren. Eine Erwiderung auf den 
ersten Artikel, die aufzunehmen die Kölnische Zeitung sich weigerte, ist in der letzten Nummer 
dieser Zeitschrift abgedruckt. Übrigens werden sich solche Angriffe in der nächsten Zeit an- 
lässlich der geplanten und augenblicklich vielbesprochenen reichsgesetzlichen Regelung 
des Irrenwesens sicher wiederholen. 


150 


pädagogischem Ernste gestrebt und nach jeder Richtung mit Volldampf gearbeitet 
wird, sind entschieden in der Minderzahl, und da, wo man den Pulsschlag des 
geistigen Lebens auf einem ganzen Gebiete für gewöhnlich am deutlichsten und 
unmittelbarsten zu fühlen bekommt — Litteratur und öffentliche Versamm- 
lungen — kann man bei uns keineswegs den Eindruck gewinnen, als ob ein 
voller Strom warmer Begeisterung und ernster Hingabe die gesamte Lehrer- 
schaft unserer Idiotenanstalten durchkreise. 

Auf all die Ursachen dieser Erscheinung näher einzugehen, kann an dieser 
Stelle nicht die Aufgabe sein, Aber auf einzelne Punkte, die gewöhnlich nicht 
ernst genug genommen werden, sei doch hingewiesen. Ein Hauptgrund, warum 
wir ein einheitliches, gutorganisiertes, scharf ausgeprägtes Anstalts-Unterrichts- 
wesen noch nicht haben, liegt darin, dass es uns überhaupt an einem abge- 
schlossenen Kreis ökonomisch selbständiger, reiner Unterrichtsanstalten mangelt. 
Die übliche unmittelbare Verbindung zwischen Pflegehäusern und Erziehungs- 
anstalten hat der Schularbeit der letzteren noch nie Segen gebracht. Wo man 
auch hinblickt, fast immer ist in jenen grossen Anstalten, die Geistesschwache 
jeglichen Grades aufnehmen, die Schule stiefmütterlich in den Hintergrund ge- 
drängt Es kann ja auch gar nicht anders sein. Denn bis eine solche oft 
mehrere hundert Insassen fassende Anstalt von einem Leiter in ökonomischer 
Hinsicht überwacht und in Ordnung gehalten ist, kann bei diesem zur Ausübnng 
eines speziellen praktischen Schulinteresses nicht mehr viel Zeit und Kraft 
übrig bleiben. Man stelle sich nur einmal vor, welche unendliche Aufmerk- 
samkeit und Mühewaltung allein ein einziges Haus reiner Pfleglinge erfordert: 
an was da alles zu denken ist, wofür da immer gesorgt werden muss, bis jedem 
der Kranken in jeder Hinsicht volle Genüge gethan und das Haus äusserlich in 
täglicher Ordnung erhalten ist, bis man sich das Personal einigermassen erzogen 
und ihre oft nicht geringen Mängel und Schwächen ausgeglichen hat, unge- 
rechnet der vielen ausserordentlichen Vorkommnisse, die immer besondere Be- 
achtung beanspruchen, zu denen sich dann schliesslich noch auf dem Amts- 
zimmer ein Häuflein kürzerer und längerer Briefe von Angehörigen der Pfleg- 
linge gesellt, die alle baldiger Erledigung harren! Und nun soll derselbe Mann 
mit ungeteilter Teilnahme in der Schule vor seinen Kindern stehen, soll für die 
geistige Entwicklung sämtlicher ihm anvertrauten Schüler fortwährend ein 
offenes Auge haben, soll in den einzelnen Klassenzimmern Direktiven geben und 
den gesamten Schulorganismus überwachen, soll für allgemeine pädagogische 
Fragen ein dauerndes Interesse besitzen, bei methodischen Erörterungen jeder- 
zeit auf Grund unmiittelbarer Erfahrungen mitsprechen können und bezüglich der 
Fachlitteratur immer auf dem Laufenden bleiben! — Nicht selten macht sich 
in solchen Anstalten auch irgend ein Industriezweig oder die Ökonomie der- 
massen breit, dass der Unterrichtsapparat darunter notleidet oder wenigstens 
gestört wird. Soviel dürfte wohl ausser allem Zweifel sein, dass die pädagogische 
Arbeit, wenn sie nicht die Seele einer in sich abgeschlossenen Anstalt aus- 
macht, wenn sie nicht von der gesamten Einrichtung unterstützt und getragen 
wird, wenn nicht der Herr des Hauses auch zugleich Herr der Schule — nicht 


151 
bloss dem Namen nach! — ist, dass sie in solch ungesunden Verhältnissen nicht 
gedeihen kann. Ist einmal eine Schule eingerichtet, so müssen auch alle Kräfte 
im Hause, des Leiters, der Lehrer, des Wartepersonals u. 8. w., sich auf sie 
konzentrieren und um sie kristallisieren. 


Asyle für Bildungsunfähige und Unterrichtsanstalten gehören ihrem innersten 
Wesen nach nicht zusammen, weil sie verschiedene Ziele verfolgen. Uns gehört 
das pädagogische Arbeitsfeld und auf das sollten wir uns beschränken. Dann 
nur können wir die Prinzipien der Heilpädagogik rein und unverwischt durch- 
führen und ibre Rechte nach anderen Seiten hin kraftvoll vertreten. Die Pflege- 
häuser dagegen liegen viel mehr in der Nähe des ärztlichen Wirkungskreises. 
Auf sie hat die Psychiatrie auch in erster Linie ihr Augenmerk gerichtet. 
Nur weil die Unterrichtsanstalten gewöhnlich mit jenen verbunden sind und mit 
ihnen in eine Linie gestellt werden, bekommen sie die medizinischen Einflüsse 
in der bekannten einseitigen Weise zu fühlen. 


Freilich mit der Sonderstellung der Unterrichtsanstalten ist es nicht allein 
gethan. Es muss sich damit noch die Sorge für ein tüchtiges Lehrpersonal ver- 
binden. Das ist ein Punkt, in welchem in unseren Anstalten schon sehr viel 
gesündigt wurde und teilweise jetzt noch gesündigt wird. Man sollte es kaum 
für möglich halten, aber ihatsächlich giebt es beute noch Anstalten, welche 
glauben, mit Lebrerwärtern, Brüdern, Schwestern u. s. w. ihrer pädagogischen 
Aufgabe Genüge leisten zu köunen. Es kann nicht immer und immer wieder 
das schon dutzendmal Gesagte wiederholt werden, dass die erzieherische Beein- 
flussung des geschwächten kindlichen Seelenlebens ganz besonderer Sorgfalt be- 
dürfe, dass dazu ein besonders hoher Grad geschulter psychologischer Einsicht 
und hervorragende methodische Geschicklichkeit nötig sei und dass man sich 
schwer an unsern Kindern vergehe, wenn man sie dem nächsten besten Bruder 
oder Wärter anvertraue. Wem diese Binsenwahrheit noch nicht klar geworden 
ist, und wer noch den Mut hat, Öffentlich von den besonderen Vorzügen seiner 
Lehrerwärter zu reden, dem ist eben nicht zu helfen. 


Nun ist es seit einigen Jahren den preussischen Anstalten durch den in 
den früheren Nummern dieser Zeitschrift mehrmals besprochenen $ 11 des neuen 
Lehrerbesoldungsgesetzes allerdings fast ganz unmöglich gemacht, geprüfte, 
staatlich anerkannte Lehrkräfte für ihre Arbeit zu gewinnen. Aber — und das 
war eben das Merkwürdige — nicht ein einziger der Anstaltsleiter fühlte 
diesen Übelstand in dem Masse, dass er sich zu einem entsprechenden Vorgehen 
veranlasst gesehen hätte; und wäre diese Frage schliesslich nicht von den Anstalts- 
lehrern selbst öffentlich angeregt und auf die Tagesordnung gebracht worden, 
ganz sicher würde diese Angelegenheit heute noch ruben, obwohl jener $, wie 
man hintennach eingesehen hat, den „Lebensnerv unserer Anstaltsschulen zu 
durchschneiden droht.“ Ja noch mehr: Hätte nicht Direktor Schwenk-Idstein 
im letzten Augenblicke noch diese Sache ergriffen und auf der Konferenz in 
Elberfeld vertreten, wer weiss, ob der $ 11 dort nicht einfach „vergessen“ worden 
wäre, trotzdem er bereits in 3 Artikeln unseres Fachorgans (darunter sogar ein 


152 


offener Brief „An den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld!) der gemeinschaft- 
lichen Beratung dringend empfohlen worden war.*) 

Sind seminaristisch geschulte Lehrkräfte in genügender Anzahl vorhanden, so 
muss des Anstaltsvorstelers vornehmste Aufgabe die sein, die unter seiner 
Leitung Arbeitenden für den neuen Beruf zu erwärmen und sie mit dem lebendigen 
Geiste ernster, liebevoller Hingabe zu beseelen, dem Einzelnen mit Rat und 
That helfend und fördernd zur Seite zu stehen und das ganze Kollegium zu 
einem einheitlich wirkenden Organismus zusammenzuschmelzen. Ich kenne eine 
Taubstummenanstalt, in der in bestimmten Abständen vom Leiter sowohl als 
auch von den einzelnen Lehrern und Lehrerinnen abwechslungsweise Lehrproben 
gehalten werden, an die sich jedesmal eine eingehende Kritik anschliesst; ebenso 
finden dort regelmässige Konferenzen statt, in denen spezielle Erfahrungen aus 
der laufenden Schularbeit oder in der Behandlung einzelner Kinder, sowie all- 
gemeine methodische und pädagogische Fragen einer gemeinsamen Besprechung 
unterzogen werden. Wer nennt auf Seiten unserer ldioten-Unterrichtsanstalten 
ein Gegenstück hierzu ? 

Wichtig ist auch die Stellung, die der Lehrer seinem Vorgesetzten sowie 
den andern Mitarbeitern in der Anstalt gegenüber einnimmt. Die Gefahr, in 
dem meist absolutistisch regierten Kleinstaate der Anstalt in zu grosse Ab- 
hängigkeit vom Vorsteher zu gelangen, ist nicht gering; ebenso ist es nicht immer 
leicht, die möglichen Extreme im Verhalten gegen das übrige Anstaltspersonal 
durch richtigen Takt glücklich zu vermeiden. Als Glied der ganzen Anstalts- 
familie — und eine Ausnahmestellung sollte er auf keinen Fall einnehmen — 
wird sich der Lehrer den allgemeinen Sorgen und Pflichten derselben nicht 
ganz entziehen können und auch nicht wollen; aber zum Büreaugehilfen, zum 
Oberwärter, Krankenpfleger, Ökonomieverwalter sollte er nicht herabsinken.**) 








*) Die Schritte, die inzwischen seitens des Vorstandes in dieser Angelegenheit gethan 
wurden, sowie die hierbei erzielten Erfolge wurden bereits in der Nummer 3 dieser Zeitschrift 
unter: „Die Schulen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten in Gefahr!“ bekannt gegeben- 

**) Dies darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob der Lehrer sich überhaupt 
um solche Sachen nicht kümmern soll und als ob er es selbst in Ausnahmefällen unter 
seiner Würde halten müsse, auf jenen Gebieten helfend Hand mit anzulegen. Vom Stand- 
punkt der Anstaltsfamilie aus betrachtet wäre das nicht nur ganz undurchführbar, 
sondern auch höchst lächerlich. Wenn dagegen dem Lehrer neben seiner Hauptaufgabe 
noch eine Menge anderer Pflichten auferlegt werden, die nicht nur dem Erziehungs- 
berufe völlig fernliegen, sondern die auch bezüglich ihres Umfanges recht wohl eine 
besondere Kraft zu beschäftigen im stande wären, so ist das eine ungerechtfertigte Ein- 
schnürung des pädagogischen Interesses, die sich in der Praxis immer rächen wird. Ein 
lieber Freund, der ebenfalls in einer Anstalt arbeitet, neben seiner Schule aber auch 
noch den Posten eines Hausvaters zu versehen hat, erzählte mir einmal gelegentlich 
einer Unterhaltung, dass die Pflichten und Sorgen, die seine Aufgabe als Hausverwalter 
mit sich bringe, doch immer ihre Schatten in die Schulstube würfen, dass er nur selten 
mit einen wirklich freien und fröhlichen Sinn vor seine Kinder treten könne und dass 
er das immer als eine Schädigung seines pädagogischen Wirkens empfinde. Und das ist 
einer, der nicht nur seine Arbeit (auch die als Hausverwalter) mit viel Liebe und Eifer 
zu thun sich bemüht, sondern der auch mit keinerlei pedantischen und bureaukratischen 
Plackereien engherziger Vorgesetzter zu kämpfen hat. 


Das würde nicht nur dem Ansehen seiner Person, sondern auch dem Ansehen 
seiner erzieherischen Arbeit sohaden. Es muss denı Lehrer genügende Zeit übrig 
bleiben zu einem eingehenden, fortlaufenden Fachstudium, zur eigenen Weiter- 
bildung auch in anderer als bloss beruflicher Beziehung und zur Erholung, 
lauter Momente, die insofern sehr wichtig sind, als sie ihn nicht in den Kleinlich- 
keiten und Widerwärtigkeiten des Schul- und Anstaltslebens versinken und ver- 
schrumpfen lassen und ihm die frische Spannkraft des Geistes und die ungetrübte 
Fröhlichkeit des Gemütes, die beim Idiotenlehrer nicht hoch genug anzuschlagen 
sind, erhalten. Aus demselben Grunde wäre es zu wünschen, dass den Anstalts- 
lehrern und -Lehrerinnen mehr als bisher Gelegenheit geboten würde, andere 
Anstalten und Schuleinrichtungen kennen zu lernen.*) Das bewahrt vor ein- 
seitiger Verknöcherung innerhalb der eigenen Schulwände, erweitert den Blick, 
regt an und trägt immer zur Aufmunterung und zur Erhöhung der Lehrfreudig- 
keit bei. Die pekuniären Unterstützungen, die dabei dem Einzelnen von der 
Anstalt gewährt werden, sind unbedeutend im Vergleich zu den idealen Früchten, 
die sie bringen können. Immer noch bin ich von solchen Reisen mit neuen 
Vorsätzen zurückgekehrt. Bald war es ein einzelnes Fach, für das ich frische 
Lust und Liebe zurückbrachte, bald irgend eine allgemeine pädagogische Forderung, 
die in den Vordergrund des Interesses geschoben werden war. 

Ein weiterer, ebenfalls schon oft gerügter Übelstand in unseren Anstalts- 
schulen ist der häufige Wechsel des Lehrerpersonals.. Auf keinem Gebiete des 
Unterrichtswesens hängen die Erfolge so sehr von der praktischen Erfahrung 
und Tüchtigkeit des einzelnen Erziehers ab, wie auf dem unsrigen. Selbst wenn 
ein Lehrer in der Volksschule sich bereits den Ruf eines erfahrenen, umsichtigen, 


*) Überhaupt wird nicht selten darüber Klage geführt, dass die jüngeren resp. 
nichtleitenden Anstaltslebrer unter sich in fast gar keinem Zusammenhange stünden und 
so wenig Gelegenheit hätten, zwecks gegenseitigen Gedankenaustausches und gemein- 
schaftlicher Interessenbethätigung miteinander in Verbindung zu treten. Das Be- 
dürfnis nach einem engeren Zusammenschlusse der Anstaltslehrer, das sich augen- 
blicklich wieder im Hinblick auf den $ 11 des Lehrerbesoldungsgesetzes in besonderer 
Weise fühlbar macht, wird gewöhnlich von den Anstaltsleitern auch anerkannt; sofort 
aber hört man auch die Frage: „Warum kommen Sie nicht auf unsere allgemeine 
Konferenzen?“ Diese Frage wäre an sich berechtigt, wenn nur nicht der nervus rerum 
hierbei eine so wichtige Rolle spielte. Die Konferenzreisen sind bekanntlich im all- 
gemeinen sehr kostspieliger Natur, wenigstens für das Portemonnaie eines Anstaltslehrers. 
Den Direktoren dagegen macht das meist weniger Sorgen, weil sie — zwar nicht alle, 
aber doch weitaus die Mehrzahl — von ihren Anstalten besondere Vergütungen erhalten. 
Bei den Anstaltslehrern gehen aber die Reisezuschüsse gewöhnlich — wenn auch nicht 
überall — aus. Man darf es ihnen also nicht gar zu sehr übel nehmen, zum mindesten 
nicht ausschliesslich auf Rechnung einer Interesselosigkeit setzen, wenn sie auf den 
Konferenzen so schwach vertreten sind. Könnte übrigens in dieser Beziehung sich nicht 
auf andere Weise etwas erreichen lassen? Allerdings müssten dann auch die Anstalts- 
lebrer und -Lehrerinnen sich mehr aus ihren verborgenen Anstaltsschlupfwinkeln ans 
Tageslicht hervorwagen, als dies bisher der Fall war, d. h. auf irgend welche Art zu- 
nächst einmal einander kundgeben, dass sie überhaupt existieren und dass sie schon 
ähnliche Wünsche gefühlt haben, wie die hier zum Ausdruck gebrachten. Wo dann ein 
Wille ist, dürfte sich am Ende auch ein Weg zu gegenseitiger Annäherung finden lassen. 


> 


taktvollen und zielbewussten Praktikers erworben hat, bedarf es für ibn doch 
noch langer Erfahrung und Übung, bis er im stande ist, die geistig abnorme 
Kindesnatur mit ihren verschiedenartigen individuellen Mängeln und Gebrechen 
sicher und sachgemäss zu beurteilen und in jedem einzelnen Falle die richtigen 
Angrifispunkte für eine erfolgreiche erzieherische Behandlung zu finden. Das 
lernt sich nicht aus Büchern, das kann nur durch fleissiges, verständnisvolles 
Beobachten, Untersuchen, Vergleichen, Probieren u. s. w. angeeignet werden. 
Die beste Empfehlung für einen Idiotenlehrer ist seine praktische Erfahrung. — 
Trotzdem darf die Zahl der Erfahrenen und Gereiften, die auf dem Arbeitsfelde 
der Idioten-Anstalts-Schulen ihre volle Kraft einsetzen und sich (NB!) nicht 
bloss mit dem Geben einzelner weniger Stunden begnügen, nicht überschätzt 
werden. Oft sind es kaum dem Seminar entlassene Leute, welche sich in die 
Anstalten melden, und die dann, ehe sie in dem neuen Berufe nur recht warm 
geworden sind und in praktischer Beziehung einigen festen Grund unter 
den Füssen gefunden haben, schon wieder ihr Bündel schnüren und den „düsteren 
Anstaltsmauern“ Valet sagen. Die Ursachen davon können verschieden sein: 
Entweder hat den Betreffenden das Anstaltsleben an sich nicht zugesagt oder 
fehlte es ihnen in ihrer Unterrichtsarbeit an der erwünschten Befriedigung 
oder — wenn die vorigen Punkte nicht zutrafen -- bot ihnen die Anstalt nicht 
die genügende Garantie für eine sichere Existenz in derselben. 

Es ist ja klar, dass nicht jeder Charakter und jedes Temperament in die 
eigenartigen Verhältnisse eines engen Anstaltslebens passt und ebenso steht es 
auch in Bezug auf die Unterrichtsarbeit bei Schwachsinnigen. Darum wird es 
immer Lehrer geben, die sich in einer Anstalt überhaupt nie wohlfühlen werden 
und können. Das befreit aber die Anstaltsvorsteher nicht von der Pflicht, im 
Interesse der ihnen anvertrauten Kinder und des heilpädagogischen Wirkens die 
tüchtigen Lehrkräfte — einerlei, ob Männlein oder Weiblein — den Anstalten 
so lang als möglich erhalten zu suchen. Bei der Erfüllung dieser Pflicht wird 
man namentlich die vorhin angegebenen drei Punkte im Auge behalten müssen. 

Soll der Lehrer sich in der Austaltsfamilie bebaglich fühlen, so darf man 
ihm nicht nur die Pflichten eines Familiengliedes auferlegen, sondern man muss 
ihn auch an den gemütlich und geistig anregenden Gütern eines idealen Familien- 
lebens teilnehmen lassen. Mit anderen Worten: der Anstaltsleiter sollte nicht 
vor dem Opfer zurückscheuen, seinen Lehrern, soweit sie sich dessen würdig 
erweisen, die eigene Familie zu einem mehr oder weniger freien Verkehre zu 
öffnen. Dabei wird die „Hausmutter“ eine wichtige Rolle spielen müssen. 
Das „Ewig-Weibliche“ gilt überall als der Sonnenschein des Daseins; um so 
mehr sollte es da zu seiner erheiternden und erfrischenden Wirkuzg gelangen, 
wo Arbeiter sich auf einem Felde abmühen, das an der Schattenseite des Lebens 
liegt. Von solch einer Anstaltsmutter, die nicht nur ein Herz für die Kleinen, 
sondern auch für die Grossen hat, die neben ihrer Arbeit noch Zeit genug findet, 
sich teilnehmend um die mancherlei persönlichen Anliegen der Angestellten zu 
kümmern, die immer bereit ist, mit einem freundlichen Blick, einem ermanternden 
Worte die düsteren Wolken auf den Angesichtern zu zerstreuen, die es aber 


155 
auch versteht, mit sicherem Takte und feinem Verständnis nicht nur an der Er- 
ziehung der Unerzogenen, sondern auch an der Bildung (aber Herzensbildung 
nicht bloss äussere Scheinbildung!) der „Bereits- Erzogenen‘ mitzuwirken, von einer 
solchen Frau können reiche Ströme dauernden Segens in die Anstalt ausfliessen, 
und ein solcher Geist muss auch die düstersten Räume durchleuchten, durch- 
wärmen und freundlicher gestalten. 

Aber auch die Schule braucht ihre Sonne, namentlich wenn dort graue 
Wolken den Frohsinn des Lehrers und seine Arbeitsfreudigkeit zu ersticken 
drohen. Und das sei der „Anstaltsvater.‘“ Sein voranleuchtendes Beispiel, seine 
unverwüstliche Schaffenslust, seine opferfreudige Hingabe, sein nimmermüder 
Fleiss müssen in den Herzen seiner Lehrer Funken der Begeisterung und des 
Nacheiferns schlagen, und von dem idealen Lichte seiner durchgeistigten Beruis- 
auffassung soll das gesamte Wirken um ihn her höhere Weihe und tieferen Ge- 
halt empfangen. Wenn freilich das Gegenteil der Fall ist, wenn öder Mechanis- 
mus und totes Schablonenwesen die ganze Arbeit beherrschen, wenn der Schul- 
organismus in dunpfer, begeisterungsloser Atmosphäre vorzugsweise ein nur vege- 
tatives Dasein fristet, wenn die Arbeiter Mietsknechte sind und in kalter, 
egoistischer Verschlossenheit aneinander vorbeischleichen, dann braucht es einen 
nicht wunderzunehmen, wenn ein junger, strebsamer Mensch, der noch Ideale 
in seiner Brust trägt und nicht Lust hat, sich als Toter bei Toten begraben 
zu lassen, der Anstalt deu Rücken kehrt und davonläuft. 

Manchmal jedoch ist es auch die Unsicherheit der Stellung, was den Lelırer 
aus der Anstalt hinaustreibt. Die Errichtung mehrerer (nicht nur einer) definitiver, 
pensionsberechtigter Stellen müsste darum den Anstalten dringend empfohlen 
werden. Das wurde bis jetzt fast überall versäumt. Viele Anstalten sind der 
Meinung, dass definitive Lehrer, die nicht zugleich auch eine Hausvaterstelle 
oder einen ähnlichen Posten ausfüllen, eine Art Luxusartikel seien. Ja, nicht 
selten wird sogar der Hausvater im Lehrer höher geschätzt als der Pädagoge, 
und die Zahl der definitiven Lehrer richtet sich dann lediglich nach der Zahl 
der Hausverwalter-Stellen. In gewissem Sinne lässt sich letzteres ja vielleicht 
begreifen. Aber gegebenen Falls sollten sich die Anstalten doch auch dazu ent- 
schliessen können, aus rein pädagogischen Gründen und ohne jede Rücksicht auf 
vorhandene oder nicht vorhandene Nebenämter definitive Lehrerstellen zu schaffen. 
Denn es wäre eine arge Verkennung und Missachtung der heilpädagogischen 
Anstaltsaufgabe, wenn man ihr um ihrer selbst willen nicht grössere pekuniäre 
Opter bringen wollte, als die üblichen Gehälter für unständige Lehrer erfordern. 

Ist es den einzelnen Anstalten auf die oben besprochene Weise gelungen, 
sich einen bleibenden Grundstock erfahrener Lehrer zu schaften, die in harmo- 
nischer Vereinigung die Ideen und Ziele der Anstaltspädagogik in sich verarbeiten 
und die Interessen derselben fördern und nach aussen vertreten, dann dürfte in 
diesen auch allmählich ein fröhliches und sicheres Standesbewusstsein erwachen 
und erstarken. Bis jetzt ist ja leider der „ldiotenlehrer“ noch kein Typus, der sich 
würdig an Blinden- und Taubstummenlehrer anschliesst; das wird auch der 
optimislischste Vertreter unserer heutigen Anstaltspädagogik nicht leugnen wollen. 


156 

Wohl haben wir eine Konferenz, auf der sich die Leiter und Lehrer von Idioten- 
Anstalten als Vereinigung repräsentieren; aber ob auf derselben die Heilerziehung 
(nach ihrer theoretischen und praktischen Seite) als abgesondertes, scharfum- 
grenztes Spezialgebiet der pädagogischen Wissenschaft eine wirksame Vertretung 
findet und ob auf ihr namentlich ein spezielles, von regem, gemeinschaftlichen 
Streben getragenes Berufsbewusstsein zum kräftigen Ausdruck kommt, könnte 
trotz der hervorragenden Leistungen und der nachahmenswerten Begeisterung 
einzelner vielleicht fraglich erscheinen. Jedenfalls wäre das Bedürfnis nach 
einem engeren, organischen Zusammenschlusse nur pädagogischer Elemente — 
leitende und nichtleitende, definitive und nichtdefinitive — ein nicht 
unberechtigtes, wenngleich aus der augenblicklichen Sachlage nicht klar zu er- 
seben ist, wie einem solchen Bedürfnis event. Rechnung getragen werden könnte. 
Aber soviel ist sicher, dass die Schwachsinnigen-Pädagogik und namentlich das 
Anstalts-Unterrichtswesen durch ein enger organisiertes Zusammenwirken 
und Zusammengehen sämtlicher Anstaltslehrer und Anstaltslehrerinnen 
nur gewinnen würde und dass eine solche in sich gefestigte und nach aussen 
gewappnete Disziplin die sicherste Abwehr bildete gegenüber unberechtigten Ein- 
griffen von ärztlicher Seite. 


Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. 
(Schluss.) 


Noch ist zu bemerken, dass mit dem Eintrag, nachdem zum letztenmal 
auf der linken Seite umgekehrt wurde, wieder zurück nach rechts gegangen 
werden muss, dann rechts aufwärts, wo sich hinten das übrig gelassene Stück 
beim ersten Anfang des Zettels (am ersten Nagel) befindet. Dieses übrige 
Stückchen wird durch einige Streifen abwärts geflochten, damit es mit dem auf- 
wärtskommenden Schluss des Eintrags zusammengenäht werden kann. 


Hierauf werden sämtliche Nägel ausgezogen, der am obern Teil des Leistes 
sich befindliche Spickel abgehoben und der Schuh vom Leist abgenommen. Sind 
nun beide Schuhe fertig, so werden sie auf derselben Seite, welche man beim 
Verfertigen aussen hatte, mit Wolle überzogen; ist dieselbe gut abgenäht, so 
wird der Schuh umgekehrt und ist zum Verkauf fertig. 


Teppichflechterei. 


Zum Teppichflechten wird dasselbe Material verwendet wie zum Schuh- 
machen. Der dazu erforderliche Rahmen ist aus harthölzernen Leisten mit 7 cm 
Breite und 3 cm Stärke hergestellt. Auf der oberen Fläche dieses Rahmens 
sind ringsum 3 cm vom inneren Rande entfernt Stifte eingetrieben. Diese 
Stifte sind zum Eindrücken der Endstreifen bestimmt und haben aus diesem 
Grunde keine Köpfe. 

Die Teppiche werden bier in 3 Grössen angefertigt und dementsprechend 
sind auch die Rahmen: 


rn 


für Tischunterlagen 152 auf 92 cm, 
„ Bettvorlagen 120 „70, 
„ Pultvorlagen 82 „50 „ 
Der grösste Rahmen hat auf den Längsseiten je 100, auf den Breitseiten 
je 60, der mittlere 80 und 44, der kleine 54 und 32 Stifte 


l. Fertigung des einfarbigen Teppichs. 

a) Der Zettel: die etwa 15 mm breiten Tuchendstreifen werden der Länge 
nach auf den Rahmen gespannt und in die Stifte eingedrückt. Der Streifen 
geht je bis zum äusseren Rande des Rahmens. 

b) Der Eintrag: Das Flechten oder Einziehen des Eintrags oder der 
Querstreifen beginnt bei den ersten bezw. letzten Stiften der Längsseiten des 
Rahmens, so dass die mitileren Querstreifen zuletzt eingezogen werden. Die 
Länge derselben entspricht der Breitseite des Rahmens. 


2. Fertigung des gemusterten Teppichs. 

Der bunte Teppich, der ein gefälligeres Aussehen hat, erfordert etwas mehr 
Aufmerksamkeit und Berechnung. 

Nehmen wir die mittlere Grösse zum Beispiel. 

a) Der Zettel: Die 44 Stifte werden etwa folgendermassen bespannt: 
links und rechts je 8 mit dunkelblau, dazu je 2 mit rot, je 8 mit grün und 
die mittleren 8 mit grau. 

b) Der Eintrag: Bei diesem beobachtet man dieselbe Farbenfolge. Die 
Einteilung ist folgende: links und rechts je 15 dunkelblaue, dann je 2 rote, 
je 15 grüne und in der Mitte 16 graue Streifen. Abgesehen von der Berück- 
sichtigung dieser Farbenfolge wird hier beim Einziehen der Querstreifen genau 
so verfahren wie oben angegeben. Selbstverständlich können die Farben ganz 
willkürlich zusammengestellt werden. 

Ist der Teppich fertig geflochten, so wird er genau beschnitten. Hierauf 
werden die äusseren Streifen provisorisch geheftet und der Teppich kann ab- 
gehoben werden. Derselbe muss alsdann noch zum Schluss am Endstreifen des 
Geflechts ringsum mit der Nähmaschine doppelt abgenäht werden. 


Haben unsere Knaben in den eben aufgeführten und beschriebenen Hand- 
arbeitszweigen diejenige Fertigkeit erreicht, bei welcher fremde Hilfe nicht mehr 
nötig ist, dann sind sie in der Regel auch soweit gefördert, dass sie in leichtere 
Berufszweige aus dem Leben (Korbflechterei, Bürstenbinderei, Schneiderei, einfachen 
Buchbinderarbeiten, Gärtnerei, Anstreicherei etc.) mit Erfolg eingeführt werden 
können, denn die Voraussetzungen dazu sind dann in den meisten Fällen auch 
vorhanden. Die Zöglinge haben Ordnung und Pünktlichkeit gelernt; sie haben 
gelernt, ruhig bei der Arbeit zu sitzen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die- 
selbe zu konzentrieren; Fleiss und Ausdauer wurden erprobt, Auge und Hand 
geübt und auch das eigene Nachdenken angeregt, wodurch ganz gewiss die 
praktische Geschicklichkeit und freiere Selbständigkeit der Einzelnen vermehrt 
und gehoben wurde. Insofern die Knaben sich über ihre kleinen Leistungen 


158 


freuten und sich anstrengten, bald wieder etwas fertig zu haben, wurde bei ihnen 
auch allmählich Lust und reges Interesse an der Arbeit wachgerufen, was gauz 
gewiss für ihre Weiterbildung von grosser Bedeutung ist. 

Gewöhnlich haben sie diese Ziele erreicht, wenn sie auch in der Schule 
soweit gefördert sind, dass sie aus derselben entlassen werden können. Je nach- 
dem nun die körperliche Konstitution, die geistige Beanlagung und die Wünsche 
der Einzelnen sind, kommen die Zöglinge der Anstalt entweder in die Werkstätte 
für Korbflechterei, oder für Bürstenbinderei, Buchbinderei und wie diese alle 
heissen. 

Idstein, im September 1901. Direktor Schwenk. 


—m— mn 


Mitteilungen. 


Leipzig. (Hilfsschule für Schwachbefähigte) In jedem Herb:te ver- 
öffentlicht die Hilfsschule zum Besten ihrer bedürftigen Kinder einen Jahresbericht. 
Zwar widmet auch der „Allgemeine Bericht über die städtischen Volksschulen zu 
Leipzig“, der alljährlich vom Vorsitzenden der Direktorenkonferenz erstattet wird, ihr 
einen besonderen Abschnitt, doch hat die Verteilung der erweiterten Sonderberichte, 
in denen auch wohlgesinnten Bürgern Kenntnis von der stillen Arbeit und der stetigen 
Fortentwickelung der Schule gegeben wird, sich als sehr erfolgreich erwiesen. Manches 
aus den seit dem letzten Referate im Jahrgange 1899 unserer Zeitschrift erschienenen 
Berichten darf wohl anf allgemeineres Interesse rechnen. — So zunächst die Namens- 
änderung. Seit der Gründung am 19. November 1881 führte die Schule den 
Namen „Schwachsiunigenschule*“. Wiederholt hatten aber dio Stadtverordneten an- 
geregt, diese Bezeichnung als inhuman und abschreckend wirkend durch eine mildere 
zu ersetzen, aber immer hatte der Stadtrat diese Anregungen auf sich beruhen lassen, 
weil Weigerungen der Eltern, ihre schwachsinnigen Kinder in die Schwachsinnigen- 
schule zu schicken, nicht vorkamen und viele ihre schwachen Kinder aus eigenem 
Antriebe ihr zuführten — endlich aber gab er den wiederholten Anträgen nach. So heisst 
die Schule seit dem 9. Mai 1899 „Hilfsschule für Schwachbefähigte“, doch 
dient sie noch derselben Sache wie früher. Sie giebt nicht etwa schwach befähigten 
Kindern der Volksschulen nur Nachhilfeunterricht, sondern will den ihr ganz anvertrauten 
schwachsinnigen Kindern eino ihren geringen Fähigkeiten entsprechende, möglichst 
allseitige Bildung übermitteln. — Die Schülerzahl ist in den letzten Jahren un- 
gefähr auf gleicher Höhe geblieben. Das Schuljahr 1898/99 zählte 206 Kinder 
(122 Knaben und 84 Mädchen), das 1899/1900 199 Kinder (116 Knaben und 
83 Mädchen). Ostern 1900 verliessen 23 Konfirmanden (17 Knaben und 6 Mädchen) 
die Schule, 2 Kinder verzogen nach auswärts und 4 mussten nach längerem erfolg- 
losen Besuche der Vorbereitungsklasse als bildungsunfähig entlassen werden; aufge- 
nommen wurden 24 Kinder aus Leipziger Volksschulen, 1 Knabe aus einer Hilfsklasse 
in L.-Plagwitz und 2 Mädchen, die bisher ohne Unterricht gewesen waren. Das 
Schuljahr 1900,01 begann mit 193 Kindern (107 Knaben und 86 Mädchen). Im 
Laufe des Jahres traten noch ein 8 Kinder aus städtischen Volksschulen, 5 von 
auswärts und 1 Mädchen, das noch keinen Unterricht genossen hatte, dagegen ver- 


159 


zogen 6 Kinder nach auswärts, 1 Mädchen kam in eine Waisenkolonie, 1 Knabe in 
die Landesanstalt für Schwachsinnige in Grossliennersdorf, 1 Knabe in die Landes- 
anstalt für Epileptische in Hochweitzschen, 1 Knabe musste in die Erziehungsanstalt 
zu Bräunsdorf eingeliefert werden und 1 Mädchen erhielt körperlicher Schwäche wegen 
Privatunterricht Diese 193 Kinder wurden in 14 Klassen, von denen die 1. Kl. 
der 1., die 2. u. 3. Kl. der 2. die 4.—6. Kl. der 3., die ”.—11. Kl. der 4. und 
die 12.--14. Kl. der 5. Unterrichtsstufe angehörten, ohne Rücksicht auf Alter und 
Geschlecht, lediglich nach ihrer Leistungsfähigkeit verteilt. Die Klassen einer und 
derselben Stufe sind nicht genaue Parallelklassen, sondern die höhere hat auch immer 
etwas leistungsfähigere Kinder als die niedere; es werden darum wohl in ihnen im 
allgemeinen dieselben Stoffe behandelt, doch mit mancherlei Unterschieden hinsichtlich 
der Tiefe, des Umfanges und der Form der Darbietung. Von den neu eintretenden 
Kindern konnten eins der 2. Kl, eins der 5. Kl., zwei der 6. Kl.,, eins der 7. Kl., 
drei der 8. Kl., eins der 9. Kl., drei der 10. Kl., drei der 11. Kl, vier der 12. Kl. 
acht der 13. Kl. und acht der 14. Klasse zugewiesen werden. 

Der Hilfsschule ist als Schulbezirk die ganze alte Stadt, die einver- 
leibten Ostvororte und das im Süden liegende Connewitz mit Lössnig zugewiesen, so 
dass der Schulweg bis zu °/, Stunde beträgt. Für die schwachsinnigen Kinder der 
einverleibten Westvororte bestehen 3 Hilfsklassen an der 24. Bezirksschule in 
L.-Plagwitz, die im Schuljahr 1900/01 von 32 Knaben und 11 Mädchen besucht 
wurden, und für diejenigen der nördlichen Stadtteile Gohlis und Eutritzsch an der 
29. Bezirksschule 2 Hilfsklassen mit 23 Knaben und 9 Mädchen. Die für diese 
Klassen angemeldeten Kinder werden vor ihrer Anfnahme ebenfalls vom Leiter der 
Hilfsschule geprüft. Die Aufsicht über die betr. Klassen liegt aber dem Direktor 
derjenigen Schule ob, an denen sie errichtet sind. 

Da ausser den höheren Bürgerschulen, in denen Französisch erteilt wird, sämt- 
liche Leipziger Volksschulen mittlere im Sinne des sächsischen Volksschulgesetzes 
sind, die sich in Bürger- und Bezirksschulen teilen, für die im allgemeinen bei 
gleichen Stundenzahlen derselbe Lehrplan gilt und die sich nur nach der Höhe des zu 
zahlenden Schulgeldes (in Bezirksschulen jährlich 4,80 Æ, in Bürgerschulen 18 Æ) unter- 
scheiden, so dass also die Bürgerschulen von Kindern besser situierter Eltern besucht 
werden, so lässt sich schon aus der Art der Schule, aus der die schwachsinnigen 
Kinder kommen, ein Schluss auf die häuslichen Verhältnisse ziehen. Vor ibrem 
Eintritte in die Hilfsschule hatten Bezirksschulen 146 Kinder (82 Knaben und 
64 Mädchen), Bürgerschulen 39 (19 Knaben und 20 Mädchen) und den höheren 
Bürgerschulen nur 1 Knabe angehört. Da die Bezirksschulen der der Hilfsschule 
zugewiesenen Stadtteile im Schuljahr 1900/01 von 12811 Knaben und 13977 Mädchen, 
pie Bürgerschulen aber von 8218 Knaben und 8486 Mädchen besucht wurden, so 
kamen in den Bürgerschulen auf je 434 Knaben 1 schwachsinniger, auf je 424 Mädchen 
1 schwachsinniges, überhaupt auf je 429 Kinder ein schwachsinniges, in den Bezirks- 
schulen dagegen schon auf je 157 Knaben 1 schwachsinniger, auf 219 Mädchen 
1 schwachsinniges oder auf je 184 Kinder 1 schwachsinniges. In sämtlichen Schulen 
des Hilfsschulbezirks kamen auf 209 Knaben 1 schwachsinniger, auf 268 Mädchen 
1 schwachsinniges oder überhaupt auf je 224 Kinder 1 schwachsinniges. Zieht man 


_ 160. 


die Kinder der übrigen 5 Hilfsklassen mit inbotracht und vergleicht sie mit der 
Schülerzahl sämtlicher städtischer Volksschulen (30 927 Knaben und 32 719 Mädchen), 
so ist unter je 191 Knaben 1 schwachsinniger, dagegen erst unter 314 Mädchen 
1 schwachsinniges und überhaupt unter 239 Kindern 1 schwachsinniges Kind. Da 
man wohl nicht annehmen kann, dass die Lehrer bei der Ausscheidung schwachsinniger 
Mädchen milder verfahren als bei Knaben, so scheinen diese Zahlen zu beweisen, dass 
der Schwachsinn bei Mädchen überhaupt seltener vorkomme als bei Knaben. Ein 
Vergleich der beiden Gruppen ehemaliger Bürger: und Bezirksschüler (auf 429 resp. 
184 1 schwachsinniges Kind) lässt aber auch erkennen, dass missliche häusliche 
Verhältnisse, mangelhafte Wohnungen, dürftige Ernährung, Alkoholismus, schlechte 
elterliche Beaufsichtigung und Pflege etc., wie sie bei der ärmeren Bevölkerung, die 
ihre Kinder in die Bezirksschulen schickt, häufiger vorkommen, die Entstehung des 
Schwachsinns begünstigen. 

Der allgemeine Körper- und Gesundheitszustand der meisten Kinder der 
Hilfsschule lässt sehr viel zu wünschen übrig. Viele sind im Wachstum zurückge- 
blieben, einige leiden an Lähmungen einzelner Glieder, andere zeigen abnorme Schädel- 
bildung oder Muskelschwäche, manche sind schwerhörig oder kurz- und schwachsichtig, 
einer sehr grossen Zahl fehlt infolge von Blutarmut, Skrofulose, Rhachitis, Nerven- 
schwäche oder anderen chronischen Leiden die Frische und Kraft des Körpers, die 
Heiterkeit des Gemüts und die Regsamkeit des Geistes. Der Schularzt fand bei der 
Untersuchung 75 Kipder als einer täglichen Milchspende höchst bedürftig und 83 
andere als sehr bedürftig, zusammen also 158 oder 82 °/, aller Kinder. Die geringe 
Widerstandskraft des Körpers erliegt sehr schnell den Einwirkungen ungünstigen 
Wetters oder kleinen Fehlern in der Ernährung und verursacht zahlreiche Schul- 
versäumnisse wegen leichter Erkrankungen. 3707215, versäumte Tage, also bei 
einem Schülerbestande von 198 Kindern etwa 8 °/, aller Schultage waren im letzten 
Jahre zu verzeichnen. Durchschnittlich konnte jedes Kind die Schule an 191/, Tagen 
nicht besuchen — gewiss eine hohe Zahl im Vergleiche zu den Versäumnissen 
normaler Schüler und eine eindringliche Mahnung dazu, durch Pflege des Körpers 
und Hebung des Gesundheitszustandes die unerlässliche Grundlage für eine gedeihliche 
Einwirkung auf den Geist zu schaffen. Von welch heilvollem Einflusse die dahin- 
zielenden Einrichtungen der Hilfsschule auf ihre Zöglinge bei längerem Besuche waren, 
zeigt das Sinken der durch Unpässlichkeiten veranlassten Schulversäumnisse von 13 °/o 
aller Schultage in den untersten auf 8°, in den Mittelklassen und 3!/,°/, in der 
1. Klasse. 

Jede Klasse hat täglich von 8—12 Uhr und dreimal von 2—4 Uhr, also 
wöchentlich 30 Stunden Unterricht. Da die Unterrichtsfächer möglichst im allen 
Klassen gleichzeitig betrieben werden, so werden die Kinder nach ihrer Begabung für 
die verschiedenen Disziplinen zwischen den einzelnen Klassen ausgetauscht. Die Ge- 
schlechter werden getrennt im Turnen und in Handarbeiten. Im Turnen werden die 
Knaben der oberen 4 Klassen unter 2 Lehrern vereinigt und ebenso die Mädchen, 
sonst turnen immer die Knaben und Mädchen zweier benachbarter Klassen unter je 
einem Lehrer. Die mit feinerem, musikalischem Gehöre und guter Singstimme begabten 
Kinder der oberen 4 Klassen übten ausser in ihrer Klassensingstunde noch wöchent- 


161 


lich zweimal gemeinsam unter Leitung eines Lehrers auch schwerere Volkslieder und 
zweistimmige Gesänge. Es wurden dabei recht gute Erfolge erzielt, sodass die Weih- 
nachtsfeier durch den ausdrucksvollen Vortrag entspiechender Gesänge würdiger gestaltet 
werden konnte. — In jeder Klasse werden wöchentlich 3/2 Stunden Sprechübungen 
vorgenommen, wodurch die vielen sprachleidenden Kinder zu geregelter Atmung, zur 
Herrschaft über ihre Sprachorgane und zu richtiger Aussprache der einzelnen Laute 
und Lautverbindungen gelangen, oder wodurch sie an grammatisch richtiges Sprechen 
gewöhnt werden sollen. Es waren immer 25--30;/, der Kinder Laut-, Wort- oder 
Satzstammler und etwa 5°/, Stotterer, namentlich erscheint die lallende und stam- 
melnde Sprache der Kinder der untersten Klassen nicht selten Fremden unverständlich. 
Wurden nun auch in diesen Sprechstunden und durch konsequentes Fördern einer 
möglichst korrekten Sprache im übrigen Unterrichte und im Umgange eine Reihe 
Sprachgebrechen beseitigt und das Sprachgefühl der Kinder entwickelt, so war es doch 
nötig, schwerere Fälle in besonderen Sprachheilkursen zu behandeln. Diese wurden 
von 2 Lehrern, die auf Kosten der Stadt in Berlin bei Dir. Gutzmann einen Lehr- 
kursus über Sprachstörungen besucht hatten, während des letzten Winterhalbjahres 
an 3 Nachmittagen von 3—4 Uhr in der Weise abgehalten, dass der eine die 
Stotterer, der andere die Stammler nahm. In der Erkenntnie, dass die Sprachfähig- 
keit für das spätere Fortkommen von grösster Bedeutung ist, wurden diese Kurse von 
den Eltern recht dankbar begrüsst und trotz der grossen Zahl der Teilnehmer und 
der Hindernisse, die der geistige Zustand und die Schwerfälligkeit der Sprachorgane 
mancher Kinder einer bewussten Einübung der Laute entgegenstellen, waren die Erfolge 
recht erfreuliche, sodass diese Sprachheilkurse jetzt in 4 Abteilungen von 4 Lehrern 
erteilt werden. 

Als ein Fortschritt im inneren Ausbau der Hilfsschule erwies sich die Horstellung 
eines eigenen Lesebuches, das vom Lehrerkollegium gemeinsam bearbeitet wurde 
und dank des stets bewiesenen Wohlwollens der städtischen Behörden, die einen Be- 
trag von 1300 Mk. zum Zwecke der Drucklegung bewilligten, in zwei Teilen von je 
10'/, Druckbogen Umfang im Verlage der Dürr’schen Buchhandlung erschien. In 
diesem Iesebuche, das aus dem Bedürfnisse der Hilfsschule erwachsen ist und ihrem 
Lehrplane sich eng anschliesst, hat sie ein lange entbehrtes Lehrmittel erhalten, das 
auch schon in anderen Hilfsschulen und Idiotenanstalten eingeführt worden ist. 

Sehr bewährt hat sich die Einführung von regelmässigen Beschäftigungsstunden 
für die Kinder derjenigen Eltern, die sich tagsüber um ihre Kinder nicht genügend 
kümmern können. Wie ın Knaben- und Mädchenhorten stehen diese Kinder Montags 
und Mittwochs bis um 4 Uhr unter Obhut ihrer Lehrer, erhalten Nachhilfe in dem, 
was ihnen besonders schwer fällt oder in den Unterrichtsstunden nicht recht deutlich 
geworden ist, fertigen ihre Schulanfgaben, üben sich in leichten Handarbeiten, erfreuen 
sich an belehrenden Spielen oder kräftigen ihren Körper durch Bewegungsspiele im 
Freion, Etwa 70°/, aller Kinder nabmen regelmässig an diesen freiwilligen Stunden 
teil und wnrden dadurch nicht nur vor den verderblichen Einflüssen des Strassen- 
lebens bewahrt, sondern fanden auch angemessene Bethätigung ihrer Kräfte und 
Gewöhnung an gute Sitten und Gebräuche, 

Die Konfirmanden werden im Sommerhalbjabre durch 2 Lehrer in wöchentlich 


2 Nuchhilfestunden vorbereitet. Während sie aber früher den eigentlichen Konfir- 
mandenunterricht bei den Geistlichen der Parochie ihres Wohnbezirks gemein- 
schaftlich mit den normalen Kindern erhielten und daher nur geringen Nutzen davon 
haben konnten, erhalten sie denselben seit 2 Jahren abgesondert von den anderen in 
der nahen Johanniskirche gemeinsam bei einem Geistlichen und wurden von diesem 
auch konfirmiert und zum heiligen Abendmahle geführt. Eltern und Lehrer empfinden 
diese Wohlthat eines dem geistigen Vermögen der Kinder entsprechenden Konfirmanden- 
unterrichts recht dankbar. An der Konfirmationsfeier beteiligte sich das ganze Lehrer- 
kollegium, auch die Angehörigen der Einzusegnenden (Ostern 1901: 37) waren so 
zahlreich gekommen, dass eine recht ansehnliche Gemeinde den wohlthuenden und 
mahnenden Worten des Geistlichen lauschte. 

Bei den Mittagsspeisungen, die für die entfernt wohnenden Kinder an den 
ersten 5 Wochentsgen stattfinden, wurden im letzten Schuljahre an 195 Tagen 
17497 Teilnehmer, durchschnittlich jeden Tag 90 gezählt. Es wurden 8990 Doppel- 
portionen für 2249,80 Mk. verabreicht, wovon 430,10 Mk. durch eingegangene Speise- 
gelder der Kinder beglichen, der Rest von 1819,70 Mk. durch städtischen Zuschuss 
gedeckt wurde. Nach Tische führten je 3 grössere Mädchen abwechselnd unter An- 
leitung der Frau des Schulaufwärters das Abdecken der Tafeln, das Abwaschen der 
Teller und Löffel und das Ordnen des Speisezimmers aus und wurden dadurch, soweit 
es unter den gegebenen Verhältnissen möglich ist, auch an hauswirtschaftliche Arbeiten 
gewöhnt. Die übrigen Kinder beschäftigten sich während der Mittagsstunden unter 
Aufsicht dreier Lehrer mit Spiel. 

Durch private Wohlthätigkeit wurde es möglich, an 163 Tagen des letzten 
Jahres 24134, also täglich im Durchschnitt 148 Kindern, 25 080 Flaschen sterilisierte 
warme Vollmilch zu verabreichen. Die Ausgabe dafür betrug 1755,60 Mk., die 
Beiträge der Kinder brachten 502,183 Mk., die übrigen 1253,47 Mk. mussten aus den 
nach Verteilung der Jahresberichte eingegangenen milden Gaben (1898: 2104,50 Mk., 
1899: 2381 Mk., 1900: 1969,50 Mk.) gedeckt werden. 

In einer Weihnachtsboscherung, die mit einer von den Eltern der Kinder 
und vielen Freunden und Gönnern der Schule zahlreich besuchten, einfachen, würdigen 
Christfeier verbunden wurde, konnten jedes Jahr eine grosse Anzahl Kinder mit den 
nötigsten Kleidungsstücken, Schulsachen etc. erfreut werden, die ebenfalls von den 
Spenden opferwilliger Bürger gekauft wurden. Weihnachten 1898 wurden für 98 
Kinder 815 Mk., 1899 für 95 Kinder 820,88 Mk. und 1900 für 86 Kinder 795,71 Mk. 
ausgegeben. Viel Segen wurde durch diese wohlthätigen Einrichtungen gestiftet, viel 
äussere Not und leibliche Schwäche dadurch gelindert. 

Nicht minder günstig wurde das körperliche Wohlbefinden der Kinder beeinflusst 
durch öfteres Baden unter den Brausen und im Bassin des Marienbades. Die Knaben 
und Mädchen der mittleren und oberen Klassen nehmen daran so gern teil (manche 
haben dabei das Schwimmen gelernt), dass ausser den vom Rate gespendeten Frei- 
karten noch eine erhebliche Summe aus der Wohlthätigkeitskasse verwendet wurde, 
zumal mit der körperlichen Erfrischung immer auch eine grössere geistige Regsamkeit 
Hand in Hand ging. Ebenso brachten wiederholte Spaziergänge der Klassen in 
Wald und Flur und in den zoologischen Garten, die zwar in erster Linie unter- 


163 
richtlichen Zwecken dienten, durch die Bewegung im Freien, wohin sonst viele der 
Kinder nur selten kommen, körperliche Kräftigung. Auch die Vereine, die sich die 
Hebung des Gesundheitszustandes der Schuljugend zur Aufgabe stellen, nahmen all- 
Jährlich eine Anzahl Kinder der Hilfsschule in Ferienkolonien ins Gebirge oder ins 
Soolbad oder in Milchkolonien auf, woher sie sichtlich gekräftigt zurückkamen. 

Den abgehenden Konfirmanden standen die Lehrer bei der Berufswahl mit Rat 
bei, bemühten sich um geeignete Meister, passende Geschäfte oder Herrschaften und 
besuchten sie später in der Lehre. Ausserdem schlossen sich am 4. Februar 1900 
eine Anzahl angesehener, mitten im praktischen Leben stehender Bürger zu einem 
„Hilfsschulverein“ zusammen, der sich die Aufgabe stellt, die Konfirmanden der 
Hilfsschule für einen Erwerb ausbilden zu lassen nnd, wenn nötig, solange mit Rat 
und That zu unterstützen, als sie sich nicht selbst zu unterhalten vermögen. Jeder 
Knabe wird einem Pfloger, jedes Mädchen einer Pflegerin überwiesen, die ihrem Schütz- 
linge bis zur Entlassung aus der Vereinspflege zur Seite stehen. Zweimal sind nun 
schon je 7 Knaben von diesem Vereine in gute Lehrstellen und 1 Mädchen bei eiuer 
Herrschaft untergebracht worden. Ostern 1901 verliessen 39 Konfirmanden die Hilfs- 
schule. Von den 14 Mädchen wollte eins in eine Rüschenfabrik, eins in eine Familie 
als Dienstmädchen gehen, eins wird wohl immer von den Eltern verpflegt werden 
müssen, ohne nennenswerto Dienste leisten zu können, die übrigen 11 aber sollten 
die Mutter in der Hauswirtschaft und anderen Geschäften unterstützen. Einen Knaben 
wünschten die Eltern nach Ostern in eine Anstalt zu bringen, einer konnte wegen in 
letzter Zeit oft und heftig auftretender epileptischer Anfälle noch keinem Berufe zu- 
geführt werden, zwei andere sollten zunächst noch zu Hause bleiben, von den übrigen 
gingen 4 als Buchbinder, je 2 als Schneider, Tischler, Korbmacher, je einer als 
Glaser, Kistenbauer, Klempner, Dachdecker, Steindrucker und Former in die Lehre, 
vier orhielten Beschäftigung als Laufbursche und einer als Zeitungsträger. 

Im Lehrerkollegium trat eine Veränderung ein, Herr Dr. Gündel folgte am 
1. Dezember 1900 einem Rufe als Direktor an die Idiodenanstalt Rastenburg in Ost- 
preussen, an seine Stelle trat Herr Stephan, der früher an der Schröter’schen 
Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder in Dresden gewirkt hatte. 

Um auch fremde Einrichtungen kennen zu lernen, wurden in den letzten Jahren 
auf Kosten der Stadt von je 2 Lehrern die Konferenz für das Idiotenwesen ste. in 
Broslau, die Idiotenanstalten in Kraschnitz, Leschnitz, Liegnitz, Alsterdorf, Idstein und 
Darmstadt und die Hilfsschulen in Breslau, Altona Hamburg, Lübeck, Bremen, Kassel, 
Frankfurt a. M. und Mainz besucht. Auch die Leipziger Hilfsschule konnte eine sehr 
grosse Zahl Gäste aus dem In- und Auslande begrüssen, die zum Teil in mehrtägigem 
Besuche ihre Einrichtungen kennen zu lernen wünschten. Ausserdem wurden die 
Kinder in den Michaelisferien am 25. September 1899 auf 2 Stunden zur Schule ge- 
rufen, um durch Vorführung des Sängerchors, der Knaben der ersten 4 Klassen im 
Turnen und aller Klassen in verschiedenen Lektionen den Besuchern der 12. General- 
versammlung des sächsischen Lehrervereins Gelegenheit zu geben, einigermassen einen 
Einblick in den Stoff und die Art und Weise des Unterrichtsbetriebs zu geben. Eine 
Ausstellung der Hefte, Zeichnungen und namentlich der Handarbeiten der Knaben 
und Mädchen zeigte, was schwachsinnige Kinder bei rechter Anleitung in den ver- 


rn 


schiedenen Zweigen zu leisten vermögen und wie dadurch die Erwerbsfähigkeit im 
praktischen Leben angebahnt wird. R. B. 
Gera. (Hilfsschule und Heilkursus.) Die Hilfsschule besuchten im An- 
fang des Schuljahres 76 Kinder, 44 K. und 32 M., von denen 25, 16 K.und 9 M,, 
auf die Oberstufe, 22, 18 K. und 9 M., auf die Mittelstufe und 29, 15 K. und 
14 M., auf die Unterstufe kamen. Im Laufe des Schuljahres traten 3 Kinder 
wegen Wegzugs der Eltern aus und 6 traten ein, sodass der Bestand am Ende des 
Schuljabres 73 betrug. Kurz nach Ostern wurden die neuaufgenommenen Kinder von 
dem Schularzte Dr. Ahlors wiederum gründlich untersucht. Die Untersuchung er- 
streckte sich namentlich auf Schädelbildung, Gesichts- und Gehörschärfe, Nase und 
Rachen, Lungen- und Herztbätigkeit. Hierbei wurde wieder ein hoher Prozentsatz an 
Skrofulose und Rhachitis leidende: Kinder festgestellt. Mit Degenerationszeichen fanden 
sich zwei Knaben, von denen der eine auffallend grosse, abstehende Ohrmuscheln, und 
der andere nur ein Auge hatte. Der Gesundheitszustand sämtlicher Kinder war 
im allgemeinen ein guter; nur einige Fälle von Masern und leider auch drei mit 
Parasiten kamen vor. An der Milchspende beteiligten sich 18 Zöglinge; jeder erhielt 
zu seinem Frühstück in der Zeit von Pfingsten bis zu den grossen Ferien ein Glas 
gute Milch. In die Ferienkolonie wurde ein Knabe, in die Stadtkolonie zwei Knaben 
und zwei Mädchen aufgenommen. — Ein grösserer Schulausflug und kleinere 
Spaziergänge im Interesse des Unterrichts mussten hinsichtlich des Haftpflichtgesetzes 
leider unterbleiben. Hoffentlich tritt hier seitens der massgebendeu Behörde bald eine 
Regelung ein. Nur die Kinder der Oberstufe besuchten an einem schönen Vormittag 
im September des Schuljahres die Blumen- und Gartenbau-Ausstellung, den in der 
Nähe des Ausstellungsplatzes stehenden neuen „Kaiser Wilhelm-Turm‘“ und das 
„Waldhaus“. Die Weihnachtsfeier der Hilfsschule fand am Sonutag vor Weihnachten, 
abends 5 Uhr im Schulsaale der Mittelschule, in schöner und würdiger Weise statt. 
Zu dieser Feier hatten sich ausser dem Lehrerkollegium die Eltern, Geschwister und 
Verwandten der Kinder, Freunde und Gönner der Schule zahlreich eingefunden und 
füllten den im hellen Lichterscheine des Weibnachtsbaumes erglänzenden Sual. Nach 
einem aufgestellten Programm wechselten Deklamationen und Gesänge von Weihnachts- 
gedichten und -liedern seitens der Kinder ab; verschönt wurde die Feier wieder durch 
den Mädchenchor der Mittelschule. Konfirmiert wurden Ostern d. J. 9 Kinder, 
6 Knaben und 3 Mädchen, von denen einer Bäcker, ein anderer Buchbinder werden 
will, zwei in eine Zigarrenfabrik und zwei in ländlichen Dienst gehen; die Mädchen 
übernehmen Aufwartungen. Es ist Pflicht der Schule, dass sio dio Kinder auch 
nach ihrer Entlassung in ihre Obhut nimmt und sie vor Entartung bewahrt. Der 
Unterricht wird in halbstündigen Lektionen erteilt. Der Lehrer der Unterstufe, Herr 
Krause, wird von Ostern ab ganz an der Hilfsschule beschäftigt und übernimmt dann 
die zu errichtende Vorstufe noch mit. Der 6. Heilkursus wurde vom 21. Oktober 1901 
an abgehalten. Zu diesem Kursus wurden 14 grössere Knaben, im Alter von 10 bis 
14 Jahren, zugelassen, während die jüngeren Stotterer für den nächsten Heilkursus 
zurückgestellt wurden. Die Übungsstunden fanden täglich von 4—5 Uhr in einem 
Unterrichtsraume der Hilfsschule statt. Bei Feststellung der früheren Krankheiten 
der stotternden Knaben wurden Diphtheritis, Scharlach, Masern, Croup, Keuchhusten, 


165 


Gehirnerschütterung, Gehirnentzündung, Skrofulose und Nasenwucherungen von den 
Müttern angegeben. In vier Fällen hatte sich die Sprache sehr langsam entwickelt 
und das Stottern bald bemerkbar gemacht. In den übrigen Fällen war das Stottern 
später, im 6. und 7. Lebensjahre, also in den ersten Schuljahren, oder auch nach 
überstandener Krankheit aufgetreten. Bei den meisten Knaben wurden zwar die an- 
gegebenen Krankheiten als Ursache zum Stottererübel bezeichnet, jedenfalls hat aber 
auch die Ansicht des Profossors Denhardt-Eisenach, welcher das Stotiern als eine 
Psychose, also als eine Seelenstörung auffasst, ihre Berechtigung. Dieses Übe! ruht 
in der Seele, bis es eines Tages durch irgend einen Umstand hervorgerufen wird. 
Bei zwei Brüdern, Joh. und Fr. H., deren Vater stottert, liegt ohne Frage Vererbung 
vor _ Das Merkwürdige ist nur, dass ein dritter Bruder, der im Alter zwischen den 
beiden steht, n'cht stottert. Je mehr man sich mit der Heilung der Stotterer be- 
schäftigt, desto mehr kommt man zu der Überzeugung, dass die Heilung dieses Sprach- 
gebrechens sehr schwer ist, und die eine Übungsstunde tärlich nur einen Tropfen 
auf den heissen Stein bedeutet. Jedenfalls werden die mit Stottern belasteten Kinder 
am ehesten und sichersten noch geheilt werden, wenn sie längere Zeit aus ihren 
Verhältnissen herausgenommen und in andere gethan werden, also vielleicht in eine 
Sprachheilanstalt. Aber auch da ist nicht immer mit Sicherheit auf eine anhaltende 
Heilung zu rechnen. So wurde der siebenjährige, goweckte Sohn einer sehr an- 
gesehenen Familie hier, weil er immer noch stotterte, ‚sobald die Übungsstunde 
vorüber war, zu Professor Denhardt in Eisenach gebracht, wo er woll acht bis zehn 
Wochen behandelt und als vollständig geheilt entlassen wurde. Hierauf besuchte er 
die zweite Vorklasse einer höheren Lehranstalt, arbeitete sich vom letzten zum zehnten 
Schüler seiner Klasse empor, bis er kurz vor Weihnachten einen Rückfall bekam, dass 
ihn seine Eltern sofort wieder zu Professor Denhardt bringen mussten. Daran ist 
nicht die Methode schuld, sondern der Seelenzustand des Sprachkranken selbst. Das 
Stottern ist nun einmal ein „unberechenbares Übel“. Die Hauptsache für den Sprach- 
leidenden wird immer die sein und bleiben, dass er stets, wo es auch sei, auf seine 
Sprache achtet, sich die nötige Ruhe zu bewahren weiss und mit voller Willenskraft 
gegen das in der Seele schlummernde Übel ankämpfet. — Unter den vierzehn stottern- 
den Knaben zeigte sich das Stottern als Vokal- und Konsonantenstottern in einigen 
Fällen hochgradig, in den übrigen Fällen weniger stark. Besonders auffallend waren 
bei einigen Schülern die Mitbewegungen beim Sprechen, als: Nicken mit dem Kopfe, 
Stampfen mit dem Fusse, Zittern in den Beinen u. a. Die Behandlung der in den 
Kursus Aufgenommenen erfolgte nach der sogenannien Gutzmannschen Methode, 
welche durch die bekannten Übungsbücher von A. Gutzmann, die Vokaltafel von 
M. Weniger und die Vokal-Thotographien von H Piper unterstützt wurde. Die 
Erfolge des Unterrichts waren zufriedenstellend.. Wenn auch nicht bei allen Schülern 
von einer vollständigen Heilung die Rede sein kann, so haben sich doch sämtliche in 
ihrem Sprechen wesentlich gebessert, wie dies auch in der Schlussprüfung, die am 
11. März dieses Jahres vor der Behörde stattfand, anerkannt wurde, 

Mannheim (Hilfsschule.) Die Ostern 1901 mit 2 Klassen errichtete Hilfs- 
schule wurde am Schlusse des Schuljahres von 31 Kindern (21 Kn. und 10 M.) be- 
sucht. — 


166 


Zürich (Schweizerische Anstalt fürEpileptische.) Von den am 31. Dezember 
1900 in der Anstalt weilenden 149 Kranken verliessen im Laufe des Jahres 1901 
die Anstalt im ganzen 26, von denen 10 als gebessert und 2 als geheilt bezeichnet 
werden konnten. Aufgenommen wurden 42 Kranke Bei 69 %, aller Aufgenommenen 
entwickelte sich die Krankheit auf dem Boden erblicher Belastung, während sich in un- 
gefähr 31%, Tiunksucht in der Ascedenz nachweisen liess. Bei 2 weiblichen Kranken 
trat nach Kopfverletzung eine Verschlimmerung des Leidens ein, und bei 2 männlichen 
Patienten steht die Krankheit im Zusammenhang mit cerebraler Kinderlähmung. Gegen 
62 °/, der Aufgenommenen erkrankten im Kindesalter (bis zum 13. Jahre) und bei 
etwa 19%, fällt die Erkrankung entweder in die Entwicklungszeit oder in die Zeit 
nach dem 20. Jahre. 


Litteratur. 

Die Geisteskrankheiten. Eine gemeinverständliche Darstellung von Dr. 
J. Finekh. München 1902. Verlag der „Ärztlichen Rundschau“ (Otto Gmelin). 
88 Seiten. Preis 2 Mk. 

Eine gemeinverständliche Darstellung der Geisteskrankheiten, welche die mannig- 
fachen Vorurteile des Publikums, die noch heute über das Wesen und die Behandlung 
der Geisteskranken vielfach bestehen, widerlegen will, fehlte bisher. Der Verfasser 
hat deshalb in seiner Abhandlung auch weniger Wert auf Vollständigkeit und Er- 
schöpfung des Materials gelegt, als vielmehr Bedacht auf eine möglichst anschauliche 
und klare Ausdrucksweise genommen. Seine Schrift bietet in der Hauptsache eine 
fassliche Darstellung des Wesens der Geisteskrankheiten, ihre bekannteren Formen, 
der Behandlung der Geisteskranken und ihrer Stellung im bürgerlichen Leben und 
vor Gericht. Der Schluss bringt einen kurzen geschichtlichen Abriss über die Ent- 
wicklung des deutschen Irrenwesens und stellt die Grundsätze auf, welche die 
moderne Fürsorge für eine rationelle Behaudlung der Geisteskranken zu beobachten 
hat. Einen hohen Wert erhält die Schrift dadurch, dass der Verfasser durch 
eine etwas breitere Schilderung der Ursachen der Geisteskrankheiten auf die 
Gefahren hinzuweisen sucht, welche die heutigen, vielfach ungünstigen sozialen und 
wirtschaftlichen Verhältnisse unseres Volks für die geistige Gesundheit mit sich 
bringen. Die Menschheit soll aus der Kenntnis der Ursachen Massregeln zur Ver- 
hütuug der immer mehr um sich greifonden Geisteskrankheiten gewinnen und ihnen 
vorbeugen lernen. Infolge der innigen Beziehungen, welche zwischen Geisteskrankheiten 
und Geistesschwächen bestehen, gewinnt die vorliegende Schrift auch eine gewisse 
Bedeutung für uns, zumal sie die normalen und anormalen Funktionen des Gehirns 
in durchaus fruchtbringender Weise erörtert. Der Verfasser hat in der Darstellung 
fast durchweg an der gemeinverständlichen Ausdrucksweise festgehalten und nur da 
wissenschaftliche und technische Ausdrücke gewählt, wo sie nicht zu umgehen waren. 
Wir halten seine Schrift für den vorhin angedeuteten Zweck für vollkommen geeignet 
und überhaupt für beachtens- und lesenswert. 

Die psychische Entwicklung und pädagogische Behandlung schwer- 
höriger Kinder. Von Karl Branekmann. Berlin 1901. Verlag von 
Reuther & Reichard. 96 Seiten. Preis Mk. 2.—. 


167 


—{uu m M 0 


Der Verfasser vorliegenden Buches ist Besitzer und Lehrer der Lehr- und Er- 
ziehungsanstalt für Schwerhörige und Ertaubte zu W.-Jena. Seine Arbeit kann des- 
halb als eine Frucht eigener Beobachtung und Erfahrung, wie sie ihm die praktische 
Lehr- und Erziehungsarbeit an schwerhörigen Kindern, sowie der tägliche familiäre 
Umgang mit ihnen ermöglichten, bezeichnet werden. 

Im ersten Abschnitte der Arbeit wird das Empfindupgsleben des schwerhörigen 
Kindes besprochen. Seine Empfindungen sind nicht nur quantitativ oingeschränkt, 
sondern sie erleiden auch mannigfache qualitative Veränderung infolge der Gehör- 
schwäche. Dadurch wird das gesamte Empfindungsleben ungünstig beeinflusst, ins- 
besondere aber die Entwicklung der Sprachempfindungen. — Der zweite Abschnitt 
behandelt das Vorstellungslebeu des schwerhörigen Kindes. Die Hemmung der Sprach- 
entwicklung, eive natürliche Folge der Schwerhörigkeit, bewirkt, dass ein solches Kind 
auf einer im allgemeinen niedrigen Stufe der geistigen Entwicklung stehen bleibt, 
Sein Vorstellungsleben erscheint verändert und verengt, ebenso sein Gemüts- und 
Willensleben. Die Charakterbildung leidet besonders, wenn, was so häufig geschieht, 
falsche Erziehungs- und Lehrmassnahmen zur Anwendung gelangen. — Der dritte 
Abschnitt verbreitet sich über die pädagogische Behandlung des schwerhörigen Kindes. 
Es wird darin zunächst der Versuche gedacht, die geeignet erscheinen, eine Besserung 
der gestörten Hörfunktion herbeizuführen. Sodann kommt der Verfasser auf die Auf- 
gaben zu sprechen, welche das Haus einem solchen Kinde gegenüber zu erfüllen hat 
und behandelt zuletzt die Erlernung und Einübung der Sprache, die intellektuelle 
Ausbildung, die Gemütspflege und die künstlerische Erziehung. — Im vierten Ab- 
schnitt fo.gt eine in psychologischer und pädagogischer Beziehung recht interessante 
Auseinandersetzung, die das Verhältnis zwischen dem optischen und akustischen Sprach- 
auffassungsweg erörtert und die Bedeutung der motorischen Sprachvorstellungen be- 
handelt. 

Die grosse Anzahl schwerhöriger Kinder erfordert es dringend, dass wir uns 
unserer Erziehungspflichten gegen sie in der rechten Weise bewusst werden. Die 
Schwerhörigen sind nicht wie Vollsinnige zu behandeln, aber auch nicht wie Schwach- 
sinnige, sondern sie verlangen eine eigene, ihrer Individualität entsprechende päda- 
gogische und didaktische Behandlung. Die Grundprinzipien und Methoden zu einer 
solchen Behandlung finden wir in der vorliegenden Schrift klar und deutlich dargelegt. 

Die Geisteskraukheiten des Kindesalters mit besonderer Berück- 
sichtigung des schulpflichtigen Alters. Von Dr. Th. Ziehen, Prof. an 
der Universität zu Utrecht. Berlin 1902. Verlag von Reuther & Reichard. 
79 Seiten. Preis Mk. 1.80. 

Die vorliegende Schrift bildet die erste Abhandlung eines Werkes, das in 3 Heften 
erscheinen und eine spezielle Darstellung der einzelnen Geisteskrankheiten des Kindes- 
alters, sowohl der angebornen wie der erworbenen, bieten wird. — Das erste Heft 
behandelt die angebornen und erworbenen Psychosen mit Intelligeuzdefekt oder die 
Defektpsychosen des Kindesalters. Dadurch gewinnt die Schrift gerade für uns eine 
ganz besondere Bedeutung. Nachdem der Verfasser sich in wissenschaftlicher Dar- 
stellung und mit kritischer Würdigung des bisherigen Materials über die Häufigkeit 
und die Ursachen der Defektpsychosen verbreitet hat, kommt er zur Besprechung der 


168 


Symptome, zunächst der psychischen, dann der körperlichen. Er beschreibt in gemein- 
verständlicher und doch wissenschaftlicher Art und W«ise die Äusserungen und Er- 
scheinungen des eigenartigen, von der Norn abweichenden Seelenlebens der. mit Defekt- 
psychosen behafteten Kinder. Die gewonnenen Erlebnisse bekunden den scharfsinnigen 
Beobachter und erfahrenen Psychiater und gebon uns wichtige Richtlinien zur Erkennung 
und Beurteilung psychopathischer Minderwertigkeiten. Beachtenswert sind auch dio 
Angaben über die eigentümlichen körperlichen Symptome, welche nicht selten an dem 
Körper der an Defektpsychosen leidenden Kinder wahrgenommen werden können. Dor 
Verfasser macht dann einige allgemeine Mitteilungen über Erkennungsmerkmale der 
angebornen Defektpsychosen (Imbezillität) und spricht im Anschlusse daran über die 
Heilungs- und Besserungsaussichten und über die Behandlung derselben. Die päda- 
gogische Mitwirkung in dieser Angelegenheit weiss er voll und ganz zu würdigen 
und beurteilt unsere Thätigkeit und unsere Bestrebungen auf dem Gebiete der 
Schwachsinnigenbildung sehr anerkennend. Seine Vorschläge für die Behandlung 
können wir durchweg billigen, da sie vom Standpunkte gründlicher Sachkenntnis, 
richtiger Beurteilung des Gegenstandes und eingehender pädagogischer Erfahrung 
aus gemacht werden. Den Schluss des Heftes bildet eine kurze Abhandlung 
über erworbene Defektpsychosen, unter welchen die Dementia epileptica einer ein- 
gchenderen Erörterung unterzogen wird. — Ziehens Name bürgt für die Brauchbarkeit 
des Werkes; wir empfehlen es als eine hervorragende Erscheinung auf dem Gebiete 
der medizinisch-pädagogischen Litteratur. 


Erzieher 


(Ehrist) wird gesucht für einen nervös veranlagten 16 jährigen Knaben in einem 
Städtchen Mäbrens. Pädagogische Vorbildlung und Erfahrung namentlich im Unter- 
richte geistig zurückgeblieboner Kinder unbedingt notwendig. Unterrichtsgegenstände 
orstrecken sich etwa auf jene der Bürgerschule. Der Posten steht für mehrere Jahre 
in Aussicht. 

Honorar 1600 Kronen und eine Renumeration von 800 Kronen nach Schluss 
jeden Schuljahres nebst vollkommen freier Station. 
Anträge zu richten an Dr. K., Franz, Wien IX. B. Fuchsthallergasse Nr. 8. 





Seminaristisch gebildeter Lehrer für den Unterricht von schwachsiunigen und 
geistig aumiersebliebenen Kindern in unserer Blödenaustalt gesucht. 


Direktion der Neinstedter Anstalten. 











Inhalt. Das Personalheft im Dienste der Schwachsinnigenbildung. (Fr. Frenzel.) 
— Nochmals die neue Anweisung vom 26. März 1901 und noch einiges andere. (K. Ziegler.) 
— Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. (Schluss) (Schwenk.) — Mit- 
teilungen: Leipzig, Gera, Mannheim, Zürich. — Litteratur: Die Geisteskrankheiten. — 
Die psychische Entwickelung und pädagogische Behandlung schwerhöriger Kinder. — 
Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. — Inserate. 




















Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions -Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden; 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


‚Ku 
V” Nr. 11. XVII. Al) J 


-  Zeitsehrift 


für die 


Behandlung Schwaclsinmger und Kplepüscher 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 





Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezial 
Dresden - Strehlen, für Ne ek rankhaiten 
Residenzstrasse 27. in Stuttgart 


Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 


mindestens einem Bogen. Anzeigen für | ' und Postämter, wie auch direkt von dır 
die gespaltane Petitzelle 25 Pfg. Litte- | November 1902. | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Das Freihandzeichnen in der Hilfsschule zu Leipzig. 


Wenn wir es versuchen, uns über das Freibandzeichnen in der Hilfsschule 
auszusprechen, so geschieht dies nur unter besonderer Berücksichtigung der Ver- 
bältnisse, wie solche hier in Leipzig liegen. Es wird demnach nicht beabsichtigt, 
mit der folgenden Abhandlung etwas Allgemeingültiges bieten zu wollen. Wie 
sollte dies auch bei der durch die so mannigfache Organisation der Schulen für 
Schwachsinnige bedingten Verschiedenheit des unterrichtlichen Betriebes in ihnen 
möglich sein! Aber selbst innerhalb dieses engeren Rahmens kann es sich nicht 
um eine erschöpfende Auseinandersetzung über das beregte Lehrgebiet handeln. 
Vor allem soll jene Art des freien Zeichnens vollständig ausser acht bleiben, 
welche als Konturzeichnen gelegentlich und zwar im engsten Anschluss ins- 
besondere an den Anschauungsunterricht und die Realien bebufs Förderung des 
Interesses und Verständnisses für den zu behandelnden Lehrstoff und der Kenntnis 
der sich im Unterrichte dem kindlichen Auge bietenden Formen vom Schüler 
mehr oder weniger gefordert wird. Die folgende Darlegung betrifft nur das 
Freihandzeichnen, soweit dieses als gesondertes, selbständiges Fach 
Behandlung findet. Um jedoch den Ausführungen einen festeren Stützpunkt 
zu verleihen und die Grenzen unseres Freihandzeichnens deutlicher zu bestimmen, 
werden wir einerseits der Übungen gedenken müssen, die bei uns in dem ge- 
bundenen Zeichnen dem freien als Grundlage vorausgehen, und andererseits 
des öfteren hinüberzublicken haben in das Gebiet des Volksschulzeichnens. 

In der Hilfsschule zu Leipzig wird das Zeichnen in allen Klassen betrieben, 
und es werden ihm in jeder derselben wöchentlich zwei Stunden gewidmet. 
In den unteren Klassen findet das Netzzeichnen seine Pflege, dem in den 







„TILDEN FOUND AND | 


170 


mittleren das stigmographische folgt. An dieses reiht sich das Mass- 
zeichnen der zweiten Klasse, das dann dem Freihandzeichnen der ersten 
Platz macht. 

Der sich meist auch im Schwachsinnigen regende Trieb, sich zeich- 
nerisch zu bethätigen, fordert es, bei Zeiten durch geeignete Übungen 
erfasst, geleitet und gekräftigt zu werden, und die sich in einzelnen unserer 
Schüler verratende grössere Fähigkeit im Auffassen und Geschicklich- 
keit im Darstellen von Formen benötigen zu ihrer Ausbildung eine früh- 
zeitige Einwirkung unterrichtlicher Art, und sie bedürfen eine solche, auch 
wenn diese Seite geistiger Regung bei einer späteren Berufswahl etwa unberück- 
sichtigt bleiben sollte. Gerade im Schwachsinnigenunterrichte ist es unerlässlich, 
dass der Lehrer sich so zeitig als möglich der sich im Kinde äussernden Kräfte, 
seien sie, welcher Art sie wollen, bemächtigt, um einen möglichsten Einfluss 
auf den schwachen Geist zu erlangen Vor allen Dingen erscheint kein anderes 
Unterrichtsfach in dem Grade dazu geeignet, die für die geistige Entwicklung 
Schwachsinniger von grösster Bedeutung sich erweisende Bildung von Hand 
und Auge zu fördern, als das Zeichnen, und so ist in der Hilfsschule ein früh- 
zeitiges Einsetzen zeichnerischer Übungen geboten. Lassen sich doch 
gerade letztere so elementar gestalten, dass sie auch unseren Schwächsten ange- 
passt werden können, und so vom Leichten zunı Schweren anordnen, dass sie 
sich selbst dem äusserst langsamen Fortschreiten schwacher Kräfte anzuschliessen 
vermögen. 

Auf der untersten Stufe mit den einfachsten Übungen beginnend, führt zu- 
nächst das Netzzeichnen, das in quadrierte Rechenhefte erfolgt, das Kind 
nach und nach durch ein Gebiet gerader und gebogenliniger Figuren hindurch 
Das stigmographische Zeichnen stellt dann, indem es die eine Stütze, die 
Linie, entzieht, grössere Anforderungen an die kindliche Leistungsfähigkeit und 
sucht diese noch durch Gewährung verschiedener, wachsender Punktweiten und 
durch Darreichung von Vorlagen mit zusammengesetzteren und mannigfaltigeren 
Formen zu erhöhen. 

Der schwachsinnige Schüler, welcher im Anfange oft kaum dazu geschickt 
fst, den Stift richtig anzufassen, geschweige denn, ihn vorschriftsmässig zu 
tühren; er, dem es erst nicht möglich ist, mit diesem auf einer deutlich sicht- 
baren Linie eine kleine Strecke weit hinzufabren, ohne erheblich abzuweichen: 
derselbe erlangt, wenn auch ganz allmählich und oft erst nach Jahren, nicht 
allein die Fähigkeit, innerbalb eines Liniennetzes regelrechte, selbst krumm- 
linige Figuren einfacher Art darzustellen, sondern vermag es später auch, ent- 
fernter liegende, gegebene Punkte durch gerade, ja, wenn auch unter engem 
Anlehnen an das Punktnetz, durch gleichmässig gekrümmte Linien nach Mass- 
gabe einer Vorlage zu verbinden 

So bekommt durch planmässige Übungen im Netz- und stigmo- 
graphischen Zeichnen die Hand grössere Leichtigkeit, Ruhe und 
Sicherheit, und das Auge wird befähigt für die Erkenntnis des Rich- 
tigen in Richtung, Grösse und Entfernung der Linien; der kindliche 


Geist nimmt eine Summe von Formenbildern in sich auf, und der 
Sinn für Ebenmass und Schönheit, Reinlichkeit und Genauigkeit wird 
geweckt und geschärft, 


In Anerkennung dieser Förderungen, die unsere Schüler durch das gebundene 
Zeichnen erhalten, ist es uns nicht gegeben, dem oft ausgesprochenen Urteile, 
welches jenen beiden Arten des Zeichnens jeglichen Wert abspricht, von unserem 
Standpunkte aus beizutreten. Im Gegenteil, wir erblicken in jenen Erfolgen 
die unerlässliche Grundlage, auf denen sich unser freies Hand- 
zeichnen aufbaut. Vor allem erscheint uns die Summe erzielter technischer 
Fertigkeiten wertvoll genug, dem gebundenen Zeichnen seine notwendige Stellung 
im Schwachsinnigenunterrichte zu sichern. Jene technische Vorbildung enthebt 
uns im Freihandzeichnen einer Menge sich sonst aufdrängender, zeitraubender 
und langweilender Vorübungen, der fortgesetzten Darstellung von Wagerechten, 
Senkrechten und Schrägen, von Winkeln u. dergl., und ermöglicht das sofortige, 
erfolgreiche Einrücken in das Gebiet geschlossener, lebensvoller Formen. 


Gleichwohl stellen sich dem Freihandzeichnen, trotz jener Vorbildung, von 
vornherein nicht geringe Schwierigkeiten entgegen. Das Kind, bis jetzt 
gewöhnt, die Ausgangs-, Berührungs- und Endpunkte der Linien vorzufinden 
hat noch keine Veranlassung gehabt, die Grössen-, Richtuugs- und Entfernungs- 
verhältuisse selbst zu bestimmen, und es entgeht ihm deshalb die nach dieser 
Seite absichtlich hinzielende Ausbildung. Das Auge hat zwar jahrelang das 
Regel- und Ebenmässige zahlreicher Figuren geschaut, ist jedoch noch nicht 
zu jenem Sehen gelangt, welches dazu erforderlich ist, Teilpunkte in eine Linie, 
einzutragen, gleiche Grösse Linienteilen und Linien zu geben oder die Lage 
Entfernung und Richtung dieser frei, ohne jeglichen Anhalt, abzuschätzen. Und 
diese Schwierigkeiten steigern sich im Freihandzeichnen im Laufe der Zeit mehr 
und mehr; neu auftretende Formen, vor allem solche, die sich nicht mehr auf 
das Quadrat gründen, erheben neue, grössere Ansprüche an die Leistungsfähig- 
keit des Zeichners. 


Man thut deshalb gut, wenn man seine Erwartungen hinsichtlich der 
Leistungen unserer Schüler im Freihandzeichnen nicht zu hoch spannt: 
Unsere Kinder müssen sich mit dem Bestimmen der Längen, Abstände usw., 
insbesondere im Anfange, oft recht abmühen, ehe sie das Richtige finden, und 
das Zeichnen schreitet deshalb sehr langsam fort. Die fertigen Zeichnungen 
sind oft nicht so regelrecht und so genau, und die Anzahl derselben ist am 
Ende des Schuljahres nicht allzu gross. Und so kann es geschehen, dass die 
etwa zu Ostern ausgestellten Freihand-Zeichnungen sowohl nach qualitativer als 
nach quantitativer Seite hin im Urteile des unkundigen Beschauers, z. B. auch 
hinter stigmographischen, zurückstehen. 


In Erwägung letzterer Punkte könnte man versucht sein, dem Zeichner 
mechanische Hilfsmittel in die Hand zu geben, welche leicht und bequem 
über technische Schwierigkeiten hinweghelfen und ein genaueres und schnelleres 
Arbeiten in Aussicht stellen. 


172 


Früher waren wir selbst in dieser Beziehung bis zu einem gewissen Grade 
duldsam, indem wir dem Schüler — doch erst dann, nachdem derselbe vorher 
durch Augenmass die Grössenverhältnisse bestimmt und eingetragen hatte — 
erlaubten, nun mittelst eines ihm erst jetzt zugänglichen Papierstreifens das 
Gefundene auf seine Richtigkeit hin zu prüfen und, wenn nötig, darnach zu 
verbessern. Doch, um den sich einschleichenden Unzuträglichkeiten auszuweichen, 
sind wir von dem „Probierstreifen“ abgegangen. Wenn wir aber, wie solches 
in unserer zweiten Klasse geschieht, dem Kinde gestatten, zum Bestimmen von 
End- und Teilpunkten ein Messband zu benutzen, so geschieht dies deshalb, 
weil wir die Einfügung des „Masszeichnens“ als einer wünschens- 
werten Zwischenstufe zwischen dem stigmographischen und dem 
Freihandzeichnen für nötig erachten. Das letztere würde man auch um 
einen guten Teil seines bildenden Wertes bringen, wollte man es mit dem 
geometrischen verbinden. Die Anwendung von Lineal, Zirkel u. s. w. lässt sich 
bei uns in das Bereich des Handarbeitsunterrichts verweisen. Hier giebt es 
Gelegenheit noch genug zur Übung im geometrischen Konstruieren, und mit 
dem erwähnten Unterrichtszweige liesse sich auch, wo man das Bedürfnis 
empfindet, ein nebenhergehender oder sich einordnender Kursus einer elementaren 
Konstruktionslehre verbinden. 

Indem wir so gegen die Verwendung der einen wie der anderen Art von 
Messinstrumenten beim „freien“ Zeichnen sind, streben wir an, demselben auch 
in der Hilfsschule seinen Charakter zu wahren und das ihm innewohnende 
Vermögen, auf Hand und Auge ganz besonders bildend einzuwirken und die 
gesamte Geistesbildung fördernd zu beeinflussen, nicht zu verkümmern. 
Erschwernisse, die im Unterrichtte hemmend entgegentreten, dürfen nicht 
zu falschen methodischen Massnahmen drängen, sondern müssen gerade den 
Anreiz in sich bergen, durch ihre Überwindung noch unentwickelte Kräfte des 
zu bildenden aus ihrem Schlummer zu wecken, in das Feld geistiger Bethätigung 
zu rücken und grösserer Entwicklung entgegenzuführen. 

Dazu lehrt die Erfahrung, dass jene Stützen auch dem Schwachsinnigen 
schliesslich entbehrlich sind. Kinder, denen es nicht möglich ist und wird, 
ohne solche zu arbeiten, sind nicht befähigt, freihändig zu zeichnen. Die innere 
Organisation der Hilfsschule, die ihre Schüler den einzelnen Fächern nach ihrer 
Leistungsfähigkeit zuerteilt, ermöglicht es, jene auf der vorhergehenden Stufe 
zurückzuhalten bez. dahin zurückzuversetzen. 

Die Möglichkeit jedoch, auch unsere Schüler freihändig zeichnen 
zu lassen, bewegt sich freilich — und zwar nichıt allein aus technischen 
Gründen — in engen Grenzen. Es mag wohl dann und wann vorkommen, 
dass selbst aus der Reihe unserer Schwachsinnigen einer oder der andere durch 
besondere zeichnerische Begabung hervortritt, wie in der Volksschule ja auch mit- 
unter ein sonst Schwachbegabter im Zeichnen Vorzügliches leisten kann; im 
allgemeinen aber stehen auch in diesem Fache unsere Kinder weit 
hinter Norınalbegabten zurück. Unsere Zeichner, denen, jene seltenen 
Ausnahmen abgerechnet, eine genügende Geschicklichkeit der Hand und eine 


173 

grössere Schärfe des Gesichts abgeht, denen das klare, schnelle Auffassen und 
eine stärkere Phantasie fehlt, die dem normalen Kinde eigen sind, können nicht 
jene hoben Ziele erreichen, zu denen sich ein mit gesunden Sinnen und kräftigem 
Geiste begabter Schüler emporschwingt. Ganze Gebiete des Volksschul- 
zeichnens kommen in Wegfall, weil sie über das geistige Niveau Schwach- 
sinniger hinausgehen. Oder welchem von unseren Schülern wäre es gegeben, 
uns in das Bereich der Perspektive und der Licht- und} Schattenlehre zu 
begleiten, welchen möglich, mit sicherem Blicke und gewandtem Stifte den 
Körper mit seinen verkürzten Flächen auf dem Papiere entstehen zu lassen, ihn 
nach Modell mit Wischer und Kreide plastisch wirkend darzustellen ? 

So legt uns die geringere Begabung unserer Schüler hinsichtlich des Zeichen- 
stoffes Schranken auf. Für uns bleibt nur die Darstellung der unver- 
kürzten Fläche Ja selbst innerhalb der Bearbeitung des Flach- 
ornaments ist uns allenthalben Kürzung und Vereinfachung geboten; 
nur das Elementarste können wir auswählen. 

Wenn wir uns nun anschicken, dem etwa zu bietenden Zeichenstoffe und 
dessen methodischer Behandlung näher zu treten, erscheint es angebracht 
uns zunächst des Stoffes zu erinnern, mit dem sich unsere Schüler vorher 
beschäftigt haben. Das Netz- und das stigmographische Zeichnen haben es natür- 
lich ebenfalls mit ornamentalen Gebilden zu thun, und sie führen das Kind in 
eine grosse Mannigfaltigkeit von Formen hinein. Doch all diese haben immer 
das eine gemeinsam, dass sie auf derselben Grundlage, auf dem Quadrate, fussen- 
Für das Freihandzeichnen würde das eine Einseitigkeit bedeuten, die als über- 
wunden der Vergangenheit angehört. Die Grundbestandteile, die in den Formen 
der Natur und Kunst wiederkehren, erblicken wir in einer grösseren Anzahl 
geometrischer Figuren, vor allem im Quadrate, im regelmässigen Acht-, 
Drei-, Sechs- und Fünfecke, im Kreise, in der Ellipse und der Spirale. 
Wollen auch wir unseren Kindern ein, wenn auch nur verhältnismässig einfaches 
Verständnis der Natur- und Kunstformen übermitteln, ihren Blick für das Gesetz- 
und Ebenmässige derselben nnr einigermassen schärfen und in ihnen den Sinn 
für die Schönheiten der sie umgebenden Welt der Gestalten wecken, so müssen 
wir alle die genannten Formen unserem Freihandzeichnen zugrunde legen. Nur 
durch den Aufbau der Ornamente auf dieselben erlangt der Schüler die 
Fähigkeit, die von ibm zu zeichnenden Figuren auf ihre Elemente zurückzuführen 
und seine Zeichenaufgabe wenigstens mit einigem Verständnis zu erfassen. 

Unternehmen wir es nun, einen Gang durch das Bereich unseres Lehr- 
stoffes anzutreten, so kann derselbe nur ein kurzer sein; es kann dabei nur 
dem Hauptsächlichsten Beachtung geschenkt werden. Vor allem wird nicht 
all der Ornamente gedacht werden können, die sich etwa ausführen lassen; sie 
können nur angedeutet werden. Dagegen soll der Konstruktion der geometrischen 
Grundformen mehr Augenmerk zugewandt werden, damit zugleich erhelle, dass 
mit unseren Kindern ein Freihandzeichnen auf dieser Basis stattfinden kann. 

Wir beginnen mit dem Quadrat und zwar, damit der Schüler vorerst im 
Bilden von Senkrechten und Wagerechten gleicher Länge, mithin zugleich von 


174 

Parallelen geübt und mit dem Teilen derartiger Linien vertraut werde, mit dem 
auf der Seite stehenden, setzen mithin das auf die Spitze gestellte an zweite 
Stelle. Es fusst dies zwar auf derselben Grundlage wie jenes, auf dem Kreuz, 
und seine Herstellung ist kürzer; aber in ihm kommt absichtlich das Ziehen und 
vor allem das Teilen der Schrägen hinzu, welch beide Thätigkeiten, bei senkrecht 
liegendem Zeichenbogen ausgeführt, eine andere, schwierigere Stellung der Linie 
zum Auge und eine andere Haltung der Hand fordern, mithin eine weitergehende 
Ausbildung beider Organe bezwecken. Als Nebenform kann nach dem ersteren 
Quadrat das Rechteck, nach dem zweiten das gleichschenklig recht- 
winklige Dreieck eingelegt werden, welch letzteres, aus der Grundlinie und 
Höhe konstruiert, das den Kindern viel Schwierigkeiten bereitende Gleichmachen 
zweier Schenkel weiter zur Geltung bringt und so das Zeichnen des Achtecks 
noch mehr vorbereitet. Das Achteck fügt sich, sofern seine Herstellung aus 
den acht Strahlen und nicht auf Grund zweier, ineinander gelegter Quadrate 
geschieht, hier bequem an und kann,'dann auf die zuletzt gedachte Art gewonnen, 
zu einer weiteren Übung Veranlassung geben. 

Da indes die geometrischen Formen die Grundlage abgeben, auf der sich 
das Ornament aufbaut, sei es, dass jene als Umriss das feste Gefüge bilden, 
innerhalb dessen sich das ornamentale Gebilde als Füllung einlegt, oder sei es, 
dass nur einzelne Teile derselben die Elemente zum Aufbau einer neuen Figur 
liefern, so haben sich beide von Anfang an eng mit einander zu vereinigen. 
Durch die Verbindung vorhandener oder leicht einzulegender Teilpunkte mittelst 
Gerader sind bereits innerhalb des ersten Quadrats soviel Fälle möglich, dass 
an Formen kein Mangel ist, und jede neue Grundform giebt zur Bildung neuer 
Figuren Anlass. Sind es besonders die Sterne und sternartigen Gebilde, die bier 
vorherrschen, so giebt doch auch die Umgebung Fingerzeige genug zu anderen Aus- 
führungen, zu Zeichnungen geradliniger, rechtwinkliger Gegenstände, zur Dar- 
stelllung von Füllungen in solchen usw. 

Es liegt nun die Versuchung nahe, dass durch die jetzt. folgende Anreihung 
des Drei- und Sechsecks der dadurch veranlassten weiteren Behandlung der 
geraden Linie ein allzuweiter Spielraum gelassen werde, wodurch dann in Bezug 
auf die sich auf beide Elementarformen gründenden Figuren rein geradliniger 
Art der Zeichenstoff der Abwechslung gegen bereits Behandeltes entbehren und 
so der Einförmigkeit nahekommen würde. Es erscheint deshalb rätlich, schon 
jetzt oder besser bereits beim Achtecke die gebogene Linie, soweit sich 
deren Verlauf durch gewisse Teilpunkte oder Hilfslinien leicht bestimmen lässt, 
einzulegen, und ferner, damit dem Auge des Schülers schon zeitig der sichere 
Massstab für die Beurteilung gekrümmter Linien, der Kreis, gegeben werde, 
auch diesen schon jetzt herbeizuziehen. Dem Auftreten des Vollkreises steht in 
technischer Beziehung kein Hindernis entgegen, da das Achteck in seinen acht 
Strahlen die genügende Zahl der Berührungspunkte giebt. Des Kreises Ver- 
wendung zu Umriss, Kern, Ring u. dergl. lässt eine grössere Mannigfaltigkeit 
bei dem an Acht-, Drei- und Sechseck angeschlossenen Sternfiguren, Rosette, 
Bandverschlingungen usw. zu. 


1% 


Das gleichseitige Dreieck, um nun auf dieses zurückzukommen, bereitet 
besondere Schwierigkeiten. Grundlinie und Höhe sind zwar leicht hergestellt; 
schwer ist aber das Anlegen der zweiten Seite. Liegt doch hier die Doppel- 
forderung vor, dieselbe der Grundlinie gleichzumachen und zugleich mit ihrem 
Eudpunkte in die Höhe einmünden zu lassen. Damit dem Schüler doch einige 
Erleichterung werde, sei ihm hierbei gestattet, den Zeichenbogen zu drehen, dass 
der zu bildende Winkel senkrecht vor dem Auge steht, um leicht wieder zu 
entfernende Probelinien anzulegen. Ein Vergleich dieser mit der Grundlinie wird 
bald auf das Richtige führen. Schon das Zeichnen eines zweiten Dreiecks erfolgt 
ziemlich sicher. 

In unmittelbare Beziehung zum Dreieck stellt sich das Sechseck. Bei seiner 
Konstruktion aus den zwei ineinander gelegten Dreiecken ist es ratsam, der Genauig- 
keit halber bei dem Einlegen des zweiten Dreiecks die Höhe zu teilen. Die 
Dreiteilung der Seiten, auf welche die Schüler zunächst kommen, lässt kleine 
Ungenauigkeiten mehr hervortreten und empfiehlt sich nur bei genauerem Zeichnen. 

Nachdem durch die frühzeitige, bereits bei dem Achteck erfolgende Ein- 
führung des Kreises eine ziemliche Fertigkeit in der Bildung desselben erlangt 
ist, erscheint es angebracht, nun eine kurze, selbständige Übung desselben, dar- 
nach des Halb- und Viertelkreises folgen zu lassen. Das Zeichnen dieser 
Kreisteile übt das Auge sehr und die Zusammenstellung derselben zu Rosetten 
und Blättern, Kanten, Mustern u. dergl., sowie von Kreisabschnitten zur Wellen- 
und Schlangenlinie bringt dem Kinde neue Begriffe entgegen. 

Durch das allmähliche Fortschreiten zu solchen Ornamenten, die sich durch 
mannigfacher und feiner gekrüämmte Linien auszeichnen, ist der Blick des 
Schülers so geschärft und die Fertigkeit der Hand so gesteigert worden, dass 
nun ohne grosse Not zu schwierigen Übungen übergegangen werden kann, zu 
denen die folgenden Grundformen Anlass geben. Von letzterem folgt zuförderst 
das Fünfeck. Schon die blosse Anlegung desselben innerhalb des Kreises ist 
nicht leicht. Fällt den Kindern bereits die Fünfteilung einer Geraden schwer 
so ist das Teilen einer vollen Kreislinie in fünf gleiche Teile ihnen geradezu 
unmöglich. Obgleich sich später mit schärfer Sehenden die unmittelbare Fünf- 
teilung des Halbkreises versuchen lässt, muss doch vorerst von der Zerlegung 
des Achtelkreises in Fünftel ausgegangen und dieser Weg für die Schwächeren 
beibehalten werden. Die Verwendung des Fünfecks zu Sternfiguren, Rosetten usw., 
deren Teile sich um den Mittelpunkt lagern, lässt sich kürzer abthun. Dagegen 
empfiehlt es sich, etwas ausführlicher auf solche Ornamente einzugehen, deren 
wesentliche Bestandteile ihren Ausgangspunkt an jener Stelle nehmen, wo sich 
die Verbindungslinie zwischen der zweiten und vierten Ecke einerseits mit der 
zwischen der fünften und dritten andererseits scheidet; denn hier ist uns ein 
weiterer Schritt hinein in das Gebiet des vegetativen Ornaments geboten und 
Anstoss gegeben, dem Kinde klarzulegen, mit welcher Regelmässigkeit sich alles 
aus dem einen Punkte heraus entwickelt und wie die Linien ineinander Ü er- 
gehen. Zur weiteren Pflege dieses Gedankens kann dann die Gewinnung ähn- 
licher Formen aus dem Sechs- und Achtecke dienen. 


176 

Mit dieser Kenntnis tritt der Schüler in die Besprechung der Ellipse ei... 
Die Zeichnung derselben aus den beiden Achsen, die sich wie 3:4 verhalten 
und denen nach Bedarf später ebenso andere Verhältniszahlen zu Grunde gelegt 
werden können, fällt nicht schwer, sonderlich, da in den Eckpunkten des einge- 
legten Rechtecks noch eine ausreichende Hilfe geboten ist. Das Kind hat ver- 
schiedene elliptische Gegenstände gesehen, vielleicht auch in die Ellipse eingelegte 
Ros tten, Sterne usw. mit ihrem elliptischen Kerne, von denen zunächst einige 
we: ge gezeichnet werden. Durch Teilung der Winkel, bei der das Auge sich 
durch die ungleiche Länge der Achsen leicht täuschen lässt, oder des Umfanges 
lassen sich leicht derartige Schönheitsformen finden. Desgleichen bereitet es 
keine besonderen Schwierigkeiten, zu zeigen, wie die elliptische Form bei dem 
Umriss zu Krügen, Vasen u. dergl. verwertet werden kann und wie durch geringe 
Mühe hier einfache Fächer gezeichnet werden können. Grössere Sorgfalt erfordert 
jedoch die Palmette. Wir verzichten bei derselben auf umständliche Konstruktionen, 
lehren den Schüler die besondere Teilung des Umfangs und die bestimmte Ver- 
wendung der entstandenen Teile und lassen ihn, selbst auf die Gefahr hin, dass 
nicht alles haarscharf werden soll, die gebogenen Linien durch Augenmass 
finden. Es dürfte sich dann die Entstehung der Palmette innerhalb des Kreises 
unschwer anreihen lassen. Schliesslich suchen wir zum einfachen Blatte 
hinüberzuleiten. Hauptsache bei demselben ist, dass der Schüler zu der Erkennt- 
nis gebracht wird, dass jederzeit der Ausgang von der Hauptachse, die durch 
die Hauptrippe des Blattes gegeben wird, zu nehmen und dass die (uerachse, 
dusch die grösste Seitenausdehnung des Blattes bestimmt, nach Lage und Länge 
im Verhältnis zu jener, der Längsachse, abzuschätzen und der Umriss darnach 
mehr frei zu entwerfen ist. Nach Entwicklung eines regelmässigen Blattes, bei 
der auch, wie schon früher bei Umrissen von Vasen usw. zum Teil geschieht, 
die Eiform herbeigezogen wird, kann sehr wohl einmal der Versuch mit dem 
Zeichnen eines gepressten Naturblattes gewagt werden. Die besseren Zeichner 
können selbst einfachere Blätter, deren Grundform von der geübten abweicht, 
ja zusammengesetztere Blätter und auch Naturzweige verwenden. 

So kommen wir am Ende zur Spirale und zur Schneckenlinie. Wir 
führen beide gleichzeitig vor und zeigen ihre Entstehung aus dem Linienkreuz. 
Die Schüler erkennen bald in der einen die Windung des Schneckenhauses wieder 
und erinnern sich dann auch der Spiralfeder der Uhr. Ein Hinweis auf die 
spiralig gewundenen Eisengitterverzierungen, auf die Spiralformen bei Laternen- 
trägern usw. lässt bald die häufige Benutzung der Spirale verspüren, und kurze 
Skizzen an der Wandtafel, beigebrachte Zeichnungen u. dergl. legen deren nicht 
seltenes Vorkommen in der Natur dar. Gründliches Anschauen einfacher Bei- 
spiele vermittelt doch einiges Verständnis dieser schwierigsten, aber auch schönsten 
Form, die sich in so mancherlei Zusammenstellungen zu allerhand Ranken, Blatt- 
und Blütengebilden dem Auge darstellt. 

Wir wissen wohl, was man uns nach Darlegung des zu behandelnden Lehr- 
stoffes entgegenhalten wird; man wird sagen: „Das ist des Guten zu viel!“ 
Auf diesen Einwand möchten wir ein Zweifaches erwidern: 


177 
Erstens ist es durchaus nicht darauf abgesehen, dass das ganze Arbeitsfeld 
in einem Jahre durchschritten werde. Der Zeichenstoff soll sich vielmehr auf 
zwei Jahre verteilen, etwa so, dass der Schüler im ersten Jahre bis an das 
Fünfeck herankommt und im zweiten von diesem an bis zu Ende geführt werde. 
Das ergiebt innerhalb der Klasse zwei Abteilungen. Für einzelne Schüler, 
die nach diesem zweijährigen Kursus die Schule noch besuchen, lassen sich genug 
Figuren finden, die geeignet sind, Hand und Auge weiter zu üben. Diejenigen 
Kinder freilich, die nur ein Jahr frei zeichnen, müssen sich begnügen, von dem 
Lehrstoffe der ersten Abteilung nur eine Anschauung mit hinwegzunehmen, da 
sie nicht zum Zeichnen desselben gelangen; sie werden bei der Besprechung des- 
selben mit herangezogen. Den gesamten Unterrichtsstoff so zu kürzen, dass er 
in einem Jahre bewältigt werden könnte, würde deshalb nicht rätlich sein, weil 
bei einer allzuweit gehenden Beschneidung das Ornament hinter der geometrischen 
Grundform zu sehr zurücktreten und allzu dürftig ausfallen müsste, hierbei aber 
der Zeichenunterricht seiner Aufgabe nicht gerecht würde. 

Zweitens wird nicht beabsichtigt, von jedem Schüler die Ver- 
arbeitung derselben Stoffmenge zu verlangen. Feststehende Forderung 
für alle ist zunächst nur die Beherrschung der Elementarformen. Sie bilden 
den gemeinsamen Ausgangs- und Vereinigungspunkt der zu einer Abteilung ge- 
hörenden Zeichner. Die Zeichnung ornamentaler Gebilde auf Grund jener ist 
dann das Gebiet, innerhalb dessen sich der Einzelne gemäss seiner Kraft bethätigt. 
Mag es dabei auch manchem gelingen, seinen Mitschüler an Zahl und Mannig- 
faltigkeit der gezeichneten Figuren zu überholen, so kommt doch auch derjenige 
zur Befriedigung, welcher es nur zu wenigen und einfacheren Formen bringt; 
denn er arbeitet wie jener nach seinem Vermögen. Dies möge uns auf die 
unterrichtliche Behandlung des Stoffes führen. 

Es darf nicht übersehen werden, dass unsere wenigen, fürs freie Handzeichnen 
ausersehenen Schüler der Zeichenaufgabe gegenüber sich im Vergleich zu einander 
verschieden verhalten. Wie ungleich ist oft der Grad der Schnelligkeit und 
Klarheit im Auffassen und Verstehen der Formen, wie verschieden ganz besonders 
die Zeichenfertigkeit. Ja bei dem Einzelnen selbst finden wir nicht selten eine 
gar einseitige Veranlagung vor, derart wohl, dass die manuelle Fertigkeit das 
intellektuelle Vermögen weit übersteigt, oder auch, dass die schwerfällige, un- 
sichere Hand nur mit Mühe und dann noch ungenau zu Papiere zu bringen 
vermag, was der Verstand ganz leidlich erfasste, und dergl. mehr. Wenn sich 
nun unser Zeichenunterricht die Aufgabe stellt, die Kinder nach Massgabe dieser 
ihrer verschiedenen Kräfte zu bilden, dann muss er sich jederzeit all der indi- 
viduellen Verschiedenbeiten bewusst sein, und das Prinzip möglichster Indi- 
vidualisierung muss alle seine methodischen Massnahmen durchdringen. 

Man könnte sich wohl zum Zwecke der besonderen Schulung jedes Einzel- 
nen dem ausschliesslichen Zeichnen nach Vorlagen zuwenden. Und gewiss, 
es stehen dieser Unterrichtsart Vorteile zur Seite. Vorausgesetzt, dass eine ge- 
nügende Zahl passender Vorlagen zur Verfügung steht, kann dem Kinde jeder- 
zeit eine dem Standpunkte seiner Handfertigkeit entsprechende Aufgabe zuerteilt 


nal 


werden und ihm so eine stetig wachsende, anerkennenswerte technische Förderung 
widerfabren. Auch lässt sich nicht leugnen, dass hierbei durch eine richtige 
Auswahl der Figuren der Sinn für das Schöne genügend gebildet werden kann. 
Jedoch bei näherer Betrachtung stossen wir auf einige, nicht unwichtige Be- 
denken. Bei der Zersplitterung der Kraft des Lehrers, die auch bei der ver- 
hältnismässig geringen Schülerzahl einer Klasse eintreten müsste, würde es ihm 
auch beim besten Willen, allen zu dienen, nicht gelingen, das intellektuelle 
Bedürfnis jedes Einzelnen, das dahin geht, zu einem wenigstens elementaren 
Verständnis der Aufgabe und so zu einem mehr bewussten Thun zu kommen, 
zu befriedigen. So darf man sich nicht verhehlen, dass bei einem Mangel an 
belehrendem Worte das Schaffen des Zeichners nur zu leicht zu einem mecha- 
nischen Tlıun, das Freihandzeichnen zu einer blossen Fertigkeit wird, die der 
des Schreibens nahe kommt. Endlich lässt ein solches Vorgehen jegliche selbst- 
schöpferische Regung des Geistes, sei sie auch noch so unscheinbar, gänzlich 
unberücksichtigt. 

Die Volksschule hat diesen Weg verlassen, eben deshalb, weil bei dessen 
Betreten die Bidung des Geistes, vor allem des Verstandes und der Phantasie, 
vernachlässigt werden musste. Sie hat sich dem Klassenunterrichte zuge- 
wandt und versucht nun, indem sie das belehrende Wort zugleich an alle 
richtet, durch methodische Zergliederung der Zeichenaufgabe unter Benutzung 
von Skizzen, die au der Wandtafel vor den Augen der Kinder entstehen, nicht 
allein ein Verständnis über den Zeichenstoff zu erzielen, sondern auch die 
Phantasie anzuregen, dermassen, dass der Schüler in den Stand gesetzt werde, 
die Aufgaben seiner Fähigkeit entsprechend mehr selbständig und eigenartig zu 
lösen. Es ist einleuchtend, dass man sich bei diesem Verfahren der Vorlagen 
ganz entledigen kann, und der strenge Vertreter dieser, der sogenannten ent- 
wickelnden Methode oder, wie man auch sagt, des individualisierenden 
Klassenunterrichts, thut dieses auch. Allerdings bedarf es dann noch 
mancher Anregung, die der oder jener Schüler während des Zeichnens selbst 
vom umsichtigen Lehrer empfängt. 

Es dürfte nicht schwer sein, zu erraten, welcher von beiden Unterrichts- 
arten wir mehr zuneigen und für welche wir uns entscheiden würden, wenn wir 
es mit normalen Kindern zu thun hätten. Im Schwachsinnigenunterrichte freilich 
ist die am vollkommensten ausgebildete Methode nicht immer die beste Wem 
würde es z.B. einfallen, schwachsinnigen Kindern das Lesen an Normalwörtern 
lehren zu wollen? Oder wer würde sich bei unserem Rechnen an die Grube’sche 
Weise binden? So ist's auch mit dem Freihandzeichnen in der Hilfsschule. 
Nicht etwa, dass wir uns hier auf die Urform alles Vorlagenzeichnens, auf das 
gedankenlose Kopieren werfen müssten; es giebt auch Unterrichtsmethoden, die 
die Vorteile der einen Richtung mit denen der anderen zu vereinen suchen, 
sogenannte Mittelwege, von denen wir einen betreten wollen. 

Da die zu zeichnenden Ornamente auf den früher erwähnten geometrischen 
Formen ruhen, so hat sich der Unterricht zunächst damit zu befassen, den 
Schüler zu einem elementaren Verständnis der jeweiligen Grundform 


179 

zu führen. Die Betrachtung derselben, die an’ der Hand eines vor den Augen 
der Kinder aus freier Hand des Lehrers entstehenden Wandtafelbildes stattfindet, 
sei kurz, halte sich nicht unnötig bei Nebensächlichem auf, hebe aber das 
Wesentliche um so schärfer hervor. Sie bemühe sich, vor allem das gegenseitige 
Verhältnis der Linien in Bezug auf Grösse, Richtung und Entfernung und dabei 
gleichzeitig die einfachsten Begriffe, wie Seite, senkrecht, wagerecht, gleichlaufend, 
Winkel, Grundlinie, Höhe, Umfang u. s. w., klarzulegen. Indem so auf der einen 
Seite durch die Herbeiziehung der elementarsten Erläuterungen aus 
der Formenlehre der Zeichenstoff zu grösserer Klarheit gebracht wird, erlangt 
auf der anderen Seite der Schüler über die wichtigsten Linear- und Flächen- 
formen eine einfache Kenntnis, die, in Verbindung mit den formenkundlichen 
Anschauungen und Belehrungen, welche der Handarbeitsunterricht bietet, uns an 
Stelle einer gesonderten „Formenlehre“ genügte. 

Bei der Besprechung der Grundformen leisten mitunter Pappausschnitte, die 
dieselben ganz oder nur in einzelnen Teilen darstellen, einen guten Dienst. 
Vor allem gewähren sie, bunt überzogen, einen leichten und schnellen Überblick 
über die Fläche und geben so einen Vorteil, der besonders deshalb nicht 
unterschätzt werden darf, weil sich gerade unsere Kinder, mit dem Auge sklavisch 
an der Linie hängend, zur Beobachtung der Fläche selbst nicht ohne weiteres 
erheben. Auch nach technischer Seite hin können jene erläuternd wirken, 
z. B. beim Verflechten von Rahmen, Ineinanderfügen von Blättern u. s. w. 

Umfangreicher und zugleich schwieriger ist nun die andere Aufgabe, die 
Behandlung des Ornaments selbst. Da die Besprechung der Grundform 
unter Benutzung der Wandtafel geschieht, so ist es naheliegend, zu versuchen, 
wie weit wir auch in dem zweiten Punkte an der Hand derselben mit unseren 
Kindern kommen. Jedenfalls kann hier gezeigt werden, wie durch gesetzmässige 
Teilung der Elementarform, durch gewisse Verbindung von End- und Teilpunkten 
oder auch durch Zusammensetzung von Linien und Linienteilen, die jener Form 
entnommen werden, einfache ornamentale Gebilde entstehen; es ist also hier die 
Möglichkeit gegeben, dem Kinde unter Anwendung des genetischen Unterrichts- 
verfahrens einen einfachen Begriff von der Entstehung des Ornaments und dem 
regelmässigen Aufbau desselben zu übermitteln. Dabei vermag der Unter- 
richtende zugleich auf das Kind anregend einzuwirken, dass dieses selbst mit 
sinnt, wie es hier oder da verfahren könne, um irgend eine andere Form heraus- 
zubringen oder auch in der Umgebung Geschautes oder von früher Behaltenes 
in die Aufgabe zu übertragen. Diese Anregung der auch in unserem Schwachen 
mehr oder weniger, wenn auch in geringerem Masse wie bei Normalen sich 
findenden Phantasie und der kindlichen Selbstthätigkeit ist jedenfalls ein nicht 
gering zu bemessendes Moment, das wir uns nicht entgehen lassen möchten. 

Freilich, ganz werden wir hier mit der Wandtafel nicht auskommen; wir 
werden in vielen Fällen auch von der Vorlage Gebrauch machen müssen, und 
das um so mehr, je weiter wir in unserem Zeichengange vordringen, sei es, dass 
wir sie zu der allgemeinen Besprechung als Beispiel für den jeweilig behandelten 
Fall heranziehen, oder sei es auch, dass wir sie dem Schüler unter Anlehnung 


180 

an den behandelten Stoff beim Zeichnen vorlegen. Für solche Kinder, deren 
allzu geringes Formengedächtnis nur wenig zu der Besprechung beizubringen 
bez. aus derselben mitzunehmen vermag und denen ein verschwindend geringer 
Grad von Phantasie eigen ist, wird sie stets von Vorteil sein und sie vor allzu 
dürren Reproduktionen bewahren. Und auch für den Begabteren wird es nicht 
ohne Wert sein, einmal eine verwickeltere Zeichnung nach Vorlage auszuführen 
oder unter Benutzung derselben auf neue Gedanken geführt zu werden. 

Es giebt wohl kaum eine Vorlagensammlung, die ganz unserem Zwecke 
entspräche. Die Zeichen- und Vorlagenwerke für normale Schüler bringen jedoch 
manches, was wir sofort benutzen können, und geben ausserdem so viel Finger- 
zeige, dass es nicht schwer hält, geeignete Vorlagen zu schaffer. Einige geringe 
Abänderungen genügen in vielen Fällen, um den sich vorfindenden Stoff unseren 
Verhältnissen anzupassen. Um den Vorlagen eine Grösse zu geben, die einerseits 
ein deutliches Erkennen auch geringerer Biegungen ermöglicht, andererseits noch 
eine bequeme Verwendung auf der Schulbank zulässt, empfiehlt es sich, die- 
selben auf Folio auszuführen, und damit sie dem Denken des Schülers noch 
einigen Raum gewähren, insbesondere seine Einbildungskraft einigermassen an- 
regen, die Figuren nicht ganz vorzuzeichnen, sondern wenigstens späterbin 
— selbstverständlich, soweit es sich mit der Form vereinbart — nur in ihrem 
charakteristischen Teile, durch dessen Wiederholung das Ganze entsteht. Jeden- 
falls ist es gut, wenn zur Figur selbst kräftige schwarze, zu den Hilfslinien 
feinere rote Linien angewendet werden und wenn sich diese letzteren nach und 
nach auf das Nötigste beschränken; denn auch die Vorlage soll sich dem Streben 
des Unterrichts anschliessen, das dahin zielt, den Schüler je länger um so mehr 
von der ängstlichen Anklammerung an entbehrliche Hilfe zu befreien und ihn 
dadurch zu einem selbständigeren Thun zu führen. 

Zu der Besprechung an der Wandtafel und zu der Herbeiziehung der Vorlage 
gesellt sich noch ein drittes, sehr wichtiges Mittel, das Kind mit seiner Aufgabe 
vertraut zu machen, das sind die Belehrungen, die dem einzelnen Schüler 
während der Ausführung der Zeichnung gegeben werden. Sie sind 
wertvoll deshalb, weil sie dem spezifischen Bedürfnisse des Einzelnen entgegen- 
kommen, und sie thun dies insbesondere dadurch, dass sie das Verständnis über 
den Zeichenstoff weiter fördern und sich der unscheinbarsten, schüchternen 
Äusserungen kindlicher Einbildungskraft bemächtigen und sie zu kleinen Er- 
gebnissen eignen Schaffens hinführen. Sie schliessen auch manche Winke nach 
technischer Seite hin in sich und stellen sich ebenso hierdurch den beiden vor- 
genannten unterrichtlichen Massnahmen ebenbürtig zur Seite. So wird es 
manchem der schwachsinnigen Kinder möglich werden, selbst im Freihandzeichnen 
Anerkennenswertes zu leisten. 

Die Kinder benutzen den Zeichenblock und zwar, damit noch eine an- 
sehnliche Zeichnung erzielt werde, die Grösse 26:34 cm. Der Zeichenblock, 
eine Vermittlung zwischen Reissbrett und Zeichenheft, ist für unsere Schüler 
deshalb am geeignetsten, weil er sich, nicht zu umfangreich und leicht handlich, 
am besten auf der gewöhnlichen Schulbank und ohne störendes Geklapper be- 


181 
nutzen lässt, auch das Färben Jer fertigen Zeichnung ermöglicht. Wir 
verwehren keinem Kinde, erst recht nicht dem, der infolge seiner schweren oder 
zittrigen Hand in der linearen Ausführung nicht ganz befriedigt, das Austuschen 
der gelieferten Figur. Die Farbe giebt den Ganzen den wohlthuenden Abschluss; 
sie erhöht das Wohlgefallen an dem vollbrachten Werke, und das treibt zu neuer 
Arbeit kräftig an. 

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir auf die Verwendung der 
Farbe beim Zeichnen näher eingehen. Wir hoffen, dies ein ander Mal thun zu 
können. Ebenso können wir zum Schluss nur in aller Kürze auf das enge 
Verhältnis hiuweisen, in dem das Zeichnen zur Handarbeit steht. Die 
nahe Verwandtschaft, die zwischen beiden besteht, lässt im Unterrichte innigere 
Beziehungen zu. Sie hat wohl auf den Versuch geführt, beide ganz mit einander 
zu verbinden. Die dabei sich als nötig erweisende Verschmelzung der Lehrgänge 
beider erscheint uns indes als ein Zwang. Die guten Erfolge einer hierbei in 
bester Absicht gewollten Konzentration werden sicher aufgehoben durch die 
ungünstige Wirkung, die der Mangel eines lückenlos aufsteigenden Lehrganges, 
wie er sich nur auf dem Grunde voller Berücksichtigung des besonderen Wesens 
jedes einzelnen Lehrfaches zu erheben vermag, zeitigt. Wir lassen deshalb jedem 
der beiden Lehrgegenstände seine Selbständigkeit, versäumen dabei aber nicht, 
verbindende Fäden da anzuknüpfen, wo sich Anhaltepunkte ungesucht ergeben. 
Vielleicht findet sich einer oder der andere der verehrten Leser, der die angeregte 
Frage, die Beziehungen des Handarbeits- und Zeichenunterrichts zu einander 
betreffend, in dieser Zeitschrift einmal näher beleuchtet. Denn nur der Aus- 
tausch gegenseitiger Erfahrungen kann hier wie überall am ersten und besten 
aufklärend wirken. H. Müller. 


Mitteilungen. 


Dortmund. (Westfälische Konferenz für das Hilfsschulwesen.) Am 
2. Juli d. Js. fand hier die II. Konferenz für das Hilfsschulwesen statt. Sie begann 
mit einer Lehrprobe des Herrn Hilfsschullehrers Middelsdorf in Dortmund. Der- 
selbe führte den Rechenunterricht in seiner Klasse (einer Aufnahmeklasse) vor, und 
zeigte, wie er sich die Überleitung vom Rechnen mit Anschauungsmitteln zum reinen 
Kopfrechnen denkt. Die Notwendigkeit, diesen Schritt besonders sorgsam zu beachten, 
ergiebt sich einmal aus der Eigenart der Kinder dieser Schulen, die nicht wie die 
normalbegabten im stande sind, aus eigner Kraft von der Anschauung zur Abstraktion 
zu gelangen, und deren Rechnen deshalb fast stets ein rein mechanisches und ge- 
dächnismässiges bleibt. Herr M. liess zunächst mit den verschiedensten Anschauungs- 
mitteln rechnen, um sich davon zu überzeugen, ob alle Kinder im Rechnen mit 
Anschauungsmitteln sicher waren. Zur Überleitung zum Kopfrechnen benutzte er 
alsdann die Münzen, das Ein-, Zwei- und Fünfpfennigstück. Damit verknüpfte er 
die Einleitung in das schriftliche Darstellen der Rechenfälle. Es war ein besonderer 
Vorzug der Lektion, dass sie keine Schaufensterarbeit bot, sondern einen tiefen Blick 
thun liess in die mühsame Arbeit der Hilfsschulen. Herr M. zeigte sich dabei als 


182 


geschickter, liebevoller Lehrer, der mit unermüdlicher Geduld den Geist der ihm an- 
vertrauten Kinder zu heben sucht. Wenn wir im Hinblick auf künftige Lektionen 
einen Wunsch äussern dürfen, so ist es der, die zur Behandlung gewählten methodischen 
Einheiten möchten so klein gefasst werden, dass sie in höchstens 30 Minuten wirklich 
zu Ende geführt werden könnten. Auch empfiehlt es sich, statt einer einstündigen 
Lektion zwei halbstündige in aufsteigenden Klassen anzusetzen; gerade für diejenigen 
Horren, die noch nicht viel Hilfsschulen gesehen haben, ist es sehr interessant, auf 
diese Weise den Erfolg der Hilfsschularbeit kennen zu lernen. — Nach der Lektion 
begannen die Verhandlungen. Die Stadt Durtmund hatte ihr Interesse an der 
Sache der Hilfsschulen dadurch bekundet, dass sie ihren Bürgermeister, Herrn 
Lichtenberg, zu der Konferenz deputierte.e Als äusseres Zeichen ihrer Wert- 
schätzung kann der Umstand angesehen werden, dass sie für die Verhandlungen das 
Schaustück der alten Hansastadt, den prachtvollen, altertümlichen Rathaussaal zur 
Verfügung gestellt hatte, dem vor zwei Jahren die Ehre widerfuhr, das Interesse und 
die Anerkennung unseres Kaisers zu gewinnen. Hier versammelten sich die Teil- 
nohmer, unter denen wir viele bewährte Freunde der Hilfsschulen bemerkten, so 
Regierungsrat Eichhorn, die Schulräte Stordeur und Stegelmann, die Kreisschul- 
inspektoren Schreff, Dr. Schapler, Körnig, Pröbsting, Schürmann u.am — 
Die Leitung der Versammlung übernahm der Vorsitzende des Verbandes der West- 
fälischen Hilfsschullehrer, Schmitz- Dortmund, der die Erschienenen mit herzlichen 
Worten Legrüsste. Ihm antwortete der Vertreter der Königl. Regierung zu Arnsberg, 
Horr Rogierungsrat Eichhorn, der seiner Freude darüber Ausdruck gab, dass die 
Sache der Hilfsschulen ein so reges Interesse gefunden habe. Freilich werde der 
Kreis derjenigen, die sich dauernd für diesen Zweig des Unterrichtswesens interessierten, 
immer ein beschränkter bleiben; aber das sei kein Nachteil, wenn innerhalb des kleinen 
Kreises nur emsig gearbeitet werde. Zu dieser Arbeit zum Wohle der ärmsten der Kinder 
unseres Volkes sei auch diese Versammlung berufen, und die Königliche Regierung 
wünsche ihr reichen Erfolg. Besonders habe sie sich gefreut über den kürzlich er- 
folgten Zusammenschluss der Hilfsschullehrer Westfalens, von dem sie eine Vertiefung 
der Arbeit innerhalb der Hilfsschulen und eine Förderung des Gedankens derselben 
in weiteren Kreisen erhoffe.e Der Kreisschulinspektor Schreff begrüsste die Ver- 
sammlung namens der Dortmunder Schulbehörde; er wies dabei auf das Wachstum 
der hiesigen Schule hin und auf die Förderung, der namentlich die Hilfsschulen auch 
in unserer Stadt von allen Seiten erfahre. 

Sodann begannen die eigentlichen Verhandlungen, die sich nach dem Beschlusse 
der Hagener Konferenz auf den „Lehrplan für Hilfsschulen“ erstreckten. Eine 
damals gewählte Kommission hatte die Bearbeitung eines solchen übernommen. Da 
es den Gliedern derselben bei der räumlichen Entfernung von einander nicht möglich 
war, öfter zusammen zu kommen, so hatten sie, wie der Vorsitzende ausführte, nach 
folgendem Arbeitsplane gearbeitet. Schmitz-Dortmund hatte die allgemeinen Richt- 
linien zu einem Lelrplane ansgearbeitet.. Diese waren in der Kommission durch- 
beraten und nun hatten einzelne Herren die Aufgabe übernommen, je ein Fach im 
Anschluss an die erwähnten Richtlinien auszuarbeiten. Natürlich war dadurch das 
Material viel zu reichhaltig geworden, um in einer Konferenz bewältigt zu werden. 


183 


Deshalb beschränkte sich die Versammlung auf Vorschlag des Schulrats Stegemann 
auf die Besprechung der Richtlinien. Wenn dieser Schritt auch notwendig war, so 
bleibt es doch zu bedauern, dass die Arbeiten der auderen Herren nicht zu ihrem 
Rechte kamen. Hoffen wir, dass die künftigen Konferenzen sich dieses Stoffes be- 
mächtigen werden. Die Verhandlungen ergaben, dass die Konferenz mit diesen 
Richtlinien (auf welche in einem späteren Artikel zurückgekommen werden soll), 
durchaus einverstanden war; nur über Einzelheiten liess sich eine allseitige Zustimmung 
nicht erzielen. So plaidierte Schulinspektor Dr. Schapler für eine zweistufge Gliederung 
‘der Hilfsschulen, der er der grösseren Konzentration wegen den Vorzug vor der drei- 
stufigen giebt. Die sehr lebhafte Besprechung erstreckte sich vorzugsweise auf die Punkte. 
Schülermaterial, Gliederuug der Hilfsschulen, Religionsunterricht, Sprachunterricht und 
Turnen. Erfreulicherweise herrschte, wie oben bemerkt, in den Hauptpunkten 
vollständige Einmütigkeit, ein Umstand, der auf die zahlreich erschienenen „Neulinge“ 
den günstigsten Eindruck machen musste. Auf Vorschlag eines Herrn erklärte die 
Versammlung ihre Übereinstimmung mit den Forderungen der Richtlinien. — Welcher 
Arbeitsgeist die Versammlung beseelte, zeigte der Umstand, dass trotz der langen 
Dauer der Versammlung alle Teilnehmer bis zum Schluss ausharrten. Möchte der 
Same, der auf dieser Konferenz ausgestreut wurde, Wurzel fassen, zum Wohle der 
ärmsten der Kinder unseres Volkes. 8. 

Mainz. (IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.) Am 14. bis 
16. April 1903 findet dahier der IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands statt. 
Der Ortsausschuss, dem die Spitzen der Verwaltungs- und Schulbehörden in entgegen- 
kommendster Weise beigetreten sind, ist bereits ernstlich an der Arbeit, den Besuch 
des Verbandstages nüt-lich und augenehm zu gestalten. Die Tagesordnung, deren 
Veröffentlichung demnächst erfolgen wird, ist höchst zeitgemäss und praktisch. Dies, 
die günstige Lage der Versamm'ungsstadt und ihre sehr anziehende Nachbarschaft 
(National-Denkmal, Wiesbaden, Idsteiner Anstalt), dürften einen zahlreichen Besuch 
sichern. 


Litteratur. 


Die Willensprobleme in systematischer Entwicklung und kritischer 
Beleuchtung von Dr. N. Kurt. Weimar 1902. Verlag von R. Wagner Sohn. 
75 Seiten. Preis Mk. 1,80. 

Die vorliegende Arbeit ist eine geistreiche Abhandlung über die deterministische 
Lehre von der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit gegenüber der indeter- 
ministischen, die kritisch beleuchtet und als unvereinbar mit den unwandelbaren 
ewigen Gesetzen des Denkens und mit allen objektiv aufgefassten Erfahrungsthatsachen 
hingestellt wird. Die Darstellung zeichnet sich durch logische Schärfe, überzeugende 
Schlussfolgerungen, und gerechte kritische Würdigung der gegenteiligen Meinungen 
aus. Besonders interessant ist der erste Teil der Schrift, in welchem eine systematische, 
scharf begrenzte Entwicklung der Lehre von der Notwendigkeit alles Geschehens, ins- 
besondere des menschlichen Thuns und Lassens geboten wird. So anrezond auch die 
ganze Abhandlung geschrieben ist, unseren Intentionen entspricht sie nur in geringer 


184 



































Weise, denn bei den Geistesschwachen sind noch ganz andere Willensprobleme zu 
lösen und kritisch zu beleuchten. Immerhin aber verdient sie auch unsere Beachtung, 
da sie uns durch ihr Studium den Boden für unsere Forschungen in dieser Beziehung 
vielfach zu erschliessen geeignet erscheint. 

Die Schädlichkeit des Missbrauchs geistiger Getränke. Ein Lehrbuch 
für die oberen Klas:en der Volksschulen, für Fortbildungsschulen und Erwachsene 
mit Erzählungen und 15 farbigen Abbildungen. Von Dr. med. E. Dicke, 
Sanitätsrat in Schwelm und Dr. med. E. Kohlmetz, Knappschaftsarzt in 
Sprockhösel i. W. Hattingen a. d. Ruhr 1901. C. Hundt. Preis 1.25 Mk. 

Dieses Lehrbuch kaun auch in den Oberklassen unserer Anstalts- und Hilfs- 
Schulen benutzt werden. Sein mannigfacher Inhalt kann mit Erfolg im Unterrichte 
verschiedener Lehrgegeustände herangezogen werden. Die Sprache ist einfach, leicht 
verständlich, Fremdwörter sind vermieden oder wenn solche als technische Ausdrücke 
vorkommen, durch deutsche Wörter erklärt. Dem 3. Kapitel sind”5 farbige Tafeln 
beigegeben, welche die verderbliche Wirkung des Alkohols auf die inneren_Organe 
anschaulich zeigen. — Wir können durch die Schule segensreich auf die Familien 
wirken, wenn wir dieses Werkchen den Bibliotheken unserer Schulen einreihen, es 
den Kindern leihweise mit nach Hause geben und so den Eltern Gelegenheit bieten, 
Belehrung daraus zu schöpfen. Ich glaube, an uns Lehrer schwachsinniger Kinder 
tritt sehr oft die Verpflichtung, direkt oder indirekt gegen den Alkohol; kämpfen zu 
müssen, wobei uns das besprochene Buch mit viel schätzenwertem” Material_ hilfreich 
zur Seite steht. W. 


Offene Lehrerstelle. 


Für die neu einzurichtende zweite Klasse an der hiesigen städtischeu Hilfsschule 
wird zu Ostern 1903 ein Lehrer gesucht, Grundgehalt 1400/Mk.,” neun Alters- 
zulagen von 180 Mk., freie Wohnung oder 400 Mk. Mietsentschädigung für Ver- 
heiratete, 200 Mk. für Unverheiratete. 

Bewerber, welche mit der Behandlung geistig zurückgebliebener Kinder vertraut 
und. in einer für solche Kinder errichteten Schule mit Erfolg thätig gewesen siwd 
werden ersucht, ihre Meldungen nebst Lebenslauf, Zeugnisabschriften und Gesunde 
heitsattest binnen 2 Wochen nach Ausgabe dieses Blattes an uns einzi achen. 

Die Schul- 


LAG 


Schwelm, den 6. November 1902. 


Inhalt. Das Freihandzeichnen in der Hilfsschule zu sipzi 


BEER 


Mitteilungen: Dortmund, Mainz. — Litteratur: Die Willensproble 
ER . - “ . . t a í 

und kritischer Beleuchtung. — Die Schädlichkeit des Missbrauel 

Anzeigen. Ani 


Für die Schriftleitung verantwortlich? W 


Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. § — 
Druck von Johannes Bä 





N 
> C . : AICINA 
Nr. 12. XVIII. EEN 
> 


Zeitsehrift 


für die 


Behandlung Schwachsimmiger und Epileptiseher. 








Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 





Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitătsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden -Strohlen, für E EA NE 
Residenzstrasse 37. in Stuttgart. 


STORT jährlich in 12 Nummern von Zu eael durch alle Buchhandlungen 

mindestens elnem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der 

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Dezember 1902 , Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Ueber schwachsinnige Kinder*). 
Von Dr. E. Nawratzki, Assistenzarzt an der Irren- und Idiotenanstalt der Stadt Berlin 
zu Dalldorf. 

In der folgenden Darstellung konnte es nicht meine Absicht sein, das 
Thema erschöpfend zu behandeln, vielmehr möchte ich nur auf einige 
Punkte näher eingehen, die noch einer verschiedenartigen Auffassung unterliegen 
und auch zu Kontroversen Anlass gegeben haben. 

Schon die Umgrenzung des Begriffes Schwachsinn hat zahlreiche Aus- 
einandersetzungen hervorgerufen und ist bis jetzt noch nicht als zu aller Zu- 
friedenheit erledigt zu betrachten. 

Bekanntlich unterscheidet man einen angeborenen und einen erworbenen 
Schwachsinn und hat sich gewöhnt, von letzterem nur bei solchen Individuen 
zu sprechen, die zunächst Zeit hatten, sich als geistig vollwertig zu erweisen 
und erst dann im Verlaufe einer regelrecht durchgemachten Psychose sekundär 
verblödeten. Von diesem soll hier nicht weiter die Rede sein. 

Die Bezeichnung „angeborener Schwachsinn“ ist im allgemeinen als Sammel- 
name für mannigfache geistige Schwächezustände aufzufassen, die, noch so weit 
gefasst, das eine gemeinsam haben, dass sie auf augeborenen oder sehr früh 
erworbenen, mehr oder minder ausgebreiteten Entwickelungsstörungen des Central- 
nervensystems, speciell des Grosshirns, beruhen und die von ihnen betroffenen 
Kinder für die gewöhnliche erzieherische Behandlung ungeeignet erscheinen 
lassen. Hierzu mag bemerkt werden, dass die früh erworbenen Störungen, wenn 
sie in ihrem Effekt mit den angeborenen übereinstimmen sollen, bis zu einer 
Zeit erfolgt sein müssen, innerhalb welcher das grobe Gehirnwachstum noch 


*) Vortrag, gehalten am 28 Februar 1902 in der freien Vereini gung Berliner Schulärzte 


186 


nicht abgeschlossen ist, das ist nach Ziehen etwa bis zum 3. Lebensjahre. Man 
wird also verlangen dürfen, dass in jedem Falle von behauptetem Schwachsinn 
das Bestehen derartiger Bildungsfehler in dem nervösen Centralorgan wahr- 
scheinlich gemacht wird. Sonst gewinnt der Begriff Schwachsinn eine allzu 
vage Bedeutung, und man gelangt schliesslich dahin, dass jeder intellektuell 
höher Stehende den tiefer Stehenden als schwachsinnig bezeichnet. 

Charakteristisch für diese Entwickelungsstörungen ist der Umstand, dass sie 
Dauerdefekte darstellen, dass also von einer Heilung eines von ihnen betroffenen 
Individuums nicht gut die Rede sein kann. Nichtsdestoweniger kann diese Person 
auf Grund der übrigen entwickelungsfähigen nervösen Elemente erziehungsfähig 
sein, wird aber Defekte stets erkennen lassen. Mit welchen Hilfsmitteln diese 
am lebenden Kinde noch nachgewiesen werden können, soll an einer späteren 
Stelle erörtert werden. 

Geht man jetzt von der eben gegebenen Definition aus und hält nun Um- 
schau über die grosse Reihe der als anormal bezeichneten Kinder, so lösen sich 
ganz von selbst zwei Gruppen ab, die sich bei den Schwachsinnigen in unserem 
Sinne nicht gut unterbringen lassen. 

Die erste Gruppe umfasst diejengen Kinder, welche mit gut angelegtem 
Gehirn zur Welt gekommen sind, sich bis zum schulpflichtigen Alter hin und 
darüber hinaus gut entwickelt haben, in ihrer Vorgeschichte nichts von solchen 
Momenten darbieten, die bei den Schwachsinnigen eine grosse Rolle spielen, 
welche dann aber unter der Ungunst äusserer Verhältnisse geistig und körperlich 
nicht recht vorwärts kommen. Das sind Kinder, die zu Hause ungenügend 
ernährt, vernachlässigt oder über ihre Kräfte hinaus zum Erwerb herangezogen 
werden oder die nach dem Überstehen erschöpfender Krankheiten sich nicht 
genügend schonen und erholen können. All diese Geschöpfe bieten die Symptome 
der Unterernährung dar. Sie sehen blass und leidend aus, sind apathisch, klagen 
oft über Kopfschmerzen, sind leicht erschöpft und in geistiger Hinsicht wenig 
aufnahmefähig. Manche der sogenannten Schwachbefähigten, von denen in neuerer 
Zeit so viel die Rede ist, sind wohl solche unterernährten Kinder. Ihre geistige 
Schwäche stellt sich nicht selten als etwas Accidentelles heraus, was zu der 
allgemeinen körperlichen Schwäche hinzutritt und als heilbar anzusehen ist. 
Mit der Hebung der Körperkräfte durch Verbesserung der äusseren Verhältnisse 
und Beseitigung sozialer Missstände schreitet auch die geistige Entwickelung 
wieder vorwärts. Solche Kinder würden vielleicht eher den Arzt nötig haben, 
jedenfalls dankbare Objekte besonderer hygienischer und sozialer Massnahmen 
sein, aber kaum eines besonderen heilpädagogischen Systems bedürftig sein, 
es sei denn, dass sie zu spät erkannt und zu lange vernachlässigt worden sind, 
Man kann diese Elemente nach Jean Demoor auch als pädagogisch Zurück- 
gebliebene bezeichnen. 

Zu dieser Gruppe gehören noch diejenigen Kinder, bei denen adenoide 
Wucherungen im Nasenrachenraum sekundär durch Störungen in der Bilutzufulhr 
zum Gehirn ein erschwertes Denken, Auffassen und Aufmerken verursachen. 
Die geistige Unzulänglichkeit dieser Kleinen mit dem typischen Aussehen 


187 


der „adenoiden Maske“ ist auch nur als etwas Sekundäres, Vorübergehendes zu 
betrachten. Sie lässt sich durch die operative Entfernung der hyperplastischen 
Rachenmandel beseitigen. Aber in solchen Fällen, in denen die Operation diesen 
Erfolg gezeitigt hatte, von einer operativen Heilung des Schwachsinns zu sprechen, 
wie dies geschehen ist, das verrät einen Standpunkt in der Frage nach den 
Ursachen des Schwachsinns, der wohl nicht als berechtigt anerkannt werden 
kann. Wir haben hier doch etwas Ähnliches vor uns, wie wenn Kinder durch 
andere körperliche Leiden psychisch beeinflusst werden, mögen es nuu Kopf-, 
Zahn- oder Leibschmerzen oder ernstere Leiden, z. B. Herz- und Nierenleiden 
sein. Auch diese Kinder werden unlustig, unaufmerksam, träge und rufen oft 
genug erst durch ihr verändertes psychisches Verhalten den Verdacht wach, dass 
sie körperlich krank sind. 

Bei wirklich schwachsinnigen Kindern, die ja sogar zum grössten Teil mit 
jenen Wucherungen im Nasenrachenraum behaftet sind, hinterlässt die Operation 
keinen wesentlichen Effekt, wie mich die Erfahrung gelehrt hat. Lässt sich 
aber durch die Exstirpation der Rachenmandel die psychische Hemmung beseitigen, 
dann darf man wohl sagen, dass diese kein Schwachsinn gewesen ist. Zum 
Vergleich möchte ich auch an die Fieberdelirien erinnern. Es wird niemandem 
beifallen, diesen psychischen Störungen, die zuweilen auf der Höhe schwerer 
fieberhafter Erkrankungen auftreten, und von denen er weiss, dass sie mit dem 
Abklingen des Fiebers wieder verschwinden, diejenige Bedeutung beizumessen, 
wie irgend einer genuinen Psychose, sei es einer Paranoia, Melancholie 
oder Manie. 

Die andere abzugrenzende Gruppe umfasst solche Kinder, die nicht im 
eigentlichen Sinne schwachsinnig sind, sondern nur schwache Sinne haben, wie 
Schwachsichtige, Schwerhörige, Blinde und Taube resp. Taubstumme. Bei ihnen 
liegen die Störungen in den percipierenden Sinnesorganen, also an der Peripherie, 
während das Centralorgan intakt sein kann. Eine Erschwerung der geistigen 
Eontwickelung ist allerdings bei diesen Individuen dadurch geschaffen, dass nicht 
von allen Sinnesorganen Reize nach dem Centrum fortgeleitet und hier weiter 
verarbeitet werden können. Und wir wissen, dass das Centralorgan solcher 
Reize bedarf, um sich weiter zu entwickeln. Aber so lange nur ein Sinnesorgan 
affıziert ist, können die übrigen vikariirend dafür eintreten. Und es wird sich 
bei solchen Individuen mehr darum handeln, bei eventuell gleichem Lehrstoff 
eine andere Lehrmethode anzuwenden, im Gegensatz zu den in strengem Sinne 
Schwachsinnigen, die das Produkt ererbter oder durch Krankheit früh hervor- 
gerufener Gehirnveränderungen repräsentieren und nicht nur eine Änderung der 
Lehrmethode, sondern vor allem eine Änderung des Lehrstoffs erheischen. 

Nach Abzug solcher Gruppen, die sich dem Bilde des angeborenen Schwach- 
sinns nicht einfügen lasgen wollen, und deren Menge vielleicht hier und da eine 
kleine Verstärkung erfahren könnte, sehen wir uns noch immer einer recht statt- 
lichen Schaar von wirklich Schwachsinnigen gegenüber, die teils in Idioten- 
anstalten, teils in den Hilfschulen resp. in der Familie uns begegnen.'Y Ich 
möchte hier übrigens einschaltend bemerken, dass ich mich bisher ohne Weiteres 


ee, 


des Ausdrucks „Schwachsinnige* als Kollektivnamen für alle Arten geistesschwacher 
Kinder bedient habe und möchte hieran auch für meine weiteren Ausführungen 
festhalten. Ich bin mir aber wohl bewusst, dass diese Kollektiv-Bezeichnung 
noch keineswegs allgemein giltig ist, ja dass dieser Name in manchen Ein- 
teilungen nur für gewisse Untergruppen reserviert ist. 

Die Gesamtzahl der Schwachsinnigen in dem uns hauptsächlich interessieren- 
den Lande, in Deutschland, findet sich bei Ziehen schätzungsweise zur Zeit auf 
mindestens 150000 angegeben. Darnach würde bei uns auf ca. 400 Einwohner 
ein Imbeciller kommen. In derselben Zusammenstellung wird noch mitgeteilt, 
dass nach Carlsen in Dänemark im Jahre 1888/89 auf ca. 500 1 Imbeciller 
entfiel, in Frankreich nach Kollmann in Jahre 1873 auf ca. 300 1 Fall von 
angeborenem Schwachsinn, in Österreich 1:683, in England 1: 771, in Italien 
nach einer Statistik Grimaldis aus dem Jahre 1892 1:1550. Die erheblichen 
Differenzen unter diesen Zahlen gestatten natürlich keinerlei Rückschluss auf die 
durchscbnittliche Intelligenz in den einzelnen Ländern, sondern lassen eher auf 
den geringen Wert der Statistiken schliessen. 

Schon bei einer oberflächlichen Musterung der Schwachsinnigen drängen 
sich dem Beobachter ganz von selbst zahlreiche bemerkenswerte Unterschiede 
und Abstufungen auf, die bereits früh natürlich zu Gruppierungsversuchen führen 
mussten. Alle möglichen Gesichtspunkte sind hierbei massgebend gewesen. 
Aber bis auf Jen heutigen Tag feblt es uns noch an einer einheitlichen, all- 
gemein angenommenen Einteilung, die alle Wünsche hinsichtlich der Präzision 
befriedigte.e Wir sind in dieser Beziehung nicht viel weiter als vor 50 und 60 
Jabren. Bereits die alten Irrenärzte unterschieden 3 Formen der Geistesschwäche: 
Blödsinn, Schwachsinn, Einfältigkeit. Morel gebraucht hierfür die Bezeich- 
nungen: Idiotisme, Imbecillit6, Simplicité d'esprit. Einer ähnlichen Einteilung 
begegnen wir jetzt von neuem, nur unter Zugrundelegung anderer Namen. So 
teilt Ziehen dieSchwachsinnigen im weiteren Sinne ein in: Idioten, Imbecille 
und Debile. Ich möchte dafür lieber setzen: Schwachsinnige schweren, mittleren 
und leichten Grades. Für all diese Gruppierungen sind die intellektuellen Ver- 
schiedenheiten massgebend gewesen. Und in der That ist dieses Einteilungs- 
prinzip auch unserem Gefühl nach das empfehlenswerteste. Denn schon bei der 
allgemeinen Bezeichnung Schwachsinnige haben wir zunächst weniger die 
moralischen und die den Willen ausdrückenden Qualitäten im Sinne, als vielmehr 
die intellektuellen Fähigkeiten. Einer gewissen Willkür ist allerdings die Absteckung 
der Grenzen zwischen den einzelnen Klassen unterworfen, was bei den fliessenden 
Übergängen von einer Gruppe zur anderen gar nicht Wunder nehmen kann. 
Immerhin lässt sich auf dieser Basis eine Verständigung unter den verschiedenen 
Beurteilern eher herbeiführen, sobald wenigstens in der Namengebung eine gewisse 
Einheitlichkeit hergestellt wird. Wird aber diese willkürlich gehandbabt, so ist 
eine Verständigung recht erschwert; dann gelangt man dahin, dass jeder Autor 
seine eigene Nomenklatur hat und bei jedem Namen immer erst eine besondere 
Definition hinzusetzen muss, um verstanden zu werden. Zuweilen geht die 
Willkür in der Namengebung wohl auch etwas zu weit, wenn z. B. Bezeich- 


189 


nungen, die eigentlich dasselbe bedeuten und nur aus verschiedenen Sprachen 
entnommen sind, für verschiedene Zustände gewählt werden. So unterscheidet 
z.B. Fuchs: Imbecille und Schwachsinnige. | 

Die Hoffnungen auf eine brauchbare Einteilung, die man aus der besseren 
Kenntnis der pathologischen Anatomie schöpfen zu können glaubte, haben sich bis 
jetzt als trügerisch erwiesen. Versucht hat man allerdings, darnach einzuteilen. 
Mit welcher Willkürlichkeit dabei schon verfahren worden ist, zeigt Ihnen viel- 
leicht der folgende Versuch einer Einteilung, die von Herrn Direktor Barthold 
auf dər X. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder 
vorgetragen worden ist. Ich habe unter seinen Leitsätzen Folgendes gegenüber- 
gestellt gefunden: 1. Unter den Begriff „Idioten“ stellen wir alle diejenigen 
Kinder, welche von Geburt oder von den ersten Lebensjahren an infolge einer 
überstandenen Gehirn-Erkrankung in ihrer geistigen Entwickelung geschädigt worden 
sind. Im Gegensatz hierzu unter No. 8: Zu den Schwachbefähigten rechnen 
wir alle Kinder, welche unter der Durchschnittsbefähiguug der Elementarschüler 
stehen. Die Schwachbefähigung dieser Kinder beruht nicht, wie durchgängig 
bei allen idiotischen Kindern, auf einem Gehirndefekt, sondern — und nun unter 
anderen Tunkten der folgende auf einer Degeneration, verursacht: a) durch 
Trunksucht der Eltern, b) durch Syphilis eines Teils oder beider Eltern, c) durch 
nahe Verwandtschaftlichkeit derselben, d) durch geistige Minderwertigkeit der- 
selben. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich an Gehirnen schwer idiotischer 
Kinder sehr häufig keine groben Defekte und keine Residuen überstandener 
Gehirnerkrankungen auffinden lassen, und dass andererseits Trinker und syphi- 
litische Eltern schwer idiotische Kinder gezeugt haben. 

Auch aus dem Studium der Ätiologie und anderer auffälliger klinischer Be- 
funde heraus ist man zu keiner befriedigenden Gruppierung gelanrt. Immer 
hat sich der Übelstand ergeben, dass die Verschiedenheiten z. B. der ätioloxischeu 
Momente sich nicht mit den Verschiedenheiten der geistigen Zustandsbilder 
der Schwachsinnigen deckten. Nur zur Bildung von Untergruppen in der einen 
oder anderen Klasse kann man allenfalls auf die Ätiologie zurückgreifen, wie 
dies in neuerer Zeit geschehen ist. So werden z. B. Schwachsinnige schweren 
Grades gelegentlich noch eingeteilt in Cretins, myxoedematöse, syphilitische, 
epileptische Idioten, mikro- und hydrocephale, meningitische- und encephalitische 
Idioten. Diese Einteilung hat noch einen Sinn vielleicht im Hinblick auf 
therapeutische Eingriffe, die sich aus der einen oder andern Diagnose ergeben 
können. 

Einzelne Autoren haben hervorstechende Syınptome ihrer Einteilung zu Grunde 
gelegt. Sie unterscheiden z. B. eine erethische und anergethische Form des 
Schwachsinns, je nachdem das schwachsinnige Kind eine starke motorische 
Unruhe an den Tag legt, z. B. ziel- und zwecklos herumläuft, viele ungeordnete 
automatische Bewegungen mit den Händen ausführt, schreit und dgl. m., oder ob es 
stumpf und in sich versunken dasitzt. Aber diese Anordnung gestattet ebenso 
wenig wie die vorhergehenden einen einwandfreien Schluss hinsichtlich der geistigen 
Potenz des Individuums. 


190 

Dass die Einteilungsversuche nicht verstummen wollen, sondern immer von 
neuem trotz des spröden Materials aufgenommen werden, kann nur dem Wunsche 
entspringen, durch eine kurze, prägnante Bezeichnung das ganze Wesen und den 
Charakter eines Schwachsinnigen darzulegen und mit dem Namen zugleich die 
zweckmässigste Unterbringung auszudrücken. Dies dürfte schwerlich gelingen. 
Der Name thut eigentlich auch nichts zur Sache, sondern nur die genaue Kennt- 
nis des ganzen Individuums mit allem, was mit ihm zusammenhängt, kann einem 
die Wege zu einem erspriesslichen Wirken zeigen. 

Wenden wir uns nun wieder der Einteilung zu, die auf dem Vorhandensein 
intellektueller Verschiedenheiten aufgebaut ist und für die Praxis am meisten 
zweckentsprechend erscheint, so rechnet man zu den Schwachsinnigen schweren 
Grades alle diejenigen, deren Denkkraft gleich Null ist. Das sind Kinder, die 
nichts aufnehmen und nichts reproduzieren können. Sie haben kein Gedächtnis. 
Alles, was ihnen zum so und so vielten Male vorgeführt wird, erscheint ibnen 
immer wieder als etwas ganz Neues, das sie für einen Augenblick vielleicht ansehen. 
Es gelingt schwer oder gar nicht, ihre Aufmerksamkeit auch nur für kurze Zeit 
zu fesseln. Die durch die Sinnesorgane, welche ganz intakt sein können, auf- 
genommenen Eindrücke bleiben nicht haften und werden auch nicht weiter ver- 
arbeitet. Von einer associativen Thätigkeit kann unter solchen Vorbedingungen 
selbstverständlich keine Rede sein. Der Tiefe ihres geistigen Niveaus entspricht 
ihr Sprachvermögen. Über einzelne gelallte oder gestammelte Laute und Worte 
einfachster Art kommen sie nicht hinaus. Sie lernen nichts und sind unfähig, 
irgend eine Arbeit zu verrichten. Von der Schilderung der andern Nebener- 
scheinungen, wie z. B. der Unsauberkeit, der Fressgier, der Gefühllosigkeit, dem 
plumpen, hässlichen Aussehen etc. will ich hier absehen, da ich nur die intellek- 
tuellen Eigenschaften betonen möchte. 

Die Schwachsinnigen mittleren Grades sind mehr automatische Wesen, 
welche Handlungen ohne rechtes Verständnis für dieselben nachahmen. Mit 
einer Schwäche des Willens verknüpft sich bei ihnen Interesselosigkeit und 
geringe Aufmerksamkeit. Sie sind mit einem mässigen Gedächtnis begabt und 
eignen sich einige konkrete Begriffe an, sind aber meist unfähig, diese zu ver- 
knüpfen und selbständig Schlüsse daraus zu ziehen. Sie lernen etwas Lesen 
und Schreiben und kleine Additionen ausführen. Schwerer fällt ihnen das 
Subtrahieren und Multiplizieren; gar nicht begreifen sie das Dividieren. Eine 
grössere Fähigkeit besitzen sie für mechanische Arbeiten, für Zeichnen, Holz- 
schnitzen, Modellieren und dergl. m. Ihr Sprachschatz ist schon umfangreicher, 
als bei der vorigen Gruppe. Die Kinder sprechen bereits in kleinen Sätzen. 

Die Schwachsinnigen leichten Grades endlich verfügen über ein grösseres Mass 
von Begriffen, verwenden sie wohl zu rechter Zeit und in geordneter Weise, haben 
aber ein langsameres Denkvermögen und schwächeres Gedächtnis. Ihr Sprach- 
vermögen zeigt keine wesentliche Einschränkung gegenüber den Vollsinnigen ; 
manchmal sind die Kinder geradezu schwatzhaft; aber ihr Wortschwall kann 
über ihre Gedankenarmut nicht hinwegtäuschen. Sie sind schwer zu fixieren, 
unbeständig und zerstreut und besitzen oft eine ungezügelte Einbildungskraft. 


191 


Charakteristisch ist für sie noch die Unfähigkeit zu selbständigen Schlüssen und 
Handlungen. Zu dieser Gruppe von Schwachsinnigen werden wir auch diejenigen 
zählen müssen, bei denen dieVerstandestbätigkeit relativ geringere Defekte erkennen 
lässt, als das Empfinden und das Wollen. Das sind die boshaften, leicht erreg- 
baren, dünkelhaften Individuen, welche Sollier als antisozial charakterisiert, die 
sehr suggestibel sind und ihren gefährlichen Trieben und Neigungen willenlos 
nachgeben. 

Es könnte fast scheinen, als ob die eben erläuterten Gruppen Anlehnung 
suchten an die Schuleinrichtungen für Schwachsinnige, die ja in Nebenklassen, 
Hilfsschulen und Idiotenanstalten bestehen, etwa dergestalt, dass Schwachsinnige 
leichten und ein Teil des mittleren Grades für die Nebenklassen und Hilfs- 
schulen, die übrigen für die Idiotenanstalten vorbehalten blieben. Dies trifft 
jedoch nicht ganz zu. Es trifft schon nicht zu für die Schwachsinnigen mit 
moralischen Defekten, die ihrem Intellekt nach dem leichten Grade angehören 
würden, für die aber zu erzieblichen Zwecken nur der Anstaltsaufenthalt in 
Frage kommen kann. 

Mit nicht geringeren Schwierigkeiten als die Abgrenzung unter sich ist die 
Abgrenzung der Schwachsinnigen nach oben hin verknüpft gegenüber denjenigen, 
deren Beschränktheit noch in die physiologische Breite fällt, die also noch als 
physiologisch dumm zu gelten haben. Was besonders zur Verwischung der 
Grenzen beizutragen geeignet ist, ist die Verquickung der Überbürdungsfrage 
mit der Frage nach der Fürsorge für die verschiedenen Gattungen der Schwach- 
sinnigen. Die Untersuchungen über die Prüfung geistiger Fähigkeiten und ihre 
Anwendung bei Schulkindern, die über die Überbürdung etwas Aufklärung bringen 
sollen, sind in der Regel nicht auf geistesschwache, sondern auf minderbegabte 
Individuen zugeschuitten. Es ist ja richtig, dass, wenn man will, man auch 
bei Schwachsinnigen von einer Art Überbürdung reden kann, wenn sie an einem 
falschen Platze untergebracht sind. Aber es scheint mir doch ein wesentlicher 
Unterschied darin obzuwalten, ob man es mit der Insufficienz eines krankhaft 
veränderten oder eines sonst gesunden Gehirns zu thun hat. Der Arzt, der 
allerdings in beiden Fällen gehört werden müsste, hat eine verschiedenartige 
Thätigkeit insofern zu entfalten, als ihm in dem einen Falle obliegt, das Vor- 
handensein eines von Hause aus bestehenden Leidens des Centralnervensystems 
beim Kinde aufzudecken. Im anderen Falle hat er die ErsCheinungen der Über- 
müdung und Erschöpfung festzustellen und auf ihren Zusammenhang mit der 
Überarbeitung zu prüfen. Eine Verquickung beider Momente muss zu Unklar- 
heiten und Missverständnissen führen. 

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass der angeborene Schwachsinn auf 
Entwickelungsstörungen im Gehirn beruht, so erwächst hieraus für den Arzt die 
Aufgabe, zur Sicherung der Diagnose diese Störungeu auf plausible Art nach- 
zuweisen. Nach drei Richtungen hin muss er zu dem Zweck seine Nach- 
forschungen anstellen, um zu einem abschliessenden Urteile zu gelangen. Er 
hat 1. die Anamnese, 2. die Begleiterscheinungen am Kinde, 3. dessen geistige 
Beschaffenheit selbst zu prüfen. Je früher er bei einem Kinde in die Lage 


= A 


kommt, diese Feststellungen vorzunehmen, um so mehr schrumpft der dritte 
Weg zusammen; um so intensiver wird er dafür in den beiden andern Rich- 
tungen vorgehen müssen. 

Die Anamnese kann ihm über mehrerlei Aufschluss geben, 1. über die 
Belastung, 2. über Störungen vor und während der Geburt, 3. über Erkrankungen 
und Verletzungen des Kindes in den ersten Lebensjahren, 4. über die Art seiner 
Entwickelung. Wir wissen, dass cerebrale Hemmungsbildungen schon auf einer 
schlechten Keimanlage beruhen können. Kranke Eltern produzieren oft kranke 
Keime. Vornehmlich lassen nervöse oder Geistesstörungen, darunter Epilepsie, 
ferner Trunksucht und Syphilis in der Ascendenz ein Mitergriffenwerden des 
Keimes befürchten. In der That begegnen uns in den Familien Schwachsinniger 
am häufigsten diese drei Krankheitsformen. Eine ähnliche Verschlechterung der 
Keimanlage infolge schlechter Ernährungsverhältnisse baben wir uns in den 
Fällen vorzustellen, wo phthisische Eltern schwachsinnige Kinder erzeugen. 

Die sich entwickelnde Frucht kann vor der Geburt Störungen in der Fort- 
entwickelung erfahren durch psychische oder somatische Traumata der Mutter 
oder direkt durch eigene Erkrankungen. Während der Geburt kommt es infolge 
langer Dauer der Geburt oder durch eine etwa notwendig gewordene Kunsthilfe 
gelegentlich zu Blutungen in die Gehirhäute oder Gehirnsubstanz, die dann 
diffuse Veränderungen zur Folge haben können- 

Erkrankungen während der ersten Lebensjahre, die das kindliche Gehirn 
direkt in Mitleidenschaft ziehen können, sind vornehmlich Stoffwechsel- und 
Infektionskrankheiten, z. B. Rachitis, Lues, Scharlach, Masern, Keuchhusten, 
Typhus, ferner direkte Erkrankungen und Schädigungen des Centralnervensystems, 
welche von jenen Infektionskrankheiten nicht abhängen, in Gestalt von Hirn- 
und Hirnhautentzündungen. 

Sehr wichtige Aufschlüsse geben uns die Schilderungen der Eltern über die 
Art des Entwickelungsganges zurückgebliebener Kinder. Man sollte es deshalb 
nie verabsäumen, nach dieser Richtung hin zu forschen, und es gelingt auch in 
der Regel, durch passende Fragestellung das Nötige herauszubekommen. Be- 
sonders erweisen sich die Mütter, namentlich wenn sie mehrere Kinder gehabt 
haben, als scharfe und zuverläs.ige Beobachterinnen. Da erfährt man, dass das 
Kind schon in den ersten Jahren dadurch aufgefallen war, dass es anders war, 
wie andere Kinder. Es zeigte keine Teilnahme für die Umgebung, lachte nicht, 
griff nach nichts etc. Wenn man bedenkt, dass das normale Kind bereits 
10 Tage nach der Geburt einer brennenden Kerze nachschaut, im 3. Monat 
schon fixiert, mit 3 oder 4 Monaten Personen und Gegenständen mit den Augen 
folgt, wenn ein reflexmässiges Lächeln auf dem Gesicht des normalen Kindes 
schon im 2. Monat erscheint, sobald ınan es aın Kinn oder an der Nasenspitze 
kitzelt, und das Kind am Ende des 7. Monats beim Anblick eines ihm sym- 
pathischen Gesichts regelmässig lächelt, so wird man die Bedeutung, die dem 
Ausbleiben dieser Vorgänge im ersten Lebensjahre, oder gar noch später, inne- 
wobnt, nicht unterschätzen und wo sie beobachtet werden, darin schon die ersten 
Zeichen der geistigen Minderwertigkeit zu suchen haben. 


Weitere Anhaltspunkte zur Beurteilung eines Kindes gewähren uns ferner 
die Angaben über den Beginn des Gehens, Sprechens, Zahnens und über die 
Reinlichkeit. Schwachsinnige Kinder lernen meist erst sehr spät laufen und 
sprechen, wenn sie es überhaupt lernen und zwar erst im 3., 4. Lebensjahre 
und später. Noch länger bleiben sie Bettnässer, oft bis zum 6., 7. Jahr und 
darüber. Manche Schwachsinnige schweren Grades bleiben es ihr ganzes Leben 
hindurch. 

Am Kinde selbst geben zunächst die Begleiterscheinungen einen wertvollen 
Hinweis auf das Vorhandensein cerebraler Veränderungen und sind zweierlei Art. 
Die erste Gruppe umfasst die somatischen Abweichungen formalen Charakters, 
Verbildungen und Missbildungen, die unter dem Namen Degenerationszeichen 
allgemein bekannt sind. Hierher gehören z. B. die Verbildungen des Ohres, wie 
das angewachsene Ohrläppchen, das Spitzohr, das Katzenohr, der Darwinsche 
Höcker, der stark vorspringende Anthelix des Wildermuthschen Ohres etc.; 
ferner zählen dazu die Missbildungen des Gaumens, in Gestalt des zu steilen 
oder flachen Gaumens, der Gaumenspalte, der Hasenscharte und des Wolfsrachens, 
ausserdem die Schädelanomalien, wie der zu grosse oder zu kleine Schädel und 
der Turmschädel, ebenso die Anomalien an den Augen, an den Gliedern u. s. w. 
Als zugehörig zu den körperlichen Abweichungen möchte ich hier auch das 
Zurückbleiben im Körperwachstum und das langsamere Wachstum anführen, 
das bei der Mehrzahl schwachsinniger Kinder zu beobachten ist. Die Bedeutung 
all dieser Degenerationszeichen liegt vornehmlich darin, dass, wo bereits der 
Verdacht auf Geistesschwäche besteht, sie diesen Verdacht noch zu verstärken 
vermögen. Man wird vielleicht auch vermuten dürfen, dass in den Fällen, wo 
solche Degenerationen an anderen Organen bestehen, wohl auch das Gehirn 
degeneriert sein könnte. Aus ihrem Fehlen oder Vorhandensein allein aber 
auf die Geistesbeschaffenheit eines Individuums zu schliessen, ist natürlich nicht 
angängig. Selbst aus der Zabl und der Schwere der Degenerationszeichen ist 
ein Rückschluss auf den Grad des Schwachsinns nicht immer möglich, da manch- 
mal die hochgradigsten Idioten die wenigsten Zeichen darbieten. Allerdings 
lehrt die Erfahrung, dass die schwersten formalen Veränderungen sich vorzugs- 
weise bei den Schwachsinnigen schweren Grades vorfinden. 

‚Die andere Gruppe der Begleiterscheinungen enthält diejenigen Störungen, die 
direkt der körperliche Ausdruck eines Gehirnleideus sind. Hier tritt uns das ganze 
Heer von Lähmungen und Muskelsteifigkeiten entgegen, die in dem Bilde der 
cerebralen Kinderlähmung sich vereinigt finden und oft nur in geringen Residuen 
bestehen, die leicht zu übersehen sind, ferner die Symptome des Nystagmus, 
des Schielens, der choreiformen Zuckungen, des Gliederzitterns, Krämpfe, 
Schwindel, Kopfschmerzen u. s. w. Als eines der wichtigsten Symptome 
müssen die Sprachstörungen angesehen werden. Diese bestehen teils in 
einer Wortarmut, teils in einem mangelhaften Satzbau, oder in einer fehler- 
haften Wortbildung. Gerade die letztere Störung, die als Artikulationsstörang, 
als ein Stammeln in die Erscheinung tritt, findet sich bei sehr vielen Schwach- 
sinnigen. Selbst wenn das Sprachvermögen ziemlich gut entwickelt ist, lässt 


ee. 


die Aussprache meistens zu wünschen übrig, sei es, dass die Kinder undeutlich 
oder verwaschen, oder zu hastig sprechen, beim Sprechen anstossen u. dergl. m. 
Von dieser Menge von Begleiterscheinungen ist wohl bei jedem Schwachsinnigen 
das eine oder andere Zeichen immer aufzufinden und als unterstützendes Moment 
gut zu verwerten. 

Wir gelangen nunmehr zu dem direkten Nachweis der geistigen Minderwertig- 
keit, zu der Betrachtung der geistigen Fähigkeiten schwachsinniger Kinder. Diese 
Untersuchung soll dem Arzte die objektive Grundlage für seine Diagnose ver- 
schaffen. Und eigentlich müsste er sie als sein ureigenstes Gebiet betrachten 
da er wie überall in der Medizin, so auch hier das Pathalogische aus den ob- 
jektiven Veränderungen zu erschliessen hätte. Aber gerade auf unserem Gebiete 
kann man die Mitwirkung anderer, in erster Linie der Pädagogen nicht 
entbehren. Diese müssen schon bei der Schwierigkeit der Materie für Materia 
Sorge tragen und den Arzt bei seiner komplizierten Aufgabe zu unterstützen 
trachten. Diese Aufgabe gestaltet sich um deswillen so schwierig, weil man 
es bei den schulpflichtigen Kindern mit Individuen zu thun hat, die in der 
Entwicklung begriffen sind, die also gewissermassen ein bewegliches Ziel dar- 
stellen, das getroffen werden soll. Hier ist ferner mit der Diagnose schon ein 
gut Teil Prognose verknüpft; und wie vorsichtig man in der Prognose zurück- 
gebliebener Kinder sein muss, weiss jeder, der mit ihnen sich zu beschäftigen 
Gelegenheit gehabt hat. Bei dem erwachsenen Schwachsinnigen ist der objektive 
Befund über den Geisteszustand leichter zu erheben, weil uns hier etwas Ab- 
geschlossenes entgegentritt und seine ganze Lebensweise Material genug 
zu seiner Beurteilung darbietet. Bei dem Kinde liegen noch zu wenig Äusse- 
rungen seines Seelenlebens vor, um daraus ein anschauliches Bild über seinen 
Geisteszustand zu gewinnen. Man ist deshalb genötigt, bei ihm mehr den 
elementaren Funktionen nachzuforschen und alsdann seine Entwickelung eine 
Zeitlang zu verfolgen, ehe man zu einem Urteil gelangt. Man ist auch darauf 
angewiesen, die zu prüfenden Kinder mit gleichaltrigen normalen zu vergleichen 
und daraus Schlüsse zu ziehen. Das Kind, das in die Schule eintreten soll, 
bringt einen gewissen Wissensschatz von Hause mit. Bei der Beurteilnng des 
Umfanges desselben wird man aber das Milieu zu berücksichtigen haben, in dem 
das Kind aufgewachsen ist, ob es dort überhaupt etwas lernen konnte u. s. w., ehe 
man daran geht, aus einem Vergleich mit anderen Kindern seine Schlüsse zu ziehen. 

Die Funktionsprüfungen haben zum Gegenstande die Art der Sinneswahr- 
nehmungen, der Triebe, Gefühle, Aufmerksamkeit und der Sprache. Zu prüfen 
ist ferner der Orts- und Zeitsinn, der Farbensinn, das Gedächtnis und die 
Kombinationsthätigkeit. Es dürfte hier nicht am Platze sein, auf die Beschaffen- 
heit der einzelnen Funktionen bei den Schwachsinnigen und deren exakten Nach- 
weis näher einzugehen. Bekannt ist, dass z. B. die Aufmerksamkeit bei den 
Schwachsinnigen sehr mangelhaft ist, dass diese schwer zu fixieren und sehr 
leicht ablenkbar sind. Diesem Symptom ist von Sollier sogar eine solche Be- 
deutung beigelegt worden, dass er es seiner Einteilung zu Grunde gelegt hat. 
Unter den Trieben, die den Schwachsinnigen beseelen, nehmen einzelne zuweilen 


einen für die Gesellschaft gefährlichen Charakter an, wie z. B. der Zerstörungs- 
trieb, der Mordtrieb, der Brandstiftungstrieb und andere. Sehr charakteristisch ist 
auch der Ortsveränderungstrieb, der sich teils als motorische Unruhe, teils als 
Wandertrieb, als Lust zum Vagabondieren äussert. Ich hatte z. B. einen Schwach- 
sinnigen zu untersuchen, der bis zur 4. oder 5. Klasse gekommen war, welcher 
mehrere Tage und Nächte von Hause fort war, sich herumgetrieben hatte und 
erst von der Polizei den Eltern wieder zugeführt wurde. Er hatte sich durch 
Bettelei erhalten und den Leuten dabei rührende Mitteilungen über das Elend 
zu Hause gemacht. Der Vater sei gestorben, die Mutter krank, Dinge, die über- 
haupt gar nicht wahr waren. Übrigens soll der Lehrer der Mutter auf deren Be- 
fragen, ob der Junge nicht am Ende kopfkrank sei, erklärt haben: Der ist klüger, 
als wir alle zusammen, also ein Beispiel dafür, wie solche Kinder doch zuweilen 
falsch beurteilt werden. Ein anderer Knabe wurde dadurch in der Schule sehr 
störend, dass er mitten in der Unterrichtsstunde ganz zwangsmässig aufgesprungen 
war, herumtanzte und schliesslich Kopf stand. 

Von den übrigen Trieben, Gefühlen, Sinnesempfindungen,, Gedächtnis und 
Vorstellungen lässt sich im allgemeinen sagen, dass sie immer eine Herabsetzung 
oder Perversität deutlich erkennen lassen. 

Die schweren Grade des Schwachsinns sind mit einem solchen Tiefstand 
all der genannten Funktionen verknüpft, dass bei ihrer Beurteilung Schwierig- 
keiten kaum entstehen können. Für die leichteren Grade sind Feststellungen 
bezüglich der höheren geistigen Funktionen, der associativen Thätigkeit, der 
Kenntnisse, des Entwicklungsganges erforderlich, für die sehr viel Zeit aufzu- 
wenden und auch die Hilfe des Pädagogen unumgänglich nötig ist. Da in diesen 
Fällen der Pädagoge durch seine Bestimmung der Fortschritte, die das Kind 
macht oder nicht macht, eigentlich von ausschlaggebender Bedeutung wird, so 
könnte man leicht auf den Gedanken kommen, ihn als ausreichende Instanz für 
die Erkennung des Schwachsinns leichten Grades anzusehen. Aber dann würden 
die Feststellungen der Anamnese und der Begleiterscheinungen fehlen, die wieder- 
um dafür nicht zu entbeliren sind, dass die geistige Beschränktheit auf patho- 
jogischer Basis beruht. So sehen wir, dass das Zusammenwirken von Pädagogen 
und Arzt bei der Fürsorge für schwachsinnige Kinder sich als etwas von selbst 
Gegebenes darstellt, was nicht umgangen werden sollte. 


Ein Weihnachtsmärchen 
für die Eltern unserer schwachen Kinder.*) 


Hoch oben im Gebirge, dessen Gipfel bis an den Himmel reichten, wo man 
die Engelein singen und den lieben Gott sprechen hörte, lag ein weiter, tiefer 


*, Das Märchen ist entnommen aus einem demnächst erscheinenden Büchlein des 
den Lesern unseres Blattes bekannten Lehrers an der Idsteiner Anstalt K. Ziegler. 
Dasselbe führt den Titel „Unsere schwachen Kinder“ und enthält 8 Briefe, in denen 
sich der Verfasser an die Väter und Mütter geistig schvracher Kinder wendet, dieselben 
zu trösten sucht, ihnen die einfachsten Aufschlüsse über das Wesen und die Behandlung 
des Schwachsinns giebt und sie mit dem Leben und Treiben in unseren Anstalten bekannt 
macht. Das Märchen bildet den Schluss des 7. Briefes.. — Auf den Gesamtinhalt des 
Büchelchens kommen wir später zu sprechen. Die Schriftleitung. 


196 

Wald voll junger, zarter Tannen. Gleich einer Schar unschuldiger Kinder ent- 
sprossen diese dem jungfräulichen Boden; aus den blauen Lüften des Himmels 
tranken sie die Kraft ihres Wuchses, und in dem fiutenden Lichte der goldenen 
Sonne badeten sie ihre jugendlichen Glieder zu immer reinerer Schönheit. Über 
ihnen lag eine endlose Ruhe ausgebreitet, und nur wenn der laue Morgenwind 
sanft durch die schwankenden Ästlein und Zweiglein strich, erhob sich ein geheim- 
nisvolles Säuseln. Dann war der liebe Herrgott aus dem Himmel zu ihnen herab- 
gestiegen und es schien, als ob werdende Menschenseelen ihm ihre ersten Dank- 
gebete entgegenflüsterten- 

Wenn es aber anfing, unten im Thale kalt zu werden, und wenn das Land, 
in Schnee gehüllt, wie ein silbernes Meer aus der Tiefe heraufblitzte, erfasste die 
jungen Bäumchen eine mächtige Sehnsucht hinab zu den Völkern der Menschen. 
Aus goldenen Sonnenstrahlen und wirbelnden Schneeflocken spannen sie dann 
weisse Kerzen, mit denen sie sich schmückten, ihre Nadeln und Zweige saugten 
sie voll der köstlichsten Düfte, und am Abend raunten sie sich wunderbare Mär- 
chen zu, wie bald die Engelein kommen und sie in der heiligen Nacht zu frommen 
Kindern hinuntertragen würden, und wie dann ihre Lichtlein glänzen und ihre 
Wohlgerüche die Herzen der Menschen erfreuen sollten. 

Nur ein Bäumchen war unter ihnen, weit draussen am Ende des Waldes, 
ganz nahe den Wolken des Himmels, das hatte keine Sehnsucht nach den Tbälern 
da unten und es wusste auch nichts von den heimlichen Träumen seiner Brüder. 
Unverwandt schaute es hinein in den Himmel, wo die Engelein ihre bunten 
Reigen tanzten und der liebe Gott mitten unter ihnen herum wandelte, und wo 
aus Seinem grossen und guten Herzen eine feurige Sonne brannte, viel freund- 
licher und viel herrlicher als die Sonne auf Erden. Das Bäumchen konnte seine 
Blicke gar nicht mehr davon wegwenden, so sehr war es in die Seligkeit dieses 
Anblickes versunken. Aber darüber vergass es, gleich den anderen Bäumen 
Kerzen zu spinnen, und weil es nur nach dem Herzen des Vaters sich sehnte, 
versäunte es auch, seine Nadeln im Sonnenlicht zu baden und in sie den Duft. 
der Berge zu saugen. Grau und schlaff hingen diese daram am Holze herunter, 
und die Ästlein senkten sich krumm und knorrig zur Erde. So kam es, dass 
die anderen Bäumchen es nur das „dumme Krüppelbäumchen“ nannten und 
mitleidig zu ihm hinüberblickten. Aber dann lächelte Krüppelbäumchen jedesmal 
still vergnügt zum Himmel hinauf. 

Am heiligen Abend war unter den Bäumchen eine grosse Bewegung. Mit 
leuchtenden Kerzen und duftenden Nadeln geschmückt, standen sie in langen 
Reihen und warteten, bis sie geholt würden. Da trat der liebe Gott unter sie 
mit einem goldenen Stabe, und jedes Bäumchen, das er damit berührte, wurde 
sofort von Engeln hinuntergetragen ins Thal zu den Menschen. Bald waren alle 
Bäumchen verschwunden, nur Krüppelbäumchen, das keine Kerzen, aber schlechte 
Nadeln hatte, wartete noch allein auf dem Berge. Verwundert blieb der liebe 
Gott vor ihm stehen und blickte es lange an, dass es bis in seine Würzelchen 
hinab erzitterte. „Wo hast du deine Lichter und deine Nadeln?“ fragte er end- 
lich das Bäumchen, „Ach vergieb mir, lieber Vater,“ schluchzte dieses. „Aber 


ln. 


du weisst es ja, ich habe nur nach deinem Herzen geschaut und mich nicht nach 
der Erde gesehnt. Da fand ich keine Zeit, mich mit dem Lichte zu schmücken, 
das die Menschen so sehr erfreut und das sie oft als das Höchste schätzen. Meine 
Brüder schalten mich darum auch „dumm®. Aber das Licht, das aus deinem 
Herzen strömt, das liebe ich sehr. Hab’ darum Mitleid mit mir!“ 

Da lächelte der liebe Gott gar freundlich, und sein grosses Sonnenherz fing 
an, wunderbar zu leuchten. „Du bist das schönste von allen,“ sagte er, „und 
beinahe reif für meinen himmlischen Garten. Aber du sollst auch zuvor hinunter 
zu den Menschen, und fehlt dir gleich der Glanz und der Duft, so sollst du 
darum nicht minder ihnen die fröhliche Botschaft von meiner Liebe und Freund- 
lichkeit verkündigen. Zwar werden die Menschen dich nicht mit Jubel empfangen, 
wie deine Brüder, und sie werden erst lange über dich weinen, ehe sie in deiner 
dunklen, unscheinbaren Gestalt meinen Geist und — meinen Liebling erkannt 
haben. Aber ich will dich selbst in ein Hüttlein tragen, wo fromme und gute 
Kinder wohnen, die dich lieben und freundlich aufnehmen werden. Mit diesen 
Worten hob der liebe Gott das Bäumlein behutsam aus der Erde, drückte es 
zärtlich an seine Brust und trug es hinunter zu den dunklen Thälern. Die Enge. 
lein aber sangen, dass der ganze Himmel davon erschallte: „Ehre sei Gott in der 
Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Dabei war 
das Bäumchen eingeschlafen. 

Wie es wieder erwachte, stand es in einer dunklen, ärmlichen Stube, und 
vor ihm auf dem Boden sassen zwei Kinder, ein Knabe mit seinem Schwesterlein. 
Die schauten gar traurig zum Bäumchen auf, und in ihren Augen glänzten ein 
paar helle Tıopfen. Lange weinten diẹ Kinder still vor sich hin. Endlich hörte 
das Bäumchen den Knaben sprechen: „Ach, wie freute ich mich auf den schönen 
Weihnachtsbaum mit den glänzenden Lichtern und den bunten Blumen zwischen 
den Zweigen. Aber nun hat uns das Christkindchen ein solch schlechtes, dummes 
Bäumchen gebracht, das nicht einmal mit Lichtern geschmückt ist!“ Und das 
Schwesterchen sagte: „Alle Kinder freuen sich heute und singen unter ihren 
Bäumchen fröhliche Lieder, und wir sitzen hier in der finsteren Stube und können 
uns nicht freuen und müssen immer wieder das welke, krüppelige Bäumchen an- 
sehen!“ So sprachen und weinten die Kinder und sagten das alles auch dem 
lieben Gott. Sie beteten, er möge sie trösten und möge sie nicht ungeduldig 
werden lassen. Dann wurden sie wieder froh und schlummerten leise ein. 

Und während sie schliefen, hatten beide einen und denselben Traum. Der 
war recht seltsam. Die Kinder sahen das Bäumchen, wie es in ihrer Stube stand, 
ohne Lichter, mit grauen Nadeln und von krüppeliger Gestalt. Aber oben auf 
der Spitze sass ein schöner Engel in schneeweissem Gewande und mit einem gar 
lieblichen Gesichte. Der redete die Kinder freundlich an und sagte zu ihnen: „Ich 
bin der Schutzgeist dieses Bäumchens. Ich habe euere Thränen gesehen und euere 
Klagen gehört und bin gekommen, euch zu trösten. Fehlt euerem Bäumchen auch 
die schöne Gestalt und der helle Glanz der Kerzen, so brauchen euere Herzen 
darüber doch nicht traurig zu sein. Denn in seinem Innern glüht und leuchtet 
ein anderes Licht, das ist unendlich schöner als die Sonne, weil der liebe Gott 





198 
ihm selbst dieses Licht gegeben hat und es also nicht von der Erde, sondern von 
dem Himmel stammt. Darum bleibt dieses Licht aber auch den Menschen ver- 
borgen und kann nur von einfältigen und frommen Herzen erschaut werden. Weil 
ihr aber brave und artige Kinder seid und ihr eueren Vater im Himmel lieb habt, 
ist es möglich, dass ich euch die Augen öffne, dann werdet ihr sehen, wie auch 
aus einem solchen zwerghaften Bäumchen die Liebe und Güte eures Gottes strahlt, 
und ihr werdet erkennen, warum es gerade euch vom Himmel herab beschert 
wurde. Damit berührte der Engel die Augen der Kinder und verschwand. 


Da fing das Bäumchen an zu glühen und zu leuchten, als ob des Himmels 
volle Herrlichkeit über ihm ausgegossen wäre. Aus dem Marke seiner Äste und 
Zweige strömte ein wunderbarer Glanz, und zwischen den Nadeln blitzte und 
funkelte es wie die Sterne am Himmel. Das Stämmchen aber, das am meisten 
gekrümmt und von Käfern arg zernagt und zerfressen war, strahlte am schönsten 
und hatte einen Glanz wie das grosse Sonnenherz des himmlischen Vaters, und 
aus seinem Innern heraus klang eine Simme: „In den Schwachen ist meine 
Liebe mächtig!“ 

Als die Kinder erwachten und sich ihre Träume vom Bäumchen erzählten, das 
jetzt wieder vor ihnen stand wie am Abend zuvor, waren sie über dieselben nicht 
wenig erstaunt. Aber ihre kindliche Einfalt glaubte dem, was sie in der Nacht 
gesehen und gehört hatten, und von nun an war ihre Trauer verschwunden. 
Wenn sie der Worte des Engels gedachten und des wunderbaren Glanzes, der 
von dem Bäumchen ausgegangen war, wurden ihre Herzen jedesmal hell und 
warm und ihre Freude an dem Bäumchen nahm immer zu. Manchmal kamen 
auch Nachbarskinder, denen vom Christkindchen grosse und schöne Weihnachts- 
bäume geschenkt worden waren, die hatten Mitleid mit dem Krüppelbäumchen und 
mit den beiden Kindern und wollten sie trösten. Dann lächelten diese aber immer 
glückselig zu ihrem Bäumchen hinüber und freuten sich ihres süssen Geheimnisses, 
das sie keinem Menschen anvertrauten. 


Mitteilungen. 


Gera. (Dr. Bartels }.) Am 25. Oktober d. J. verschied nach längerem Leiden 
Direktor Dr. Friedrich Bartels, ein um das hiesige Schulwesen verdienter Schulmann, 
Verfasser verschiedener Lehrbücher und Herausgeber der „Rheinischen Blätter“. Ihm 
verdankt auch die hiesige Hilfsschule ihre Entstehung, und ebenso werden sich des 
Verstorbenen gewiss noch die Besucher unserer Konferenzen erinnern. — 


Breslau. (Hilfsschulen.) Gegenwärtig zählt Breslau 9 Hilfsschulen, von 
denen die erste vor nunmehr 10 Jahren und zwar am 17. Oktober 1892 eröffnet 
wurde. Von den 9 Hilfsschulen sind 6 (1 par., 3 evang. und 2 kath.) dreistufig; 
1 katholische hat 2 Klassen, und die 8. und 9. Hilfsschule zählen nur 1 Klasse. — 
Die Gesamtzahl der Schüler beläuft sich in den 22 Klassen auf rund 440 Kinder, 
so dass im Durchschnitt 20 Kinder auf die Klasse zu rechnen sind. — 


Erfurt. (Hilfsschule.) Die wiederholt vorgekommenen Fälle, dass Eltern die Um- 
schulung ihrer geistig oft recht tiefstehenden Kinder nach der Hilfsschule verweigerten, sind 
die Veranlassung gewesen, dass von nun: an die Überweisung derartiger Kinder zwaugs- 
weise geschieht. Die hiesige Königliche Regierung ist der Auffassung der städtischen 
Schulkommission, welche in der Hilfsschule nur eine besondere Veranstaltung der 
Volksschule sieht, vollständig beigetreten. Diese Behörde hat daher auch das Recht, 
die Einschulung der Kinder zu ordnen Bei der Untersuchung derselben hat der 
Schularzt nar noch zu bestätigen, dass ihr ferneres Verweilen in der Volksschule 
hemmend und störend wirkt. Die zwangsweise Umschulung wird aber auch künftig 
das letzte Mittel zur Erreichung der Überweisung nach der Hilfsschule sein und nur 
auf solche Kinder angewendet werden, welche zwei und mehr Jahre ohne Erfolg die 
unterste Klasse der Volksschule besuchten. In allen Fällen wird selbstverständlich 
zuerst der Weg der Güte versucht. In diesem Jahre wurden zum ersten Male 
4 Kinder zwangsweise umgeschult. Die Eltern haben keinen Widerspruch erhoben, 
waren in einem Falle sogar erfreut, dass es so gekommen ist. 

Hessen. (Konferenz hessischer Hilfsschulen.) Einer Einladung des Herrn 
Hilfsschulleiters Wettig-Mainz Folge leistend, versammelten sich am 24. September 
die Lehrer und Lehrerinnen sämtlicher hessischer Hilfsschulen aus Mainz, Darm- 
stadt und Worms in Gross-Gerau und hielten eine Konferenz ab, der folgende 
Tagesordnung zu Grunde lag: 1. Der nächstjährige Verbandstag in Mainz. 
2. Unser Lehrplan. — Bezüglich des ersten Punktes teilte Herr Wettig mit, 
dass der nächste Verbandstag aller Hilfsschulen Deutschlands bestimmt in Mainz 
stattfinde, dass ein Oıtsausschuss dafür bereits gebildet sei und dass man in aller 
Bälde von dem Vorstand nähere Mitteilung erwarte. Von einer grösseren Ausstellung 
aller Schülerarbeiten aus den 3 Hilfsschulen wurde Abstand genommen. Sollte jedoch 
von irgend einer Seite eine Ausstellung der Handfertigkeitssachen gewünscht werden, 
so soll darüber in einer weiteren Konferenz beschlossen werden. — Zum zweiten 
Punkte der Tagesordnung war von Herrn Wetttig-Mainz ein ausführlicher Lohrplan 
für alle Disziplinen ausgearbeitet worden, dem man im allgemeinen zustimmte. Doch 
behielt man sich vor, dass, sobald von der Regierung ein Lehrplan zur Genehmigung 
gefordert werde, noch einmal eingehendere Besprechungen und Ausarbeitungen statt- 
finden sollen. Nachdem die Tagesordnung erledigt war, wurden noch in zwangloser 
Weise mannigfache Erfahrungen ausgetauscht und verschiedene methodische Fragen 
besprochen. Man schied mit dem Bewusstsein, durch den lebhaften Gedankenaustausch 
und durch die detaillierten Besprechungen manches Lehrreiche gelernt, und manch 
schöne Anregung gewonnen zu haben. 

Auch fernerhin sollen hin und wieder im Laufe des Jahres ähnliche Versamm- 
lungen stattfinden und zwar soll mit den drei Städten Mainz, Darmstadt und Worms 
die Runde gehalten werden. Das nächste Mal soll gegen Weihnachten oder im Januar 
zusammengetreten werden, sobald näheres bezüglich des Verbandstages bekannt ist. 
Irgend eine methodische Frage soll dabei wieder Behandlung finden. Einberufung 
und Aufstellung der Tagesordnung werden Herrn Wettig überlassen. Wünschen 
wir dem edlen Streben im Interesse der guten Sache den besten Erfolg. G. B. 


m. 


en 


Litteratur. 


Über die Denkschwäche der Schulkinder aus nasaler Ursache, Vor- 
trag, gehalten im Königsberger Lehrer-Verein von Dr. R. Kafemann, Privat- 
docent an der Universität Königsberg. Danzig. Verlag u. Druck von A. R. Kafemann. 
1901. 

Der vorliegende Vortrag bemüht sich über die Frage der nasalen Deukschwäche 
der Schulkinder, an welcher zahllose Eltern sehr interessiert sind und welche infolge 
von populären Gesundheitsartikeln mit allerlei unklaren, phantastischen Vorstellungen 
umrankt“ist, eine auch dem Laien vollkommen verständliche orientierende Übersicht 
zu geben. Es wird in demselben gezeigt, wie die Eltern einerseits keine Veran- 
lassung haben, sich den übertriebensten Befürchtungen hinzugeben, andererseits wird 
der durch Millionen vou Beobachtungen sichergestellte schädliche Einfluss der Nasen- 
verstopfung — welchen Verfasser mit Hilfe von Experimentell psychologischen Unter- 
suchungen an sich selber geprüft hat — eingehend und innerhalb der richtigen 
Grenzen gewürdigt. Die Lektüro dieses Vortrages kann allen beteiligten Elternkreisen 
auf das wärmste empfohlen werden. 


Briefkasten. 


W. i. M. Besten Dank! Wir bitten um weitere Mitteilungen. — Th. F. i.B. Sendung 
erhalten und angenommen. Wenn Sie uns s. Z ein Exemplar der Denkschrift übermitteln 
wollten, würden wir Ihnen dankbar sein. — R. M. i. F. Für freundliche Zusendung der 
Ausschnitte aus den dortigen Tagesblättern sind wir Ihnen sehr dankbar Wenn eine 
Verwendung der Ausschnitte hin und wieder auch nicht oder in anderer Form erfolgt, 
so siud dieselben uns doch jederzeit willkommen. — Möchten recht viele Leser unserer 
Zeitschrift es Ihnen nachthun. — Dir. I. Soh. i. I. Für gefl Zusendung der Drucksachen 
besten Dank! 





Zur Beachtung. 


Mit vorliegender Nummer schliesst die 


Zeitschrift f. d. Behandlung schwachsinniger und Epilepüscher 


ihren XVIII. Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen 
Jahrgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken. 


Die Herausgeber. 








Inhalt. Über schwachsinnige Kinder. (Dr. E. Nawratzki.) — Ein Weihnachts- 
märchen für die Eltern unserer schwachen Kinder. (K. Ziegler.) — Mitteilungen: 
Gera, Breslau, Erfurt, Hessen. — Litteratur: Über die Denkschwäche der Schulkinder 
aus nasaler Ursache. — Briefkasten. — Anzeigen. 











Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Hierzn eine Beilage aus dem Verlage von Reuther & Reichard, Berlin. 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung Sehwachsinniger und KDlleptscher. 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden-Strehlen. Spezialarzt für Nervenkrankheiten 
in Stuttgart. 


XIX. (XXI) Jahrgang 1903. 


Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


3518006 
ASTOR, LENOX an 
TILBEN FOUNDATIONG 
R 


x 
-va ? 





-l 


Io 


am 
— 


10. 


11. 


13. 


14. 


15. 


. Aus der Unterachtepraxie 12) ' 
. Beitrag zur Epileptikerbehandlung 


. Das Auswendiglernen Ar 


Inhaltsverzeichnis. 


A. Aufsätze. 


. Allgemein Interessantes aus dem 


Taubstummenunterrichte (P. Rie- 
mann). 


(Dr. Ackermann) 


. Bericht über den W. Verbandatir 


der Hilfsschulen 
(Fr. Frenzel) . 


Deutschlands 


Mittel 
der Sprachbildung Schwachsinniger 
(R. G. Wehle). 


. Das Rechnen auf der Unkerstafe der 


Hilfsschule (H. Giese) . 


. Der Rechtschreibeunterricht in der 


Hilfsschule (Br. Pohle) 


. Die Fürsorge für Idioten und Fpi- 


leptische in Württemberg (Dr. H. 
Wildermuth) . 125. 


. Die Stellung des Arztes in der 
. 133 


Hilfsschule (Dr. Berkhan) 
Die Befreiung der Zöglinge der Hilfs- 
schule vom Militärdienst (A.Müller) 
Die Auswechslung von Schülern in 
der Hilfaschule (Wettig) . 


Abnormsachen (H. Stelling) 

Die Entwicklung von Sprechen und 
Denken beim Kinde (Fr. Frenzel) 
Der Austausch von Schülern zwischen 
den verschiedenen Klassen der Hilfs- 
schule (P. Schwahn) ; 
Der Austausch von Schülern zwischen 
den verschiedenen Klassen der Hilfs- 
schule (W. Bock). 


. Ein verkanntes Kind (G. Büttner) 
. Ergebnisse 


einer zahnärztlichen 
Untersuchung von 84 Kindern der 
MagdeburgerHilfsschule(Dr.Greve) 


. Störungen der Sprache und Schrift 
bei geistig schwachen Kindern 
(A. Müller) . 


Seite 


. 101 


39 


69 


76 


154 


pomah 


ðQ 


. 165 
. Die nordischen Versammlungen für 


. 117 


. 172 
42 


153 


er a en a a 


7 m e a a 





19. 
20. 


Uber Epilepsie (Fr. Frenzel) . 
Unterrichtliche Spaziergänge mit 
Schülern der Hilfsschule (Th. Fuhr- 


Seite 


. 114 


mann). ; . 49 
21. Wie vermittelt die Hilfeschule a 
Zöglingen die Kenntnis der ver- 
wandtschaftlichen Verhältnisse (H. 
Horrix) . . a ar ee, a ESR 
22. Wir W endende. ... (K. Ziegler) 53 
B. Mitteilungen. 
1. Berlin (Erziehungs- und Fürsorge- 
Verein) ; . . . 189 
2. š (Fortbildungsschule für 
geistig Zurückgebliebene) 183 
3. Z (Nebenschulen) . . 188 
4. x (Vorträge über die Be- 
handlung schwachsinniger 
Kinder) . 188 
5. Š (Zur Fürsorge für geistig 
Zurückgebliebene) 64 
6. Borna (Sprache und Schreck) . 44 
7. Bremen (Personalien) . . 14 
8. Chemnitz (Hilfsklassen) . . 114 
9. Dalldorf (Stiftungsfest) . 189 
10. Erfurt (Hilfsschultag) . . 158 
11. Frankfurt a. M. (Versammlung 
von Lehrern und Lehrerinnen an 
Hilfeschulen) . . 190 
12. Görlitz (Hilfeschule) 14 
13. Grossherzogtum Hessen (Ge- 
meinsame Konferenzen) . í . 158 
14. Grossherzogtum Hessen (Hilfs- 
schulwesen) . . . 4 
15. Grünberg i. Schl. (Hilfsschule) . 4 
16. Hirschberg i. Schl. (Neue Hilfs- 
schule) . ; 44 
17. Königshütte 0. s. (Hilfsschule) . 14 
18. Langenhagen (Mortalität) . 45 
19. Leschnitz O. Schl. (Erziehungs- 
anstalt) 66 
20. ; ; (Personalien) 43 


21. Leipzig (Hilfsschule) . Ho 4 
22. á 'Pensionsberechtigung dër 
besonderen Zulage) 14 5. 
23. Mainz (Schüler ohne Finger) .159 6. 
24. .„ (IV. Verbandstag der Hilfs- 
schulen) . . a 14 7. 
25. Mannheim (Hilfsschule; ; . 115 
26. Meissen (Hilfsschule, . ... H` 
27. Mühlhausen i. Th. (Hilfsschule) 96 
28. Nürnberg (Intern. Kongress für x, 
Schulhygiene) . 159. 191 
29. Offenbach (Fröffnung der neuen 9. 
Hilfsschule) 96 
30. Oppeln (C éricbtaverbandiungi. 96 
31. > (Verurteilung) . . . .116 
32. Plauen i. V. (Vereinigung zur För- 10. 
derung des sächs. Hiifsschulwesens) 191 
33. Sachsen (Landesanstalt für Epi- ı. 
leptische) . a A eine 43 
34. Schreiberhau (ldiotenanstalt) 97 12. 
35. Schöneberg (Ferienausflüge) . . 116 ` 
86. Schwelm (Hilfsschule) 67 13. 
37. Treysa (Hephata) . ; 67 | 
38. Wandsbeck (Hilfsschule) 67 14. 
39. Worms (Hilfsschule) 97:15. 
40. 5 (Unsere Entlassenen) . 159 
4l. : (Weihnachtsbescherung in 16. 
der Hilfsschule) . 45 
42. Zürich en Stand de 17. 
Fürsorge) . 22.0.7160 | 
C. Literatur. 
1. Auer, C., Kölle, K., Graf, H,, 18 
Verbandlungen der IV. Schweize- 
rischen Konferenz für das Idioten- 19, 
wesen . 193 
2. Baldwin, 7. M, Die Entwicklung | 20 
des Geister beim Kinde und bei | 
der Rasse . . 46 
3. Eschle,Dr., Das Arbeits- Sinto 98 ;: D. 


Seite 





Seite 


Ellenbach, M., Aus der Welt der 
Idioten. . . A ta 
Fischer. G., Gerichtliche Medizin 
F renzel, F r., Die Hilfsschulen für 
schwachbefähigte Kinder . : 
Gerhardt, J. M, Die Heilerzie- 
hungs- und Pflegeanstalten für 
schwachbefäbigte Kinder, Idioten 
und Epileptiker : 

Hirt, E., Beziebungen de Seele 
lebens zum Nervenleben ; 
Laquer, Dr. L.. Die ärztliche Fest- 
stellung der verschiedenen Formen 
des Schwachsinns in den ersten 
Schnljahren . . . 

Lehmann,E.., Silberfibel für Schule 
und Haus . 
Liebmann, 
Kinder . ; 
Muralt, Dr. ks v. ‚Über TnBralisches 
Irresein : 

Neumann,E, Die Enistehungen der 
ersten Wortbedeutungen beim Kinde 
Otto, B., Mutterfibel 
Rude, A., Methodik des guanti 
Volksschulunterrichte . 
Schulthess, Dr. W., Schule und 
Rückgratsverkrümmung s 
Stelling, H., Die Erziehung der 
uchwachbefähigten und schwach- 
sinnigen Taubstummen und die 
Teilung nach Fähigkeiten überhaupt 


Dr. A., "Stotternde 


. Stilling, Dr. J., Die Kurzsichtig- 


keit, ihre Entstehung und Bedeutung 
Unterlauf, G. Die Pflege der 


Selbsttätigkeit . 

. Ziegler, K., Unsere schwachen 
Kinder . 
Briefkasten . 48. 100. 116. 


. 100 
99 


. 161 


47 


. 163 


. 121 


. 130 


130 
. 164 


. 131 


. 163 


99 


pė 


62 


98 


15 


196 


r et 
‚or 351866 UBI C I IBRAR 
Nr. 1. XIX. M) Jahrg. soat 


Zeitschrift 


für die 


Pehandiune sehwachsinniger und Epileptischer 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden -Streohlen, für Nor renkreokteften 
Residenzetrasse 27. In Stuttgart. 
Be ae GSaPosthmter, Wie anendlranr sen ad 
die gespaltene Peuitzelle 25 Pig Lite- Januar 1903 Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 


rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Störungen 
der Sprache und Schrift bei geistig schwachen Kindern. 
Vortrag, gehalten auf der Kreislehrer- Konferenz zu Erfurt, von A. Müller, 
Lehrer an der Hilfsschule in Erfurt. 

Meine Damen und Herren! Das geistige Leben der Schwachsinnigen ist 
ein annormales, ein schwaches. Schwach sind ihre Sinne, sowohl in der Fähig- 
keit, Eindrücke der Aussenwelt aufzunehmen, als auch in dem Vermögen, die- 
selben nach dem Gehirn fortzuleiten: schwach ist ihr gesamtes Empfindungs- 
und Vorstellungsleben; erschwert die Fixierung, Assoziation, Reproduktion und 
Apperzeption der Vorstellungen, besonders der Bewegungsvorstellungen. Beim 
Sprechen und Schreiben sind es die Sprech- und Schreibbewegungsvorstellungen, 
welche das geistig schwache Kind nur langsam auffasst und schwer im Gedächtnis 
behält, Daraus erklärt sieh mit der verspätete Anfang des Sprechenlernens bei 
den Schwachsinnigen. Von den Kindern der hiesigen Hilfsschule hat eins erst 
im siebenten, vier im sechsten, sechs im fünften, ebensoviel im vierten und 
über zwanzig im dritten Jahre sprechen gelernt. Das Sprechen und Schreiben 
besteht aber nicht nur in der Bewegung der Sprechwerkzeuge, des Armes und 
der Hand, beide Verrichtungen sind vielmehr geistige Tätigkeiten, die an das 
psychische Leben des Einzelnen hohe Anforderungen stellen, wie keine zweite 
geistige Funktion. 

Die Beherrschung der Sprache umfasst einerseits das Verständnis des Ge- 
sprochenen, anderenteils die Äusserung des Gedachten; ihre höchste Leistung 
erhält sie in der freien, verständlichen, zusammenhängenden Rede. Das Gesprochene 
nehmen wir mit dem Ohr wahr. Die Erregung des peripheren Teiles der Hör- 


nerven wird nach dem Schläfenlappen des Grosshirns und zwar nach den 


2 


” er 
` 


beiden letzten Dritteln in der ersten linksseitigen Schläfenwindung geleitet und 
hier, wenn die Erregung stark genug ist, im Klangzentrum als Gehörsvorstellung 
festgehalten. Soll aber das Gehörte verstanden werden, d. h. nicht bloss als 
etwas Gehörtes wahrgenommen, sondern auch der begriffliche Inhalt des Wortes, 
des Satzes zum Bewusstsein kommen, so muss die Erregung vom Klangzentrum 
nach den begriffbildenden Teilen des Grosshirns, nach der Denksphäre im Vorder- 
teil des Gehirns geleitet und hier festgehalten werden. So entsteht die Sach- 
vorstellung von dem gesprochenen Worte, die sich mit der Gehörsvorstellung 
zu einer Komplikation assoziiert. Das ist die eine Seite der Sprache. Zum 
andern umfasst die Beherrschung der Sprache die Äusserung des Gedachten. 
Die Äusserung des Gedachten setzt einen Gedanken voraus. Dieser hat als 
solcher noch keine motorische Triebkraft. Es bedarf eines gemütlichen Antriebes, 
der uns drängt, den Gedanken zu äussern. Nun wählen wir die Worte, die 
Lautkomplexe, die in dem sensorischen Sprachzentrum niedergelegt sind. Sach- 
und Gehörsvorstellung komplizieren sich. Wie kommt nun die Äusserung des 
Gedachten zu stande? Durch den gemütlichen Antrieb hat der Gedanke motorische 
Triebkraft erhalten. Die Erregung in den begriffbildenden Teilen des Grossbirns 
wird durch Leitungsbahnen nach dem motorischen Sprachzentrum, dem sog. 
Brocaschen Sprachzentrum in der dritten linksseitigen Stirnwindung geleitet, 
und dieser pflanzt die Erregung auf die expressiven Bahnen des Sprachapparates, 
auf die äusseren Sprachwerkzeuge weiter fort, welche dann die Artikulation oder 
die Bildung der Wörter verrichten. Psychologisch ausgedrückt, Sach- und Ge- 
hörsvorstellung assoziiert sich mit der Sprechbewegungsvorstellung. 

Aus meinen Ausführungen über die Sprache erhellt, welch ein verwickelter 
-Apparat von nervösen Bahnen und gangliösen Zentren derselben zugewiesen ist. 
Ein einfaches Sprachzentrum im Gehirn gibt es nicht. Das zentrale Organ 
der Sprache ist vielmehr zusammengesetzt aus einer grossen Zahl räumlich ge- 
trennter, durch zahlreiche Bahnen unter sich verbundener, geistige, sensorische 
und motorische Funktionen vollziehender gangliöser Apparate. (Kussmaul.) 

Wenn nun irgend ein Zentrum nicht funktioniert, irgend eine nervöse Bahu 
lädiert und infolgedessen nicht gangbar ist, so tritt Sprachstörung ein. Beruhen 
die Sprachstörungen in Störungen der Artikulation und Diktion, so redet man 
von reinen Sprachstörungen; sind sie der Ausdruck einer intellektuellen Störung, 
so bezeichnet man sie als Dyslogien. Da die Sprache der getreue Spiegel des 
Geistes ist, so wird sie auch jede Störung desselben zum Ausdruck bringen. 
Der Geist ist es ja, welcher der Sprache das individuelle Gepräge gibt. So 
wird sich auch in der Sprache der Schwachsinnigen ihr annormaler Geisteszustand 
wiederspiegeln. Ihr beschränkter Vorstellungskreis, der gestörte Ablauf der Vor- 
stellungen, das Fehlen einer raschen assoziativen Verbindung, der Mangel eines 
reichen Wortschatzes, alles das kommt in ihrer Sprache zum Ausdruck. 

Welches sind nun die wichtigsten Redestörungen bei den geistig 
schwachen Kindern? — Die apathisch Schwachsinnigen tragen. ein träges, 
gleichgültiges Wesen zur Schau, sie können kein Wässerchen trüben. . Bei ihnen 
merkt man die Verlangsamung des Assoziationsablaufes in der laugsamen,. ge- 


3 


-dehnten, zögernden, monotonen Redeweise. Mitunter fangen sie an zu sprechen, 
verlieren dann aber sogleich die Lust fortzufahren. 

Die erethisch Schwachsinnigen sind äusserst lebbaft, aufgeregt. Ihre 
Aufmerksamkeit ist sehr mangelhaft, ihr Gedächtnis nicht treu; die Erinnerung 
„wird meist phantastisch verändert. Die sepsychischen Anomalien kommen zum Aus- 
druck in ihrer Sprache; sie trägt den Stempel der Geschwätzigkeit. Ohne Sinn 
und Verstand schwatzen diese geistig Schwachen das tollste Zeug zusammen 
kommen vom Hundertsten ins Tausendste und sind im stande, stundenlange 
Monologe zu halten. — „Wie heisst du?“ frage ich einen ganz vergnügt in die 
Welt schauenden Burschen. Monoton antwortet er mir. „Wie heisst du?“ 
„Hast du noch einen Bruder?“ frage ich weiter; als Antwort gibt er mir 
meine Frage zurück. Auf meine Aufforderung, den Satz zu sprechen: „Die 
Mutter ist zu Hause“, antwortet er, olıne irgend welche Aufmerksamkeit zu be- 
zeugen und ohne überhaupt einen Begriff mit dem Gesagten zu verbinden: 
„Hause“. Diese Störungen in der Redeweise bezeichnet man als Echosprache, 
Echolalie. — 

Das Versprechen infolge mangelnder Aufmerksamkeit, Skoliophrasie ge- 
nannt, finden wir oft bei zerstreuten und ängstlichen Geistesschwachen. Sie 
konzentrieren ihre Aufmerksamkeit nicht auf das, was sie sprechen und auf die 
Art, wie sie sprechen, de schweifen ab und merken auch nachher nicht, dass sie 
sich versprochen haben. — 

Viele Geistesschwache bekunden eine Unfähigkeit in dem Vermögen, die 
Wörter grammatisch zu formen und das Auszusprechende syntaktisch zu ordnen. 
Es kommt dann zu allerhand Störungen in der Satzbildung; das Kind drückt 
einen Satz durch ein Wort aus. Aufgefordert, den Satz zu sprechen: „Der 
Vater ist gut“, sagt es: „Vater“. Ein Knabe klagte mir „Bauch weh“; er wollte 
damit ausdrücken: „Mein Bauch tut mir weh“. Ein anderes Kind erzählte. 
Gestern fort gangen. Schiesshaus. Karrsell bin fahren. Kasper da. Tot hauen. 
. Poleziste kommen. — 

Die jetzt erwähnten Sprachstörungen waren der Ausdruck einer intellektuellen 
Störung. Ehe ich von den reinen Sprachstörungen rede, möchte ich einiges 
über das Stottern, als eines auch unter den geistig Schwachen verbreiteten 
:Sprachfehlers sagen. Nach einer im Jahre 1894 von dem Anstaltsdirektor Piper 
‚aufgestellten Statistik stotterten von 3931 schwachsinnigen Kindern 304, also 
7°/0; unter den 200 Kindern, die unsere Hilfsschule besuchten, befanden sich 
5 Stotterer, 2'/, %,. Die Literatur über das Stottern ist fast bis ins Ungeheuere 
gewachsen; die Ansichten über das Wesen dieses Sprachfehlers sind so verschieden: 
dass man getrost behaupten kann, jeder Besitzer einer Sprachheilanstalt, jeder 
Wandersprachlehrer hat eine eigene Theorie, und seine Behandlung des Sprach- 
übels ist die allein richtige und führt zur sichern Heilung, womöglich schon in 
8 Tagen. Nach Kussmaul beruht das Stottern in einer krampfhaften Funktions- 
.‚störung des Nervensystems, welche die Aussprache der Silben zu Beginn oder 
mitten in. der bis dahin glücklich geführten Rede durch krampfhafte Kontrak- 
‚tionen, an den Verschlussstellen des vokalischen und konsonantischen Artikulations- 


4 


rohres behindert. Nicht die Aussprache der einzelnen Laute, sondern die Verbindung 
der Konsonanten, namentlich der Explosivlaute, mit dem nachfolgenden Vokal 
bereitet dem Stotterer mitunter unüberwindliche Schwierigkeiten. Dies liegt 
daran, dass die bei der Silberfügung zusammenwirkenden drei Muskelaktionen, 
die exspiratorische, vokalische und konsonantische nicht harmonisch ineinander- 
greifen. Dem Stotterer feblt es an der für die Rede nötigen Herrschaft über 
die Atmung; er bringt es nicht fertig, die konsonantische Muskelaktion der 
vokalen unterzuordnen und kommt schon darum nicht in den rechten Rhythmus 
der Rede. Vor allem aber ist es eine grosse gemütliche Erregbarkeit und 
Ängstlichkeit, welche ihn der Willenskraft über den rhythmischen Gang der 
Rede beraubt. Schon der Gedanke, er könnte stottern, macht ihn stotternd. 
Die Behandlung, auf die ich hier natürlich nicht näher eingehen kann, ist eine 
gymnastische und didaktische; die gymnastische bezweckt eine Kräftigung des 
Gesamtorganismus, die didaktische hat es auf die Herstellung einer richtigen 
Koordination der Funktionen der Atmung, Stimmbildung und Artikulation abgesehen. 

Die Sprachstörung, welche man bei den geistig Schwachen am meisten 
verbreitet findet, ist das Stammeln. Nach der schon vorhin erwähnten Statistik 
befanden sich unter 3931 Schwachsinnigen 177 Stammler, d. s. 25°%,. Von 
den 200 Kindern, die unsere Hilfsschule besuchten, waren 50 Stammler, auch 25°/,. 
Das Stammeln besteht in dem Unvermögen, einzelne Laute zu bilden; entweder 
lässt der Stamımler diese Laute in dem Worte aus oder setzt einen falschen für 
den richtigen ein; er verstellt die Laute und fügt neue hinzu. Man unterscheidet 
Laut-, Silben - und Wortstammeln. Wird die Sprache durch das Auslassen 
verschiedener Bestandteile derselben sehr undeutlich oder ganz unverständlich, so 
nennt man das Stammeln, Lallen, wohl auch Hottentottismus. Die ver- 
schiedenen Arten des Stammelns richten sich nach dem Ausfall der einzelnen 
Laute. Je nachdem r, l, g oder s ausgelassen wird redet man von Rhotacismus, 
Lambdacismus, Gammacismus, Sigmatismus. Letztere Sprachstörung nennt 
man auch Lispeln. Unter 3931 geistig schwachen Kindern befanden sich 512, 
also 13%, Lispler. Mitunter setzen die Stammler an Stelle des richtigen Lautes 
einen falschen, z. B. für r l, für g d, für l n. Es entstehen dadurch noch 
weitere Arten der erschwerten Artikulation. In welcher Weise die Sprache 
durch diese Sprachfehler entstellt wird, mögen einige Beispiele klar legen. „Der 
tneipt in de tnie“ klagt ein Schüler, und ein anderer ruft auf dem Spielhofe: 
„Wenn ich hintomme, dann tannste aber Kresche triechen“. — 

Das Stammeln ist bald ein angeborener, bald ein erworbener Fehler; erworben 
durch schlechte Erziehung und mangelhafte Übung; bald sind die Ursachen 
organischer Natur und bestehen in Anomalien des Gehirns und der äusseren 
'Sprachorgane und in Schwerhörigkeit. Ich erinnere hierbei an die Nasenver- 
stopfung, an die Gaumenlähmung, an die verschiedenen Defekte der Zunge, der 
Zähne und der Lippen. — Die Behandlung des Leidens ist eine individuelle. 
Durch operative Eingriffe können verschiedene organische Defekte gehoben werden. 
Die Hauptarbeit bleibt anch hier eine didaktische, heilpädagogische. — — — 

Nun noch einiges über die Störungen der Schrift bei geistig schwachen 


5 


Kindern. Analog den Störungen der Lautsprache finden wir auch solche der 
Schriftsprache bei den Schwaclisinnigen. Noch verwickelter als bei der Sprache 
gestalten sich die Vorgänge bein Schreiben. Hier gesellen sich zu den Gehörs - 
und Sprechbewegungsvorstellungen noch die Gesichts- und Schreibbewegungsvor- 
stellungen. Ich setze den Fall, ein vorgesprochenes Wort soll aufgeschrieben 
werden. Was setzt dieser Willensakt bei dem Kinde voraus? Das Kind muss 
die Laute genau hören und aussprechen können, es muss die den Lauten ent- 
sprechenden Buchstaben kennen und im stande sein, dieselben niederzuschreiben 
Mittelst. der Schriftbewegung der Hund fügt es die Laute zu den richtigen Wort- 
bildern zusammen. Dies alles wird bedingt durch Assoziation der Lautvorstellung, 
Buchstabenform, Sprech- und Schreibbewegung. Leider kann ich der Kürze der 
Zeit halber nicht noch näher auf die physiologischen und psychologischen Prozesse 
beim Schreiben eingehen. Wenn man nun einerseits bedenkt, welch eine Menge 
feiner und bestimmter Arm- und Handbewegungen das Schreiben erfordert, 
andererseits sich daran erinnert, wie schwer dem Geistesschwachen die Koordination 
der Bewegungen und infolge des Mangels an Aufmerksamkeit die Erlernung 
der feineren, assoziierten Bewegungen fällt, so wird man es erklärlich finden, 
dass Schreibstörungen bei Schwachsinnigen öfters anzutreffen sind. Wie ich 
schon angedeutet habe, beruht in vielen Fällen die Ursache in einem rein psy- 
chischen Mangel, in einem Mangel an Aufmerksamkeit, Besinnung, Sorgfalt. 
In meiner Erfahrung ist mir ein Fall von Schreibstörung begegnet, dessen Ur- 
sache auf einen psychopatbischen Erregungszustand, der sich zur Geistesgestörtheit 
entwickelte, hinwies. Strümpell sagt, dass eine gänzliche Gesetzlosigkeit, eine 
ungewöhnliche Zahl und Dauerhaftigkeit der bei Kindern auftretenden Schreib- 
fehler auf eine bestehende Psychopathie schliessen lassen, während eine Häufung 
derselben während des Unterrichtes unter Umständen ein Ermüdungssympton 
darstellt, — 

Wie oharakterisieren sich nun die Schreibstörungen bei geistig schwachen 
Kindern? Einige Beispiele aus dem von mir gesammelten Material sollen es 
klar legen. Die Kinder haben den Satz aufzuschreiben: Die Blume ist blau. 
Ein Knabe schreibt: Die Blue ist blan. Er lässt den Buchstaben m in dem 
Wort Blume und den u-Bogen in dem Worte blau ausfallen. Ein Mädchen 
lässt fortgesetzt den untern Teil des kleinen d und ch weg. Ein Knabe ver- 
stümmelt die Wörter durch Weglassen von Silben. Anstatt glänzenden Scheibe 
am Himmel schreibt er: glänzen Scheibe an Himm. Oft fehlen ganze Wörter, 
Abzuschreiben ist: Die Sonne war untergegangen und stand. Es zeigt sich 
Folgendes auf der Tafel: Die war war aufgegangen sind stand. Die eine Art 
der Schreibstörung besteht also darin, dass Buchstabenteile, Buchstaben, Silben 
und Wörter ausgelassen werden. — Oft treten Verwechslungen ein, so dass 
ein erst später aufzutretender Buchstabe früher erscheint oder umgekehrt. 
Folgende Beispiele mögen diese Art der Schreibstörung illustrieren. Das Kind 
schreibt Brat statt Bart, Starhlen für Strahlen, gloden — golden, sparng — sprang, 
Dröfer — Dörfer, deir — drei, hlot — holt. — 

Ein dritte Art der Sprachstörung besteht darin, dass einzelne Buchstaben, 


6 


Silben und Wörter durch andere ersetzt werden, so dass Verbildungen des 
Wortes und Satzes entstehen. Einige Proben mögen das zeigen. Geift Fleisch 
für kauft Fleisch, ganft Brote statt kauft Brote, Trischter — Trichter, schonan — 
schönen, sastige — saftige, empem — empor, herzlischte — herrlichste, Fernsteht — 
Fernsicht. Die Baume blau. — Die Blume ist blau. — 

Mitunter entstehen Erweiterungen durch Wiederholungen und Voraus- 
nahmen einzelner Elemente oder durch Einschiebungen und Angliederungen 
neugebildeter Buchstaben. Z. B. f. Fad, Vater. Die war war aufgegangen. -— 
Die Sonne war aufgegangen, Frutter — Futter, Snand — Sand, zerberechen — 
zerbrechen, steingt — steigt, Bruater — Bruder, ich haben — ich habe, biltzen — 
blitzt. — 

Die wunderlichsten Wort- und Satzgebilde kommen aber zu stande, wenn. 
Komplikationen der verschiedenen Schreibstörungen eintreten. Da 
hält es oft schwer, den Sinn des Niedergeschriebenen zu enträtseln. Man redet 
dann wohl vom Hottentottismus im Schreiben. Hier einige Beispiele. Die 
Baume seisse — Die Blume ist blau; Ich baben deir Fasche — Ich habe. drei 
Flaschen; Die Flau holt Fl — Die Frau holt Fleisch; ich fre einen Vart — 
Ich frage meinen Vater; Das Öl steingt im Sachtem — Das Öl steigt im Dochte 
empor; Berthohhaus — Berthold Hochhaus; Steirsch- Hölsern gbild — Streich- 
hölzern gespielt; struten vom Verstonste — streng verboten. — | 

Zwischen den Störungen der Schriftsprache und der Sprache der Stammler 
besteht eine Ähnlichkeit, so dass man die Schreibstörungen Schreibstammeln 
genannt hat. Jedoch bestebt keine Beziehung zwischen beiden; sie treten viel- 
mehr nebeneinander auf. Die Erfahrung lehrt, dass durch den Unterricht nicht 
nnr die Möglichkeit einer Besserung, sondern auch völlige Bereilignile des 
Schreibstammelns gewährleistet wird. 

Zum Schluss möchte ich die verehrten Damen und Herren noch auf die 
Erscheinungen des Versprechens, Verlesens nnd Verschreibens bei normalen 
Kindern hinweisen. Diese Erscheinungen eröffnen dem aufmerksamen Beobachter 
und Forscher wunderbare Blicke in das Empfindungssystem der Sprache und 
geben ihm Anregung zum Studium des höchst interessanten. Gebietes der De 
gogischen Pathologie. 


Literatur: Kussmaul, Störungen der Sprache. 

Strümpell, Pädagogische Pathologie. 

Berkhan, Störungen der Sprache und der Schriftsprache bei geistig 
schwachen Kindern. 


Der Rechtschreibeunterricht in der Hilfsschule. 
Von Br. Pohle, Leipzig. a 
Über diesen Gegenstand hat bereits im Septemberhefte des ns 1899 
Herr Kollege Horrix aus Düsseldorf seine Ansichten dargelegt. Wenn ich heute 
denselben Stoff behandle, so geschieht es, um meine persönlichen Ansichten 
über Ziel und Stoff des orthographischen Unterrichts genauer festzustellen und 


7 


mich ‘eingehender über seine methodische Behandlung auszusprechen, als es in 
jenem Artikel geschehen ist. | 

Der Rechtschreibeunterricht ist eine Plage, ein Kreuz für Lehrer und 
Schüler! Wie oft hat nicht jeder von uns diesen Klageruf gehört. Trotz der 
achtjährigen Mühe und Arbeit erlernt nur ein geringer Prozentsatz unsrer Volks- 
schüler, seine Gedanken oıthographisch fehlerlos niederzuschreiben. In der 
Fortbildungsschule kann man selbst in den oberen Abteilungen, die sich doch 
meistens aus den ersten Klassen unsrer Bürgerschulen rekrutieren, die Erfahrung 
machen, dass die orthographische Fertigkeit viel an Sicherheit zu wünschen 
übrig lässt. Wird dem Unterrichte zu wenig Zeit gewidmet oder bewegt er 
sich nicht in den rechten methodischen Bahnen? Wir haben dem hier- nicht 
nachzuforschen. 

Ist nun aber jener Weheruf für die Normalschule berechtigt, wie oft muss 
er da nicht erst in der Hilfsschule zn hören sein! Hat der Volksschüler 8 Jahre 
lang Zeit zur Erlernung der Orthographie, so. gehen unsern Schülern die zwei- 
ersten, wenn nicht drei bis vier Jahre sọ gut wie verloren, da er anfangs kaum 
unterrichtsfähig ist, dann aber erst schwer mit den Anfängen der Lesefertigkeit 
zu kämpfen hat; stehen jenem die Wort- und Satzlehre als wesentliche Hilfs- 
mittel zur Erlernung der Orthographie zurseite, so ist es bei diesem infolge: 
seiner Denk- und Gedächtnisschwäche und seines meist sehr mangelhaften 
Sprachgefühls nur in sehr beschränktem Masse der Fall; ebenso sind unser6 
Geistesschwachen lange nicht in dem Masse zum Hausfleisse heránzizienen als. 
es bei den Normalschülern möglich ist, 

Nach diesen vergleichenden Erwägungen wird niemand von der 
Hilfsschule erwarten, dass sie, ausgenommen einzelne Fälle, bei denen 
einseitige: Begabung vorliegt, ihre Schüler zur vollen Fertigkeit in der 
Rechtschreibung bringt. Sollte es in dieser oder jener Schule wirklich der 
Fall sein, so könnte ich nur annehmen, dass der Orthographie unter Vernach- 
lässigung andrer Unterrichtszweige zuviel Zeit zugewendet worden ist. Zeugnis 
für meine Ansicht legt auch die Tatsache ab, dass weder mir noch meinen 
Spezialkollegen bei unsern alljährlichen Besuchen in Anstalten und Hilfsschulen 
je ein freies Diktat ohne Vorbereitung vorgeführt worden ist. Nach alledem 
müssen wir also, abgesehen von den Zöglingen, die wegen ihrer geringen 
Leistungen bereits aus Unterklassen entlassen werden müssen und denen, die 
infolge Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit oder sprachlicher Gebrechen keine. 
nennenswerten Erfolge erreichen, auch für unsere besten Schüler, die aus den 
Oberklassen entlassen werden können, das Ziel für den orthographischen 
Unterricht wesentlich beschränken. 

Wie kann das geschehen? Die geistige Schwäche, das geringe Fassungs- 
vermögen unsrer Zöglinge nötigt uns, einige Fächer aus unserm Lehrplane ‚ganz 
zu verbannen, in anderen aber, wie Religion, Naturkunde, -Geographie und 
Rechnen, uns auf ein Stoffminimum zu beschränken, wie es'voraussichtlich für 
die engbegrenzte Lebenssphäre, in der sich unsere Schüler als Erwachsene be- 
wegen werden, notdürftig genügen wird. Eine ähnliche Praxis müssen wir auch’ 


8 


bei der Erlernung der Orthographie einhalten. Worauf erstreckt sich die schrift- 
liche Tätigkeit eines Schwachsinnigen? Wird sie sich nicht mit der Abfassung 
eines Briefes oder einer einfachen Mitteilung, mit der Ausstellung einer Rechnung 
oder Quittung, mit der Ausfüllung eines Postformulars oder ähnlicher kleiner 
Arbeiten vollständig erschöpfen? Gehen wir ja doch auch in unsern Aufsatz- 
übungen nicht über diese schriftlichen Arbeiten hinaus. Jeder aber, der jahre- 
lang mit Schwachsinnigen verkehrt hat, weiss, wie einfach der Satzbau und die 
Ausdrucksweise, wie wenig umfangreich der Wortschatz ist, der bei ihren 
Arbeiten zur Verwendung kommt, und wie dieser Wortschatz meist der Umgangs- 
sprache entnommen ist und sich auf die konkretesten Begriffe beschräukt- 
Diesen Tatsachen entsprechend ist der orthographische Unterrichtsstoff für unsere 
Schulen auszuwählen und zu kürzen. Einige Darlegungen mögen zeigen, wie 
das zu geschehen bat. 

In allen Klassen ist schon auf dem Gebiete der Gleichschreibung, wo Laut 
und Schriftzeichen übereinstimmen, bei der Auswahl der Diktatstoffe darauf zu 
achten, dass sie nur Gedanken und Wörter bieten, die dem lIdeenkreise und 
Sprachvermögen unsrer Schüler entsprechen, dass sie also dem Stoffkreise des 
alltäglichen Lebens entnommen sind, dagegen alle abstrakteren Redewendungen 
alle der Volkssprache nicht geläufigen Ausdrücke vermeiden. Ein Wörterbuch 
für Hilfsschulen lässt sich zu dieseın Zwecke natürlich schwer herstellen; die 
richtige Auswahl muss der Erfahrung des Lehrers überlassen bleiben. Bei der 
Andersschreibung dagegen, wo Laut und Zeichen nicht übereinstimmen, muss 
eine bestimmte Auswahl getroffen werden; so wäre die Gruppe mit ai vielleicht 
zu beschränken auf die Wörter „Hain, Kaiser, Mai, Mais, Saite und Waise“, 
dagegen wären auszuscheiden die Wörter „Bai, Hai, Laib, Laich, Laie, Maid 
und Rain“; die Gruppe auf ich könnte die Wörter „Bottich, Pfirsich, Rettich 
und Teppich“ enthalten, während Drillich, Estrich, Fittich, Kranich, Lattich 
und Zwillich* wegzufallen hätten. In ähnlicher Weise sind nicht nur alle 
Wörtergruppen zu beschneiden, in denen es auf einzelne Laute wie dt, j, qu, v, 
ph, th. u. s. w. ankommt, sondern z. B. auch eine feste Auswahl zu treffen in 
der Zahl der zur orthographischen Behandlung kommenden starken Verben, 
der Verhältnis- und Umstandswörter. „Längs, trotz, mangels, gemäss“ und ähn- 
liche Wörter werden unsere Kinder wohl schwerlich später schriftlich verwerten; 
darum können sie wohl beim Lesen oder im Sprechunterrichte mündliche Be- 
handlung erfahren, sollen aber nicht der orthographischen Übung unterliegen. 
Die Interpnnktionslehre kann sich mit Punkt, Komma, Ausrufe- und Frage- 
zeichen begnügen, Doppelpunkt, Semikolon, und andere Zeichen streichen, denn 
auch sie finden später keine Verwendung. — Diese Beispiele mögen genügen, 
um die gewünschte Kürzung des Stoffes anzudeuten. 

Nach den bisherigen Erörterungen liesse sich das Ziel des orthographischen 
Unterrichts in der Hilfsschule wohl in folgender Weise formulieren: An eine 
vollständige Erlernung der Rechtschreibung ist in der Hilfsschule 
nicht zu denken; der Unterricht hat für seine Schüler die Fertigkeit 
anzustreben, die einfachsten schriftlichen Arbeiten möglichst ortho- 


9 


graphisch richtig ausführen zu können. Bei meinen weiteren Ausführungen 
werde ich mein Augenmerk besonders darauf richten, welche besonderen, vom 
Unterrichte der Volksschule abweichenden Massnahmen sich etwa treffen lassen, 
um uns sicherer und schneller zum Ziele zu führen. 

In erster Linie möchte ich die Zeit bestimmen, die dem Rechschreibeunterrichte 
bei uns zuzuwenden ist. Sie darf vor allem nicht zu kurz bemessen sein. In den 
ersten Jahren schliesst sich das Schreiben vollständig an das Lesen an; besondere 
Stunden werden nicht für dasselbe angesetzt. In dieser Zeit müssen wir Hilfs- 
schullehrer der Gefahr aus dem Wege gehen, das Schreiben auf Kosten des 
Lesens, das man gern schneller fördern möchte, zu vernachlässigen. Es genügen 
nicht nur die letzten 10 Minuten für orthographische Zwecke; sollen wöchentlich 
mindestens 2 Stunden dazu verwendet werden, so sind von jeder Lesestunde 
mindestens 20 Minuten zu opfern. Für die Mittel- und Oberstufe verlangt 
Kollege Horrix, dass zweimal wöchentlich gut vorbereitete Diktate gefertigt 
werden sollen; ich stimme dem voll und ganz zu, frage aber, woher die drei 
Stunden Zeit nehmen, die doch wenigstens dazu nötig sind? Da die Lesefertigkeit 
in den Mittelklassen noch zu weit zurück ist, darf die dem Lesen gewährte 
Zeit nicht gekürzt, es muss also auf andere Weise Rat geschaffen werden. 
Meiner Meinung nach liesse sich hier der Zeichenunterricht von 2 auf 1 
Stunde beschränken; in den Oberklassen aber sind die Diktate in den für 
Sprechunterricht angesetzten Stunden mit vorzubereiten, da für die Kinder dieser 
Stufe reine Artikulationsübungen wohl nicht mehr nötig sind, zumal wenn, wie 
es in Leipzig der Fall, die Stotterer und Stammler besonderen Unterricht 
geniessen. Gedenkt man der langsamen Perzeptions- und Apperzeptionsfähigkeit 
unsrer Schüler und der grossen Gedächtnisschwäche der meisten derselben, so 
dürfte die beanspruchte Zeit nicht zu reichlich bemessen sein. Dem möglichen 
Vorwurfe aber, dass zu viel Zeit rein mechanischer Arbeit gewidmet würde, 
begegne ich mit der Ansicht, dass bei unsern Schülern das Bedürfnis nach 
interessanten Stoffen gar nicht so gross ist, dass sie vielmehr ganz gern mit- 
arbeiten, wenn nur ein lebendiger, flotter Unterrichtsbetrieb stattfindet. Ein 
solcher Vorwurf würde derselben Besorgnis entspringen, die auch in der Volks- 
schule der Einübung der Stoffe zu wenig Raum gönnt und es z. B. im Rechnen 
bei vielen Schülern zu keiner Sicherheit in ihren Leistungen kommen lässt. 

Im Anschlusse an die Zeitfrage für das eigentliche Rechtschreiben möchte 
ich erwägen, welche Förderung der übrige Unterricht unsrer Sache angedeiben 
lassen kann. Da sind zunächst zwei Massnahmen zu erwähnen, die jedenfalls 
auch anderwärts längst der Praxis angehören. Jede schriftliche Arbeit, sowohl 
die Hausaufgaben als auch die Diktate, sind mit Angabe von Ort und 
Datum zu beginnen und mit voller Namensunterschrift zu schliessen 
jedem Kinde ist im Laufe der Jahre ein kurzer Lebenslauf seiner Person 
einzuprägen und, wie auch Horrix erwähnt, auf der Oberstufe durch öÖftere 
schriftliche Fixation zum festen Eigentum zu machen. Zur Mithilfe könnten 
mehr als bisher der Schönschreib- und Rechenunterricht herangezogen werden. 
In ersterem ist es nicht nötig, denselben Satz, dasselbe Wort halbe Seiten voll 


I 


zu schreiben, es kann eine grössere Abwechslung im Schreibstoffe herrschen; 
als solcher eignet sich unter andern Wörtergruppen eine Auswahl der ge- 
bräuchlichsten Vornamen. Die Rechenstunden können als orthographische 
Übung die Einprägung der Namen der Zeit- und Zählmasse, der ge- 
bräuchlichsten Münzen, Masse und Gewichte, der Grund- und Ord- 
nungszahlen übernehmen. | 
Die weitgehendste Unterstützung aber hat der octhözraphische Unterricht 
vom Anschauungs- und Realienunterrichte zu erwarten. Das Ergebnis jeder 
Stunde ist an der Wandtafel in Form von Stichwörtern oder kleinen 
Sätzchen festzuhalten, die gegen Schluss der Stunde nicht bloss zur sachlichen 
Wiederholung dienen, sondern auch orthographisch zu betrachten, womöglich 
auch abzuschreiben sind. Gut ist es, wenn mehrere Tafeln vorhanden, dass der 
Stoff melırere Tage hindurch zur Wiederbolung stehen bleiben kann. In den 
Mittel- und Öberklassen aber, wo Heimatkunde und Geographie, wohl auch 
etwas Geschichte getrieben wird, empfiehlt es sich, die Kinder ein Merkheft an- 
legen zu lassen, in welches nicht Stoffexzerpte, sondern nur neu auftretende 
Wortbilder Aufnahme: finden sollen zwecks sachlicher und ortbographischer 
Übung. Das Heft wird nur zum Zwecke der Wiederholung mit nach Hause 
gegeben,: hat sonst aber in der Schule zu bleiben. 

Eine konsequente Durchführung der vorstehenden Massnahmen wird unsere 
Kinder ganz wesentlich in ihrem orthographischen Können fördern. 

Wir wenden uns nun noch speziell zu Stoff und Methode des eigentlichen: 
Rechtschreibeunterrichts,. 

. Der ganze orthographische Stoff gliedert sich in 3 Gebiete, in den Wörter- 
schatz der Gleichschreibung oder eigentlichen Rechtschreibung, in den der 
Andersschreibung und in das Gebiet der orthographisch-grammatischen Übungen. 

Der Wörterschatz der Gleichschreibung ist für die ersten Schuljahre in der 
Fibel gegeben. Da der Stoff ziemlich umfangreich, halte ich es im Interesse 
unsrer gedächtnisschwachen Kinder für nötig, nach Analogie der Normalwörter 
eine Auslese aus demselben vorzunehmen und zu jedem einzelnen Laute, jeder 
Anlautverbindung eine kleine Gruppe von 5—6 Wörtern auszuwählen; 
diese Gruppen sind als orthographischer Grundstoffl, als das Einmaleins der 
Orthographie zu betrachten und als Memorierstoff zu behandeln. Wie 
Sprüche und Lieder in jeder Religionsstunde, so sind sie in jeder Lesestunde 
zu üben; das Kind muss Wortreihen wie. etwa: Dach, Dame, Dorf, Daumen, 
Durst oder: Stab, Stern, Stiro, Storch, Sturm oder: Wage, Wald, Weste, Wein, 
Wild, Woche, Wurm etc. mit Leichtigkeit auf Verlangen bilden können. An 
diesen Wortschatz schliessen sich nach dem Gesetze der Analogie die andern 
orthographischen Übungen an. Soll das öftere Anschreiben erspart bleiben, so 
können diese Gruppen ebenso wie die der PEEIRECHTEINNUE auf Papptafeln ge- 
druck: werden. 

‘Das ganze Gebiet der And ersschreibung ist möglichst. in Wörter- 
gruppen festzulegen, die nach unserm oben-ausgesprochenen Ziele auszuwäblen 
sind. Sie. finden in. Diktatübungen Verwendung. . Die orthographischen. Grund- 


11 


formen, die gleichartigen Merkmale erleichtern die Apperzepfion, die Kinder 
erhalten gleichsam. orthographische Begriffe. Wenig umfangreiche Gruppen, 
wie die mit aa, 00, ee, th, dt u. s. w. sind wie die oben erwähnten der 
Gleichschreibung als Memorierstoff zu behandeln. Die auszuscheidenden 
Wörter aber sollen durchaus nicht etwa unbeachtet bleiben; sie finden nur 
- mündliche Behandlung. Ein gleiches Verfahren ist, um das gleich bier zu er- 
wähnen, den in die Umgangssprache übergegangenen Fremdwörtern gegenüber 
zu beobachten. Sie werden nach einem Schulwörterbuche ausgewählt, auf der 
Oberstufe kurz erklärt und gelesen, aber nicht geschrieben. _ > 

Orthographische Regeln, die dem denkenden Schüler . Übersicht ge- 
währen und Klarheit und Sicherheit in den erworbenen Wortschatz bringen, 
verbieten sich in der Hilfsschule, da sich unsere denkschwachen und oft 
auch denkträgen Zöglinge ihrer doch :nicht ‚bedienen würden; als Minimum 
‚ können höchstens die 3 Sätze in Betracht kommen: 1. Nach langem Selbstlaute 

kommt nur 1 Mitlaut. 2. Steht nach kurzem Selbstlaute nur ein Mitlaut, so 
wird er verdoppelt. 9. Stehen nach kurzem Selbstlaute 2 Mitlaute, so wird 
keiner verdoppelt. _ | 

Zu den Übungen in der Gleich- und Andersschreibung, bei denen es haupt- 
sächlich auf Schulung des Gehörs und Gesichts ankommt, Denkarbeit aber wenig 
verlangt wird, sondern Übung und immer wieder Übung die Hauptsache ist, 
haben als drittes Moment orthographisch - -grammatische Übungen hinzuzutreten, 
bei denen auch kleine Ansprüche an das Denkvermögen, an die geistige Selbst- 
tätigkeit der Schüler gestellt werden. Es sind dies Übungen aus der Wort- 
und Satzlehre, soweit sie bei Geistesschwachen in Betracht kommen können. 
Aus ersterem.Gebiete würden: hierher gehören die Bildung der Mehrzahl der 
Hauptwörter durch Umlautung, Steigerung des Eigenschaftswortes, Beugung :des: 
Zeitwortes, Bildung neuer Wörter durch Vor- und Nachsilben und Wortzusammen- 
setzungen u. 8. w.; bei der Satzlehre handelt es sich aber keineswegs um 
Grammatik im schulmässigen Sirine, sondern um rein praktische Übungen zur 
Hebung des Sprachgefühls und zur Unterstützung der Erlernung der Orthographie, 
wie sie einer meiner Spezialkollegen wohl nicht unzutreffend als Konstruktions- 
übungen bezeichnet hat. Solche Übungen wären: Bildung einfach nackter 
Sätze nach gegebenen Gegenständen oder Aussagen, Erweiterung derselben durch 
Beifügungen und Ergänzungen, Bildung von Sätzchen zur Übüng der gebräuch- 
lichsten Verhältnis- und Umstandswörter u.s.w. Je nach dem sprachlichen 
Standpunkte der Klasse liessen ‚sich auf der Oberstufe wohl aüch kleine. .Wort- 
familien, gleichsam orthographische Lebensgemeinschaften, aufstellen, bei denen 
das Behalten ‘der Wortbilder darch die ‚sachliche le der Wörter 
sehr erleichtert wird. 

‘ Diese. Konstruktionsübungen sind im. Anschlüsse :an. das be oder im 
Sprechunterrichte zu betreiben und dienen als: Vorbereitung zu den 'Diktaten 
oder als: Unterlagen zu schriftlichen Aufgaben für die: Schäler. 

Dem Hausfleisse :derartige Aufgaben zu stellen, "halte ich für 
die Oberstufe für viel nützlicher: als dis. Anfertigung: reiner Ab- 


12 


schriften. Auch das beste Abschreiben bleibt mangelhaft, weil erstens viele 
leichte Wortbilder zu oft wiederkehren, weil zweitens in vielen Lesestücken zu 
wenig neue Wortbilder auftreten und weil drittens die einzelnen Formen in 
ihrer grossen Verschiedenheit zu schnell am Auge vorübergleiten, wegen der 
Enge des Bewusstseins zu rasch von heterogenen Erscheinungen ins Unbewusst- 
sein gedrängt werden und für das Gedächtnis verloren gehen. 


In vielen Schulen ist zur Unterstützung dieser orthographisch-grammatischen 
und stilistischen Übungen in den Händen der Schüler eine sogenannte „Sprach- 
schule“, die allerdings von vielen Seiten nur als „Eselsbrücke“ oder als Faul- 
heitspolster für den Lehrer angesehen wird; ich würde ein solches Sprachheft, 
das natürlich für die Bedürfnisse der Hilfsschule besonders bearbeitet sein 
müsste, für unsere Schüler mit Freuden begrüssen, denn es liesse sich meiner 
Meinung nach sehr erspriesslich verwerten. 


Die Ausführungen über den Stoff des Unterrichts seien mit der Bemerkung 
geschlossen, dass ich für jede Hilfsschule eine genaue Stoffübersicht für 
nötig halte, die sich nicht nur auf die Angabe der einzelnen Themen, sondern 
soweit möglich auch des Stoffes derselben erstreckt. Ist auch in grösseren 
Schulen eine Verteilung des Stoffes auf die einzelnen Klassen nicht möglich, so 
doch eine Scheidung für die Unterrichtsstufen, so dass jeder Lehrer weiss, welchen 
orthographischen Erscheinungen cr seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen hat. 


Meine Bemerkungen zur Methode des Rechtschreibens werden sich kurz 
auf das Lautieren, das Buchstabieren, das Abschreiben, die Korrektur und die 
Verbesserung erstrecken. 


Die erste Vorbedingung für Erleınung der Orthographie ist, dass unsern 
spracharmen Kindern die neuhochdeutsche Sprache in Ohr und Mund gepflanzt 
wird; jeder Verstoss gegen Sprachrichtigkeit und Sprachreinheit muss mit Kon- 
sequenz zurückgewiesen und berichtigt werden. Neben dem sprachlichen Gehöre 
ist jedem Schüler durch einen sprachlichen Anschauungsunterricht im engeren 
Sinne, bestehend in Lautieren und Buchstabieren, ein sprachlautliches Gehör zu 
vermitteln. Dabei muss das Lautieren nach Gehörauffassung möglichst 
fleissig und lange getrieben und nicht zuviel durch das Lautieren 
auf Grund der Auffassung durch das Auge ersetzt werden. Lernt das 
Kind nicht hörend und sprechend schreiben, so werden Fehler wie Buchstaben- 
weglassung, Buchstabenversetzung und das buchstabenweise Schreiben sehr spät 
verschwinden. Treten die Wörtergruppen der Andersschreibung auf, so muss 
das Lautieren durch das Buchstabieren ergänzt werden und zwar ist letzteres 
in der Hauptsache zu betreiben nach Auffassung durch das Auge; wir vermögen 
auf grund der Gehörsauffassung nicht zu eagen, ob z. B. folglich, solcher, Kelch, 
borgen, horchen, Flug und Fluch mit g oder ch geschrieben, ob der A-Laut in 
Bär, Fehler, zählen so oder so bezeichnet wird; eine Unterscheidung der weich 
und hart gesprochenen Laute werden unsere Schüler ebenso nie nach dem Ge- 
höre erlernen. Mit dem Buchstabieren zu warten, bis mechanische Lesefertigkeit 
erreicht ist, dürfte nicht geraten sein, denn diese erlangen die meisten Schüler 


13 


erst nach mehreren Jahren. Der Nachteil, dass hin und wieder Laut und 
Buchstabe verwechselt werden, muss mit in Kauf genommen werden. 

Wie das Abschreiben allmählich in seiner Schwierigkeit zu steigern ist, 
hat Horrix in seinem Artikel eingehend dargelegt. Das Abschreiben von 
Sätzen ist durch die Darstellung mit Strichen vorzubereiten; die Länge der 
Wörter ist durch die Länge der Striche, die Zabl der Silben durch senkrechte 
Querstriche anzudeuten. Dem buchstabenweisen Abschreiben und dem Finger- 
zeigen ist dadurch zu begegnen, dass das Abschreiben möglichst oft als 
Chorübung, ja im Takte betrieben wird; man erzielt dadurch nebenbei 
grössere Aufmerksamkeit und zwingt die apathischen Kinder, sich aus ihrer 
Trägheit aufzuraffen, der sie sich so gern überlassen. Dem gleichen Zwecke 
dient es auch, das Fingerzeigen im Lesen möglichst bald zu untersagen, so 
schwer es auch besonders den erethischen Geistern fällt, der Schrift nur mit 
dem Auge zu folgen. 

Au alle Abschriften, Diktate, Niederschriften aus dem Gedächtnisse u. s. w. 
hat sich ein nochmaliges Überlesen, verbunden mit Selbstkorrektur oder Öfterer 
wechselseitiger Korrektur, anzuschliessen. Die richtigen Wortbilder werden 
dadurch befestigt, die falschen durch Gegenüberstellung der richtigen verdunkelt, 
vor allem aber das so nötige Lesen der Schreibschrift geübt. Die Tagebücher 
die Diktat- und Aufsatzhefte müssen oft zu diesem Zwecke Verwendung finden 
Diese Schülerkorrekturen machen natürlich die Nachkorrektur durch den Lehrer 
nicht überflüssig; dieselbe hat nach zwei Gesichtspunkten hin zu erfolgen. Es 
ist zu unterscheiden, ob die Fehler hätten vermieden werden können oder ob 
sie aus Unkenntnis gemacht worden sind; im ersteren Falle sind sie nur anzu- 
streichen, im letzteren ist das richtige Wortbild an die Stelle des falschen zu 
setzen, oder, was noch besser ist, an das Ende der Arbeit zu schreiben, damit 
die Aufmerksamkeit nicht erst wieder auf das falsche Wortbild geleukt wird 
Die Verbesserung erfolgt wortweise, nur bei grammatischen oder stilistischen 
Fehlern satzweise; Kreuz, Strich und Fehlzeichen genügen zur Kenntlichmachung 
der verschiedenen Fehler. 

Alle orthographischen Übungen haben möglichst rasch zu erfolgen 
nicht nur um die Aufmerksamkeit anzuregen, sondern vor allem um einer viel- 
seitigen, umfangreichen Übung willen. Mit Rücksicht auf letzteres sollen auch 
‚die Diktate nicht den Charakter von Schönschriften annehmen, sondern 
man soll sich mit einer flotten, natürlich in ihren Formen korrekten Handschrift 
begnügen. In dem gleichen Interesse ist es auch wünschenswert, den Gebrauch 
der Schiefertafel bis in die obersten Klassen neben dem Tagebuche 
fortzusetzen. 

Ich bin am Schlusse meiner Ausführungen. Möchten dieselben dazu bei- 
tragen, unsere Schüler auch auf orthographischem Gebiete dem Ziele der Volks- 
schule möglichst nahe zu führen. 


14 


Mitteilungen. 


Bremen. (Porsonslieh)) Mit Ende dieses Schuljahres legt der Ləifer dər 
'hiesigen Hilfsschule, Herr Hauptlehrer Wintermann, sein öffentliches Amt nieder, 
"um sich fortan ganz und ausschliesslich der Leitung seines von ihm vor längeren 
Jahren gegründeten Pensionats für geistig zurückgebliebene Kinder zu widmen. An 
seine Stelle an der Hilfsschule tritt der bisherige 1. Lehrer derselben, Herr Friedrich. 

‚Görlitz, (Hilfsschule.) Seit 1898 hat die hiesige Hilfsschule 3 aufsteigende 
Klassen mit 3 Lehrern. Dieselbe wird gegenwärtig von 54 Schülern besucht. Der 
Unterricht wird nur am vormiyage erteilt und beläuft sich auf wöchentlich 24 und 
19 .Stunden. — 

Königshütte 0.S. (Hilfsschnle) Die ER Hilfsschule ist die einzige in 
Oberschlesien. Unterm. 24. November 1898 richtete die Königl. Regierung zu Oppeln 
an den dortigen Magistrat ein Auschreiben, in welchem auf die zunehmende Ent- 
‚wickelung der Hilfsschulen hingewiesen und die Gründung einer solchen den mass- 
gebonden städtischen Behörden empfohlen wurde. Der Magistrat und die Schuldeputation 
von Königshütte traten in wohlwollender. Anerkennung des guten Zweckes einer Hilfs- 
.schule dem Vorschlage der Königl. Regierung näher. Es wurde eine Zählung der in 
den Volksschulen vorhandenen schwachsinnigen Kinder vorgenommen und da ihre Zahl 
(47) eine hohe war, so wurde die Errichtung einer Hilfsschule für schwachsinnige 
‚Kinder vom i. April 1900 beschlossen. Die Eröffnung derselben fand am 2. April 1900 
statt. Aufgenommen wurden 49 Kinder ohne Rücksicht auf die Konfession. Diese 
wurden in eine Ober- (23) und eine Unterstufe (26 Schüler) verteilt. Gegenwärtig 
-zählt die Hilfsschule in 3 aufsteigenden Klassen 77 Kinder. | 

Leipzig. (Pensionsberechtigung der seitherigen besonderen Zulage.) 
Die. Lehrer an der hiesigen Hilfsschule und an den Hilfsklassen für Schwachbefähigte 
‚erhielten bisher‘ in Hinsicht auf die Schwierigkeit ihrer Arbeit noch eine . besondere 
Vergütung von jährlich 200 Mk. Der. Gedanke nun, dass sich bei einem grösseren 
‘und daher schnelleren Verbrauche von Kräften, wie ilın der Schwachsinnigenunterricht 
von dem Lehrenden fordert, womöglich eine zeitigere Pensionierung nötig machen 
werde, führte zu der Bitte an die städtischen Behörden, jene Remuneration in eine 
:pensionsberechtigte ‚Zulage umzuwandeln. .Das ist denn auch in wohlwollendster Weise 
geschehen. In ihrer Sitzung am vergangenen 29. Oktober stimmten die Stadtver- 
ordneten. der Ratsvorlage zu, laut welcher jene 200 Mk. als unwiderrufliche Stellen- 
zulage zu behandeln sind, wenn der. Stelleninhaber an der Hilfsschule oder an Hilfs- 
klassen für Schwachbefähigte fünf Jahre lang ununterbrochen Unterricht erteilt hat. 
So. ist ein längst gehegter Wunsch der hiesigen Lehrer der Schwachsinnigen durch 
das gütige Eutgegenkommen der städtischen Behörden in Erfüllung gegangen, dessen 


die Bedachten jederzeit mit dankbarem Herzen gern gedenken werden. H. M. 
. Meissen. (Hilfsschule). Ostern d.. J. soll hier eme Hilfsschule errichtet 
werden. ; o 


Mainz. (IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands) Am 14., 
15. und 16. April d. J. wird, wie früher schon gemeldet, am hiesigen Orte der 
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands stattfinden. In der Vorversammlung, 





15 


‚welche am 14. April, abends 7'/, Uhr im Pröbesaale der „Liedertafel“, Grosse 
'Bleichen Nr. 56 abgehalten wird, werden folgende Gegenstände zur Erörterung 
‚kommen: 1. Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. (Referent 
‚Hauptlehrer Giese-Magdeburg) und 2. Können die Kinder zwangsweise der 
‘Hilfsschule zugeführt werden? (Referent: Rektor Grote-Hahnover), während 
für die Hauptversammlung am 15. April, vormittags 9 Uhr, folgende Tages- 
ordnung festgesetzt ist: 1. Das schwachbegabte Kind im Hause und in der 
Schule (Referent: Hilfsschulleiter Delitsch-Plauen i. V.), 2. Die Berück- 
sichtigung der Schwachsinnigen im bürgerlichen und Öffentlichen Recht 
des deutschen Reiches (Referent: Oberamtsrichter Nolte-Braunschweig), 3. Be- 
ratung über die dem 2. Vorbandstage vom Hauptlehrer Kielhorn- 
Braunschweig vorgelegten Leitsätze & über die Organisation der Hilfs- 
schule. Für den 16. April ist die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt 
Mainz etc, eventuell der Besach einer Idiotenanstalt in Aussicht genommen. Ohne 
Zweifel stehen auch diesmal wichtige Gegenstände zur Beratung. Auch nach der 
Seite der äusseren Veranstaltungen dürfen wir für den Mainzer Verbandstag die 
schönsten Hoffnungen hegen. Denn die gastliche Rheinstadt rüstet sich in lebhafter 
Begeisterung schon jetzt zu dom Empfang des Verbandes, und die Zusammensetzung 
des Ortsausschusses bürgt voll und ‚ganz für die denkbar freundlichste Aufnahme der 
Gäste. Die, geplanten Veranstaltungen, die altehrwürdige Stadt und der herrliche 
deutsche Rhein werden dazu beitragen, dass sich die Tage für alle Teilnehmer im 
höchsten Masse befriedigend gestalten werden. 


Literatur. 


Unsere schwachen Kinder. Acht Briefe aus der Erziehungs- und 
Unterrichtsarbeit an geistig Zurückgebliebenen für Väter und Mütter. Von 
K. Ziegler, Lehrer an. der Erziehungsanstalt Idstein im Taunus. Verlag Er- 
ziehungsanstalt Idstein 1903. 

‘Das Buch, aus welchem’ die letzte Nummer dieser Zeitschrift eine Probe brachte, 
ist nunmehr erschienen. Das im voraus abgedruckte „Weihnachtsmärchen* war dem 
‘7. Briefe („Am Weihnachtsfest“) entnommen. In den übrigen Briefen verbreitet‘ sich 
der Verfasser über folgende Gegenstände: Die Behandlung und Erziehung geistig ab- 


normer Kinder im allgemeinen — Über das Unglück des Schwachsinns — Die ideale 
Seite unserer Anstaltserziehung — Mehr Verständnis der Anstaltspflege und Anstalts- 
erziehung gegenüber — Die Anstaltskinder in den Ferien zu Hause — Beim Tode 


eines blöden Kindes. — Das Buch ist in erster Linie und hauptsächlich für. die Väter 
und Mütter und damit im allgemeinen für die erziehungspflichtigen Angehörigen geistig 
zurückgebliebener Kinder bestimmt. Denen will es mit heilpädagogischen Belehrungen 
und Ratschlägen an die Hand gehen, und ebenso will es ihnen in ihrer Sorge nm 
ein unglückliches . Kind Trost und. Zuspruch gewähren. . Was die ‚Lehrer an den 
Hilfsschulen, .insbesondere aber. .die Leiter. und Lehrer der. Anstalten: immer ünd immer 
wieder und jahrein jahraus mündlich und schriftlich den Angehörigen ihrer Zöglinge 


16 


gegenüber auszuführen haben, das tut der Verfasser in seinen „Acht Briefen*. Die- 
selben belehren in einfacher und schlichter, dabei aber sehr ansprechender Form die 
Eltern schwachsinniger Kinder nicht nnr über das Wesen des Schwachsimnes, sondern 
sie geben auch gleichzeitig treffliche Winke über die Behandlung solcher Kinder in 
der Familie. Nicht minder führen einige der Briefe ihrer Leser in das Leben und 
Wirken unserer Anstalten ein, machen sie mit deren erziehlichen und unterrichtlichen 
Massnahmen bekannt und stellen dieselben in ungeschminkter Weise in das rechte 
Licht. Je mehr die Briefe, deren Form durchgeheuds als eine gelungene zu be- 
zeichnen ist, Leser finden werden, desto gerechter wird auch die Beurteilung unserer 
Arbeit werden. Den grössten Nutzen aber werden die Eltern von dem Buche haben. 
Dasselbe sollte darum in die Hand aller derjenigen Eltern kommen, welche in der 
Lage sind, ein minderbegabtes Kind zu besitzen, es sollte aber auch bei keinem 
unserer Berufsgenossen fehlen. S. 


Unsere schwachen Kinder. 
Acht Briefe aus der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit an geistig 
Zurückgebliebenen, für Väter und Mütter. 

Von Karl Ziegler, Lehrer an der Erziehungsanstali Idstein i. T. 


Das Schriftchen, welches den Vorstehern und Lehrern an Anstalten und Hilfs- 
schulen zur Verbreitung unter den Angehörigen schwacher Kinder bestens empfohlen 
wird, ist zu beziehen von der Erziehungsanstalt Idstein i. T. 


Preis pro Einzelexemplar . aoa . . . 0.80 Mark, 
Bei einer Abnahme von 12 Stück =. u ir ne OO , 
Fer i „. 25 „ a- >- . 060 , 
9 9 2 ? 50 » 9 e 2 * e 0.50 „ 
yn g í „ 100 > >... . 040 , 


Herr Hauptlehrer Horrix, Leiter der Hilfsschule zu Düsseldorf, schreibt am 
Schlusse einer längeren Rezension: „Kurz, die ganze Schrift ist mit soviel Liebe, 
Suchkenntnis und — nicht zuletzt — mit einer 80 gewandten Feder geschrieben, 
dass es mir eine helle Freude war, sie zu lesen. Möchte ihr wahrhaft goldener In- 
halt von allen Eltern und Erziehern voll und ganz gewürdigt werden!“ 





Inhalt. Störungen der Sprache und Schrift bei geistig schwachen Kindern. — 
Der Rechtschreibeunterricht in der Hilfsschule. — Mitteilungen: Bremen, Görlitz, Königs- 
hütte O.;S., Leipzig, Meissen, Mainz. — Literatur: Unsere schwachen Kinder. — Inserate. 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


c$ 


Nr. 2 u. 3. 





für die 


Behandlung Sehwachsinnioer und Ent f 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden - Strehlen, für Nervankrankhalien 
Residenzstrasse 27. In Stuttgart. 
Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 


:nindestens einem Bogen. Anzeigen für so und Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Lite- | März 1903. ; Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Bellagen 6 Mark. einzeine Nummer 50 Pfg. 


Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber 


Das Auswendigschreiben als Mittel der Sprachbildung 
Schwachsinniger. 


Eine Monographie. 

Von der Sache zum Wort, vom Wort zum Zeichen, das ist die psycho- 
logische Grundlage des Schreibleseunterrichts, von der sich auch die Übungen 
im Auswendigschreiben als Mittel der Sprachbildung nicht entfernen dürfen. 

Der Zweck des Auswendigschreibens ist die Erzieluug einiger Fertigkeit im 
sehriftlichen Ausdrucke. Die Kinder. werden geübt, einfache Gedanken, Laut- 
klänge und Schriftbilder klar zu erfassen, auswendig niederzuschreiben und die 
Treue der Niederschrift zu prüfen. 

Das Auswendigschreiben dient dem Schreibleseunterrichte und der Recht- 
schreibung, sowie dem Sachunterrichte, dessen Stoffe benutzt werden, und 
schliesslich der schriftlichen Mitteilungsfähigkeit des Kindes. Stets wird dabei 
neben der Förderung der Sprachbildung nach ihrer äusseren Seite die Vertiefung 
des begrifflichen Inhalts des Sprachstoffes mit verfolgt. 


I. 

Der Anfang der Übungen im Auswendigschreiben fällt zusammen mit den 
ersten Schreiblese-Übungen, die im Klassenunterrichte schwachsinniger Kinder 
allgemein einige Selbstlaute zum Gegenstande haben. Im Vorkursus haben die 
Kinder durch Lautierübungen*) die einzelnen Laute im Wortklange unterscheiden 
gelernt. Sie folgen nun mit Vergnügen der Aufforderung, ein Wort mit „i“ 
oder „u“ zu nennen. Der aus dem lautierten Worte nochmals. herausgehörte 
Laut wird von den Kindern mässig laut im Chore gesprochen und dann 


*) Wehle, Vorübungen zum Schreiblese-Unterrichte schwachsinniger Kinder. Verlag 
von Hellmuth Wollermann in Braunschweig. 


18 


geschrieben. Nicht soviel Vergnügen wie die Selbstlaute, machen den Kindern 
die Mitlaute. Durch Personifikation lassen aber auch sie sich der Kindes- 
natur nahe bringen und schmackhaft machen. Der Laut „m“ z. B. hat wohl 
für den lallenden Säugling an sich Reiz, wie andere Laute auch, aber für das 
Schulkind und selbst für das schwachsinnige einen für die Dauer des Unterrichts 
ausreichenden Reiz nur, wenn das Kind dabei au einen ihm bekannten und es 
interessierenden Naturlaut denken kann, wie an das Brummen des Rindes. Da- 
durch wird ihm der an sich tote Laut und Buchstabe sofort lebendig. Verfasser 
hatte den Kindern einmal von der Heuernte und der Heimfalırt des Heuwagens 
erzählt und unter anderem das Wörtchen „heim“ als Diktatstoff benutzt. Beim 
Anschreiben des Wörtchens an die Wandtafel entstand infolge eines Sand- 
körnchens in der Kreide eine Lücke im Bindestriche zwischen „hei“ und „m“, 
da äusserte ein Kind: „Der Brummer hat sich abgespannt“. Das Kind phan- 
tasierte sich also „hei“ zum Wagen und „m“ zum ziehenden und nun ab- 
gespannten Zugochsen, welchen Vorgang es im Anstaltsgehöfte beobachtet latte. 
Dieser Naturtrieb des Kindes nach märchenhafter Ausgestaltung seiner Umgebung 
und seines Tun und Treibens wird auch beim Diktate nicht brach liegen gelassen, 
sondern es wird dem Kinde diese echt kindliche Denkweise gegönnt. Das hilft 
seinen schwachen Geist wecken und zur Selbsttätigkeit anregen. Verweilen wir 
gleich bei dem Wörtchen „heim“ als Diktatstoff. Es ist gelesen, an der Wand- 
tafel vorgeschrieben, wieder gelesen und von den Kindern abgeschrieben worden. 
In Bezug auf letzteres sei an ein Wort von Horrix erinnert: „Abschreiben, und 
verständig abschreiben, ist zweierlei“. (Zeitschrift f. d. Behandlung Schwach- 
sinniger 1899, Seite 167). In der nächsten Stunde wird wieder von dem Sach- 
gebiete, hier der Heuernte, ausgegangen, das Wort „beim“ mit besonders deut- 
licher Aussprache vor und vou den Kindern insgesamt nachgesprochen, langsamer 
wiederholt und bei nochmaliger Wiederholung in seine 3 Laute aufgelöst, so 
dass jeder Laut deutlich für sich erklingt. Die Buchstabennamen werden selbst- 
verständlich nicht gebraucht. Auch hierbei lässt sich der Siunlichkeit der 
Kindesnatur zweckdienlich Rechnung tragen, wie in der Zeitschrift 1887 Seite 101 
u. f. für den Rechenunterricht in sehr empfehlenswerter Weise vorgeschlagen 
worden ist, indem die Finger, beim kleinen der linken Hand beginnend, hier 
nicht für die Zahlen, sondern für die Laute als Stütze gebraucht werden. Durch 
solche, den Augen sichtbare Versinnlichung der Laute verliert die Schwierigkeit 
der Begriffe „zuerst, dann, zuletzt“ in Bezug auf die Reihenfolge der Laute ihre 
Schärfe, auf welche Seite 100 der Zeitschrift von 1897 hingewiesen worden ist. 
Beim Heben des kleinen Fingers der linken Hand der Kinder wird „h“, beim 
Heben des Goldfingers „ei“ und beim Heben des Mittelfingers „m“ im Chore 
gesprochen. Anfänglich wird dies stets von mindestens einem Kinde einzeln 
wiederholt. Bei der letzten dieser Wiederholungen, vielleicht wieder im Chore, 
werden, als Einleitung der Synthese, die Laute wieder bei etwas gedehnter Aus- 
sprache durch schwache Aspiration verbunden, insbesondere der Mitlaut mit dem 
folgenden Selbstlaute, also „hei m“. Nun schreiben die Kinder das Wörtchen 
auswendig. Bei Wiederholung der Übung wird die unterstützende Analyse weg- 


19 


gelassen. — Ganz aufhören darf das Kopflautieren während der ganzen Schul- 
zeit nicht, wenn es auch später erlieblich zurücktreten wird. Auf der Oberstufe, 
doch nur bei günstigen Verhältnissen und auch nur teilweise, wird das Lautieren 
dem Buchstabieren Platz machen. 

Ist die Niederschrift erfolgt, so wird den Kindern sofort Gelegenheit zur 
Selbstprüfung gegeben nach den an die Wandtafel geschriebenen oder in Druck- 
buchstaben angestellten oder nach beiden Vorbildern. Bei gleichzeitiger An- 
wendung vou Schreib- und Druckschrift von Anfang an braucht nicht (Zeit- 
schrift 1897, Seite 103, Absatz 7) „über die Schwierigkeit der Übertragung von 
Schreib- in Druckschrift“ geklagt zu werden. Ruhig und glatt schreitet der 
Unterricht fort. 

Sind Schiefertafeln in den Händen dieser Kinder, so empfiehlt es sich, die 
Kinder von vorn herein dazu anzuhalten, falsche Buchstaben nicht wegzuwischen, 
sondern durchzustreichen und das Richtige darüber zu schreiben. Häufig wischen 
die Kinder gleich das ganze Wort oder noch melır weg und werden dadurch 
aufgehalten. Das Durchstreichen hat zwar den Mangel, dass durch dasselbe das 
falsche Wortbild dem Auge des Kindes nicht entzogen wird, aber bei dem 
Schreiben auf Papier geschieht solches auch nicht. Es werden aber die an das 
Durchstreichen gewöhnten Kinder weniger in Versuchung kommen, das Falsche 
auf dem Papier auch wegwischen zu wollen. 

Lauttreue ist bei dem so mündlich und schriftlich vorbereiteten Wortdiktate 
nicht nötig, wohl aber bei den ersten nur mündlich oder gar nicht vorbereiteten 
Übungen. 

Der Übergang zum Diktate von Sätzchen lässt sich dadurch herstellen, dass 
zunächst ein oder einigemale die einzelnen Wörter des Satzes durch Striche an- 
gedeutet oder auch z. T. ganz dargeboten werden; so z. B. bei der Schreiblese- 
"Übung des „P“, Seite 57 der Pestalozzifibel*) die Sätzchen: 


(Der Pudel) | || naschte. 
(„ „ ) | |] sehämte sich. 
i „  nascht) | || | nie wieder. 
Oder Seite 58 der Pestalozzifibel: 
(Der Bach) | | rauscht. 
(Der Nachen) | || schaukelt. 
Oder in Beziehung auf das Bienenhaus Seite 60: 

Das Dach | | (ist rot). 
Die Wände | | (sind weiss). 


Der Seim | | (ist süss). 
Oder die Umkehrung: 
| | trot. 
| | d weiss. 
| | t süss. 


*) Wehle, Pestalozzifibel für den Schreiblese-Unterricht zurückgebliebener Kinder, 
auf lautsprachlicher Grundlage bearbeitet. Preis ungeb. 50 Pf., geb. 65 Pf., dazu unent- 
geltliches Begleitwort. Verlag von Hellmuth Wollermann in Braunschweig. 1900. 


En 


Eifrige Kinder versicheru wohl, besonders bei letzterer Form: „Ich bringe 
es ganz allein.“ Doch der Klassenunterricht muss auch die Schwächsten beachten. 

Nachdem das Satzdiktat mit dieser verminderten Schwierigkeit, wobei es 
eigentlich nur Wortdiktat ist, geübt worden ist, wird ein kleines Sätzchen ganz 
diktiert, jedoch längere Zeit immer nur naclı sorgfältiger Vorbereitung und mit 
unmittelbar folgender Prüfung. Beim späteren Übergang zum freien Satzdiktat 
werden doch die nicht lauttreu zu schreibenden Wörter zunächst noch lautiert 
und dabei die vom Laute abweichend zu schreibenden Buchstaben hervorgehoben. 

Es empfiehlt sich, auch beim Schreiben — wie bein Druck in der Pestalozzi- 
fibel — jeden Satz mit einer neuen Zeile beginnen zu lassen. So kann das 
Kind Anfang und Ende und daher auch das ganze Schriftbild des Satzes leicht. 
überschauen. Dadurch gewinnt das Kind mit dem Auge Satzanschauung, die, 
weil sinnlich, stärker wirkt, als Belehrung über Zeichensetzung u. s. w. 

Mehrere Wörter oder Sätze hintereinander zu diktieren und erst dann der 
Klasse Gelegenheit zum Verbessern zu geben, ist im allgemeinen bei Schwach- 
sinnigen nicht ratsam. Nur zu leicht kann ein Kind nicht folgen. Das „Nicht- 
Können“ schafft Missstimmung, Unmut, und regt nicht au, sondern regt auf. 
Wird nach jedem diktierten Worte oder Satze sofort der Vergleich mit einem 
Vorbilde ermöglicht, so kann das zurückbleibende Kind seinen Tätigkeitstrieb 
wenigstens durch Abschreiben befriedigen. Es handelt sich ja nicht nur um 
schwachsinnige, sondern zum Teil auch um ausserdem verschrobene Kinder, 
deren Fehler durch den Unterricht zu bekämpfen sind, so dass der Unterricht 
zu einem heilpädagogischen wird. Iım Abschreiben müssen die Kinder ja doch 
auch geübt werden. Es schadet also wenig, wenn für indisponierte Kinder das 
Auswendigschreiben im einzelnen Falle tatsächlieh manchmal nur ein Abschreiben 
ist. Besser eine herabgesetzte Leistung, als gar keine oder eine ungesunde 
Reizung. | 

Zwar nicht immer, doch auch nicht zu selten, werden z. B. nach dem Lesen 
einer Geschichte, ein paar kleine Sätzchen, deren Wörter möglichst schon im 
Lesestücke enthalten und beim Lesen schon lautiert oder sonstwie hervorgehoben 
worden sind, diktiert, z. B. im Anschluss an die bekannte Geschichte des zu 
scbnell fahrenden Fuhrmanns die Sätzchen: „Der Fuhrmann fuhr zu schnell. 
Ein Rad zerbrach. Eile mit Weile.“ (Leipz. Lesebuch f. Hilfssch. I. Seite 115.) 
Aber auch hierbei wird in der Regel jeder Satz nach deu Diktate angeschrieben, 
selbst wenn einmal die Lesebücher zum Nachsehen offen auf oder unter der 
Bank liegen gelassen wurden. 

Das Auswendigschreiben lässt sich aber auch statt im Anschluss an das 
vorgesprochene Wort des Lehrers mit Anlehnung an geeignete, den Kindern vor 
Augen gestellte Sinnendinge üben, die entweder in der Natur, als Modell oder 
im Bilde gezeigt werden. 

Liegt z. B. der Leseübung der Wald als Sachgebiet zu Grunde, wie Seite 36 
der Pestalozzifibel, so werden nach Erinnerung an einen den Kindern bekannten 
ähnlichen Waldplatz, auf einem vorgezeigten Waldbilde — z. B. Walthers 
Bilderbuch I, No. 25 — die Dinge, deren sprachlicher Ausdruck der Lesestufe 


21 


der Kinder entspricht, beim Lesen zugleich auf dem Bilde gezeigt, also hier 
Wald, Eiche, Äste, Säge u. s. w. Bei den ersten derartigen Übungen im Aus- 
wendigschreiben können wohl auch die Wörter als Diktat gegeben und dabei 
an die Wandtafel geschrieben werden. Oder die Kinder schreiben die Wörter 
bei gleichzeitiger Anschauung des Bildes oder der Gegenstände ab. In der 
nächsten Stunde werden die Wörter nochmals gelesen und dabei die Gegen- 
stände auf dem Bilde gezeigt; auch umgekehrt zeigt ein Kind die Gegenstände 
auf dem Bilde, während ein anderes Kind sie nennt und zugleich die Wörter 
an der Wandtafel zeigt; und nun endlich werden die Wörter auswendig geschrieben, 
wobei das Bild vor den Augen der Kinder bleibt. 

Diese Art des Auswandigschreibens regt erfahrungsmässig auch erethische 
Kinder nicht auf, während apathische doch genügend angespornt werden. Das 
Auge und damit das Denken des Kindes hat im Bilde einen sinnlichen Anhalt. 
Hat das Kind ein Wort geschrieben und fragt es sich: „Was kommt nun dran?“ 
so gibt ihm das Bild die deutliche Antwort. Das Kind hat beim Schreiben 
Zeit, sich das Wort vorzulautieren oder nochmals zu schreiben und wird nicht 
vorwärts gedrängt. Es kann sich besinnen; der Unterricht wird — zumal bei 
glücklicher Wahl und Vorbereitung des Stoffes — sinnig: seine wertvollste Eigen- 
schaft für Geist und Nerven des Kindes. Dabei findet auch der Lehrer Zeit, 
den Schwächsten der Schwachen in der Not ein Helfer zu sein, und die Kräftigeren 
werden nicht aufgehalten. Auch das Verbessern vollzieht sich hierbei, trotzdem 
der Umfang des Sprachganzen weiterhin recht ansehnlich sein kann, doch ruhiger, 
als bei gleichlangem Diktate. Da es sich hier um Auffassung einzelner be- 
stimmter Wortbilder handelt, so schadet es auch nicht, wenn dabei einige Lese- 
schwierigkeiten voraus genommen werden, nur dürfen sich die Vorausnahmen 
nicht häufen. Lauttreue, so beachtenswert sie bei nur mündlicher Darbietung 
ist, spielt bier bei der schriftlichen Darbietung keine Rolle. 

Haben die Kinder die Fibel durchgearbeitet, so öffnet sich ein weites Feld 
für die Ausdehnung und Vertiefung des Sprachverständnisses und der Recht- 
schreibung mit Hilfe solcher Durcharbeitung von Wörtergruppen. Umgebung, 
Tun und Treiben der Kinder liefern nun reichen Stoff, der nach schriftsprach- 
lichem Ausdrucke verlangt. Man braucht gar nicht wählerisch zu sein. Wie 
viele Dinge enthält nicht allein die Schulstube und gar erst die Hauswirtschaft, 
der Garten, das Feld im Anschauungskreise des Kindes, mit denen es jetzt schon 
oder später zu Lantieren hat und die zu seiner Interessensphäre gehören. 

Hier lässt sich auch mit Vorteil auf das Verfahren Kölles im „Ersten 
Sprechunterrichte für geistig zurückgebliebene Kinder“ (Zürich, Albert 
Müller 1896) Seite 18 u. f. zurückgreifen. Es wird den Kindern etwa gesagt: 
Als ihr klein waret, habt ihr sprechen gelernt, wie die Dinge heissen, jetzt könnt 
ihr es auch schreiben. Das Nähere ist dort nachzulesen. Solche Rückerinnerung 
stärkt zugleich das Gedächtnis und gibt Gelegenheit, die Kinder merken zu 
lassen, welche Mühe ihr Unterricht dem Lehrer gemacht hat, sie aber auch ihre 
Fortschritte erkennen zu lassen, dass sie sich derselben freuen. 

Wie solche durch Sinnendinge veranschaulichte Wörtergruppen der Ent- 


22 


wicklung des Lautbewusstseins und der Rechtschreibung zu dienen vermögen, 
zeige ein Beispiel, das am Ende der Fibelstufe oder später geübt werden kann. 
Als sinnliche Unterlage diene das Weihnachtsfest selbst und das bekannte 
Weihnachtsbild von Ludwig Richter (Volksbilder No. 17), auf dem unter 
anderem folgendes dargestellt ist: Weihnachten, Dach, Fach, Rauch (Hinter- 
gaumen ch); Kirche, Licht, Leuchter, rechts, Wächter, Knecht Rupprecht 
(Vordergaumen ch); Wachs, Wachslicht, Christtag (ch = k). Vielleicht könnte 
das Wort Christbaum angefügt werden, obwohl der Gegenstand auf dem Bilde 
nicht dargestellt ist. 

Sollte dieselbe Übung in anderer Jahreszeit vorgenommen werden, so müsste 
dieselbe sich auch an einen anderen Übungsstoff anschliessen. So vielleicht bei 
Behandlung des Waldes an das schon erwähnte Waldbild, wobei sich folgender 
Schreibstoff ergeben würde: Waldbaum, Mark, Buche, Eiche, Christbäume, 
Gewächse, Dickicht, Licht, Lichtung, Knecht, Axt, Max, Rauch, Haus, Fach, Dach, 
Bach, Jäger, gewichste Stiefel, Büchse, Dachs(-Hund), Fuchs (hat sich im 
Dickicht versteckt). — 

Es wird auch versucht, einige aus einem behandelten Unterrichtsstoffe her- 
geleitete Sätzchen im Zusammenhange niederschreiben zu lassen. Sie werden 
ebenfalls gelesen; wenn sie sich an ein Bild anschliessen, auf dieses bezogen, 
abgeschrieben, die Abschrift verbessert und diese wieder gelesen. Dienlich ist 
es, die angewandten Tätigkeitswörter noch besonders in der Nennform darzu- 
bieten. Ist z. B. vom „Arbeiten“ gesprochen worden, so können die Ordnungs- 
arbeiten der Kinder in der Stube, wo solche eingeführt sind, geschrieben werden, 
z. B. Max wischt die Tafel ab — Otto hilft dabei — Erich macht die Fenster 
auf und zu — Paul legt Kreide und Stäbchen hin — Willy liest die Papier- 
stückchen auf u. s. w. 

Auf die Frage, wer unsere Schulstube gebaut hat, werden etwa folgende 
Sätze gebildet und niedergeschrieben: Die Wände hat der Maurer gebaut — Die 
Dielen hat der Zimmermann gelegt — Türe und Fenster hat der Tischler ein- 
gesetzt — Das Schloss hat der Schlosser gemacht — Die Angeln hat der 
Schmied geschmiedet — Den Ofen bat der Töpfer gesetzt -— Wir halten die 
Stube in Ordnung. 

So lassen sich auch Zeitformen üben, wie z. B. im Anschluss an das Bild 
„Winterfreuden* in Walthers Bilderbuch No. 30: Drei Knaben fahren 
herunter — Das Mädchen am Baume ist auch herunter gefahren — Ein Knabe 
fährt wieder hinauf — Das Mädchen oben war schon einmal heruntergefahren — 
Es wird bald wieder herunter fahren. 

Ein anderes Mal wird im Zusammenhange mit der Geschichte vom Büblein 
auf dem Eise geschrieben: Das Eis hielt nicht — Jetzt hält es — Es wird auch 
den ‚grossen Schlitten aushalten — Der Knabe fiel damals in das Wasser — 
Jetzt ist er auf das Eis gefallen — Der Pudelkopf fällt in den Schnee — Ich 
werde auch in den Schnee fallen — Das wird lustig werden. 

Niemals sollen aber die Kinder derartige mehr oder weniger schablonenhafte 
Satzgruppen mechanisch auswendig lernen. Ihr weseutlicher Inhalt muss dem 


23 
eben behandelten Sachgebiete des Unterrichts angehören, der Inhalt der einzelnen 
Sätze vom Bilde oder den Dingen selbst deutlich ablesbar sein, so dass nur die 
Wort- und Satzformen zu merken sind; und hierzu ist ihre Gleichartigkeit eine 
wirksame Stüize. Dem Gedächtnisse wird also eine sehr geringe Leistung zu- 
gemutet. Deshalb eignen sich Satzgruppen, besonders solche, wie die ersten zwei 
Beispiele, sehr dazu, den Kindern zu einiger Fertigkeit im Auswendigschreiben 
ınitzuverhelfen, ferner die Sprachformen zu üben, ohne Formenlehre zu treiben, 
und endlich locken sie die Kinder zum Versuche, auch einmal ein Sätzchen 
niederzuschreiben, das ihnen nicht in den Mund gelegt worden ist, letzteres 
besonders bei freierer Anlage der Übung. 

Wenn z. B. die Heuernte angeschaut und besprochen worden ist, werden 
etwa folgende auf dem Wiesenbilde in Walthers Bilderbuch inbaltlich dar- 
gestellten Sätze gelesen, ab- und auswendig geschrieben: Der Schäfer ruht aus — 
Die Schafe grasen — Der Vater schneidet Gras — Ein Knecht schärft seine 
Sense — Eine Magd und ein Knecht rechen Heu zusammen — Der Kutscher 
ladet auf — Die Magd oben drückt fest — Die Pferde werden den Wagen heim- 
ziehen — Die Esse raucht — Die Suppe kocht — Die Schwalben zeigen Regen 
an — Macht schnell, ihr Leute! 

Veränderte Niederschriften der Kinder werden bereitwilligst anerkannt, 
ebenso selbst gebildete Sätzchen. Hat einmal ein Kind ein Sätzchen ohne Vor- 
bild selbst fertig gebracht, und es wird die Leistung vom Lehrer anerkannt, so 
wächst der Mut zu weiteren Versuchen. So wird freies Niederschreiben eigener 
Gedanken gelegentlich und nebenbei angebahnt. 

Dem Diktate verwandt ist das Auswendigschreiben eines wörtlich auswendig 
gelernten Sprachstoffes. Es ist ein summiertes Diktat, dessen Inhalt und Aus- 
druck bereits Eigentum der Kinder geworden ist. Hierher gehört schon das 
Auswendigschreiben der Zahlen in Buchstaben, die etwa bis 20 im Rechenunter- 
richte nebenbei gegeben werden, sowie die Namen der Wochentage und Monate. 
Hin und wieder findet sich der Brauch, dass ein Schüler jede Woche die Wochen- 
tage mit Kreide anschreibt. Auch eine der mannigfaltigen kleinen Anwendungen 
des Auswendigschreibens, die benützt zu werden verdienen. 

Auch einige selbstbiograpbische Sätzchen empfehlen sich nach dem Vor- 
gange von Horrix (Zeitschrift 1899, S. 171), z. B.: Ich heisse Traugott Emil 
Fleissig — Meine Heimat ist Blasewitz bei Dresden — Der 25. April ist mein 
Geburtstag — Da bekomme ich ein Ei. 

Auf einer späteren Stufe: Ich bin geboren am 1. Februar 1889 — An 
meinem letzten Geburtstage war ich 12 Jahre alt — Ich stehe jetzt im 
13. Lebensjahre — Seit Mai 1898 bin ich Zögliug der Anstalt .... — Meine 
Heimat ist Leipzig-Anger-Crottendorf — Mein Vater ist Drahtsieb-Weber u. s. w. 

Da die Kinder diese Sätzchen bald auswendig lernen, was in diesem be- 
sonderen Falle auch gerechtfertigt ist, so reihe ich sie hier ein. Diese Übung 
dient zugleich mit zur Entwickluug des Zeitbegriffes, der Selbstbesinnung, der 
Gemütsbildung, und da sich die Angaben teilweise ändern, auch ein wenig mit 
zur Anbahnung freien Gedankenausdruckes. Zu letzterem Ende wird bei den 


24 
Wiederholungen dieser Übung die Aufforderung angeschlossen: Schreibt noch 
etwas von zu Hause, was ihr wisst und was ihr wollt. Es wird nicht dazu 
gedrängt, aber jede selbständige Leistung anerkannt. 

Zusammenhängen.le Stoffe lernen zu lassen, nur zu dem Zwecke, sie dann 
auswendig schreiben zu lassen, etwa zur Einübung von Rechtschreib- und sonstigen 
Wissensstoffen, ist abzuweisen. Nur gehaltvolle, sittlich-hebende Stoffe, ins- 
besondere Gedichte von dauerndem Werte für das Gemütsleben des Kindes ver- 
dienen eine so zeitraubende Behandlung, wie sie das Auswendigschreiben durch 
schwachsinnige Kinder voraussetzt Religiöse Merkstoffe im engeren Sinne sind 
ebenfalls auszuschliessen, um jeder Gefahr, sie ins Gewöhnliche zu ziehen, vor- 
zubeugen. 

Wie ein Gedichtchen für das Kindergemüt fruchtbar gemacht wird, gehört 
nicht hierher; jedenfalls muss die Besprechung ebenso wie ganz sicheres Aus 
wendiglernen, vorangehen, damit das Auswendigschreiben den Kindern eine Lust 
ist, zu der sie der eigne Tätigkeitstrieb zu drängen vermag. Damit sich die Kinder 
die Wortbilder genau ansehen, wird das Gedicht vor dem Lernen, zugleich als Hilfe 
desselben, abgeschrieben. Schwere Wörter werden anfangs noch besonders, auch 
in der Grundform, vielleicht auch mit verwandten Wörtern zusammengestellt, 
abgeschrieben, um die Form klarer zum Bewusstsein zu bringen. Doch muss 
man sich bewusst bleiben, dass viel Vorbereitung und Erklärung unsern Kindern 
leicht zu viel wird. 

Lay hat darauf hingewiesen, dass ein Vorbild in Schreibschrift vorteilhafter 
für die Rechtschreibung der Kinder ist, als ein Vorbild in Druckschrift. Nach- 
haltiger noch, als die Vorschrift, prägt sich die vom Kinde selbst ausgeführte 
Abschrift dem kindlichen (tedächtnisse ein, da bei dieser zur leiblichen Gesichts- 
anschauung — die zur Auffassung der Vorschrift schon allein ausreicht — hier 
noch die geistige kommt, dazu auch noch die Muskelbewegung beim Schreiben. 

Wertvolle, sprachlich einfache, anschauliche Stoffe zum Auswendigschreiben 
auf der Fibelstufe und später sind unter anderem viele der bekanntesten Fabeln 
von W. Hey und sonstige kindliche Verschen, wie wir sie in allen Lesebüchern 
finden. 

Ein harter Boden wird betreten, wenn es gilt, schwachsinnige Kinder einige 
oder auch nur einen Gedauken ohne vorangehende Darbietung der Form schreiben 
zu lassen. Da gilt es beizeiten tiefgründig vorzupflügen, nicht bloss durch 
fleissiges wörtliches Auswendigschreiben nach lautlichem und schriftlichem Vor- 
bilde, also in der Form gebundenes Auswendigschreiben, von dem bisher allein 
gehandelt wurde, sondern auch durch sorgsame Pflege aller Mittel der Sprach- 
bildung, von denen hier besonders das Antworten in ganzen Sätzen hervor- 
gehoben sei. 

Das gebundene Auswendigschreiben von Gedanken aus dem Leben des 
Kindes selbst oder von Erzählsätzen im Anschluss an ein Bild, gibt dem Kinde, 
wie schon bemerkt wurde, gelegentlich auch schon Anregung zum Versuche im 
Auswendigschreiben in freigewählter Form. Bei der Wiederholung einer solchen 
Niederschrift, z. B. der vorerwähnten über die Wiese und die Heuerute, werden 


25 
die Kinder aufgefordert, zunächst zu schreiben, was der am Bache sitzende 
Knabe tut und was er wohl mit den Fischen dann tun wird. Oder es werden 
bei der mündlichen Wiederholung einer Wörter- oder Satzgruppe ein paar nicht 
unmittelbar vorbereitete Wörter oder Sätzchen dazwischen gestreut. Wenn ein 
solches neues Sätzchen von einem Kinde geschrieben worden ist, wird dies der 
Klasse verkündigt. Es wird überhaupt als Ziel hingestellt, sich nicht mehr 
alles vorsagen zu lassen. sondern selbst etwas zu schreiben. Weiterhin wird 
auch versucht, die auf dem Bilde dargestellten Vorkommnisse — nach Be- 
handlung im Sachunterrichte — ganz ohne schriftliche Vorbilder niederschreiben 
zu lassen. Oder sollen im Sachunterrichte den Kindern einige Sätzohen zum 
Abschreiben an der Wandtafel vorgeschrieben werden, so werden die Kinder zu- 
nächst angeregt, selbst einen der Gedanken schriftlich auszudrücken; oder es 
wird wenigstens die Gelegenheit zum freien Diktat eines Satzes benutzt, und 
erst nach einigem Harren auf Erfolg — oder Misserfolg — wird das Vorbild 
an der Wandtafel gegeben. 

Ein weiterer Gelegenheitsantrieb ist der, einige frühere, im Anschluss an 
eine, die Kinder noch inmer sehr interessierende Geschichte geschriebene Sätze, 
von deren Wortlaut aber anzunehmen ist, dass er im Gedächtnisse der Kinder 
etwas verblasst ist, ohne nochmalige Vorbereitung wiederholen zu lassen. Die 
Lust an der Geschichte stärkt die Kraft zum Gelingen der Niederschrift. 

Es wird auch eiumal versucht, ein sprachlich recht einfaches, früheres 
Unterrichtsergebuis, das ehemals nur mündlich gewonnen worden ist, dessen 
Wortschatz den Kindern inzwischen aber auch schriftlich geläufig wurde, 
schriftlich wiedergeben zu lassen. Es wird den Kindern etwa gesagt: Früher 
konntet ihr noch nicht ordentlich reden; ihr habt es aber besser gelernt. Bei 
wem denn? Seid nur recht dankbar dafür und grüsst recht höflich. Da habt 
ihr z. B. auch einmal vom Tische gesprochen: Wer macht denn den Tisch? 
(Der Tischler macht den Tisch.) Woraus wird er denn gemacht? Wie sieht 
unser Tisch aus? Was hat der Tisch hier? Ist dieser Tisch rund oder eckig? 
Was liegt auf dem Tische? Was ınachst du (oder Max) früh mit dem Tische? 
(Abwischen.) (Zu vergleichen: Kölle, Sprechunterricht, S. 26.) Die Unbestimmtheit 
dieser mündlichen Fragen wird mit Hilfe der Geberde gehoben. Es kommt hier 
bei der Fragestellung darauf an, schnelle und glatte Antworten in einfachsten 
Sätzchen zu erhalten, um jede Ablenkung durch abseits führende Antworten oder 
durch Hilfsfragen zu vermeiden, so dass die nachfolgende schriftliche Zusammen- 
fassuug der Antworten zu einer erzählenden Beschreibung möglichst erleichtert 
wird. Es kommt hier gar nicht auf die Ausdrucksweise oder auf Vollständigkeit 
und Ordnung der Gedanken au, sondern zunächst nur darauf, dass die Kiuder 
überhaupt einige Gedanken über einen Gegenstand niederschreiben, deren sprach- 
lichen Ausdruck sie nicht ganz wörtlich und im Zusammenhange inne haben. 

Eine treffliche, mittelbare Vorbereituug des Auswendigschreibens ist das 
Abschreiben kleiner erzählender Beschreibungen oder Erzählungen als Ergebnisse 
des Sachunterrichts. Hat der mündliche Unterricht die Kinder geistig etwas 
ermüdet, so bildet die Veränderung der Unterrichtsforın beim Abschreiben eine 


26 


'erholende Abwechslung durch die — was für das Auswendigschreiben wichtig — 
der Sprachschatz der Kinder befestigt, und ihnen anschauliche Bilder von Nieder- 
schriften in geordnetem Gedankengange gegeben werden, besonders wenn der 
Gedankengang durch Stichworte oder besser durch Oberbegriffe angegeben und 
angeschrieben wird. Letztere helfen dabei zugleich den Kindern an der Hand 
anschaulicher Übung in der Welt der abstrakten Begriffe allmählich einige 
sichere Eroberungen machen, z. B. bei Besprechung von Pflanzen: Grösse, Teile, 
Standort, Gesellschaft, Pflege, Nutzen, oder bei Besprechung eines Tieres: Kleid, 
Glieder, Grösse, Wohnung, Nahrung, Nutzen, Können. Damit soll jedoch nicht 
gesagt sein, dass sich der Sachunterricht selbst au derartige Schemas binden 
solle. Obwohl sich derartige Unterrichtsergebnisse nicht hervorragend zum 
Auswendigschreiben eignen, wird doch der Versuch gemacht werden können, 
solche schriftlich wiedergeben zu lassen, jedoch nicht wörtlich, denn wörtlich 
auswendig gelernt sollen sie nicht werden, und auch nur gelegentlich, wenn der 
Stoff das Interesse der Kinder gerade besonders angeregt bat. 

Sehwachsinnige Kinder sind schwer dazu zu bringen, etwas auswendig zu 
schreiben, was ihnen nicht ganz in den Mund gelegt worden ist. Haben sie 
sich nur ein Sätzchen gemerkt, so klammert sich ihr Gedächtnis daran und 
kommt nicht los davon. Es ist, als sei ihr ganzer Sprachschatz verloren ge- 
gangen und ihr Denken unbeweglich an das Sätzchen gebunden, das ihnen zu- 
erst einfiel. Einem solchen Banne kann nur das lebhafteste, eigene Interesse 
des Kindes an der Sache selbt vorbeugen. Nun weiss ja der Lehrer meist aus 
Erfahrung, bei welchen Stoffen er auf lebhaftes Interesse rechnen darf und bei 
normalen Kindern lässt sich auf solche Erfahrungen einigermassen bauen. Bei 
schwachsinnigen wirken aber stärker als bei normalen Kiudern Nebeneinflüsse, 
die nicht immer im voraus zu erkennen sind, hemmeud oder fördernd ein, 2. B. 
kleine Zufälligkeiten im Unterricht oder während der Freizeit im Verkehr der 
Kinder untereinander, Witterungsverhältnisse, Ermüdung durch vorangegangenen 
Unterricht oder reichliche Körperbewegung u. s. w. Es empfiehlt sich daher 
nicht, sich vorzunehmen, in einer bestimmten Stunde eine Erzählung nieder- 
schreiben zu lassen, sondern wenn eine Erzählung beim Lesen oder Hören die 
Kinderherzen recht gepackt hat und sie sozusagen Feuer und Flamme dafür 
sind, dann ist es rechte Zeit, schnell einige Sätzchen von den Kindern sagen 
und gleich auch schreiben zu lassen. Die kindliche Ausdrucksweise wird beim 
Erzählen möglichst unangetastet gelassen, und nachgeholfen wird dabei tunlichst 
nur von den Kindern selbst. Der Impuls muss in den Kindern liegen und nach 
Äusserung streben; er soll nur benutzt werden. Umgekehrt darf wenigstens an- 
fänglich kein schriftlicher Gedankenausdruck von den Kindern erwartet werden, 
wenn sich die Triebkraft dazu nicht regt. Ist diese aber geweckt, so muss sie 
auch rasch benutzt werden, damit sie nicht durch Vorbereitung aufgezehrt wird. 

Welchem Idiotenlehrer wären nicht solche sprachschwache Idioten bekannt, 
die in der Alltäglichkeit sprachlos erscheinen und im Affekt doch plötzlich den 
Mund auftun. Ein tiefstehender Blöder, den ich sonst nicht reden gehört habe, 
rief mir, als er Karussell gefahren war, voll Freude, wenn auch nicht ganz 


RE 


deutlich, so doch verständlich zu: „Herr Wehle, Reitschule!“ So wird man auch 
vor oder nach irgenwelchen heiteren oder ernsten, die Schüler anregenden Vor- 
.kommnissen diese am ehesten dazu bringen, das Erlebte schriftlich mitzuteilen. 
Künstliche Aufregungen, um dies zu erreichen, sind aber, wie alle Aufregungen, 
zu meiden. Den kräftigsten Impuls gibt das liebe Weihnachtsfest; doch auch 
andere, kleine, zufällige, aber die Kinder eben geistig beschäftigende Erlebnisse 
werden benutzt, die Schüler zu einer schriftlichen Mitteilung dessen anzuregen, 
was sie auf dem Herzen haben. Haben die Kinder einmal mitgemacht und 
Freude am Gelingen empfunden — Misslingen wird möglichst vertuscht — so 
wird es ihnen bald leichter werden. Nur dürfen die Anregungen zu freien, zu- 
sammenhängenden schriftlichen Mitteilungen im Klassenunterrichte nicht allzu- 
früh an die Schüler herantreten. Erst muss ausser der motorischen Schreib- 
fertigkeit einige Übung im mündlichen Erzählen in vollständigen Sätzen er- 
worben, sowie ein sicherer Besitz von einfachen sprachlichen Ausdrucksformen 
im akustischen und optischen Gedächtnis augesammelt sein, der zur freien Ver- 
fügung steht. Fällt die Niederschrift schlecht aus, beteiligen sich wider Erwarten 
zu wenige Schüler in genügender Weise, so wird ohne Zögern satzweise ein Vor- 
bild, zu dem sie selbst die Bausteine herbeischaffen, an der Wandtafel zum Ab- 
schreiben geboten, um sie durch den Misserfolg nicht zu entmutigen. 

Diese wenig oder gar nicht vorbereiteten Niederschriften — Herzensergüsse 
sollen es sein — bedürfen bis zum Ende der Schulzeit unausgesetzter Pflege. 
Sie bilden die unerlässliche Vorstufe des reflektierenden schriftlichen Gedanken- 
ausdruckes zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, der über das blosse 
Mitteilungsbedürfnis von Erlebtem etwas hinausgeht. Die impulsive schriftliche 
Mitteilung des Erlebten ist das „Hauptmittel“ zur Erreichung dieses Endes; die 
vorher angegebenen möchte ich als „kleine Mittel“ bezeichnen, die nur wahl- 
weise mitbenutzt werden. 

An Stoffen und Gelegenheiten zu solchen Mitteilungen von Erlebtem fehlt 
es nicht. Der Hasc, das Reh, das Füllen, der Storch, die Zugvögelschar, die 
auf dem Spaziergange gesehen worden sind, regen das Mitteilungsbedürfnis der 
Kinder regelmässig an; oder wie es beim Beeren- oder Pilzesuchen, dem Ameisen- 
haufen, den Fröschen am Teiche, dem Spiele zuging. Wie wir in die neue 
Schulstube umzogen, wie der Ofen umgesetzt, wie die Fensterscheibe zerbrach 
und wieder eingezogen, oder wie die Stube geweisst wurde. Wie wir den 
Gärtner, den Säemann, den Kutscher im T'ferdestalle, den Steinklopfer am Wege, 
den Schmied besuchten. Was der Essenkelırer, der Dachdecker, der Schuhmacher 
beim Massnehmen, der Maurer am Mörtelkasten, der Zimmermann am Garten- 
zaune, die Köchin mit dem Braten, die Waschfrau mit den Hemden machte. 
Die Themen haben geringen Umfang und betreffen kleine Erlebnisse, deren 
Hauptverlauf sich in wenigen Sätzen ausdrücken lässt. Umfangreiche Erlebnisse, 
wie z. B. „In den Ferien“, sind unpassend, weil hier die Ereignisse teilweise 
schon zu weit zurückliegen und daher im Gedächtnis bereits etwas verschwommen; 
erscheinen, es auch zu viele sind, so dass eine Auswahl stattfinden müsste 
Wesentliches vom Unwesentlicben zu scheiden wäre. Das ist für Schwachsinnige 


28 


zunächst zu schwer und weist sie daher auf weitgehende Hilfe des Lehrers an; 
deshalb ist es ungeeignet zur ersten Entwicklung selbsttätiger, freier, schrift- 
licher Mitteilungsfähigkeit und muss für die oberen Stufen aufgespart werden. 
Auch ein Thema, wie z. B. „Wie ich einen Schneemann baue“, ist hier noch 
nicht am Platze. Vielmehr müssen die Kinder den Schneemann tatsächlich so- 
eben gebaut haben, so dass sie nur zu erzählen brauchen: „Wie wir einen Schnee- 
mann gebaut haben“. Die erste Fassung gehört in den nachfolgenden Aufsatz- 
unterricht, da sie dem Kinde Reflexionen über erst vorzunehmende künftige 
Handlungen zuinutet, oder doch eine Veränderung der Zeitform, wenn der Bau 
des Schneemannes vorangegangen ist, oder eine phantasiemässige Umdeutung, 
wenn etwa eine Erzählung oder ein Gedicht zu grunde gelegt wird. — Der 
Gedankengang der schlichten Mitteilung muss wenigstens ungefähr durch die 
Einzelhandlungen des soeben miterlebten Ereignisses gegeben sein, so dass die 
Schüler nicht viel Wahl haben und doch eine einigermassen erschöptende Mit- 
teilung machen können. So ist es doch möglich, einige Gedankenordnung zu 
erzielen, wenn auch nur nach der Zeitfolge, bez. räumlichen Anordnung und die 
Versuchung zu zielloser Schreiberei abzuhalten. Die Vorlage zur Niederschrift 
ist hier gewissermassen ein Gedankendiktat ohne Worte, ausgedrückt durch Ge- 
schehnissee Den wörtlichen Ausdruck haben die Kinder zu geben. Dies ist das 
Wesen des hier gemeinten „freien schriftlichen Mitteilens“. Die den Kindern 
anfänglich noch gewährte mündliche Hilfe im Ausdrucke nimmt nach Massgabe 
ihrer wachsenden Kraft ab. Vorausgesetzt bleibt immer unmittelbare Anschauung 
und das von den Kindern selbst ausgedrückte Verlangen, die „Geschichte aus- 
wendig zu schreiben“. 

Die Verbesserung ist teilweise schon erwähnt worden. Sie geschieht während 
oder im unmittelbaren Anschlusse an das Schreiben im Beisein des Kindes. So- 
weit es die Zeit gestattet, wird das einzelne Kind durch Hilfsfragen zur Selbst- 
verbesserung angeregt, wo eine solche überhaupt möglich ist, insbesondere dazu, 
jalsch geschriebene Wörter mit Benutzung der Finger zu lautieren, wa dies zur 
Erkennung des Fehlers helfen kann. Ist es angängig, so wird der falsche Buch- 
stabe nicht durchgestrichen und dadurch erhalten, sondern in den richtigen um- 
gewandelt, so dass der Fehler verschwindet. Sonst wird das Wort ganz durch- 
strichen und richtig darüber geschrieben, womöglich von den Kindern selbst. 
Verbesserung mit roter Tinte ist bei Schwachsinnigen nutzlos, meist sogar 
schädlich, da durch diese die Aufmerksamkeit des Kindes immer wieder auf das 
falsche Wortbild gelenkt und dieses dadurch im optischen Gedächtnisse befestigt 
wird. Die Rechtschreibung Schwachsinniger gewinnt durch Verbesserung des 
Lehrers wenig oder gar nichts. Bei ihnen kommt alles darauf an, die Wörter 
lautlich und bildlich recht genau auffassen zu lassen und beim Niederschreiben 
Ablenkung der Aufmerksamkeit fern zu halten, so dass Fehlern möglichst vor- 
gebeugt wird. 

Eine, wenigstens scheinbare Ausnahmestellung nehmen die ersten Versuche 
der Schüler, sich frei, in eignen Worten schriftlich auszudrūcken, hinsichtlich 
der Verbesserung ein. Es kann nicht befremden, dass sich da bei manchen 


Kindern die Felıler so häufen, dass eine Einzelverbesserung überhaupt unmöglich 
ist. Mag es auch im allgemeinen richtig sein, dass die Kinder in der Schwach- 
sinnigenschule alles, was sie tun, ordentlich tun sollen, und dass ihnen daher 
das, was sie z. Z. noch nicht ordentlich tun können, auch noch nicht zugemutet 
werden darf, so ist doch hier eine Ausnahme zu machen. Unsere Schüler mögen 
zum freien schriftlichen Mitteilen angeregt werden, auch wenn sie noch nicht 
befähigt sind, es so gut zu machen, dass sie vor den Augen strenger Kritiker 
bestehen können. Recht- und Schönschreiben soll bei diesen ersten Versuchen 
ganz Nebensache sein, nur die Entwicklung der schriftlichen Mitteilungsfähigkeit 
kommt in Betracht. Es muss ja auch nicht alles korrigiert werden. Hat sich 
das Kind uur gemüht, so drückt man seine freudige Genugtuung über den 
gelungenen Versuch aus nebst Hoffuung auf nächstmalige weitere Besserung und 
überlässt die ganze Fehler-Kompagnie ihrem Schicksale. Oder man gibt den 
Schülern als Ersatz für ibre Arbeit ein Vorbild an der Wandtafel, das sie lesen 
und abschreiben, wenn man nicht in den sauern Apfel beissen will, und schreibt 
jedem Kinde einzeln seine ganze Arbeit ab, möglichst in der kindlichen Fassung 
und lässt nun diese durchgreifende Verbesserung vom Kinde wieder abschreiben, 
und damit diese sehr zeitraubende Lehrerarbeit besser lolınt, bei nächster 
Gelegenheit noch ein zweites Mal. Der Schüler sieht da vor seinen Augen das, 
was er schreiben wollte; diesen Ausdruck eignet er sich an; er sieht seine eigene 
Mühe gewertet, und das stärkt ihm den Mut zu neuem Anlaufe. Allerdings 
dürfen die Schulklassen nicht 18; 20 oder gar noch mehr Kinder haben. Auch 
wird man diese Art Verbesserung nicht lange beibehalten, sondern nur einige 
tMale als Übergangshilfe gebrauchen. Die verbesserte Niederschrift kann, aber 
muss nicht in das von Herberich (Bericht der 9. Konferenz in Breslau, S. 94) 
befürwortete Tagebuch eingeschrieben und gelegentlich von den Kindern wieder- 
holungsweise vorgelesen werden. Ein den Kindern als Ersatz ihrer eigenen, zu 
fehlerhaften, freien Niederschrift au der Wandtafel zum Abschreiben gebotenes 
Vorbild leistet ihnen ebenfalls gute Dienste. Ist nur ihre eigene Mühe aner- 
kannt worden, so nebmen sie auch, wie die Erfahrung lebrt, den Ersatz gern an 
und bilden sich an ibm. i 

Es braucht nur gestreift zu werden, dass erzieherisch wertvolle, äussere 
Gewöhnungen, wie richtige Feder- und Körperhaltung, Regelmăssigkeit und 
Sicherheit der Schrift beim Auswendigschreiben mit gepflegt werden. Verlangt 
die Schule von der Schrift nicht mehr, als das Leben braucht, nämlich Deut- 
lichkeit und mässige Geläufigkeit, so können die Vorbereitungen zum Auswendig- 
schreiben die besonderen Übungen im Schönschreiben je länger, je ınehr er- 
setzen, oder sie werden doch die Ziele des Schreibuuterrichts wesentlich fördern. 

Indem die Übungen im Auswendigschreiben dem Sachunterrichte dienen, 
tragen sie erheblich zur Sicherung des Erfolges des letzteren bei. Sind z. B. 
unsere Singvögel im Walde besprochen worden und werden diese in Natur 
oder doch im Bilde den Kindern vor Augen ;restellt und nun die Namen der- 
selben nach der nötigen Vorbereitung auswendi; geschrieben, so werden die 


30 


Kinder dadurch zu wiederholter und längerer Anschauung der Objekte des 
Unterrichts veranlasst. Dem Sachunterrichte wird so Gelegenheit zu veränderter 
Wiederholung und Einübung geboten, nicht nur der Schriftbilder, sondern der 
Anschauung der Sachen selbst. 

Das vorbereitende Lautieren beim Wortdiktat u. s. w. gibt erwünschte 
Gelegenheit, lautsprachliche Mängel, welche im Sprechunterrichte der Vorstufe 
nicht beseitigt wurden und solche inzwischen neu zugeführter Zöglinge zu be- 
kämpfen. Und dass ebenso bei der Vorbereitung zum Auswendigschreiben von 
Wörtergruppen die lautsprachliche Erkenntnis und Bildung gefördert wird, deutete 
das schon angeführte Beispiel von Wörtern mit ch an. Dabei werden die Kinder, 
deren Sprechmängel in Frage kommen, besonders berücksichtigt. Die fort- 
geschrittene, allgemeine geistige Entwicklung des Kindes hilft nun auch manche 
Sprechmängel beseitigen oder doch lockern, die früher noch festsassen, besonders 
das kindliche Stammeln. Die lautsprachliche Eutwicklung bleibt so, gleichlaufend 
mit der gesamten geistigen Entwicklung der Kinder in fortlaufender Pflege, 
allerdings nicht bloss bei den Übungen im Auswendigschreiben, aber ganz be- 
sonders bei ihnen, da hier der Anschluss am natürlichsten ist. Im Sach- und 
Leseunterrichte bedeutet die Einschaltung einer Sprechübung meist eine Uuter- 
brechung und Störung des Unterrichtsganges und wird darum wohl weniger gern 
vorgenommen. 

Lautrichtiges Schreiben lässt sich überhaupt nur durch Auswendigschreiben 
angewöhnen, und wie wichtig ist das für das spätere Leben eines schwachsinnigen 
Menschen, dem alle Hilfen der Sprachlehre für die Rechtschreibung abgehen. 

So notwendig für die erste Lesestufe des Kindes sorgfältiges „Buchstaben- 
Zusammenlesen ist“, so unerlässlich ist zur Erreichung späterer Geläufigkeit im 
Satzlesen das Erfassen ganzer Wörter mit einem Blicke. Zu letzterem Ende 
muss aber der Wortschatz dienstbereit vorrätig im Gedächtnisse angesammelt 
sein. Durch vieles Lesen und Abschreiben, besonders aber durch solches mit 
Auswendigschreiben verbundenes, kommt das Kind zu solchem Wortschatze; 
desto mehr nähert es sich dem ersehnten Ziele der Lesetertigkeit. 

Auch die bescheideuste freie Mitteilung auf einer Postkarte erfordert schon 
schriftliche Ausdrucksfähigkeit, die ausser von der allgemeinen geistigen Ent- 
wicklung und der Schreibgeschicklichkeit der Hand abhängig ist von der Fertigkeit 
in der Übersetzung von Lautklängen in Schriftzeichen und vom Vorrat fertiger 
Wortbilder im optischen Gedächtnisse. Dass letzteres durch Lesen und Ab- 
schreiben und sonstige Gesichtsanschauung nicht genügend geübt wird, beweist 
die grössere Schwerfälligkeit im freien, schriftlichen Ausdrucke bei solchen 
Kindern, die im Auswendigschreiben nur wenig methodisch geübt worden sind. — 
Schriftbilder, die nicht bloss durch das Auge aufgenommen, sondern dann auch 
vom Auge durch die Hand schriftlich auswendig wiedergegeben werden, muss 
das Auge erheblich genauer anschauen, als es beim blossen, selbst lautem Lesen 
und auch beim Abschreiben nötig ist. Verstärkt wird diese Übung des Auges 
weiter durch den prüfenden Vergleich zwischen Vorbild und Niederschrift. — 
Wie schwer aber fällt manchen unserer schwachsinnigen Anfangsschüler schon 


31 

das Behalten nur eines der einfachsten Buchstabenbilder! Es sind eingehende, 
das Auge übende, malende Vorübungen erforderlich. (Zeitschrift 1898, S. 28.) 
Das Auswendigschreiben einzelner Buchstaben und Wörter nach Diktat, sowie das 
Übertragen von Druck- in Schreibschrift geben weitere Übung des optischen 
Gedächtnisses zum Erfassen, Unterscheiden, Behalten und raschen Wiedergeben 
von Wortbildern. Die Übertragung von Druck- in Schreibschrift ist von Ver- 
tretern der reinen Schreiblesemethode als eine geistlose und darum wertlose 
Übung bespöttelt worden, sehr mit Unrecht. Dieses Übertragen ist gleichsam 
ein leichtes Diktat der Schreibschriftzeichen. Die Druckbuchstaben hat das 
Kind vor sich, aber die Schreibbuchstaben muss es sich vorstellen. Leicht ist 
diese Übung infolge der Formenverwandtschaft beider Alphabete, aber eben die 
Leichtigkeit dieser Übung macht sie anfänglich für schwachsinnige Leseschüler 
wertvoll, besonders für solche mit besonders geringem optischen Gedächtnisse. 
So wird dieses vorgebildet zum Auswendigschreiben von Wörtern und Sätzen, 
das zur weiteren Stärkung dient. Das wiederholte und nachhaltige Ansehen der 
Wörter, welches das Auswendigschreiben voraussetzt, schärft den Blick in der 
Auffassung der Schriftzeichen und stärkt das Gedächtnis für sie. Was der 
Mensch schnell und sicher sehen lernen will, muss er genötigt sein, oft und 
genau zu sehen und darüber Rechenschaft abzulegen, wie es beim Auswendig- 
schreiben und der schriftlichen Vorbereitung dazu geschieht. So wird der Weg 
vom Gegenstande durch Auge, Gehirn und Hand nach der Schreibfläche gangbar. 
Die Übung im Heraushören der Selbstlaute aus dem Wortklange hat noch 
besonderen Wert für Kinder in Stottergefahr, indem ihnen der Selbstlaut gewisser- 
massen als Bresche zur Eroberung des Wortes dient, ferner für Schwerhörige, 
wie für sonstige Sprachschwache.*) Bei den in der med.-pädagogischen Monats- 
schrift 1901, S. 21, von Neubert mitgeteilten Hörversuchen wurde z. B. das 
Wort „Arzneiglas“ von einem normalbegabten taubstummen bez. sehr schwer- 
hörigen Kinde aufgefasst und schriftlich wiedergegeben als „Harrfleissass“. Das 
Kind hat fast nur die Selbstlaute richtig erfasst. — Ein tiefstehender Schwach- 
sinniger versuchte das Schelmenlied: „Im Grunewald ist Holzauktion* nachzu- 
singen, ohne es zu verstehen. Doch hatte er die Selbstlaute richtig erfasst und 
sang nun: „In Gunewald iss Golgaugon“. Die Hilfe des Selbstlautes zur Er- 
fassung der Rede bewährt sich also beim allgemein Geistesschwachen, wie bei 
nur Sprachschwachen. — Auf der Vorstufe werden auch bei sorgfältiger Be- 
kämpfung der Hörstummheit und anderer Sprachmängel bei manchen solchen 
Schülern Rückstände bleiben, zu deren weiterer Bekämpfung die durch das Aus- 
wendigschreiben bedingte mehrmalige Wiederholung des betreffenden Sprachstoffes 

gute Dienste leistet. 
. Auswendigschreiben, bez. die Vorbereitung dazu, verweilt allerdings sehr. 
Das scheint ein Nachteil zu sein. Aber gerade dieses Verweilen hilft den noch 
in besonderer Weise gebrechlichen Schwachsinnigen vorwärts zu kommen, 30 








*, Horrix, Zeitschrift 1897, S. 101. Gutzmann: Der Stotterer 1899, S. 44 u. f. 
Wehle, Erster Schreibleseunterricht schwachsinniger Kinder, S. 22. 





32 


Kindern mit krampfartigen Zuständen, kurzsichtigen Kindern, die keine Rrille 
tragen können, schwerhörigen, körperlich oder geistig besonders schwerfälligen, 
geistig verschrobenen Kindern. Manche Erziehungsanstalten und besonders die 
Hilfsschulen sind allerdings in der, wenn man so sagen darf, angenehmen Lage, 
sich hiergegen ebenso einfach, wie gründlich helfen zu können: sie weisen be- 
sonders gebrechliche Kinder ab. Aber Anstalten, die verpflichtet sind oder sich 
für verpflichtet halten, auch solchen Kindern ihre Tore zu öffnen und sie nach 
Möglichkeit und Zweckmässigkeit zu unterrichten, müssen auf Mittel und Wege 
sinnen, auch bei solchen Kindern noch kleine Ziele mit sichern Schritten zu er- 
reichen, wobei die dem Auswendigschreiben anhaftende Langsamkeit gerade 
förderlich ist. Damit soll den besonders gebrechliche Kinder abweisenden An- 


stalten und Schulen kein Vorwurf gemacht werden. Deren Vorgehen wird mehr 


und mehr bewirken, dass sich solche Kinder wenigstens teilweise in einigen An- 
stalten sammeln, die den besonderen Bedürfnissen dieser Kinder entsprechende 
Einrichtungen schaffen können. — So gibt das Auswendigschreiben den Kiudern 
manche Gelegenheit, ihre Kräfte am Unterrichtsstoffe zu üben; nicht nur daran 
zu nippen und zu naschen, sondern ihn nach Massgabe ihrer Fähigkeit zu ver- 
arbeiten und ihrem Geistesleben und insbesondere ihrem Sprachleben einzu- 
verleiben. Auch die nachfolgende Verbesserung hilft mit dazu. 

Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Verbessern allerdings durchaus nicht. 
Ein in der Schrift ordnungsliebender Knabe pflegte, wenn ich ihm etwas ver- 
bessern musste, mehr oder weniger unwillig zu bemerken: „Das sieht nicht schön 
aus!” Was er selbst geschrieben, war in seinen Augen schön und gut und nicht 
verbesserungsbedürftige. Hier muss das Kind erst erkennen oder doch ahnen 


lernen, dass das Schöne auch richtig und wahr sein muss. Das Kind muss zu-' 


nächst die Verbesserungsbedürftigkeit seiner Arbeit einseben und sich willig ver- 
bessern lassen. Das bürgerliche Leben stellt gerade in letzterer Hinsicht ‚häufig 
ausserordentlich hohe Anforderungen auch an die Schwachsinnigen und muss sie 
stellen. In der Schule Schwachsinniger schreitet der Unterricht in kleinsten 
Stufen vorwärts, so dass die Kinder nicht über ihre Kraft zu gehen brauchen, 
dass sie das Geforderte in der Regel auch wirklich ohne Übermüdung und 
Überreizung leisten können. Bei ihren Fehlern werden sie nun durch individuelle 
Verbesserung gewöhnt, sich verbessern zu lassen, sich etwas sagen zu lassen. 
Diese Gewöhnung ausbilden und befestigen zu helfen, macht die schriftliche Ver- 
besserung zu einem zwar kleinen, aber durch seine häufige Wiederkehr doch 
schätzenswerten Erziehungsmittel zur Förderung der im Leben nötigen Unter- 
ordnung und Verträglichkeit, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, des gewohnheits- 
mässigen Strebens nach Wahrheit und Recht im kleinen, dessen auch der 
Schwachsinnige in seinem Erkenntnisbereiche — wenn auch in Schwachbeit — 
fähig ist. 

Beim Auswendigschreiben gemütlich wertvoller Gedichte ist die Gefahr zu 
beachten, dass die Kinder dieselben durch zu viele Wiederholung „ūber“ be- 
kommen; dann wäre auch der gemütbildende Wert hinüber. Bei zartfůhlender 
Beachtung dieser einschränkenden Bedingung wird aber hierbei die Gemäüts- 


- an 0 heise AEG ie nie, > e o a. EEE 





3 
bildung nicht nur nicht gefährdet, sondern belebt, einmal durch sicherere Be- 
festigung des Wortlautes und weiter — und das ist hier die Hauptsache — da- 
durch, dass die Kinder Gelegenheit zur Selbsttätigkeit finden. Jede Unterrichts- 
weise, welche diese fördert, ist aufinerksamster Pflege wert. 


Ist auch die Selbsttätigkeit beim Auswendigschreiben nach gegebenem münd- 
lichen o:er schriftlichen Vorbilde nur eine anlehnende, so stebt gie doch immer- 
hin auf höherer Stufe als das blosse Abschreiben und Aufsagen. Voll entfalten 
kann sich der Trieb zur Selbsttätigkeit erst beim freien schriftlichen Mitteilen. — 


Bekommen die Kinder, wie es in der Volksschule bei dem gebundenen Auf- 
satze wohl meist geschieht, erst das Vorbild, so klammert sich das. Kind nicht 
bloss an die entwickelten Gedanken, ja weniger an diese, als an die gegebenen 
Worte und kommt weder zu eigenen Gedanken noch zu eigeneın Ausdrucke. 
Und selbst wenn es einen eigenen Gedanken auf dem Herzen hat, der gern 
heraus möchte, fühlt es sich vom Vorbilde des Lehrers wie umklammert und 
kommt doch nicht los von dessen Worten. Dieses Gefühl der Gebundenleit ist 
der. Mangel des gebundenen Aufsatzes, der Lehrern wie Kindern selten Freude 
macht, wenn nicht einige Fertigkeit im freien schriftlichen Mitteilen vorher er- 
worben wurde. Die Kinder hierzu immer wieder bis zum endlichen Gelingen 
anzuregen, sie von dem blossen Wiedergeben wörtlich aufgenommener Sprach- 
stoffe zum selbsttätigen schriftlichen Mitteilen zu bringen, ist das Endziel der 
Übungen. im Auswendigschreiben. — Das normale Kind fängt, wenn es Er- 
wachsene schreiben sieht, selbst an, sich schriftlich mitzuteilen, als Spiel „Briefe“ 
zu schreiben an alle möglichen Personen, mit denen es in seiner Phantasie spielt, 
sogar auch an das Christkind. Schwachsinnige . Kinder bedürfen ıneist 
einiger Lockung und recht bequem gemachter Gelegenheit zu spielenden 
Schreiben. Einige sind schon in der Klasse, die selbst wollen und die andern 
erhalten von diesem Beispiel und Anregung zur Nachahmung; das Kind lernt 
da vom Kinde. So tritt spielende freie schriftliche Beschäftigung mit in den 
Dienst des Unterrichts und dem Spiele der Phantasie wird vom Unterrichte 
eine neuc, geistig höhere Betätigungsform gegeben. Wie sich auch schwachsinuige 
Kinder für diese Form des Spieles erwärmen, cıfährt der Lehrer nicht selten 
ganz unerwünscht, indem manchmal in: Unterrichte kleine freie Niederschriften 
auf den Tafeln der Kinder zu finden sind, statt der Aufgabe. Eiu beliebtes 
Spielchen ist z. B. das Aufschreiben der Namen der Mitschüler auf die Schiefer- 
tafel. Auch Liebe und Hass wird offenbart. „N. N. ist dumm!" „N. N. bin 
ich gut!“ Oder eine ganze Gruppe arbeitet unter Redaktion eines „Hellen“ 
daran, einen gemeiusamen Wunsch auszudrücken: „Herr Lehrer, wir wollen 
barfuss gehn.“ — Ich möchte die altehrwürdige Schiefertafel in den Händen 
der Schwachsinnigen nicht missen. Sie gibt der Selbsttätigkeit mehr Gelegenheit 
zur Ausserung als das Papier. Die Bedenken der Hygieniker gegen die Schiefer- 
tafel gelten ähnlich auch vom Papiere; bei Jder Schiefertafel hilft aber viel die 
Scheuerbürste. — Mag auch die Rechtschreibung bei solchen Versuchen „ganz 
entsetzlich“ sein, wie bei !olgendem unbeeinflusst niedergeschriebenen Ergusse: 


34 
„Der Rubrich hat einen Sack — in den Sack hat er Nise — und wer den 
schinft -— dan ist der Rubrich Pese — und Wen — der Rubrich Wirt Nicht 
Zuweihnachten ckommen -- der gomt Plos — Wenn die Kinder folchen — da 
brind er file Nise.“ — 


. Wie man von den Kindern nicht verlangen darf, dass sie auf einmal sicher 
geben und richtig sprechen köunen, so darf auch nicht gleich eine richtige 
schriftliche Mitteilung erwartet werden, aber doch müssen die Kinder Gelegenheit 
zur Übung ihrer schriftsprachlichen Kräfte erhalten. Wer schwimmen lernen 
will, muss ins Wasser und nötigenfalls zunächst „pudeln“. Von allen schönen 
Belehrungen über grosse Anfangsbuchstaben u. s. w. ist bei dieser Niederschrift 
kaum eine Spur zu entdecken. Nur die erlangte Fähigkeit, den Laut in Schrift 
umzusetzen und einige Schriftbilder von Wörtern sind geblieben und ermöglichten 
diesem Knaben die Niederschrift, welche teilweise als dialektische Lautschrift 
gelten kann. Aus dieser Erfahrung muss aber der Schluss gezogen werden, dass 
es beim Sprachunterrichte im engern Sinne wesentlich darauf ankommt, Laut- 
bewusstsein und Schriftgedächtnis zu bilden und dabei Ohr und Auge an treues 
Zusamınenarbeiten mit der Hand zu gewöhnen, wozu vornehmlich das auswendig” 
schreiben dient. 


Dem sich in obiger Niederschrift fühlbar machenden Bedürfnisse nach Ver- 
stärkung der Anschauung schriftlicher Satzformen lässt sich dadurch entgegen- 
kommen, dass in der Regel — wie bei der Druckschrift in der Pestalozzifibel — 
jeder Satz mit einer neuen Zeile begonnen wird. So vermag das Kind am 
ehesten leicht und sicher Anfang und Ende und damit das Schriftbild des 
ganzen Satzes zu überschauen und als Einheit ohne Beihilfe — also selbst- 
tätig — zu erkennen und in richtiger Form wiederzugeben. Die schriftliche Satz- 
auschauung wird durch diese Äusserlichkeit eine sinnenfälligere und das ist's, 
was der Unterricht Schwachsinniger wesentlich nötig hat, — 


In der Adventszeit wurde den Kindern, als der Ruprecht dagewesen, ein 
Weihnachtsbilderbuch gezeigt, das ihnen sehr gefiel. Mit Hilfe einiger kurzer 
Fragen, bez. Fragewörter setzten sie die bildliche Anschauung in mündliche Er- 
zählung um. Da einige Kinder den Wunsch äusserten, der unausgesprochen 
auch der meinige war, die „Geschichte“ aufzuschreiben, so wurde dem sofort 
entsprochen. „Tafel herauf! Schreibt!“ Da es sich um schriftliche Mitteilung 
nicht bloss von Erlebtem, sondern auch von bildlicher Anschauung handelte, 
so wurde als Hilfe eins der gezeigten Bilder vor den Augen der Kinder ge- 
lassen. — Bei so flüächtiger, nur mündlicher Vorbereitung kann auf der Mittel- 
stufe bei schwachsinnigen Kindern keine auch nur annähernd fehlerfreie Nieder- 
schrift verlangt werden. Die dürftigste Niederschrift sah mit allen Fehlern 
so aus: 


„Der Lehrer hat uns Biler zeig auf Biler (Die Zeile ist voll. Soll heissen: 
Bilderbuch) Kinder und Mutter spracht — wem (wenn) irh* grte* (artig) sie” 
(seid) -- so brint der Ruprecht ieh* (euch) Äfl und Nüse — im der Hand eine 
Rute.“ 





35 


Interessant ist hierbei besonders, dass dieser Knabe F. im mündlichen Erzählen 
zu den besseren der Abteilung gehörte. Es weisst dieser Fall darauf hin, dass 
alle Mühe, die Kinder durch Antworten in vollständigen Sätzen, mündliches 
/usammenfassen von Unterrichtsergebnissen und freies mündliches Wiedererzählen, 
kurz alle mündliche Ausbildung der Kinder, so gut sie ist, doch allein nicht 
genügt. Die methodische Übung im Auswendigschreiben mnss noch hinzu 
kommen, besonders wenn, wie hier, die schriftliche Ausbildung auf besondere 
Schwierigkeit stösst. 

Nach dem Weihbuachtsfeste lieferte derselbe Knabe F. nach ebenso flüchtiger 
"mündlicher Vorbereitung folgende, wenigstens lesbare schriftliche Erzählung: 


„Cirstfest* war gkomen. in Speisesaale branten das Betleben und die Crist- 
bäume — das war ser hell — auf den 'Tihs* lahen Gesche — Ich hat eim Näh- 
kasten Flinte dnu* Soldaten Äbfe Süse Pfefrkusch bekom — Ich bin dankbar 
für als“ 


Es sei auf die mit * bezeichneten Fälle des Schreibstammelns mit Um- 
stellung von Buchstaben aufmerksam gemacht. Dadurch, sowie durch sein zu 
langes, wenig nützendes Verbleiben in der Volksschule, wo es am „Abschreiben“ 
wohl nicht gemangelt haben wird, erklärt sich sein schriftsprachliches Zurück- 
bleiben. Als Vorbild erhielt der Knabe für die erste Niederschrift folgende, 
an seine Worte sich aulehnende Verbesserung: 


„Der Herr Lehrer hat uns Bilder gezeigt. Drei Kinder und eine Mutter 
waren da. Die Mutter sprach: Wenn ihr unartig seid, so bringt euch der Ruprecht 
keine Äpfel und Nüsse. In der Hand hatte er eine Rute für die bösen Kinder.“ 


Die folgende Niederschrift war die ausführlichste und phantasiereichste. In 
den vielen Fehlern zeigt sich der zappliche Eifer des Knaben A.: 


„Der Herr Lehrer hat uns Bilder gezecht. Es war eine Witwe — Die hate 
drei Kinder und hate sie lieb — eines Tages fürt sie ihre Kinder zum Knecht 
Ruprecht — der Nigolaus sprach — sind gute Kinder hier — die Mutter sprach 
ja — Da freute sich der Ruprecht und sagte — Sind auch bose Kinder hier — 
die Mutter sprach ja — da ward der Ruprecht bose und sprach — du begommmst. 
strafe und er nahm die Rute und schlug ihm — und steckte ihm in Sack — da 
Weinter der bose Junge und sprach — ich wiel folgen und liess ihn gehn. Die 
fleisigen aber begamen Nüsse Apfel und geschenke — Die Mutter sprach zu dem 
bosen Jungen — Du hast strafe fertind —- und dann ging der Knecht Ruprecht 
vort und der Knabe folgter der Mutter.“ 


Auch diese Arbeit ist noch nicht ganz frei vom Schreibstammeln, das jedoch. 
hier kein ungesundes ist. Es hält sich in den Grenzen, wie bei normal be- 
anlagten Abc Schützen, denen es ebenso natärlich ist, wie den ganz jungen 
Kindern das Stammeln beim Sprechen, wie es sich auch bei Erwachsenen zeigt, 
die keine Fertigkeit im schriftlicheu Mitteilen erlangt haben, nur in der Mund- 
art zu sprechen gewöhnt sind und sich bei einer schriftlichen Äusserung des 
Hochdeutschen bedienen wollen. Ungesund wird das Schreibstammeln erst dann, 
wenn Fehler in bestimmten Richtungen verallgemeinert auftreten, wie das Um- 


36 
stellen von Buchstaben in der vorher angeführten Niederschrift des Knaben F, 
z. B. bei den Wörtern „irh, ieh, dnu, Tihs“. Auch beim Absohreiben zeigte 
sich bei jenem Knaben F das Schreibstammeln, wenn auch in mässigerer Aus- 
dehnung. Die Sinneswerkzeuge des Knaben F waren — auch nach ärztlichem 
Gutachten — in Ordnung. Er verstand im bekannte, von mir geflüsterte 
Wörter bis zu Il m Entferunng, während die Hörgrenze seiner Klasse durch- 
schnittliche 12?/, m betrug. Der Umfang seiner Gehörsauffassung war ebenfalls 
mittelgut, sonst hätte er gehörte Erzählungen nicht so verhältnismässig gut 
wieder erzählen können. Sein Gesichtssinn war im Verhältnis zu dem seiner | 
Mitschüler reichlich mittelkräftig, sowohl hinsichtlich des Grades der Sehleistung 
als des Umfanges der Auffassungsfähigkeit. Er erkannte die Figur der Breslauer 
Sehtäfelclhen bis auf 10 m Entfernung im sonnenhellen Saale, während die 
Durchschnittsleistung der Klasse 7,5 m betrug. Von Einzelbildern ihm bekannter 
Dinge, die ihm in Gruppen je 3 Sekunden lang vorgeführt wurden, vermochte 
er darnach durchschnittlich je 2,5 der Einzelbilder der Gruppen namlaft zu 
machen. Seine Sprache war frei von Stammeln. Er las und lautieıte seiner 
Lesefertigkeit angemessenen Lesestoff bei nicht abgelenkter Aufmerksamkeit 
richtig, wenn auch noch nicht fliessend.. Auch erkaunte er die Fehler des 
Schreibstaınmelns bald, wenn er darauf aufmerksam gemacht wurde und ver- 
mochte sie bei bekannten Wörtern selbst zu verbessern. Die äusseren Sinne 
können nach diesem Befunde die Fehlerhaftigkeit nicht verursachen. Schwache 
Befähigung, Unaufmerksamkeit und Mittelmässigkeit des Gehörs sind bei andern 
Kindern auch da, ohne die gleichen Folgen zu zeitigen und können daher wohl 
den Nährboden zur Entwicklung des Fehlers bilden, bez. seine Entwicklung 
fördern, aber nicht die wesentliche Ursache sein. Pflichtet man der Annahme 
bei, dass für die Schreibbewegungsantriebe besondere Zentren im Gehirne sind, 
so dürfte weiter anzunehmen sein, dass die fragliche Fehlerhaftigkeit in der 
Leitung vom Schriftbildzentrum zum Schreibbewegungszentrum zu suchen ist. 

Es ist hier auf das Schreibstammeln eingegangen worden, weil sich das 
Auswendigschreiben — von dem die Arbeit handelt — als heilpädagogisches 
Gegenmittel bewährt hat, wenn es sachgemäss auf die fehlerhaft geschriebenen 
Wörter angewendet wird. Ein solches Wort wird gelesen, lautiert, abgeschrieben, 
wieder gelesen und lautiert und nun auswendig geschrieben. Allerdings muss 
ein solcher Fall in der Klasse individuell behandelt, die Aufmerksamkeit fixiert 
und die Niederschrift vom Lehrer unmittelbar überwacht werden. 

Kehreu wir nun zurück zu der Niederschrift des Knaben A. Seine Gedanken 
machen, infolge des erregten Wesens, nicht selten arge Bocksprünge, duch liefert 
er bier eine Erzählung in geordnetem Gedankengange. Die Geschehuisse hat er 
im wesentlichen selbst erlebt und innerlich verarbeitet, so dass er aus dem 
Eigenen schöpfen kann. Die bildliche Anschauung aber wirkt zügelnd auf die 
Phantasie, ohne sie zu binden. 

Es möge ıun nuch die, hinsichtlich der Rechtschreibung beste der gleich- 
zeitigen Niederschriften eines die Klasse im allgemeinen kaum überragenden 
Knaben K. folgen: „Der Herr Lehrer hat uns ein neues Bilderbuch gezeigt. Die 


37 

Mutter machte die Türe auf und Knecht Ruprecht kam herein. Und der Knecht 
Ruprecht sprach: Sien den hier artige Kinder. Die Mutter sprach: ja.“ Dieser 
Knabe K ist wesentlich anders angelegt, ala der vorgenannte A. Seine Sinne 
sind scharf und die Auffassung durch diese übermittel umfangreich; dies in Ver- 
bindung mit seinem verhältnismässig sehr gut entwickelten Formensinne hilft 
ihm bei der Auffassung der Schriftbilder. Er arbeitet ruhig und siebt sich das 
Geschriebene noch einmal an, wozu ihn auch seine Ehrliebe anstachelt. Er 
würde aber sicher dabei den Faden, die Geduld und schliesslich die Kraft ver- 
lieren und stecken bleiben, wenn es sich um keine innerlich verarbeiteten Vor- 
gänge handelte, die sich lebendig vor seinem geistigen Auge phantasiemässig 
wieder abspielten. lass er mit der Arbeit nicht fertig geworden, liegt nicht 
nur an seiner Bedächtigkeit und Langsamkeit, sondern hier auch an einer zufällig 
eingetretenen Störung. — 

Die Fehler langen bei allen solchen Arbeiten zu; aber das schadet nichts. 
Die Rechtschreibung kommt hierbei zunächst nicht in Betracht. — Diese an- 
geführten freien Niederschriften sind nicht die ersten der betreffenden Kinder. 
Übungen, welche ich als „kleine Mittel“ bezeichnet habe, sind schon voran ge- 
gangen, sowie auch eine Reihe ganz oder teilweise unverbessert gebliebene Ver- 
suche im freien Mitteilen. Die dabei geleistete Denkarbeit ist keine zu 
schwierige, da die Kinder den Boden des sinnlichen, kindlichen Interesses 
durchaus nicht zu verlassen brauchen. Es handelt. sich immer nur um zeitlich, 
räumlich und gemütlich, also überhaupt psychologisch nächstliegende einfache 
Geschehnisse, die in zeitlicher Folge wiedergegeben sind. Aber doch müssen 
die Kinder dabei nachdenken, denn sie haben weder ein mündlich genaues, noch 
ein schriftliches Vorbild, noch einen festgenagelten Gang bekommen. Das „Selbst- 
erlebnis“ ist das Vorhandene, zu dem der schriftsprachliche Ausdruck zu er- 
arbeiten ist. Die eigene Auffassung der sinnlichen Anschauung, die dabei in 
den Kindern entstandenen eigenen Phantasiebilder und kleinen Überlegungen 
kommen zu ihrem Rechte. Sprachbildung und Denkbildung decken sich. Der 
Selbsttätigkeit im schriftlichen Gedankenausdrucke wird hier die Bahn offen ge- 
halten und so der Boden für weitergehende Übungen bereitet. Das macht diese 
freien, schriftlichen Mitteilungen wertvoll. 

Die Aufeinanderfolge der Übungen im Auswendigschreiben wird nicht immer 
die gleiche zu sein brauchen; doch lässt sich folgender, sehr allgemein gehaltener 
Gang angeben 
Anfangsstufe: Viele Laut- und Wortdiktate. 

Etwa von der Mitte der Fibelstufe an: Fleissige Fortsetzung der Wortdiktate- 
Auswendigsohreiben einiger Wörter- und Satzgruppen bei gleichzeitiger 
Anschauung der Dinge oder deren Abbildungen. 

Gegen Ende der Fibelstufe beginnt das Auswendigschreiben gelernter wertvoller 
Verschen. — Wortdiktate, Wörter- und kleine Satzgruppen. 

Im Anschlusse an die Fibelstufe: Häufiges Auswendigschreiben von dargebotenen 
Wörter- und Satzgruppen im Anschluss an den Sachunterricht, sowie 
von gelernten Gedichtchen. 


38 





Einige Zeit nach der Fibelstufe:. Anregung der Kinder zu eigenen Versuchen, 
die geübten Stoffe frei zu erweitern oder ohne schriftliches Vorbild 
niederzuschreiben (kleine Mittel), sowie Erlebtes nach nur flüchtiger 
niündlicher Vorbereitung frei schriftlich mitzuteilen. 


Mittelstufe: Fortsetzung dieser Übungen. Der Hauptwert wird nun und auch 
auf der Oberstufe auf das freie schriftliche Mitteilen von Selbsterlebtem 
gelegt, sowie von gelegentlicher, erzäblender Niederschrift besonders 
lebhaft wirkender sinnlicher Anschauungen im Unterrichte. 


Immer kommt es darauf an, eine durch recht lebhafte, aber ungekünstelte 
Anschauung erzeugte, den Trieb zum Erzählen im Kinde wachrufende Vorstellungs- 
reihe schnell zu benutzen, die Triebkraft nicht durch Vorbereitung zu ver- 
brauchen, sondern zur Niederschrift verwenden zu lassen. Solches Vorgehen 
weist uns die Natur bei der Entwicklung der mündlichen Sprache des Kindes, 
deren einzelne Ausserungen nicht schulmässir und wohldisponiert erfolgen, 
sondern nach dem Bedürfnisse und der wachsenden Kraft, hervorgerufen durch 
die Wechselwirkung zwischen Innen- und Aussenwelt: inneren Trieb und äusseren 
Reiz, innere Befriedigung und äussere Anteilnahme. — Das Auswendigschreiben 
wird auch nicht in besonderen Stunden oder Fachklassen, sondern in verschiedenen 
Unterrichtsstunden dann geübt, wenn sich passende Gelegenheit bietet, haupt- 
sächlich im Lese- bez. Deutschunterrichte. 


Hat der Schwachsinnige im späteren Leben überhaupt Gedanken und Jas 
Bedürfnis, sie auszudrücken, zumal unter dem Drucke äusserer Umstände, so 
wird er dann auch im Rahmen einfacher, konkreter Lebensverhältnisse die 
nötigsten Mitteilungen und Wünsche auszudrücken vermögen, vorausgesetzt, dass 
die Schreibgelegenheiten bei ihm nicht zu selten werden und sich keine psychische 
Rückbildung einstellt. Günstigere Erfolge im schriftlichen Ausdrucke, wie sie 
der Aufsatz fordert, sind zwar auch in der Schule Schwachsinniger wünschens- 
wert, dürfen aber nicht durch einseitige, geistige Schulung ohne gleichzeitige 
Entwicklung praktischer Handarbeits-, überhaupt Lebenstüchtigkeit erstrebt 
werden. Dann wird sich die Behandlungsweise deın des sogenannten Aufsatzes 
in der einfachen Volksschule nähern, wenn auch nicht gleich sein. Damit hat 
es diese Arbeit nicht mehr zu tun. Horrix hat uns hierüber Seite 80 des Jabr- 
gangs 1896 dieser Zeitschrift das Nötigste gesagt. Hier soll nur gezeigt werden, 
wie unsere Schwachsinnigen Schüler im Auswendigschreiben von mündlich, 
schriftlich, in Bildform oder Handlung dargebotenen einfachen, sinnlichen Ge- 
danken geübt werden, Jie zeitlich, räumlich und gemütlich ganz nahe liegen. 


So sehr in dieser Arbeit, selbst mit Hilfe von Kleinmalerei, das Auswendig- 
schreiben als Mittel der prachbildung Schwachsinniger empfohlen wird, soll 
deshalb doch die Sprache, als das Gewand, nicht über den Inhalt, den Gedanken 
gestellt werden. Diese Übungen im Auswendigschreiben sollen, wie die der 
Sprache überhaupt, nach Möglichkeit mit zur Herausbildung einer denkenden, 
im beschränkten Erfahrungskreise einigermassen urteilsfähigen, sittlichen Per- 
sönlichkeit helfen. 


39 
| Übersicht. 
I. Das Auswendigschreiben 

1. von vorgesprochenen Lauten, Wörtern und Sätzen, 

2. im Anschluss an vor Augen gestellten Siunendingen (Wörter- und 
Satzgruppen), 

3. von wörtlich auswendig gelernten Sprachstoffen (Wort- und Satz- 

reiben, Gedichte), 

4. nicht wörtlich auswendig gelernter Sprachstoffe. (Gelegentliche An- 
regungen dazu. Fıeie Mitteilungen von Erlebtem und besonders leb- 
haft wirkender unterrichtlicher Anschauung.) 

5. Die Verbesserung. 


1I. 1. Materieller Wert des Auswendigschreibens für Schönschreiben, Aus- 
sprache, Rechtschreibung, Wort- und Satzlesen, Sachunterricht. 
2. Formaler Wert für Schrift- und Laut-Auffassung uud Gedächtnis, 
Gemütsbildung, Selbsttätigkeit. 


Die methodische Folge der Übungen. 
Grosshennersdorf i. Sa. R. G. Wehle, Lehrer. 


— 


Aus der Unterrichtspraxis. 
Erklärung eines Spruches auf der Mittelstufe einer Anstalteschule. 

Einleitung: Wir haben in der letzten Stuude einen Spruch geiernt, der 
uns sagte, wie der liebe Gott ist. Welchen Spruch meine ich? „Barınherzig 
und gnädig ist der Herr, geduldig und von grosser Güte.“ — Wie ist also der 
liebe Gott? Gott ist gnädig. Was tut er nicht gern? Er strait nicht 
gern. Was tut Gott lieber? Er verzeiht, vergiebt lieber. Was 
müssen die Menschen aber tun, wenn Gott ihnen verzeihen soll? Sie müssen 
ihn darum bitten. 

Heute wollen wir einen Spruch lernen, der uns zeigt, wie wir den lieben 
Gott um Verzeibuug bitten sollen. Vortrag des Spruches: „Schaffe in 
"mir, Gott, ein reines Herz und gieb mir einen neuen, gewissen Geist. Ver- 
wirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht 
von mir.“ -Nachdem der Spruch vorgesprochen worden ist, wird er von den 
Schülern einigemal satzweise nachgesagt, wobei namentlich auf eine deutliche 
Aussprache der einzelnen Wörter zu achten ist. Der Lehrer soll sich dabei 
überzeugen, ob der Spruch von den Schülern dem Wortlaute nach richtig auf- 
gefasst wurde. 


Besprechung: L. 
Zu wem sagen wir diesen Spruch? Zu Gott. Wie sprechen wir zu Gott? 


Schaffe in mir ein reines Herz. Wie könnten wir auch sagen statt „schaffe 
in mir ein reines Herz“? Gib mir ein reines Herz! Was ist das, wean wir 


40 
sagen: „Gib mir!“ Eine Bitte. Was tun wir also in dem Spruch? Wir 
bitten. Wie nennt man das, wenn man Gott um etwas bittet? Beten. Was 
ist also dieser Spruch? Dieser Spruch ist ein Gebet. 

Saget mir andere Gebete, die ihr schon gelernt habt? Welches Gebet 
beten wir am meisten? Vaterunser. Mit welchen Worten beginnt das Vater- 
unser? Wie haben wir dieso Worte genannt? Anrede. Wen reden wir damit 
an? Den Vater im Himmel. Wo steht hier die Anrede? Am Anfang. Wie 
heisst die Anrede in unserem Spruch? Wo steht hier die Anrede? Ia der 
Mitte. Setzet die Anrede an den Anfang! Gott, schaffe in mir u. s. w. Wir 
sprachen vorhin vom Vaterunser. Wer hat das Vaterunser zum erstenmal 
gebetet? Wer hat unsern Spruch zuerst gebetet. Das will ich euch jetzt 
erzāhlen. 

U. 

Ich habe euch früher von verschiedenen Königen im alten Testament er- 
zählt. Wie heissen diese? Welches war der frömmste von ihnen? David. 

Einmal tat David eine schwere Sünde. Da sandte Gott einen Propheten zu 
David und liess ihm sagen: Ich will dich strafen. Da wurde David traurig 
und betrübt. Seine Sünde tat ihm sehr leid. David wünschte, er hätte die 
Sünde nicht getan. David bereute seine Sünde, er tat Busse und betete 
ernstlich zu Gott: Herr, vergib mir meine Sünde. Strafe mich nicht und 
sei mir gnädig. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und 
nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Schaffe in mir, 
Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist. 


IHI. 


Wer hat also diesen Spruch gebetet? Was hatte David getan? Eine 
Sünde. Wer hat auch Sünde getan? Beispiele aus der bibl.: Geschichte. 
Adam und Eva waren gegen Gott ungehorsam. Was bekamen sie dafür? Strafe. 
Was hatte David also auch verdient? Was liess Gott dem König David darum 
auch sagen? Ich will dich strafen. Wie wurde David darüber? Betrūbt und 
traurig. Was wünschte David? O, dass ich die Sünde nicht getan hätte! 
Wie war ihm demnach seine Sünde? Seine Sünde war ihm leid. Was empfand 
David über seine Sünde? David bereuteseineSünde. David tatBusse. 


IV. 


Wie war das Herz des Königs David durch seine Sünde geworden? Un- 
rein. Was für ein Herz möchte er aber wieder haben? Ein reines Herz. Wer 
kann ihm sein Herz rein machen? Gott. Zu wem geht David also? Zu 
Gott. Um was bittet er den leben Gott? Um ein reines Herz. Wie spricht 
David? Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz. 


V. 


David bittet aber nicht nur um ein reines Herz. Um was bittet David 
auch noch? Um einen neuen, gewissen Geist. David bittet um einen neuen 
Geist. Mit welchem Geist ist David also nicht mehr zufrieden? Warum ist 


41 


er mit seinem alten Geiste nicht mehr zufrieden? (Antwort nicht unbedingt 
nötig. Diese Frage soll die folgende vorbereiten). Wie ist der alte Geist in 
David durch die Sünde auch geworden? Unrein. Wozu verfübrt ihn der alte, 
unreine Geist immer wieder? Zur Sünde. Was für einen Geist möchte also 
David? Einen neuen Geist. David möchte einen Geist, der sich wozu nicht 
mehr verführen lässt? Wie ist ein Geist, der sich nicht mehr verführen lässt? 
Zwischenfrage: Wie geht ein Kind, das nicht ınehr fällt? Sicher. Wie ist 
also ein Geist, der nicht mehr von den Wegen Gottes abweicht? Ein sicherer 
Geist. Um was für einen Geist bittet also David? Um einen sicheren Geist. 
Oder — wie heisst es im Spruch? Wie bittet also David? Gib mir einen 
neuen, gewissen Geist. 
VI. 

Wir haben gesehen, dass David traurig war über sein unreines Herz. Aber 
er war auch noch über etwas anderes traurig. Was war David, ehe er König 
wurde? Hirte. Wer hat ihn zum Könige gemacht? Gott. Wie meinte es Gott 
mit dem David? Gut. Oder — wie war Gott gegen den David? Freundlich. 

Gott war Davids Freund. 

Wie verhielt sich aber David gegen Gott? David tat Sünde. Was konnte 
Gott jetzt dem David nicht mehr sein? Gott konnte nicht mehr Davids Freund 
sein. Gott könnte sagen: Du warst ungehorsam gegen mich, nun will ich auch 
nichts mehr von dir wissen Ich will dich nicht mehr sehen; du darfst nicht 
mehr vor mein Angesicht kommen. 

Welchem Könige gegenüber machte Gott es so? Gegen Saul. Wie sagten 
wir damals? Gott verwarf den Saul. Was könnte Gott mit David auch tun? 
Jhn verwerfen. Wie wäre das dem David? Sehr leid. David wäre darüber 
sehr unglücklich. Wie bittet darum David den lieben Gott? 

Verwirf mich nicht von deinem Angesicht. 


VII. 


Wie beten wir manchmal zum Schulanfang? Steh’ uns, Herr unser Gott, 
mit deinem Geiste bei u.s.w. Womit möge Gott uns beistehen? Mit seinem 
Geiste. Wenn Gott uns mit seinem Geiste beisteht, was gelingt uns dann? 
Unsere Arbeit. Ich erinnere euch an Joseph. Als was kam Joseph nach 
Ägypten? Als Sklave. Wer war aber bei ihm? Der Geist Gottes. Wie ging 
es «a dem Joseph? Was wurde aus dem Sklaven? Ein Herr über Ägypten. 
Was war David früher gewesen? Und was ist aus David geworden? Wer war 
auch mit David? 

Mit David war der Geist Gottes. 

Nun tat David aber Sünde. Wen hat David damit betrübt? Was kann 
Gott dem David nicht mehr lassen? Seinen Geist. Oder — was könnte Gott 
mit seinem Geiste tun? Ihn von David nehmen. Wie wäre David darüber? 
Wie ginge es ihm? Ohne was will David nicht mehr sein? Ohne Gottes Geist. 
Wie betet David darum? 

Nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. 


42 


VIII. 

So betete David, als er über seine Sünde Busse tat. Was für ein Gebet 
ist das also? Ein Bussgebet. Was möge Gott dem David schenken? 
Erstens: Ein reines Herz. Zweitens: Einen neuen, gewissen Geist. Was möge 
Gott nicht tun? Erstens: Den David nicht von seinem Angesicht verwerfen. 
Zweitens: Seinen Geist nicht von David nehmen. 


IX. 

Wird Gott Davids Bitte erhört haben? Warum wird er sie erhört haben? 
Weil Gott barmherzig und gnädig ist. Gott verwarf den David nicht. David 
durfte noch lange König bleiben. Es ging ihm gut. Gott verzieh dem 
David, weil David Busse getan hatte und weil er Gott so ernstlich um Ver- 
gebung seiner Sünde bat. Ein anderes Mal versprach Gott den bussfertigen 
Menschen: „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch 
geben!“ 

Die Kinder beten um ein reines Herz. Wer kennt das Gebetchen? Ich 
bin klein, mein Herz sei rein u.s.w. — 

Anwendung: 

Was tun wir Menschen jeden Tag? Um was müssen wir Gott darum auch 
jeden Tag bitten? Welches Gebet können wir darum jeden Abend beten? 
Schaffe in mir, Gott, u. s. w. 
= Einprägen: | 

Geschieht in der Schule. Kann der grössere Teil der Schüler den Spruch 
einigermassen fliessend aufsagen, wird er an die Wandtafel geschrieben, wobei 
die nötigen orthographischen Bemerkungen zu geben sind. Die Schüler schreiben 
den_Spruch solange ab, bis sie ihn auswendig und ohne Fehler niederschreiben 
können. Z. 


Ein verkanntes Kind. 
Von Gg. Büttner, Worms. 

Nichts ist schneller gesagt als: Das Kind ist geistig zurück, es bleibt sitzen 
oder es kommt in die Hilfsklasse. Ob es aber mit dieser oberflächlichen Behauptung 
auch seine Richtigkeit hat, das ist doch eine andere Frage. Wie leicht kann in 
dieser Hinsicht ein Kind degradiert und zu etwas gestempelt werden, was es absolut 
nicht ist. Der menschliche Geist ist ein Buch mit sieben Siegeln; da heisst es, 
genau beobachten, genau nachforschen und nicht bloss kurz und im Vorübergehen 
urteilen. Nur nach längerer Beobachtung und eingehender Erforschung eines Kindes 
ist es möglich, ein einigermassen richtiges Urteil abzugeben, während im entgegen- 
gesetzten Falle die wunderlichsten Dinge zum Vorschein kommen können. Die 
Richtigkeit dieser meiner Behauptung sei durch folgenden interessanten Fall erwiesen. 
Die Schülerin A. K. ist das Kind einer ehr- und achtbaren Beamtenfamilie und 
gegenwärtig 8 Jahre alt. Sie hat noch drei Geschwister, von denen zwei taubstumm, 
sonst aber vollständig normal veranlagt sind. Das Mädchen ist körperlich gut ent. 
wickelt; es ist etwas nervös und schielt auffallend stark, was sein Ausschen beein- 


43 


trächtigt und blöde erscheinen lässt. Die Koordination der Bewegungen fehlt ihm 
noch teilweise. Eine zu gutmütige Erziehung seiten der Mutter hat das Kind 
zimperlich gemacht. Als eine weitere unangenehme Folge der fehlerhaften Erziehung 
ist, dass das Kind nur bei der Mutter, nicht aber vor fremden Leuten spricht. Grade 
dadurch aber wurde es oft verkannt und als geistig minderwertig eingeschätzt. 

Als das Kind 6 Jahre alt und damit schulpflichtig geworden war, wurde es 
wegen seines eigenartigen Aussehens und seiner scheinbaren Stummheit und unter 
Rücksicht darauf, dass es taubstumme Brüder hatte, für geistig zurückgeblieben 
gehalten und auf ein Jahr zurückgestellt. Ebenso ging’s auch im zweiten Jahr; es 
wurde angemeldet, aber wieder zurückgeschickt. Nicht so leicht ging’s bei der darauf- 
folgenden Anmeldung. Doch schnell fertig ist der Lehrer mit seinem Urteil. Es 
sieht so sonderbar aus, es gibt auf gesie!lte Fragen keine Antwort, nun ja — das 
Kind ist schwachsinnig. Nach kaum halbjährigem Besuch der Normalklasse soll es 
der Hilfsklasse überwiesen werden. Jetzt zeigt sich das Kind im wahren Lichte. Es 
hat einen Vorstellungskreis, ein Denkvermögen, Urteils- und Schlussbildung, wie es 
ein gut veranlagtes normales Kind nicht besser haben kann. Sein Gedächtnis ist 
sehr gut entwickelt, denn es weiss alle biblischen Geschichten und Erzählungen, die 
in der Normalklasse vorgekommen sind. inhaltlich getreu mit guter Konstruktion zu 
erzälllen.. Obgleich man in der ersten Klasse sich nicht weiter mit ihm beschäftigte, 
beberrscht es auch den Zahlenrrum bis 6 und führt darin die entsprechenden 
Operationen aus Und ein solches Kind soll schwachsinnig sein! Es ist in kurzer 
Zeit dahin "gebracht worden, wie jedes andere Kind auf gestellte Fragen zu ant- 
worten. Kurzum, es ist absolut nichts zu entdecken, was auf irgend einen geistigen 
Defekt hätte schliessen lassen können. Im Gegenteil Das Kind ist und bleibt 
normal veranlagt, wenn auch sein Aussehen etwas anderes hätte annehmen lassen 
können. Seine Schächternheit und seine scheinbare Stummheit sind nur auf Kosten 
der fehlerhaften mütterlichen Erziehung zu setzen. 

Selbstverständlich wird das Kind wieder in die Normalklasse zurückkommen. 
Man sieht aber, wie vorsichtig man sein soll bei Abgabe seines Urteils, und wie 
leicht man ein Kind falsch «inschätzen und behandeln kann. 


Mitteilungen. 


Leschnitz. (Personalien.) Der Leiter der hiesigen Erziehungsanstalt für 
Geistesschwache, Herr Kreisschulinspektor Weichert, ist durch Verleihung des Titels 
Schulrat ausgezeichnet worden. 

Sachsen. (Landesanstalt für Epileptische) Die Leitung der Königlich 
Sächsischen Landes-Heil- und Pfleganstalt für Epileptische zu Hochweitzschen ist 
am 1. Oktober v. J. in ärztliche Hände übergegangen. Der zum Direktor ernannte 
Medizinalrat Dr. Böhme, der schon früher an dieser Anstalt tätig war, hat an dem 
genannten Tage seine neue Stellung angetreten. Ausser ihm sind noch 5 Ärzte an- 
gestellt. Der Normalbestand der Kranken ist auf 660 festgesetzt; augenblicklich 
beherbergt Hochweitzschen 675 Epileptiker (Männer, Frauen, Knaben, Mädcben), es 


44 


herrscht somit zur Zeit noch Überfüllung. Seit 1. April 1902 ist zufolge Verordnung 
vom 1. März 1902 — Ges. u. V.-Blatt S. 37 figd. — für die Unterbringung in die 
Landes-Heil- und Pfleganstalt für Epileptische zu Hochweitzschen ein neues Regulativ 
giltig. — 

Borna. (Sprache und Schreck.) Ein ganz eigenartiger Fall von Sprachheilung 
trug sich Anfang Dezember v. J. in der hiesigen Hilfsschule zu. Ein 1Ojähriger 
Knabe hatte seit früber Kindheit in hohem Grade unter dem Stottern zu leiden und 
zwar war er durch Schreck um den normalen Gebrauch der Sprache gekommen. 
Während seine Mutter nämlich im Waschhause beschäftigt war und er im Hofe sass 
und spielte, fuhren unvermutet zwei junge Hunde auf ihn zu. — Jetzt nach ca. 
7 Jahren wurde das Stotterübel ganz plötzlich von selbst gehoben und wieder 
war Schreck die Ursache. Der Knabe hatte sich am Rande eines zugefrorenen 
Teiches zu schaffen gemacht, war ausgeglitten und mit einem Beine eingebrochen. 
Machte auch die Sprache anfänglich einen recht unsichern Eindruck und trat dann 
und wann beim Lesen von Wörtern, die mit „d“ und „t‘“ anlaateten, noch das 
Stottern auf, so ist doch gegenwärtig der Zustand ein recht befriedigender. 

Grossherzogtum Hessen. (Hilfsschulwesen. — Neue Hilfsschule in 
Offenbach a. Main) Wenn man wünschen muss, dass wenigstens alle Städte mit 
einer Einwohnerzahl von 20000 und darüber Hilfsschuleinrichtungen schaffen möchten, 
so ist man bei uns in Hessen daran, dieser Forderung gerecht zu werden. Es kommen 
allerdings darnach für unser Grossherzogtum nur fünf Städte in Betracht, nämlich 
Mainz, Darmstadt, Offenbach, Worms und Giessen. Bis jetzt begründeten 
schon Hilfsschulen Mainz seit 1892 mit 4 Klassen und Worms seit 1899 mit 
2 Klassen. Giessen hat schon längere Zeit eine sogenannte „Nachhilfeklasse“, 
welche aber wahrscheinlich in Bälde in eine Hilfsschule umgewandelt werden dürfte. 
Offenbach war bis heute die einzige in Frage kommende Stadt ohne Hilfsschule, 
erfrenlicherweise aber beabsichtigt man daselbst Ostern dieses Jahres eine Hilfsschule 
einzurichten. Es sollen 2 Klassen gebildet werden, von denen jede nach den ge- 
machten Aufstellungen etwa 20 Schüler erhalten wird. Jede Klasse erhält einen 
Lehrer mit 26 Stunden wöchentlich. Um einen Austausch der Kinder in den einzelnen 
Fächern zu ermöglichen, werden die Stunden in den Klassen konform gelegt. Die 
ueue Hilfsschule wird nicht, wie mancherorts noch üblich, einem andern Schulbezirk 
angegliedert werden, sondern für sich bestehen und in einem besonderen Hause ein- 
gerichtet werden. Zum Leiter derselben ist der Lehrer Morbach bestimmt wordem 
während die 2. Stelle dem Lehrer Büttner übertragen ist. B. 

Grünberg (Schl.). Hier besteht seit dem 1. Oktober v. J. eine Hilfsschule für 
schwachsinnige Kinder. Es werden 25 schwachsinnige Kinder in einer Klasse von 
einem besonders vorgebildeten Lehrer unterrichtet. Die Unterrichtsfächer sind die der 
Volksschule mit gesondertem Anschauungsunterrichte. S. 

Hirschberg, Schl. (Neue Hilfsschule.) Seit Anfang des laufenden Schul- 
jahres besitzt auch Hirschberg eine Hilfsschule. Die Eröffnung derselben erfolgte 
Ostern 1902 mit 21 Kindern, denen später sich noch 2 anschlossen, so dass die 
Schule gegenwärtig 23 Kinder (17 evang., 5 katb. und 1 jüd.) zählt. Nach dem 
Geschlecht sind es 13 Kunben und 10 Mädchen. Die Eltern der Hilfsschulkinder 


45 


äusserten sich erfreut über die neue Einrichtung. Ostern 1904 dürfte voraussichtlich 
eine zweite Klasse angeschlossen werden. — 

Langenhagen. (Mortalität) In dem letzten Berichtsjahr (1901/1902) betrug 
die Mortalität 4,8 °/ der Verpflegten. Von den 37 Gestorbenen waren 26 Pfleg- 
linge (16 m. u. 10 w.) und 11 Zöglinge (3 m. u. 8 w.), bei 18 Gestorbenen 
war Tuberkulose die Todesursache, bei 4 anderen wurde sie als Nebenbefund er- 
hoben. — Von besonderem Interesse ist ein Unglücksfall.e Ein erwachsener 
epilep:ischer Zögling will zum Zeugausklopfen eine Rute von einer Weide abbrechen 
und fällt dabei in den Graben, der Schmutzwasser ableitet und mit stagnierendem, 
breiig flüssigem, zersetztem Inhalt angefüllt war. Er kriecht selbst wieder aus dem 
Graben heraus und ein Wärter, der durch lautes Stöhnen, ähnlich einem heftigen 
Brechakte, aufmerksam wurde, findet ihn am Rande liegend. Der Kranke erzählte 
den Horgang, geht nach oberflächlicher Reinigung selbst ins Haus und zu Bett. Die 
Brechneigung hielt an; sehr bald traten aber stürmische Erscheinungen wie bei einer 
akuten Vergiftung auf, Bewusstlosigkeit, Somnolenz, livide Färbung der Haut. Trotz 
reichlicher Magenausspülung trat schon wenige Stunden nach dem Unfall der Tod ein. 
ei der Sektion fand sich im Magen noch eine ganze Menge schwarzer, stinkender 
Jauche. in der Blattreste und dergl. schwammen, auch in das Darmrohr war diese 
Flüssigkeit schon ziemlich weit vorgedrungen. Die Lungen waren ganz frei. Der 
Kranke ist also nicht in der Flüssigkeit ertrunken, sondern hat sich durch Schlucken 
derselben vergiftet. — Bei einem kleinen Pflegling, der an allgemeiner Atrophie und 
profusen Durchfällen zu Grunde ging, fand eich als Veranlassung ım entzündlich 
hochgradig veränderten Coecum eine Sammlung von Fremdkörpern, enthaltend 19 Kirsch-, 
42 Zwetschenkerne, 1 Glasperle (Knopf einer Hutnadel) und 1 Gummiring vom 
Flaschenverschluss und anderes. Derartige Vorkommnisse sind in den Anstalten 
bekannt und ebenswenig zu verhindern, wie im folgenden Falle — Ein erwachsener, 
epileptischer Zögling, der die Gewohnheit hatte, Brot stundenlang im Munde zu halten, 
stürzte auf dem BRückwege vom Frühstück in sein Haus plötzlich unter Krämpfen 
tot zusammen. Die Sektion ergab in der Trachea über der Bifurkation einen dicken 
Brodpfropf. 

Worms. (Weihnachtsbescherung in der Hilfsschule). Dass die ab 
und zu aufgetretenen Vorurteile gegen unsere Hilfsschule nach und nach geschwunden 
sind, und dass unsere Bestrebungen allgemein die rechte Würdigung gefundeu hat, 
dafür dürfte uns die diesjährige Weilinachtsbescherung den besten Beweis liefern. 
Klein und unbedeutend, da es am „nötigen Entgegenkommen‘“ fehlte, waren die ersten 
diesbezüglichen Veranstaltungen, aber von Jahr zu Jahr wurde es besser, und mit 
der letzten Bescherung können wir schon recht zufrieden sein. Eiu erkleckliches 
Sümmchen hatten unsere Kinder selbst und zwar aus dem Verkauf der von ihnen ge- 
sammelten Abfälle (Stanniol, Zigarrenspitzen, Korkstopfe etc.) zusammengebracht, 
reichlich aber flossen auch Gaben, nachdem wir bei verschiedenen Wohltätern vor- 
gesprochen und durch die Tageszeitungen auf die Bescherung in der Hilfsschule anf- 
merksam gemacht hatten. DBeschert wurden den Kindern Bekleidungsgegenstände, 
Schulutensilien, Spiele und Spielsachen mit den üblichen Beigaben von Äpfeln, Nüssen 
Konfekt etc. Die Feier selbst bestand in Gebet, Liedervorträgen, Deklamationen und 


46 

der Ansprache eines Lehrers. Es war eine Wonne, die lachenden Gesichter in 
heiliger Freude um den hell erstrahlenden Weihnachtsbaum zu sehen. Ganz besondern 
erfreulich war es, dass auf die ergangenen Einladungen hin sich zahlreiche Gäste 
einfanden, welche sichtliches Interesse für unsere Bestrebungen zeigten, und zwar 
sahen wir Vertreter der Behörde, Kollegen, Eltern der Kinder und zahlreiche Bürgers- 
leute. Sicherlich haben wir durch diese Veranstaltung wieder viel für unsere Sache 
gewonnen und Samen gestreut, der, so Gott will, reiche Früchte trägt zum Nutzen 
und Frommen unserer armen Schwachsinnigen. Überhaupt hoffen wir, durch Ein- 
führung von Elternabenden, durch Schaffung verschiedener Wohlfahrtseinrichtungen 
und durch das stets gütige Entgegenkommen der massgebenden Körperschaften dahin 
zu kommen, dass mit der Zeit unsere Bestrebungen allgemein diejenige Beachtung 
und Würdigung erfahren, die ihnen von Rechtswegen zukommt. Das Gute bricht 
sich immer Bahn, — zeigt’'s auch nach Jahr und Tag sich an. — Beharrlichkeit 
führt endlich doch zum Ziel. B. 


Literatur. 


Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. Methoden 
und Verfahren von J. M. Baldwin. Unter Mitwirkung des Autors nach der 
3. englischen Auflage ins Deutsche übersetzt von Dr. Ortmann. Nebst einem 
Vorwort von. Th. Ziehen. Mit 17 Figuren und 10 Tabellen. Berlin 1898 
Verlag von Reuther & Reichard. 470 Seiten. Preis Mk. 8.—. 

Das Interesse für die Psychologie des Kindes ist zur Zeit in stetem Zunehmen 
begriffen, wovou eine reichhaltige und zum Teil recht umfangreiche Litteratur Zeugnis 
giebt. Die Pädagogik gründete früher ihre Lehren auf eine von spekulativen Theorien 
mehr oder weniger durchsetzte allgemeine Psychologie des Erwachsenen und auf die 
gelegentlichen halbinstinktiven, unsystematischen und daher unwissenschaftlichen Be- 
obachtungen des Einzelnen. Die Psychrlogie des Kindes blieb dabei achtlos zur Seite 
stehen. Erst Preyor betrat neue Bahnen und führte in die kindliche Psychologie 
die fruchtbaren nenen Methoden ein. An die Stelle der Spekulation und der Gelegen- 
'heitsbeobachtung trat wissenschaftliche systematische Beobachtung. Allein seine Be- 
obachtungen beziehen sich im wesentlichen nur auf ein Kind; er schildert nur die 
Seelenentwicklung eines Kindes, nicht die Psychologie des Kindes. Baldwin hat 
sich in dem vorliegenden Werke die Aufgabe gestellt, eine allgemeine Psychologie 
des Kindes zu schreiben, und dieser Versuch ist ihm im allgemeinen sehr gut ge- 
lungen, wenn er auch vielfach auf fremde Beobachtungen und fremde Wahrnehmungen 
zurückgreift und dieselben für seine Zwecke verwertet. Um möglichst genaue Ergeb- 
nisse bei dieser jungen Wissenschaft zu erzielen, ist es erwünscht, dass sich Ärzte, 
Väter, Mütter, Erzieher, Lehrer zu gemeinsamer Arbeit vereinigen. Ein Wegweiser 
dazu ist unerlässlich; daher hat Baldwin sein Werk auch treffend als „Methoden und 
Verfahren‘ bezeichnet. Im allgemeinen beziehen sich die Erörterungen Baldwins auf 
folgende Punkte: Nach den einleitenden Kapiteln (1, 2), die das genetische Problem 
und seine Untersuchungsmethode auseinandersetzen, werden im I. Teil (Kap. 8—6) 
betitelt . „Experimentelle IBegründung“, . eine Reihe von Tatsachen aus dem Kindes- 


47 


—- — ee a 


leben berichtet, und die Gesetze, nach denen sich diese richten — die Prinzipien: der 
Suggestion, Dynamogonesis etc. — abgeleitet. Kapitel 5 giebt eine detaillierte Analyse 
einer willkürlichen Funktion, der Handschrift. Dann folgt im II. Teil (über biologische 
Entwicklung) die Theorie der Anpassung und Vererbung, und zwar wird diese im 
7. Kapitel allgemein vorgetragen, ihre Anwendung auf den „Ausdruck dıs Affekts“ 
im 8. Kapitel auseinandergesetzt, und im 9. Kapitel werden die Beweise dafür aus 
der Biologie angeführt. Im III. Teil (psychologische Entwicklung) folgt (Kap. 10—15) 
eine genetischo Ansicht über den Fortschritt der Geistesentwicklung in ihren Haupt- 
stadien, Gedächtnis, Association, Aufmerksamkeit, Denken, Selbatbewusstsein, Wollen. 
Der IV. Teil (Kap. 16) enthält schliesslich eine allyemeine Synthese nebst einigen 
Bedenken über sozialen Fortschritt, die sich aus dem Vorangehenden ergeben. — Die 
Darstellungsweise des Ganzen ist dermassen gehalten, dass die Theorie sich durch 
Induktion auf Thatsachen, die vorweg genommen werden, gründet und dann durch 
von den Thatsachen abgeleitete Deduktionen, die darauf folgen, bestätigt wird. — 
Wir verlangen einen Abriss des normalen kindlichen Seelenzustandes, um die Ab- 
weichungen des geistesschwachen feststellen und verstehen zu können. Das vorliegende 
Werk bietet uns die weitzehendsten Aufschlüsse über das Seelenleben des Kindes in 
wissenschaftlicher, erschliessender Darstellung und wird uns bei unserem Studium des 
Kindes gute Dienste zu leisten vermögen; wir wünschen daher dem Buche weite Ver- 
breitung auch in unsern Kreisen. 

Die Heilerziehungs- und Pflegeanstalten für sch wachbefähigta 
Kinder, Idioten und Epileptiker in Deutschlaud und den übrigen euro- 
päischen Staaten. Eine statistische Zusammenstellung unter Mitwirkung vou 
Oberlehrer J. P. Gerhardt nach authentischen Mitteilungen herausgegeben und 
der Konferenz zu Elberfelde gewidmet von P. Stritter, Dir. d. Alsterdorfer 
Anstalten. Mit einem Porträt von Pastor DDr. Sengelmann und einer Über- 
sichtskarte. Hamburg 1902. Agentur des Rauhen Hauses. Preis Mk. 2.50. — 

Das 140 Seiten umfassende Buch bildet die Fortsetzung der 1874 von Dr. Laehr 
herausgegebenen Statistik der „Idioten-Anstalten Deutschlands und der benachbarten 
deutschen Länder“, welche‘ später (1889) von DDr. Sengelmann fortgeführt und 
der „Konferenz für das Idiotenwesen* gewidmet wurde. Der Nachfolger Sengelmanns, 
P. Stritter, hat nun im Verein mit dem Oberlehrer an den Alsterdorfer Anstalten 
J. P. Gerhardt diese Statistik fortgesetzt, und die Agentur des Rauhen Hauses 
bietet jetzt dieselbe, welche bisher nur für den Fachgenossen der Herausgeber be- 
stimmt erschien, einem grossen Publikum dar. — Für den Fachmann ist die vor- 
liegende Schrift ein unentbehrliches Handbuch zur Orientierung über die bestehenden 
Heilerziehungs- und Pflegeanstalten Schwachsinniger und Epileptischer im deutschen 
Vuterlande. Gewährt es doch in kurzer Form einen gründlichen Einblick in die Ein- 
richtung, den Charakter und den jeweiligen Bestand einer Anstalt; zugleich berück- 
sichtigt es die Geschichte desselben und erleichtert durch Angabe der Post- und Bahn- 
station eins schnelle Auffindung. Die Aufnahme vun über 100 ausserdeutschen An- 
stalten in allerdings wesentlich kürzerer Ausführung gestattet einen Blick in die 
Idiotenfürsorge anderer Kulturländer. — Durch die Beigabe einer Übersichtkarte der 
deutschen. Anstalten und des Bildnisses Sengelmanns, sowie durch die ganze übrige 


48 


geschmackvolle Ausstattung und den billigen Preis hat sich die Verlagsbuchhandlung 
bemüht, dem Büchlein den Weg in die Welt möglichst zu ebnen. — Ausser den 
Fachleuten sei dieses Werkchen allen Behörden, Juristen, Ärzten, Geistlichen und 
Lehrern, welche ein Interesse an socialpolitischen Bestrebunehmegen nn, empfohlen. 
Vielen Eltern dürfte es ebenfalls ein geschätzter Ratgeber sein. 





Bekanntmachung. 


Offene katholische Lehrerinnenstelle. 

An der paritätischen städtischen Hilfsschule für schwachbegabte Schüler ist 
eine katholische Lehrerinnenstelle baldigst zu besetzen. Erwünscht ist, dass die 
Lehrerin mit der Behandlung der Kinder mit Sprachgebrechen vertraut ist. 

Grundgehalt 1300 Mk., Mietsentschädigung 300 Mk., Alterszulagen 100 Mk. 
Bei einstweiliger Anstellung 1040 Mk. Jahresgehalt und Mietsentschädigung. 

Umzugskosten werden nicht erstattet. 

Meldungen mit Lebenslauf und beglaubigten Zeugnis-Abschriften sind 
binnen 2 Wochen unter der Adresse: „An die Königliche Kreis- und Stadtschul- 
inspektion Barmen, Wegnerstrasse 3,“ einzusenden. 


Barmen, den 16. Februar 1903, 
Die städtische Sehuldeputation. 


Briefkasten. 


R. MN. i K. und Dr. med. K. i. St. Einzelne Nummern aus früheren Jahrgängen, wie 
auch diese selbst, können Sie auch direkt bei der Schriftleitung bestellen. Von dem 
Jahre 1886 an sind noch vollständige Jahrgänge vorrätig, aus den vorhergehenden Jahren 
besitzen wir nur noch einzelne Nummern. — Dir, R. i. k. Sie schreiben an die Schrift- 
leitung immer noch unter der früheren Adresse, obgleich dieselbe schon vor beinahe 
drei Jahren eine andere geworden und auf jeder Nummer der Zeitschrift angegeben ist. 
Wenn Sie fortfahren, Ihre Sendungen nach Dr.-Neustadt, Oppellstrasse 44b anstatt nach 
Dr.- Altstadt oder Dr.-Strehlen, Residenzstrasse 27 zu richten, müssen Sie auch 
immer mit einer verspäteten Bestellung rechnen. — &.L. I.W Nach Mainz werden wir 
wohl schwerlich kommen, aber trotzdem wird unser Blatt ausführlich über den Verbands 
berichten. Vielleicht findet eine der nächsten Tagungen in unserer Nähe statt. — A. S 
i. & Ihre Barsendung ist im Dezember hier eingegangen und darauf hin erhielten Sie 
No. 1 zugeschickt. Eine besondere Empfangsbestätigung in jedem Falle beizulegen, war 
bisher nicht üblich, es wurde eine solche auch nur dann verlangt, wenn dieselbe als 
Beleg bei einer Rechnungslegung von nöten war. — W. i. G., P. I. Ẹ F. i. St., H. M. i. G., 
E. W.i. |., Dir. G. i. L, P. i. L., H. i. B. Erhalten. — Dr. K. R. i. L. Sehr dankbar würden 
wir Ihnen sein, wenn Sie uns die Berichte über die dortige Hilfsschule regelmässig zu- 
gehen lassen wollten. Die meisten Anstalten tun dies seit Jahren schon, von den Hilfs- 
schulen erfahren wir verbältnismässig wenig. — A. H. i. B. Der von Ihnen geschilderte 
Fall ist so interessant, dass wir uns veranlasst fühlten, ihn in dieser Nummer schon be- 
kannt zu geben. Vor ungefähr 25 Jahren passierte uns etwas Ähnliches, indem ein 
für kewöhnlich sprachloser Knabe zu sprechen anfing, wenn er in Aufregung kam. Ihren 
Wunsch nach weiterer Mitteilung solcher Fälle teilen wir, und sehr gern stellen wir 
hierzu auch unsere Zeitschrift zur Verfügung. — F. F. i. St. Unser „Idiotophilus“ ist 
uns infolge Ausleihens abhanden gekommen, und darum sind wir auch in diesem Augen- 
P z der Lage, Ihre Frage zu beantworten. Nächstens aber erhalten Sie brief- 
iche Auskunft. 


Inhnit. Das Auswendigschreiben als Mittel der Sprachbildung Schwachsinniger. 
(Wehle). — Aus der Unterrichtspraxis. (Z.) — Ein verkanntes Kind. (G. Büttner). — 
Mitteilungen: Leschnitz, Sachsen, Borna, Grossherzogtum Hessen, Grünberg, (Schl.) 
Hirschberg, (Schl.), Langenhagen, Worms. — Literatur: Die Entwicklung des Geistes 
beim Kinde und bei der Rasse. — Die Heilerziehungs- und Pflegeanstalten. — Bekannt- 
machung. — Briefkasten. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


Nr. 4. XIX. í 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung SChWachsinniger und Eilepisher | 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 








Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 





Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Spezialarzt 
Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenastrasse 37. in Stuttgart. 
Ersoheint jährlich in 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. Anzeigen für Ä A il 1903 : and Postämter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- pr ° | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 


rarische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Unterrichtliche Spaziergänge mit Schülern der Hilfsschule. 
Von Th. Fuhrmann - Breslau. 

Die unterrichtlicben Spaziergänge sind im Bereiche der Pädagogik seit 
langem keine Neuheit mehr, wenn sie auch in unsern deutschen Volksschulen 
verhältnismässig selten Anwendung finden. Es erscheint ja auch, namentlich 
bei den Schülern der Landschulen, eine planmässig geordnete Einführung in die 
Kenntnis der Natur der Umgebung des Schulortes vielfach erübrigt, da die länd- 
lichen Verhältnisse selbst eine solche Kenntnis, wenn auch nicht in geordneter 
Weise, vermitteln. Anders verhält es sich hierbei bei den Kindern grösserer 
Städte, von denen sehr viele niemals oder nur sehr selten in die freie Natur 
kommen und dann auch nur vom Zufall oder der Laune ihrer Angehörigen ge- 
leitet und mit ganz andern Zielen und Zwecken, als sie das Schulinteresse 
wünschen muss. Für die Schüler unserer Hilfsschulen treffen diese Umstände 
in noch höherem Masse zu als bei den normalen Schülern der Volksschulen. 
Aus diesem Grunde erscheint die planmässige Durchführung unterrichtlicher 
Spaziergänge für diese Schüler besonders berechtigt und wünschenswert. 

Die nicht zu unterschätzenden verschiedenen Schwierigkeiten, mit denen 
die Abhaltung unterrichtlicher Spaziergänge naturgemäss bei den Schülern der 
Hilfsschulen verknüpft ist, sind wohl die Ursache, dass dieselben noch nicht an 
allen deutschen Hilfsschulen angetroffen werden. 

Der Verfasser begann vor fünf Jahren auf Anregung des Stadtschul- 
inspektors Herrn Dr. Handloss mit der Abhaltung unterrichtlicher Spaziergänge. 
Dieselben finden jeden Monat einmal an einem bestimmten Tage statt, so dass 
im ganzen Jahr — nach Abzug des Ferienmonats Juli — etwa 10—11 solcher 


50 

Spaziergänge abgehalten werden, von denen einer der in die Sommermonate 
fallenden zugleich der mehr dem Spiel und der Erholung gewidmete Schul- 
ausflug in die weitere Umgebung der Stadt ist. Nur Regenwetter im Sommer 
und starke Kälte im Winter verhindert die Ausführung der unterrichtlichen 
Spaziergänge. In den ersten Jahren wurden nur die beiden letzten Unterrichts- 
stunden des betreffenden Schultages zum Spaziergang benutzt, und die Schüler 
hatten in den beiden ersten Stunden den vorgeschriebenen Unterricht, nur mit 
der Änderung, dass in der letzten halben Stunde ein Überblick über die im 
bevorstehenden Spaziergang zu besuchenden Teile der Stadt, ihre Sehenswäürdig- 
keiten oder sonstige in Betracht kommende Punkte gegeben wurde. Die Schüler 
nahmen dann ihre Schulsachen auf den Spaziergang mit, da eine Rückkehr zur 
Schule nicht mehr erfolgen konnte. In den letzten Jahren ist eine Änderung 
hierin insofern erfolgt, als die Kinder die Schulsachen an dem Tage des Schul- 
spaziergangs nicht mehr mitbringen, da sich diese als eine unnötige Belastung 
für die durch den mehrstündigen Spaziergang so wie so angestrengten Kinder 
herausstellten. Die Schüler erhalten in den ersten Stunden des betreffenden 
Tages nnr mündlichen Unterricht. Bei weiter ausgedehnten Spaziergängen wird 
nunmehr auch schon nach der ersten Unterrichtsstunde aufgebrochen. Auf dem 
Wege gehen die Schüler paarweise hintereinander und treten um den Lehrer 
herum, wenn Erklärungen gegeben werden sollen. 

Die Lage der Hilfsschule V. (an der Promenade und in der Nähe der Oder 
und verschiedener sehenswerter Kirchen und Gebäude, sowie des Ringes) ist für 
die unterrichtlichen Spaziergänge sehr günstig, denn es sind durch dieselbe eine 
grössere Anzahl von Zielpunkten gegeben, die auf verschiedenen Wegen erreicht 
werden können und eine Fülle von interessantem und gutem Anschauungs- 
material bieten. Es seien hier die wichtigsten der in Frage kommenden Ziele 
und Wege in Kürze angegeben: 

1. Die Promenade mit ihren mannigfachen Schmuckanlagen vom Dampfer- 
halteplatz über die Holteihöhe zur Liebichshöhe. Besteigen der letzteren. 

2. Die innere Stadt, der Ring, das Rathaus, die Magdalenen- und Elisabeth- 
kirche, der Blücherplatz, die Denkmäler auf dem Ringe und Blücherplatze. 

3. Der Neumarkt mit seinem Marktleben, der Ritterplatz und seine be- 
merkenswerten Gebäude und Denkmäler, die Sand-, Kreuz- und Domkirche. 

4. Der botanische Garten. 

5. Weg auf dem linken Oderufer von der Lessingbrücke an, Treidelsteg, 
Dampfüberfähre, Schiffahrtsverkehr auf der Oder, die Ohle und ihre Mündung, 
die Häfen, das Wasserhebewerk, das Überflutungsgebiet der Ohle am Weidendamm. 

6. Die Sandvorstadt, der Waschteich und die noch unbebaute Gegend bis 
zur alten Oder, der Kanal und seine Schleusen. 

7. Die Odervorstadt, der Bahnhof der Kleinbahn nach Trebnitz, die 
Gröschelbrücke über die alte Oder, der Hatzfeldtweg bis zur Trebnitzer Brücke. 

8. Rechtes Oderufer von der Lessingbrücke an, die Uferstrasse, die Luther- 
kirche, der Kanalanfang bis zur Passbrücke und zum Scheitniger Park, ältere 
Teile des letzteren. 


51 


9. Neue Teile des Scheitniger Parks, der botanische Schulgarten. 

10. Süden der Stadt, Kaiser Wilhelm-Denkmal, Zentralbabnhof, Garten- 
strasse, Museum und Kaiser Friedrich-Denkmal, Exerzierplatz und Königl. Schloss. 

11. Besuch des Kunstgewerbemuseums. 

Im allgemeinen kann gesagt werden, dass das Aufsehen, welches ein Zug 
unsrer Schüler auf den verkehrsreichen Strassen erregt, immerhin nicht allzu- 
gross ist, und dass auch unliebsame fremde Zuhörer bei den Erklärungen und 
Belehrungen nur selten zu bemerken waren. Störungen irgend welcher Art sind 
auch bei den ins Freie führenden Ausflügen noch nicht eingetreten, wenn auch 
natürlich sehr oft neugierige oder verwunderte Blicke die scheinbaren Müssig- 
gänger streifen. Sehr erwünscht ist es, wenn sich auf den Spaziergängen für 
die Kinder Gelegenheit bietet, das mitgenommene Frühstücksbrot zu verzehren. 
Falls hierzu der Voraussicht nach keine Gelegenheit sein sollte (wie z. B. bei 
dem Besuche des Kunstgewerbemuseums), muss das Frühstück noch in der 
Schule gegessen werden. Ebenfalls von Vorteil ist es, wenn die Kinder auf dem 
Spaziergang einige Minuten auf Bänken oder im Freien im Grase sich ausruhen 
können. Freilich pflegt dieses Ausruhen nur ein sehr kurzes zu sein, da 
namentlich im Freien die Gelegenheit meist alsbald benutzt wird, um irgend 
ein Bewegungsspiel zu beginnen. 

Das Betragen der Kinder bei den Spaziergängen und Ausflügen ist nicht 
immer und bei allen Kindern ein gutes. Das Ungewohnte der ganzen Verhält- 
nisse, die bei einem solchen Gange in Betracht kommen, die einmal unvermeidlich 
damit verbundene Lockerung der Schuldisziplin, die mannigfachen Ablenkungen 
für die Aufmerksamkeit auf dem Wege, die vielfache Ungleichheit in der Be- 
wegung der körperlich so verschiedenen Kinder und noch so mancher andre 
Umstand sind hierbei von grossem Einfluss und geben den Anlass zu Ungezogen- 
heiten und Störungen seitens der Kinder und zu mancher ärgerlichen Erregung 
für den Lehrer. Ganz besonders treten solche Ungezogenheiten und Störungen 
auf, wenn sich unter den Kindern boshafte, der Verwahrlosung bereits anheim- 
gefallene oder ihr anheimzufallen drohende Kinder befinden, wie es solche zeit- 
weise in jeder Hilfsschule geben dürfte. Diese Kinder sind es dann, welche 
besonders auf dem Rückwege so viel Grund zu Tadel geben, dass sich kaum 
ein anderer Ausweg zeigt, als sie bei späteren Spaziergängen von der Teilnahme 
auszuschliessen. 

Die durchschnittliche Dauer eines unterrichtlichen Spazierganges beträgt 
2—2!/, Stunden, in Ausnahmefällen 3 Stunden. Die Kinder werden vom Lehrer 
wieder bis in die Nähe der Schule zurückgeführt und erst dort entlassen. Solche 
Kinder jedoch, die erst einen Umweg zu machen hätten, wenn sie, anstatt von 
dem Rückwege direkt in ihre Wohnung zu gehen, erst wieder zur Schule mit- 
kommen müssten, können schon unterwegs nach Hause entlassen werden, voraus- 
gesetzt, dass sie den Weg genau kennen. Bei der vorhin angegebenen Dauer 
eines Spazierganges kommen die Kinder ungefähr zu derselben Zeit nach Hause 
wie an den gewöhnlichen Schultagen. Der Rückweg ist übrigens, wenn derselbe 
zu Fuss zurückgelegt wird, der bei weitem schwierigere und unangenehmere 


52 


Teil eines unterrichtlichen Spazierganges. Die Kinder sind mehr oder weniger 
ermüdet und müssen nun denselben Weg zurückgehen, den sie vor kurzem frisch 
und munter zurückgelegt haben. Da entsteht durch zu langsames Gehen oder 
Stehenbleiben einzelner Schüler, die nicht mehr so schnell fortkönnen, alle 
Augenblicke eine Unordnung im Zuge, so dass der Lehrer nur mit Mühe die 
Kinder zusammenhalten kann. Aus diesen Gründen ist es dringend zu wünschen, 
dass auf dem Rückwege wenigstens bei den weiteren Spaziergängen eine Fahr- 
gelegenheit benutzt werden möchte. Gelegenheit hierzu würden überall die ver- 
schiedenen Linien der elektrischen Strassenbahn bieten, leider aber nicht um- 
sonst, so dass bei der grossen Armut der meisten unserer Schüler nur da eine 
solche Benutzung möglich ist, wo die daukenswerte Fürsorge der Schulverwaltung 
aus städtischen Mitteln einen kleinen Geldbeitrag für die Schülerausflüge ge- 
währt hat. 

Bis jetzt sind die an der Hilfsschule V unternommenen Schulspaziergänge 
ohne Unglücksfälle oder unliebsame Vorkommnisse verlaufen, so dass hieraus 
ein Grund gegen die Abhaltung von Spaziergängen nicht herzuleiten ist. 

Der aus den unterrichtlichen Spaziergängen hervorgehende Nutzen ist zwar 
nicht ein solcher, der sich wägen und messen lässt, ist jedoch ganz sicher vor- 
handen. Dies ist klar ersichtlich aus der Teilnahme der Kinder an allem 
Sehenswerten auf den Spaziergängen, aus ihren Antworten auf die hier und 
später im Unterricht an sie gestellten Fragen und aus den von ihnen selbst 
bemerkten und dem Lehrer alsbald mitgeteilten Beobachtungen. So machte 
z. B. ein Knabe, der Berge in Wirklichkeit noch nicht gesehen hatte und diese 
nur vom Unterrichte aus Abbildungen kannte, auf die am Horizonte unbeweglich 
aufgetürmten Wolkenmassen aufmerksam und sagte, dieselben sähen aus wie 
Berge, was in der Tat der Fall war. Dass jeder Spaziergang den Anschauungs- 
kreis der Kinder erweitert, ihre Auffassungs- und Beobachtungskraft steigert, 
ihre Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur in jeder Jahreszeit anregt, 
dürfte jedem Lehrer, der Schulspaziergänge unternimmt, als ein wichtiger Grund, 
der für die Spaziergänge spricht, bald klar werden. Auch ein ethisches Moment 
kann bei den Spaziergängen, sofern sie ins Freie führen, vom Lehrer benutzt 
werden: es bieten sich oft Gelegenheiten, die Kinder zur Schonung der Pflanzen- 
und Tierwelt anzuhalten, sie vor Tierquälereien zu warnen und ihnen Mitgefühl 
mit der belebten Natur einzuflössen. 

Einer der im Sommerhalbjahr unternommenen Spaziergänge trägt, wie 
schon erwähnt, den Charakter eines Schulausfluges und wird unternommen, 
um allen Schülern der ersten und den älteren Schülern der zweiten Klasse plan- 
mässig die Kenntnis der weiteren Umgebung unserer Stadt zu vermitteln. Für 
diese Schulausflüge ist seitens der städtischen Schulbehörde ein kleiner Beitrag 
alljährlich ausgeworfen, der für die armen Schüler (zu denen aber beinahe alle 
Schüler gehören) verwendet wird. Ein solcher Schulausflug wird von der Schule 
aus unternommen und dauert gewöhnlich von 8 oder 9 Uhr früh bis 3 oder 
4 Uhr nachmittags. Die Kinder gehen zu Fuss nach dem Bestimmungsorte 
und kehren dann von dort entweder mit der elektrischen Balın oder dem Dampfer 


53 


zurück. Bis jetzt wurden solche Ausflüge unternommen 1. nach dem Südpark 
und dem Kinderzobten, 2. nach dem Eichenpark von Pöpelwitz, 3. nach Oswitz, 
der Kapelle und der Schwedenschanze und 4. nach Wilhelmshafen und der 
Strachate. Die beiden hiesigen Dampfergesellschaften bewilligten auf Nach- 
suchen des Verfassers gern freie Rückfahrt für alle Teilnehmer. Da die Eltern 
und Angehörigen an diesen Ausflügen ebensowenig wie an den unterrichtlichen 
Spaziergängen teilnehmen — eine Ausnahme macht nur der Besuch des zoolo- 
gischen Gartens —, so liegt die gesamte Beaufsichtigung und Sorge für die 
Teilnahme nur dem Lehrer ob. Jedoch kann hier mit Freude festgestellt 
werden, dass auch die weiteren Schulausflüge gut und ohne jeden Unfall ver- 
laufen sind und zwar einen ziemlich anstrengenden Tag für den Lehrer bildeten, 
für die Schüler jedoch eine Quelle so grosser Freude und ihnen zum Teil noch 
nie gewordener Genüsse bildeten — wie z. B. der Dampferfahrten —, so dass 
grade diese Schulausflüge in die weitere Umgebung einen hervorragenden Platz 
unter den unterrichtlichen Spaziergängen behaupten und sorgsame Pflege in der 
Hilfsschule verdienen. 

Wenn auch die obigen Ausführungen nur die Erfahrung weniger Jahre und 
an einer Schule darstellen, so sei dem Verfasser doch am Schlusse derselben 
der Wunsch gestattet, dass recht viele Lehrer an solchen Hilfsschulen, an denen 
für die Spaziergänge ähnliche günstige Verhältnisse vorhanden sind, wie an der 
in Rede stehenden Schule, einmal einen Versuch mit der Veranstaltung von 
unterrichtlichen Schulspaziergängen sowohl, wie auch von Schulausflägen machen 
möchten. Sie werden dann sicher auch zu Freunden dieser Einrichtung werden. 


Wir Werdenden.... 


Von K. Ziegler, Idstein. 
Mein lieber Andreas! 


Die edle Begeisterung und der warme Eifer, mit denen Du in Deinem letzten 
Briefe von Deinem neuen Wirken unter den Schwachen und Armen schriebst, haben 
meinem alten Herzen wohlgetan. So ist's recht! Mit fröhlichem Mut und mit ganzer 
Seele hinein in die Sache, der man sich einmal zugewandt hat, auch wenn in ihr 
nicht eitel Gold und Freude glänzt. Das trägt einen leicht über manche bittere Er- 
fahrung und herbe Enttäuschung hinweg, und der junge, hoffnungsfrohe Glaube, an 
dem später noch manche Stürme rütteln werden, kann herzhaft festen Boden fassen. 
Ha, was war ich damals, als ich, wie Du, in der ..... er Anstalt zum erstenmal 
meinen Spaten auf das dürre Erdreich unseres Arbeitsfeldes setzte, ein schaffenstoller 
Brausekopf, voll der höchsten Ideale, die wie schwellende Lavafluten Herz und Kopf 
durchglühten! Mit einem Meer von Liebe wollte ich das kleine Häuflein Kinder, das 
man mir anvertraute, überschütten und in die wüste, leere Nacht ihres Geistes wie der 
Herr an jenem ersten Schöpfungsmorgen ein allmächtiges: „Es werde Licht!“ rufen. 
Und heute? — — — Doch Du brauchst Dich nicht an einen ausgetrockneten 
Graukopf zu kehren, den eben auch, wie so viele andere, das Alter mürbe gemacht 
hat, und der jetzt mit einem Sack voll kluger, dürrer Erfahrungen und mit viel, viel 


54 
Staub und Sand in den Augen sich still von seinem Wirkungskreise hinwegschleicht 
und an einem verborgenen Erdenwinkel sein letztes Stündlein erwartet. Gewiss, ein 
sorgloses, heiteres Herz, das noch mit raschen Schlägen an die Brust klopft, ist das 
Vorrecht Deiner Jugend, und wenn von diesem Herzen ein lachender Kinderglaube 
durch alle Adern rinnt, der die ganze Welt meint überwinden zu können, so braucht 
sie sich dessen nicht zu schämen. Und wenn die hohen Hoffnungen und Jugend- 
träume mit dem Alter auch nicht zur Reife gelangen, so haben sie doch im Gemüte 
gewurzelt und die guten Lebenssäfte in steter Zirkulation erhalten und dadurch das 
Innenleben vertieft, erweitert und veredelt. 

Du magst nun ahnen, lieber Andreas, mit welchen Gefühlen ich Deinen „Hymnus“‘ 
anhören würde, der sich Dir beim Blick auf das, was meine vollwichtige Persönlichkeit 
für die Schwächsten und Geringsten getan hat, auf die Lippen drängen möchte. Du 
meinst es ja gewiss recht gut, aber hier würde Dir Deine jugendliche, voreilige Be- 
geisterung doch einen gar zu törichten Streich gespielt haben. So dicht und üppig 
wuchsen die Lorbeeren an meinem J,ebens- und Arbeitswege keineswegs, wie Deine 
Phantasie Dir vormalen will, und ausruhen lässt sich auf denselhen erst recht nicht. 
Ich bin herzlich zufrieden, dass ich durch das Distel- und Dorngestrüpp, an dem der 
Acker unseres Wirkens so reich ist, und durch die wüsten, sandigen Einöden, die 
ich nicht selten passieren musste, ohne ernsteren Leibes- und Seelenschaden hindurch- 
gekommen bin, und was mein Tun und Schaffen betrifft, das ich mir allerdings oft 
recht sauer habe werden lassen: ja du liebe Zeit, wo im grossen Welten- und 
Menschenlaufe merkt man etwas davon, und wer könnte mir heute etwas Bleibendes, 
Positives davon zeigen?! Es war ja meist nur ein zartes, flüchtiges und zudem 
krankes Keimen, was ich zu schützen hatte, dem nur selten ein kurzer Sommer, ge- 
wöhnlich aber ein rauher Herbst und ein kalter Winter folgte, und von reifen Ähren, 
die sonst den Schweiss des Landmannes belohnen, durfte ich herzlich wenig erblicken. 
Aber selbst wenn es etwas Grosses gewesen wäre, was ich im Leben zu stande brachte, 
hätte, wenn nicht ich „zufälligerweise‘“ von der Vorsehung an diesen Platz gestellt 
worden wäre, nicht jeder beliebige andere an meiner Stelle genau dasselbe — viel- 
leicht noch Besseres — vollbringen können? Warum also sich in die Brust werfen 
und mit selbstgefälligem Lächeln und bedeutsamem Augenaufschlag an ein „Lebens- 
werk“ zurückdenken, bei dem einem nur die grosse Ehre zu teil wurde, als „Aufseher‘ 
das Werden desselben überwachen zu dürfen, und wobei man eben auch weiter nichts 
als seine Pflicht getan hat! 

Mir fällt da eine kleine Geschichte aus meiner Jugend ein, die ich Dir erzählen 
muss. Hinter dem Hause, das meine Eltern bewohnten, lag ein kleiner Hof. Hier 
entspross an einer geschützten Stelle inmitten wuchernden Unkrautes eine junge Fichte, 
die jedenfalls vom Wind gesät worden war. Als ich sie, ein kleiner Bursche, zum 
erstenmal entdeckte, überragte sie schon um ein Beträchtliches das zudringliche Ge 
sindel, von dem sie dicht umgeben war, und mit leuchtenden Blicken staunte ich das 
seltene Pflanzenwunder an. Diese platonische Bewunderung dauerte jedoch nicht gar 
zu lange; das schlanke, dünne Stämmchen mit seinem zierlichen Nadelkrönchen dünkte 
mich zu Höherem, Nützlicherem bestimmt zu sein, und schon wollte die kleine, ver- 
brecherische Hand zugreifen, um das zarte Tännchen abzureissen. Da — autsch! — 


55 


fühlte ich einen heftigen, brennenden Schmerz an meinen Fingern und lief heulend 
und klagend davon. „Zufälligerweise‘“ hatten sich unter dem Unkraut auch Brenn- 
nesseln befunden, die auf diese Weise zu den Beschützern ihres grünen Kameraden 
geworden waren. 

Nach einigen Wochen, als meine Mutter im Hofe Wäsche trocknete, zeigte ich 
ihr das kleine Bäumchen, das ich seit jenem Vorfalle ganz vergessen hatte, und 
empfing nun die nötige Belehrung, der auch die entsprechenden Mahnungen und Rat- 
schläge bezüglich der Verpflegung de3 Bäumchens nicht fehlten. Wie war ich nun 
stolz auf „meine“ Tanne, and wie wollte ich sie schützen und hegen, und wie schön 
malte ich es mir aus, wein ich einmal später im Schatten „meines“ Baumes für 
Papa und Mama ein Bänkchen zimmern würde, just so, wie drüben in des Nachbars 
Garten eines stand. 

Mit der Verpflegung meines neuen Schützlings nahm ich es recht ernst. Schon 
nach etlichen Tagen beschäftigte ich mich mit dem Gedanken, das Tännchen von 
seinen lästigen Nachbarn zu befreien. Aber wie? Mit den Brennesseln hatte ich 
bereits schlimme Bekanntschaft gemacht, ich musste mich also eines Werkzeuges be- 
dienen. In der Nähe lag die grosse Gartenhacke, die aber meine kleinen Händchen 
nur mit Mühe umfassen, geschweige denn beim Gebrauche sicher führen konnten, 
Jedoch, was hinderts! Wupp, wupp — ging es mit unbeholfenen, aber energischen 
Schlägen dem Unkraut zu Leibe. Wupp, wupp — nnr noch ein Kleines, und meiu 
Tannenbäumchen wäre von meinen Hieben zu Tode getroffen am Boden gelegen; 
nur das „zufällige“ Erscheinen meiner grösseren Schwester verhinderte das drohende 
Unglück. 

Die Tanne und ich, wir wuchsen miteinander um die Wette. Schon hatte sie 
mich an Leibeslänge überflügelt, da beschenkte mich eines Tages ein Onkel, der auf 
Besuch zu uns gekommen war, mit einem Messer — das erste Messer! Dies und 
die kleine Tanne, die waren gerade für einander geschaffen. Das Messerchen schnitt 
vorzüglich: wutsch, wutsch —- wie die Ästlein und Zweiglein fielen! Unser Gärtner 
hatte im Frühjahr die Apfel- und Birnbäume ja auch beschnitten, das soll sehr zur 
Beförderung ihres Wachstums beitragen, also „man tu!“ „Au, au!“ mein rechtes 
Obr wurde unsanft nach allen Himmelsrichtungen hin- und hergezerrt. Drohend stand 
mein Vater hinter mir; „zufällig“ war er über den Hof gegangen und hatte just den 
günstigen Augenblick getroffen, das Bäumchen aus den Händen seines Beschützers 
zu erretten. 

Nur langsam erholte es sich von seinem Schaden. Da drohte ihm eines Tages 
von fremder Seite Gefahr. Gassenkameraden, mit denen ich augenblicklich auf Kriegs- 
fuss lebte, waren in den Hof gedrungen und umstanden mit drohenden Gebärden und 
schadenfrohen Mienen meinen schwachen, wehrlosen Schützliing. Hoch oben vom 
Speicherfenster hatte ich die gefährliche Situation erblickt, ohne in diesem kritischen 
Augenblick selbst tätig eingreifen zu können. © weh, dachte ich, und lief mit 
fiiegender Hast die Treppen hinunter, nichts anderes erwartend, als dass die befürchtete 
Kutastrophe wohl schon eingetreten und mein Bäumchen aus dem Boden gerissen 
oder abgeschnitten worden sei. Aber wie erstaunte ich! Von jenen Gassenjungen 
war weit und breit nichts mehr zu sehen, und heil und gesund schaukelte mein 


zn 


Bäumchen im Winde. Ohne mein Zutun war es aus einer Gefahr errettet worden, 
die nach meinem Ermessen ihm hätte den Untergang bringen müssen. 

Und so ging es weiter. Unter dieser meiner Wachsamkeit und Fürsorge wuchs 
das Bäumlein lustig heran und wurde später eine stattliche Tanne. Du kennst sie 
ja auch, lieber Andreas, wie sie heute mit ihrer dunkelgrünen, mächtigen Gestalt und 
mit ihren gewaltigen Ästen mitten aus meinem Heimatdörfchen emporragt und wie 
ein schützendes Wahrzeichen die kleine Häusergruppe beherrscht: meine Tanne, 
mein Werk! Oder nicht? — 

Du verstehst mich, und ich brauche Dir keine lange Deutung zu geben. Genau 
dieselben Gefühle, mit denen ich jetzt manchmal abends, wenn jene alte Geschichte 
in mir lebendig wird, zu der Tanne aufblicke, erfüllen mich bei der Erinnerung an 
das, was ich während der Zeit meines Wirkens für unsere schwachen Kinder getan 
habe. Demut, nur Demut und Bescheidenheit kann es sein, was in solchen Augen- 
blicken den Grund meines Herzens bewegt, und zwar habe ich diese Demut nicht 
erst hintennach und an meiner aus der Jugendzeit wieder erwachten Tannengeschichte 
gelernt, sondern diese Demut eben ist die köstlichste Frucht and der bedeutsamste 
Erfolg, die mir aus meiner Lebensarbeit herauswuchsen, und wer mich heute nach 
meinem Werke fragte, dem müsste ich jene Anstalt, die vor meinen Augen und unter 
meiner Aufsicht sich entwickelte, zeigen mit den Worten: Dies ist die Schule, durch 
die ich hindurch musste, um ein Mensch zu werden, und in der ich lernte, demütig 
zu sein; die Werkstätte, in der meine Seele ausgebaut wurde. 

Ja, mein lieber Andreas, so ist es: Indem wir zu schieben glauben, werden wir 
geschoben, und indem wir meinen, an der Erfüllung einer T,ebensaufgabe zu arbeiten, 
hat das Schicksal uns auf seine Töpferscheibe gesetzt und dreht und modelt und er- 
zieht an dem Kern unseres Wesens, dass es ein fein hübsches und wohlgefälliges Werk 
werde. Solche Töpferscheiben gibt es gar viele in der Menschenwelt, sitzt doch jeder 
auf seiner eigenen, die immer genau für ihn eingerichtet ist und dazu passt, speziell 
seine Individualität herauszubilden und zu veredeln. Ich glaube aber, eine der vor- 
nehmsten Werkstätten, in der am schärfsten sondiert und am feinsten geschliffen wird, 
ist diejenige, in welche wir Erzieher von der Vorsehung geschickt werden. Das wusste 
schon der biedere Salzmann; Du kennst ja sein Ameisenbüchlein, woselbst er in 
dem Briefe an Johannes den Gedanken ausführt, dass, wenn wir uns ernstlich be- 
streben, unsere Pfiegebefohlenen zu erziehen, wir selbst veredelt werden. Ja selbst 
der grösste Menschenkenner unseres Volkes, Goethe, gibt an einer Stelle seines 
„Wilhelm Meister“ dieser Wahrheit Ausdruck, indem er ungefähr sagt: Was die 
Frauen an uns zu bilden übrig lassen, das werden die Kinder bilden. Diesem möchte 
ich aber noch hinzufügen (und ich hoffe, es Dir in der Folge zeigen zu können), dass 
unter allen Erziehungsgeschäften die Arbeit an den Schwachen und Geringen in be- 
sonderem Masse eine veredelnde Rückwirkung auf den Erzieher auszuüben vermag, 
vorausgesetzt, dass dieser seine Aufgabe nicht als totes Handwerk betrachtet, sondern 
mit ernstem Eifer auffasst. Ich wenigstens habo das an mir selbst recht oft er- 
fahren müssen, und gar manche scharfe Kante, manche verletzende Ecke meines 
Wesens wurde mir im Verkehr mit den Schwächsten der Schwachen abgeschliffen, ja 
solche, die ich früher nicht einmal kannte, kamen mir hier erst zum Bewusstsein. 


97 





Dass hochfahrender Sinn und elhrgeiziges Streben, mit glänzenden Leistungen vor 
einer beifallspendenden Öffentlichkeit zu prunken, auf unserem Arbeitsfelde schlecht 
gedeihen, weiss jeder, der die Dürftigkeit und Unansehnlichkeit dieses Wirkens näher kennt. 
Da ist nichts, was fremde Bewunderer anlocken und die Aufmerksamkeit und lobende 
Anerkennung der Menge wecken könnte; leere und kranke Ähren auf schwachen ver- 
kümmerten Halmen: wer hätte bei der allgemeinen Jagd nach Glück und Genuss 
noch Herz und Gemüt für diese Verlassenen und Niedergetretenen am Wegesrand! 
Achtlos wälzt sich der breite Strom der Menge an ihnen vorüber und ebenso unbeachtet 
bleibt auch der Arbeiter, der sich barmherzig zu jenen Geringsten herabneigt, in seinem 
verborgenen Winkel stehen. Was könnte auch ein „Idiotenlehrer“ der grossen 
Welt da draussen bedeuten, die den Mann nur nach dem Titel wertet und vor jedem 
protzenden Geldsack kriechend auf die Kniee fällt! Die hat nur Sinn für das, was 
glänzt und Geschrei macht, über alles andere aber zuckt sie verächtlich die Achseln. 
Wie oft wollte ich in meiner jugendlichen Empfindlichkeit aufbrausen, wenn ich sah, 
wie manchmal Angehörige der sogenannten „besseren Stände“ mit dem Ausdruck des 
Mitleids oder schlecht verborgener Geringschätzung den Namen „Idiotenlehrer“ be- 
tonten, und wie selbst Leute von ganz iminderwertiger Bildung oft glaubten, mich 
fühlen lassen zu müssen, dass ich nur ein Lehrer Schwachsinniger sei. Heute lächle 
ich natürlich darüber. Denn die Menschen sehen und urteilen ja nur, wie sie’s ver- 
stehen, und wer wollte ihnen deshalb böse sein. Und eine angesehene soziale Stellung, 
ein Plätzlein in dem Stockwerk der sogenannten besseren und gebildeten Kreise brauchen 
wir ja gar nicht, das kann unseren Schwachen nichts nützen, und darum ist es gut so. 

Auf der alleruntersten Stufe der langen Erziehungsleiter stehend, mag der 
Idiotenlehrer freilich manchmal in Versuchung geraten, mit unzufriedenen und neidischen 
Blicken nach den Sprossen über sich zu schielen, auf denen man mehr sieht und 
auch besser gesehen wird. Aber gerade der Umstand, dass sein stilles Verlangen 
nach Öffentlicher Anerkennung fast nie befriedigt wird, muss ihn anspornen, seine 
Augen immer mehr von dem äusseren Glanze abzuwenden und die Nichtigkeit solch 
eitlen Tandes verstehen zu lernen; die selbstsüchtigen Wünsche des eigenen Herzens 
zu bekämpfen und in ernstem Eifer nach der Fähigkeit reiner, selbstloser Hingabe 
an das Gute zu ringen; die Wertschätzung seiner Arbeit immer weniger bei andern, 
umsomehr aber in der eigenen Persönlichkeit zu suchen, wenn anders er nicht alle 
Lust und Liebe zu seinem Berufe verlieren will. Das Bestreben, nach aussen An- 
sehen und Einfluss zu gewinnen, macht seicht und oberflächlich, wie der Strom, der 
sich in immer grössere Breite verliert, an Kraft und Gefäll mehr und mehr abnimmt. 
Ist er aber von Natur in ein schmales, enges Bett gedrängt, so wird er sich vertiefen 
und auf starkem Rücken die schwersten Lasten tragen. 

Überhaupt, der Hochmut des Menschengeschlechtes und das stolze Pochen auf 
die riesigen Fortschritte des menschlichen Geistes: wie lächerlich und töricht erscheint 
das, wenn man daneben tagtäglich an den Jammer und das Elend der Menschheit 
gemalınt wird, wie es z. B. in unseren Anstalten der Fall ist. Was sind all die 
Errungenschaften und Triumphe der menschlichen Intelligenz, wenn man ihnen die 
düsteren und unheimlichen Nachtseiten des Lebens entgegenhält! Wie viel soziale 
Not, wie viel sittlicher Schmutz und geistige Degeneration grinst uns aus den Akten 


58 


und aus dem Leben der meisten unserer Kinder entgegen, und da sollte man noch 
herausfordernd das Haupt erheben und triumphierend auf unsere stolze Babel zeigen 
können? Ja, besitzen wir überhaupt eine solche? Gerade die ärztliche Wissenschaft 
hat während der letzten Jahrzehnte einen ungeahnten Aufschwung genommen und 
Entdeckung an Entdeckung, Erfindung an Erfindung gereiht. Und doch, was weiss 
sie uns Wahres und Richtiges zu sagen von jenem wunderbaren Gefäss des Geistes, 
jener kaum 3 Pfund schweren Nervenmasse, welche die kleine Schädelhöhle ausfüllt 
und in der sich die ganze ungeheure Welt des menschlichen Denkens, Fühlens und 
Wollens konzentriert? Hier ist ein Junge, unfähig, je einmal selbständig ins Leben 
hinauszutreten, aber mit einer Gedächtniskraft ausgerüstet, die das gewöhnliche Mass 
des normalen Menschen weit überragt; dort ein anderer, der weder schreiben, noch 
lesen, noch rechnen lernt, aber am Klavier eine Menge nicht leichter Musikstücke 
frei nach dem Gehör wiederzugeben vermag; und hier noch einer, in seinen Manieren 
und Geistesäusserungen beinah an den tierischen Blödsinn grenzend, und doch auf 
seine Art ein Zeichenkünstler mit entschiedenom Zeichentalent. Wunder über Wunder 
auch in dieser trübsten Atmosphäre menschlichen Seelenlebens, und wer gibt die Er- 
klärung dafür? Gewiss, über Planeten und Weltenkörper, die durch unendliche Räume 
von uns getrennt sind, wissen uns die Gelehrten mehr zu erzählen, als über die kleine 
Gehirnkugel, welche unseren eigenen Organismus belebt und regiert. Und mag der 
Scharfsinn unserer Forscher mit noch so viel Beharrlichkeit jenen innersten und letzten 
Vorgängen in der geheimnisvollen Seelenwerkstätte nachspüren, und möchte namentlich 
uns Schwachsinnigenlehrern oft das Herz vor Verlangen brennen, nur einmal einen 
klaren Blick in die Kompliziertheit und Verworrenheit der Vorstellungstätigkeit unserer 
Kinder zu werfen: demütig müssen wir uns mit der Unzulänglichkeit und Lücken- 
haftigkeit unseres psychologischen und psychiatrischen Erkennens bescheiden und uns 
durch diese Rätsel eben immer und immer wieder an die engen Grenzen unseres 
menschlichen Wissens und Könnens mahnen lassen. 

Auch jener falsche Pädagogenstolz, der so gerne auf die Fortschritte des modernen 
Erziehungswesens pochen möchte, und in dessen Augen Psychologie, Didaktika und 
Methodika es schon so herrlich weit gebracht haben, findet auf dem Arbeitsfelde der 
Schwachsinnigenerziehung eine recht ernüchternde Abkühlung. Ich wenigstens musste 
das an mir selbst früh genug erfahren. Bepackt mit einem Sack voll papierener Weis- 
heiten und ausgerüstet mit den üblichen methodischen Künsten und Fertigkeiten 
betrat ich die Schwachsinnigenschule, wo ich in Anbetracht meines „psychologischen 
Scharfblickes* und meiner „praktischen Geschicklichkeit“, Attribute, die ich auf dem 
Boden der Normalschule in höchstem Masse erworben zu haben glaubte, Wunder der 
Lehrkunst zu vollbringen hoffte. Aber wie klein und gelemütigt stand ich bald vor 
meiner Klasse! Auf meine Fähigkeit, mit sicherem Verständnis auf die Denkweise 
und die seelischen Bedürfnisse der Kindesnatur einzugehen, hatte ich mir immer viel 
zu gute getan, und nun war ich meinen Kindern gegenüber gerade in diesem Punkte 
der reinste Stümper. Mit vielen ihrer psychischen Äusserungen wusste ich absolut 
nichts anzufangen, und das, was ich ihnen bot, würgten sie immer mit sichtlichem 
Unbehagen hinunter. Also ein gegenseitiges Sichnichtverstehen! Kann es etwas 
Schlimmeres für den Unterricht geben? Aber es war gut so! Unter den heftigen 


59 


Stössen solcher und ähnlicher Erfahrungen brach die Selbstherrlichkeit meines päda- 
gogischen Wissens bald kläglich zusammen und machte einem neuen, besseren Erkennen 
Platz, das, obwohl in seinen Grundzügen klarer und gründlicher, doch nicht prunkte 
und protzte, sondern sich jederzeit bescheiden an seine engen Grenzen erinnern liess. 
Überhaupt habe ich auf diese Weise einen grossen Teil meiner Freude an dem be- 
stechenden Glanz klug ausgedachter Theorien verloren, dafür aber den wirklichen Wert 
der schlichten anspruchslosen Tat um so höher schätzen gelernt. 

In anderen Beziehungen ging es mir nicht viel besser. Du kennst ja die Eigen- 
art unserer Familie: das vorwärtsdrängende Temperament, welches vor keinem Hinder- 
nis zurückschreckt; der nie rastende Feuereifer, der, erfüllt vom Bewusstsein seiner 
eigenen Kraft, überall durchdringen und rücksichtslos zum Ziele gelangen will; die 
harte, unbeugsame Energie, die nur ein Vorwärts, aber kein Rückwärts kennt — an 
sich gar keine üblen Eigenschaften, die auch ich in hohem Masse auf den Lebens- 
weg mitbekommen hatte, mit denen ich aber bei meinen schwachen Kindern schlecht 
ankam. O weh, was gab es da zu kämpfen und zu ringen in ehrlicher Selbst- 
erkenntnis und ernster Selbstzucht! Das meiste, was ich anfasste, war nicht genug- 
sam überdacht und infolgedessen verkehrt, und das wenige, das mir hätte gelingen 
können, verdarb mir mein zügelloser Übereifer. Recht bald fühlte und erkannte ich 
auch hier, dass von der Schlichtheit und Einfältigkeit, die mit bescheidenem Sinne 
anfängt, geduldig warten kann und nicht ungestüm zufährt, im Unterricht auf meine 
Kinder eine still wirkende Kraft und ein verborgener Segen ausströmte, die ich früher 
bei höherem Eifer und bei mehr Schweiss fast immer vermisste. Und merkwürdig, 
diese unscheinbare Erfahrung, im engen Kreise meiner Kinder gefunden, bestätigte 
sich auch draussen in der Schule des Lebens. Auch da fand ich den Weg zum 
Herzen meiner Nächsten nie im Sturm, der die Felsen zerbrach, und nicht im Erdbeben, 
das die Leute zittern machte, und nicht im Feuer, das eigenmächtig alle Hindernisse 
auffressen und aus dem Wege räumen wollte, sondern im stillen, sanften Säuseln — — 
und so hab’ ich’s gehalten mein ferneres Leben hindurch und bin damit gut gefahren. 

Freilich, lange dauerte es, bis ich zu dieser Gesinnung mich praktisch hindurch- 
gerungen hatte, und ohne viele schmerzliche Enttäuschungen über die Schwäche des 
eigenen Ichs ging es nicht ab. Du kannst Dir denken, wie schwer es gerade mir 
wurde, all die aufwallenden Affekte und leidenschaftlichen Gemütsbewegungen, zu denen 
unsere Arbeit im reichsten Masse Anlass gibt, die aber gerade hier von der unheil- 
vollsten und schädlichsten Wirkung sein können, niederzukämpfen und sie im Zaum 
zu halten. Wenn es im Unterricht absolut nicht vorwärts gehen wollte, wenn die 
Köpfe meiner Schüler selbst der geduldigsten, klarsten und anschaulichsten Arbeit 
hartnäckigen Widerstand leisteten, oder wenn das, was ich heute mit viel Mühe und 
Not in das Bewusstsein der Kinder gebracht hatte, am andern Tage wieder in die 
bodenlose Tiefe des Vergessens gesunken war, wenn überhaupt nach wochenlangem 
Mühen und Üben der Boden immer noch keine verheissungsvollen Keime zeigte, dafür 
aber Unkraut auf Unkraut aufschiessen liess: wie wollte es da im Herzen kochen und 
gären und wie leicht öffnete sich dann ein Ventil, durch das sich der zurückgehaltene 
Ärger nach aussen Luft zu verschaffen suchte! Und wie oft unterlag ich dem heissen 
Kampfe! Das waren für mich dann immer die trübsten und dunkelsten Augenblicke, 


60 


wenn die schmerzliche Reue im Gewissen brannte, die innere Schamröte vor dem 
eigenen Ich in mir aufstieg, und wenn sich dann aus der verzagten und kleinmütigen 
Seele der bange Notschrei losrang: „Wer wird mich erretten von dem Leibe 
dieses Todes!" — So brach das stolze Selbstbewusstsein und die Selbstherrlichkeit 
in mir zusammen, und so wurde der Boden meines Herzens umgeackert, dass er zur 
Aufnahme eines besseren Samens bereit würde und höhere Kräfte in sich wirken liesse. 

Die Krankenpflege ist eine vorzügliche Erziehungsschule für Erwachsene. Da 
müssen die eigenen Wünsche zurückgestellt, «ie harien und meist wenig rücksichts- 
vollen Formen, durch die sich das „Ich* im gewöhnlichen Umgange zu behaupten 
ptlegt, unterdrückt und das ganze Fühlen und Denken in liebevoller Hingabe auf die 
Bedürfnisse und das Wohl des Patienten konzentriert werden. Kein Wunder, wenn 
sich über das Wesen und Benehmen derer, die in jener Atmosphäre zu leben und zu 
wirken gewohnt sind, mit der Zeit eine harmonische Ruhe und Weichheit des Gemütes 
ausbreitet, die auch im übrigen Verkehr auf die Gesunden ihre milde- und freundliche 
Wärme ausstrahlt. Wie in der Stille des Krankonzimmers der Pfleger, so müssen 
aber auch wir in der Schule geistig abnormer Kinder mit doppelter Sorgfalt über der 
psychischen Entwicklung unserer Schwachen wachen, mit liebevollem Verständnis auf 
ihre persönliche Eigenart eingehen, ihre intellektuellen und sittlichen Mängel zu ver- 
stehen, zu begreifen, zu entschuldigen und zu bessern suchen, geduldig all ihre un- 
berechtigten und berechtigten, guten und törichten Wünsche und Bitten anhören und 
nachsichtig prüfen, kurz alle Erscheinungen ihres Seelenlebens als unter dem Einfluss 
der Schwäche entstanden denken, nie aber von vornherein hinter denselben Äusserungen 
eines bösen Willens vermuten, für welche dieselben verantwortlich zu machen wären. 
Dieses Sichhineindenken in den geistigen und sittlichen Gesichtskeis der schwachen 
Kinder ist die Seele unseres gesamten heilpädagogischen Wirkens, auf dieser Fähigkeit 
beruht aber auch die praktische Lebenspsychologie, jenes zarte Empfinden, das auch 
den feinsten Eigenheiten des Nächsten gerecht zu werden sucht und das in der alles- 
begreifenden und allesverzeihenden Liebe gipfelt. Darum — es kann kaum anders 
sein —: wessen Auge und Herz in der täglichen Schularbeit an jene psychologische 
Klein- und Feinarbeit gewöhnt ist, der wird unmöglich draussen mit stumpfer, kalter 
Verständnislosigkeit an dem Gemütsleben seiner Mitmenschen vorübergehen können, 
der wird auch hier die Mühe nicht scheuen, ihre Taten und ihr Verhalten aus ihrer 
Beanlagung und ihrem Charakter heraus erklären und verstehen zu lernen, er wird 
tiefer blicken, als die oberflächliche Welt zu blicken gewohnt ist, und wird bald zu 
der Überzeugung gelangen, dass gar viel Böses, das von fanatischen Moralpredigern 
kurzweg verdammt wird, im Grunde genommen nichts anderes ist, als das unter dem 
Einfluss schlechter Erziehung oder sozialer Not oder anderer Missverhältnisse noch 
nicht reif gewordene Gute, und er wird dementsprechend auch mit Liebe und Nach- 
sicht die Fehler und Vergehen und die sittliche Unreifheit seiner „werdenden“ 
Brüder beurteilen nach dem bekannten Grundsatze: „Alles verstehen heisst alles ver- 
zeihen!“ An dieser Lektion, die eine der heilsamsten war, die ich während meiner 
Unterrichtsarbeit empfing, habe ich lange herumstudiert und bin bis heute noch nicht 
mit ihr fertig geworden; welche unendlich praktische Bedeutung sie aber für die 
Selbsterziehung und die sittliche Durchbildung der einzelnen Persönlichkeit gewinnen 


61 


kann, das wirst Du erst später voll und ganz würdigen lernen, wenn Dich Deine 
Wege noch tiefer in die Menschenschicksale hineingeführt haben. 

Das Rührendste im Berufe des Schwachsinnigenerziehers schien mir immer die 
dankbare Genügsamkeit zu sein, mit der auch die kleinsten Erfolge freudig begrüsst 
werden. „Heute hat Karl beim Essen die erste Kartoffel allein geschält!* „Jetzt 
kann Martha ihre Strümpfe und Schuhe selbst anziehen!“ „Fritzchen sprach heute 
im Unterricht zum erstenmal Mama!“ „Ernst zeigte mir gestern den ersten a!“ 
„Endlich hat Anna im Rechnen das Wegnehmen begriffen!“ u. s. w. Wie helle, lieb- 
lich blinkende Sterne leuchten mir solche und ähnliche Scenen heute noch aus meinen 
Anstaltserinnerungen entgegen und deutlich sehe ich dabei jedesmal das glückstrahlende 
Gesichte einer Pflegerin, einer Lehrerin oder eines Lehrers auftauchen. Wie 
dürftig und gering diese Resultate, und doch so viel Glück und Freude! Wahrlich, 
wer so bescheiden hoffen, so herzlich danken, so kindlich sich freuen lernt, der muss 
es auch fertig brinugen, mit fröhlichem Kinderglauben die trüben Schickungen und Er- 
fahrungen des Lebens zu überwinden. Freilich, nicht jeder bewahrt sich ein solches 
Kindergemüt und insbesondere fällt es nicht jedem leicht — und zu diesen gehörte 
ich selber — diese dankbare Genügsamkeit im Hoffen, Verlangen und Fordern auch 
den erwachsenen und gesunden Brüdern gegenüber anzuwenden. Aber die Parallele 
liegt nahe Würden wir auch im ausserberuflichen Verkehre unsere Mitmenschen 
mehr im Lichte der Pädagogik, insbesondere der Schwachsinnigenpädagogik betrachten 
— eine keineswegs paradoxe Forderung —, mit um so bescheideneren Ansprüchen 
würden wir an sie herantreten, um so weniger würden wir von ihnen getäuscht werden 
und mit um so grösserer Dankbarkeit würden wir das wenige Gute, das wir von ihnen 
erfahren dürfen, hinnehmen. 

Jedoch, wer wäre nie getäuscht worden? und leider Gottes gehörte ich auch 
recht oft zu jenen Kurzsichtigen und Blinden, die sich immer und immer wieder betrogen 
fühlen, wo sie es im Grunde gar nicht sind, und die — das ist aber das Schlimmste 
— nun auch die Hoffnung verlieren. Was ist aber ein Schwachsinnigenlehrer ohne 
Hoffnung? Ein Vogel ohne Flügel, ein Frühling ohne Knospen. Unsere Arbeit gleicht 
einem Schifflein, das getragen wird von dem Meer der Liebe, gelenkt durch das Steuer 
des Verstandes, getrieben aber durch das sanfte Wehen der Hoffnung. Hoffnung 
macht reich, Verzagtheit arm, das hatte ich hundertmal in meiner Schule erfahren, 
nun wollte ich aber auch im Leben nicht als griesgrämiger Bettler herumlaufen. 
Sprossen doch in meinem dürren und harten Schulgärtlein manchmal ganz unerwartete 
Keime hervor, warum sollte ich das Gleiche nicht auch hoffen können, wenn ich hinaus- 
trat auf den weiten Menschheitsacker! Und konnte ich bei meinen Kindern und bei 
meinen Brüdern draussen den Glauben an den endlichen Sieg des Guten nicht ver- 
lieren, warum sollte ich nicht auch mir Mut zusprechen, wenn ich ob mir selbst 
verzagen wollte, wenn die Schwäche und Unvollkommenheit des eigenen Wesens mich 
niederdrückte, wenn ich in wmühseligem Kampfe der Härte des eigenen Herzens oft 
nicht ein Quentlein selbstloser Liebe abringen konnte und ich nur einen endlos langen und 
dornenvollen Weg bis zum Ziele vor mir sah! So lernte ich hoffen und habe gehofft; 
die“ Hoffnung war die Luft, in der ich mich stärkte, wenn die Hände in der Schule 
lässig werden wollten, in der ich mich erholte, wenn das Leben neue Wunden ge- 


62 


schlagen hatte, in der die kranke Seele wieder zu neuem Kampfe gemas, wenn sie 
ermattet am Wege niedergesunken war. 

Jede Hoffnung braucht aber einen festen Ankergrund; oberflächliche Gemüter, 
die mit leichtem Sinn an den wechselnden Formen eines äusserlichen Flitterdaseins 
haften, fühlen nie das Bedürfnis, ihre Seele in dem Boden unvergänglicher Wahrheiten 
Warzel schlagen zu lassen und aus demselben Kraft und Stärke für die irdische 
Pilgerreise zu schöpfen. Zu solch innerlicher Vertiefung wird aber wohl jeder ganz 
unwillküörlich gedrängt, der an den Schwachen und Kranken nicht nur mit dem Kopf, 
sondern auch mit dem Herzen arbeitet und ihre und der Ihrigen Leiden und Freuden 
mit erlebt. Wer könnte das tiefe Welı der ängstlich besorgten Mütter unserer Kinder 
und den oft mühsam zurückgedrängten Schmerz der Väter mit ansehen, ohne dass 
nicht das eigene Herz von den Gefühlen innigster Teilnahme und tiefsten Mitleides 
durchzittert würde? Wer würde nicht gerührt bei dem Anblick der wunderbaren und 
mächtigen Liebe, durch die auch die schwächsten und blödesten Kinder, in denen 
scheinbar alles geistige Leben erloschen ist, mit den Elternherzen oft noch in zähester 
Kraft verbunden sind? Wessen Herz könnte gleichgültig bleiben, wenn ihm aus den 
glanzlosen Blicken, aus dem lallenden Munde, aus den entgegengestreckten Ärmchen, 
kurz aus der ganzen rührenden Unbeholfenheit dieser Kleinen noch ein so hohes Mass 
dankbarer Anhänglichkeit entgegenschlägt, wie es der Uneingeweihte bei diesen Ge- 
schöpfen nie und nimmer vermuten würde? Welcher Lehrer fühlte bei seiner Befreiungs- 
arbeit an diesen gefosselten und umnachteten Seelen nicht seine innere Abhängigkeit von 
dem Jawort und dem Segen unsichtbarer Schicksalsmächte? Wen triebe der Gedanke 
an die dunklen und rätselhaften Lebensführungen dieser Unglücklichen, die dem Glauben 
an eine göttliche Liebe und Weisheit so schroff gegenüberstehen, nicht zu ernstem 
Fragen und stillem Nachsinnen an? Wer könnte sich den hämischen Einflüsterungen 
des Zweifels entziehen, wenn solche geistig Tiefstehenden, in denen nie ein Funke 
irdischen Bewusstseins aufleuchtete, ins Grab sinken und das hoffende Gemüt auch 
über diese dunkelsten Grüfte hinaus an einer verklärten Auferstehung des Geistes 
festhalten will? Solchen Fragen und seelischen Konflikten, die tagtäglich au den 
Erzieher schwacher Kinder herantreten, lässt sich nicht ohne weiteres aus dem Wege 
gehen; jeder ernste, selbständige Charakter wird sich mit ihnen auseinander setzen 
und ihnen gegenüber Stellung nehmen müssen. Das aber entwickelt und vertieft die 
religiösen Gefühle und den sittlichen Ernst und lässt die Weltanschauung des Ein- 
zelnen zu höherer Klarheit, Reinheit und Kraft heranreifen. 

Du siehst, lieber Andreas, viel wichtiger als die Frage, was habe ich im Leben 
getan und erreicht, ist die andere, was bin ich in meiner Arbeit und durch sie ge- 
worden und was haben meine Schüler aus mir gemacht. Wir alle miteinander, das 
ganze, weitverzweigte Menschengeschlecht, bilden eine seelische Einheit; unser aller 
Leben ist zu einem zusammenhängenden Schicksal verflochten, das getragen wird durch 
das Wechselspiel gegenseitig sich erziehender und sich emporentwickelnder geistiger 
und sittlicher Kräfte, die sich in den einzelnen Individuen kristallisieren und offen- 
baren. Und warum sollten in diesem, in wunderbarer Harmonie emporwachsenden 
Lebensbaum individueller Geisteskräfte unsere Kinder eine minder wichtige Stelle ein- 
nehmen, als wir selbst? Die unscheinbaren Wurzeln, der harte, knorrige Stamm mit 


63 


seiner saftlosen, spröden Rinde, die grünenden, schwellenden Blätter, die zarten, 
duftenden Blüten, sie alle sind gleich notwendig, um den Samen hervorzubringen, aber 
dieser selbst wieder wäre völlig wertlos, wenn in dem entwicklungsfähigen Abbild der 
Mutterpflanze, das er in sich trägt, auch nur das kleinste und nebensächlichste jener 
Einzelorgane fehltee Nimm dem Lichte den Schatten, und Du zerstörst ihm nicht nur 
eine Seite seines anmutigen Farbenspiels, sondern Du vernichtest es selbst; reiss eine 
Welle aus dem brandenden Ocean, und Du unterbrichst seinen ganzen endlos langen 
Wogenstrom; eine einzige Form des menschlichen Elends und ihre Träger hinweg- 
gedacht, und es fehlte ein Hammer in der grossen Menschheiteesse, in der Menschen- 
schicksale geschmiedet und geläutert werden. 


Überhaupt wer ist Hammer und wer ist Amboss? Sind wir nicht beides zugleich 
und zu gleicher Zeit? Indem ich gedrückt werde, übe ich mich im Gegendruck; und 
wo auf der einen Seite eine stärkere Kraft mich verdrängt, da presse und drücke ich 
auf der andern, ganz unbewusst und ohne dass ich es möchte. Und wenn ich seufze 
und weine, so sind das die Dissonanzen, die in der grossen Menschheitssymphonie sich 
zu seligen Harmonien verschmelzen; und weun ich jubiliere und jauchze, so klingen 
mir auch aus diesen Obertönen der Lust die herben Schicksalsakkorde meiner Brüder 
entgegen. 

Aber noch mehr! Wenn ich ehemals in stillen Stunden der inneren Ruhe und Selbst- 
sammlung mit sinnenden Blicken dem Treiben und Spiel meiner Kinder zuschaute, wenn ich 
ihre bösen und ihre guten, ihre kranken und ihre gesunden Gefühle und Strebungen in natür- 
licher Unbefangenheit aus dem Schachte ihres Seelenlebens hervorbrechen sah, und wenn 
sich dann die eigene Seele, versunken in solches Schauen, ahnend und wie im Traum 
hinabverlor in jene letzten Tiefen, aus denen alles leibliche und geistige Leben quillt, 
was fand ich da im Grunde anderes, als mich selbst, das Urbild meines eigenen Geistes 
wieder? In dem unvollkommenen Spiele meiner Kinder erkannte ich das Stückwerk 
des eigenen Schaffens und Wirkens; ihr Denken, Fühlen und Wollen erschien mir als 
ein lebendiger Widerhall dessen, was in mir selber sprach. Ich und meine schwachen 
Schüler, im Spiegel der Ewigkeit gesehen, ein gegenseitig sich durchdringender und 
zu einem Geistesleibe sich verschmelzender Seelenreigen: ist das nicht etwas Grosses 
und Erbabenes? Wenn ich an ihrer Entwicklung arbeitete, arbeitete ich zugleich an 
der Veredelung meines eigenen Wesens; ihre Fortschritte waren meine Fortschritte; 
wenn die Banden und Fesseln ihres Geistes sprangen, durchzitterte meine Seele die 
Freude und das Glück der endlichen Befreiung; mein Kämpfen und Ringen brachte 
auch ihnen Erlösung, und meine Siege waren der erquickende Tan für die ermatiete 
Kraft ihres Strebens. 


Ich der Nordpol, sie der Südpol, oder umgekehrt — aber wer ist oben und wer 
unten? Ich der Lehrer, sie die Schüler — aber wer der Erzieher und wer der Er- 
zogene? Wir alle Zöglinge einer Schule, Kinder eines und desselben Vaters, geborgen 
in der treuen Hut des ewig Einen. Mögen sie vorn oder hinten sitzen, mögen sie 
sich hassen und drängen oder lieben und kosen, mögen sie lachen oder hadern und 
greinen, die Kindlein —- in heiterer Ruhe bleibt die hehre Vaterseele.. Sie weiss ja, 
die Kindlein üben dabei die Kräfte und ‚wachsen — und wenn sie Schaden nehmen 


64 
in der Zeit, heil wird alles in Ewigkeit!'*) Wohl dem, der diesen letzten Sinn des 
Lebens erkannt hat. Er wird demütig und vertrauend seine Bahn ziehen und starken 
Herzens über alle Widerwärtigkeiten des Lebens hinwegkommen. 

Das durfte auch ich, lieber Andreas, während meines Wirkens an den Schwachen 
recht oft erfahren. Wenn mich da schmerzliche Erfahrungen und Anfechtungen nieder- 
zudrücken und mutlos zu machen drohten, oder wenn Unzufriedenheit ob der kümmer- 
lichen Arbeit ins Herz schleichen wollte, dann war es immer die Erinnerung an jene 
Gedanken, die mir neue Kraft und frische Berufsfreudigkeit gaben. Und wenn ich 
heute zuräckblicke, so kann ich es nicht ohne Rührung und Dankbarkeit dafür, dass 
ich gerade durch diese Schule, durch die Schule der Schwachsinnigen, geführt 
wurde. 

Mit dem Wunsche, dass auch Du in Deinem Schaffen bald zu solcher Erkenntnis 
kommen mögest, grüsst Dich in herzlicher Liebe und Zuneigung 

Dein treuer Vetter. 


Mitteilungen. 


Berlin. (Zur Fürsorge für geistig Zurückgebliebene) Am 26. März 
wurde hier in einer zahlreich besuchten Versammlung ein „Erziehungs- und Für- 
sorgeverein für geistig zurückgebliebene Kinder“ gegründet. Zweck und Ziel 
des Vereins, der seine Tätigkeit auf Berlin beschränken und den engsten Anschluss 
an bereits vorhandene, ähnlichen Zwecken dienende Vereine erstreben will, bestehen 
darin, Verständnis für die Ausbildung und Erziehung der geistig zurückgebliebenen 
(schwachsinnigen) Kinder zu wecken und zu beleben und an der geistigen, leiblichen, 
sittlichen und wirtschaftlichen Förderung dieser geistig Minderwertigen mitzuwirken. 
Zu diesem Zweck will man das öffentliche Interesse für die bereits bestehenden so- 
genannten Hilfsklassen wecken, um die diese besuchenden bedürftigen Kinder mit 
Nahrung und Kleidung zu versehen und ihnen geeignete Ferienpflege zu verschaffen, 
nach dem Austritt aus der Schule aber für die geistig Zurückgebliebenen eine ge- 
eignete Beschäftigung verschaffen und sie auch späterhin überwachen. Die Ver- 
sammlung genehmigte den Statutenentwurf und einen Aufruf an das grosse Publikum, 
in den um tatkräftige Unterstützung dieses gemeinnützigen Vereins in warmen Worten 
gebeten wird. Zum Vorsitzenden wurde gewählt Schulinspektor Dr. v. Gizicki. 

Leipzig. (Hilfsschule) Der nach Michaeli vergangenen Jahres erschienene 
siebente Jahresbericht über die Hilfsschule für Schwachbefähigte in 
Leipzig unterscheidet sich von seinen Vorgängern dadurch, dass er zugleich ein 
Jubiläumsschriftchen ist. Er schickt deshalb den besonderen Mitteilungen über 
das Schuljahr 1901/02 einen kurzen Rückblick über die Gründung der Hilfsschule 
und über ihre Entwicklung in der Zeit ihres Bestehens voraus. Am 19. November 1901 
waren 20 Jahre verflossen, seitdem die hiesige Hilfsschule nach mehreren vergeblichen 
Anläufen, die bis in die sechziger Jahre zurückreichen, in Gestalt einer einzigen 
Hilfsklasse ins Leben trat. In den dahingegangenen zwei Jahrzehnten wuchs sie bis 
auf 14 Klassen an, in denen 14 Lehrer und 1 Handarbeitslehrerin voll beschäftigt 


*) Man vergleiche Bruno Wille, Offenbarungen des Wacholderbaumes. 


65 


sind. Daneben entstanden nach und nach noch 2 Hilfsklassen in Leipzig-Gohlis für 
die nördlichen und 8 solcher in Leipzig-Plagwitz für die westlichen Vororte. Der 
um das hiesige Hilfsschulwesen und vor allem um die Einrichtung und Ausgestaltung 
unserer Hilfsschule hochverdiente Leiter dieser, Herr Direktor K. Richter, konnte wohl 
mit besonderer Befriedigung auf das durch ihn Geschaffene zurückschauen. Mit tief 
empfundenem Danke gedachte er bei der am Abende des Jubiläumstages im engsten 
Kreise des Kollegiums abgehaltenen, erhebenden Feier der grossen Opferfreudigkeit, 
die unsere städtischen Behörden dem Werke an den Schwachsinnigen entgegen- 
brachten und unentwegt bewahrten. 78247,33 Mk., d. i. gegen 300 Mk. für jedes 
schwachsinnige Kind, wendete die Stadt im Jubiläumsjahre für die Hilfsschule und 
die Hilfsklassen auf, zu welcher Summe sie bei einer Einnahme von 7071,38 Mk. 
einen Zuschuss von 71175,95 Mk. zahlte, — fürwahr ein beredtes Zeugnis von der 
Grösse wohlwollender Fürsorge unserer Stadt Leipzig für die bedauernswerten Schwachen 
am Geist! 

Die ausführlichen Mitteilungen in den Jahrgängen XV, S. 105 ff. und XVIII, 
S. 158 ff. dieser Zeitschrift entheben uns der Aufgabe eingehender Berichterstattung 
über die Entwicklung unserer Hiltsschule seit ihrem Bestehen. Auch aus dem speziellen 
Berichte über das Schuljahr 1901/02 bringen wir nur weniges. Interessieren dürfte 
zunächst eine Zusammenstellung über die körperlichen Gebrechen der 
Schüler, die zwar nur der dem Lehrer besonders auffallenden Fehler gedenkt und 
so auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, aber immerhin einen Einblick in die 
Tiefe des Elendes unserer Schüler gewährt. 


a) Kurzsichtigkeit . . . . . . 4 Knb. 7 Mdch. = 11 
Linksseitige Erblindung Aut Horalisntenbing L „p o — „ = l1 
Schwerhörigkeit 4 „p 83 , = 7 
Stammeln 16 p T p == 23 
Stottern Ben ee 
Epilepsie 8 „ 2o- pe S 
Lähmung rechts l „, — „ = 1 
Lähmung links I a = y åd 
Verkürzung des rechten Panes Lo o = y S d 
Verkürzung des linken Beines . — ,„, 2 , 2 
Verkrümmung der Beine . F y O” 2 
Verkrämmung des Rückgrates . E j 2 ae S 

b) Kurzsichtigkeit und Schwerhörigkeit . 3: 5. a E S 
Kurzsichtigkeit und Stammeln , — , L ag S l 
Kurzsichtigkeit und Stottern E y s a d 
Kurzsichtigkeit und Epilepsie — , L a =: 4 
Stottern und Stammeln 2 „ — „ = 2 
Epilepsie und Stammeln . l p I a en 
Schwerhörigkeit und Stammeln ee A 2 y = $ 
Schwerhörigkeit und Stottern . . . . . — » L a = 1 
Linksseitige Lähmung und Stammeln . . — , L y ee 4 
Linkssəitige Lähmung und Stottern ll. —- ,„, = |] 


66 


Rückgratverkrümmung und Stammeln . . 1 Knb. — Mdch. = 
Beinverkürzung links und Stammeln . . . — ,„ l y = 
Boinverkürzung links und Stottern . . . — » b y 
Linksseitige Lähmung und Kurzsichtigkeit . 1 „ — „ = 
Lähmung und Verkürzung der linken Hand — „ 2 „n = 
Rückgratverkrümmung und Verkürzung des 
rechten Beines . . . 2x 2 2 2 2. 1... 1% 
c) Rechtsseitige Lähmung, Schwerhörigkeit und 
Stammeln . 2 Toy 
Rechtsseitige Lähmung, Stottern u. Sammeln 1 „ — .„ = 1 
Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit u. Epilepsie — ,. 
Lähmung und Verkrümmung beider Beine 
und Epilepsie . . . 2 22... 1 „ —- y c 1 
d) Linksseitige Lähmung, Schwerhörigkeit, 
Stottern und Stammeln . . . . . — li ea 

Nicht weniger als 93 unserer Kinder, d. i. 55 '/, °/,, litten nach obigem an den 
verschiedensten Gebrechen; 31 davon waren doppelt, ja drei- und vierfach belastet. 
Der nächste Jahresbericht wird sich eingehender mit diesem Punkte befassen, indem 
er in eine diesbezügliche Statistik auch die nur dem geübteren Auge des Arztes 
erkeunbaren, tiefer liegenden Mängel mit aufnehmen wird. 

Dann erwähnen wir noch einiges über den Handarbeitsunterricht. In den 
Nähunterricht der Mädchen, der sich sonst in seinem Gange dem Nadelarbeitsunter- 
richte der hiesigen Volksschulen anschliesst und aus ihm das wichtigste entnimmt, 
wurde das Maschinennähen eingefügt, zu dem zunächst die Mädchen der zwei 
oberen Klassen heraugezogen wurden. In den zwei Beschäftigungsstunden, in denen 
sie früher vom Lehrer mit den Knaben zusamınengenommen und besonders mit Vor- 
zeichnen, Ausstechen und Ausnähen oder auch mit Stuhlflechten beschäftigt wurden, 
versuchten sie, von der Nählehrerin angeleitet, die nötigsten Nähte am Maschinen- 
tuche, übten sich im Nähen von Schürzen, Röcken, Hemden u. dergl. 

Weiter kam die Gartenarbeit hinzu. In einem hinter dem Hauptgebäude der 
auch den Klassen der Hilfsschule mit als Unterkunftsort dienenden dritten Bürger- 
schule sich befindenden Hofe, der bis dahin brach lag, wurden vier grössere Beete 
angelegt, die den vier oberen Klassen zugeteilt wurden. Hier arbeiten nun die Kinder 
insbesondere in Sommerhalbjahre und zwar vor allem Montags und Mittwochs nach- 
mittag, indem sie graben und hacken, pflanzen und jäten und dergl. Lässt sich bei 
dem beschränkten Raume die Gartenarbeit auch nur in bescheidenem Masse betreiben, 
so freuen wir uns doch, dies wichtige Erziehungsmittel, das neben gesundheitfördernder 
Betätigung auch genug der geistigen Anregung bietet, in nnseren Plan mit aufge- 
nommen zu haben. H. Müller. 

Leschnitz 0./S. (Erziehungsanstalt für Geistesschwache) Die 
hiesige Anstalt wurde der Schauplatz eines grauenhaften Verbrechens. Der 17 jährige 
Zögling Scholz tötete die bereits zehn Jahre an der Anstalt amtierende Lehrerin 
Marie Bartsch, indem er ihr mit einem Messer den Hals durchschnitt. Der Bursche 
setzte darauf das Zimmer, welches die Lehrerin bewohnte, in Brand und beteiligte 


N m ou u je 


pà 
pt 


ja 
| 


67 





sich mit Eifer an den Löscharbeiten. Seine blutbefleckten Sachen wurden ihm jedoch 
zu Verrätern, und er gestaud sein Verbrechen ein. (Pr. L. Z.) 
Schwelm. (Hilfsschule.) Die hiesige Hilfsschule für schwachbegabte Kinder 
begann ihr drittes Jahr mit einem Bestande von 81 Kindern, 17 Knaben und 14 Mädchen. 
Eine Neuaufnahme fand zu Ostern wegen der für eine Klasse zu hohen Schülerzahl 
nicht statt. Von den Kindern standen im 
15. Lebensjahre 1 Knabe, 


14. » 2 Mädchen, 
18. 4 1 2 1 E 
12. a 1 Š 4 š 
11. z 5 Knaben, 2 » 
10. Š 6 = 8 E 

9. ` 2 j 2 » 

8 a 1 Knabe. 


Nach dem Religionsbekenutnis der Eltern sind 23 Kinder evang.-lutherisch, 2 Kinder 
evang.-reformiert und 6 Kinder katholisch. Seit dem 12. September besuchen die 
katholischen Kinder den Religionsunterricht in der katholischen Schule. Während der 
Sommermonate war der Schulbesuch durch die in Schwelm herrschende Masernepidemie 
stark beeinträchtigt. — Im Laufe des Schuljahres sandten die Städte Bielefeld, Gelsen- 
kirchen, Lüdenscheid, welche für ihre schwachbegabten Kinder Hilfsschulen einrichten, 
Lehrer nach hier, damit diese dem Unterricht in der Hilfsschule zuhörten und nähere 
Informationen einzogen. —- Die hohe Schülerzahl veranlasste den Leiter der Schule in 
einer Eingabe an die Schuldeputation die Notwendigkeit der Errichtung einer zweiten 
Klasse darzulegen. Die Schuldeputation beschloss einstimmig die Errichtung derselben 
und brachte den Beschluss vor die städtischen Behörden. Die Vorlage wurde am 
9. Oktober 1902 von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig genehmigt und die 
Anstellung eines zweiten Lehrers beschlossen. Gewählt und von der Kgl. Regierung 
bestätigt wurde Lehrer Soost aus Barmen; er tritt am 1. Juli seine Stellung hier an. 

Treysa. (Hephata.) In unserer Erziehungs- und Pflegeanstalt für Schwach- 
sinnige und Krüppel weilten zu Beginn des Jahres 1902 141 Zöglinge (85 K. und 
56 M.). Der Zugang betrug 55 Zöglinge (35 K. und 20 M.). Es wurden also ver- 
flegt im Jahre 1902 196 Zöglinge (120 K. und 76 M). Am Schulunterricht nahmen 
96 Zöglinge teil. Aus der Schule wurden entlassen 23, nur beschäftigungs-, aber 
nicht schulfähig waren 29 Zöglinge.e Die übrigen konnten nur verpflegt werden. 
Von den Knaben erlernten die Bürstenmacherei 12, die Korbmacherei 5, die Gärt- 
nerei 6, die Schreinerei 3, die Schneiderei 4, die Schlosserei 1, die Seilstrickerei 31, 
mit landwirtschaftlichen Arbeiten u. dergl. mehr wurden 18 beschäftigt. Von den 
Mädchen erlernten 35 die weiblichen Handarbeiten, in der Küche wurden 2, in der 
Wäscherei 3 und in der Hausarbeit 4 beschäftigt. 37 der Zöglinge sind verkrüppelt 
oder gelähmt, 6 haben nur 4 Sinne (sind taubstumm oder blind), 3 haben nur 3 Sinne 
(sind taubstumm und blind zugleich), 23 können nicht gehen, 19 leiden an Krämpfen. 
` Wandsbeck. (Hilfsschule.) Hier beabsichtigt man für Ostern d. J. eine 
einklassige Hilfsschule zu errichten. 





nn 
~ 
> “A 
Fà 


68 


e e für den 1V. Verbandstag der Hilfsschulen 
 Deuisehliinds zu Mainz am 14., 15. und 16. April 1903. 


Dienstag, den 14. April. 
1. Näthmittags 4 Uhr gemeinsame Sitzung des Verbandsvorstandes 
und .deg Ortsausschusses. 
2. Abends 7!/, Uhr Vorversammlung im Probesaale der „Liedertafel®, 
Grosse Bleiche 56. 
a) Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. — Hauptlehrer 
Giese- Magdeburg; 
b) Können die Kinder der Hilfsschule zwangsweise zugeführt werden? — - 
Rektor Grote- Hannover; 
c) Rechnungsablage und Revision der Kasse; 
d) Vorstandswahl. | 
(Von mittags 2—6. Uhr werden auf dem Empfangsbureau „Rheinische Bierhalle“, 
gegenuber dem Hauptbahnhof, den ankommenden Gästen „Führer“ und Festzeichen 
abgegeben und sonst jede Auskunft erteilt.) 


Mittwoch, den 15. April. 
l. Morgens 9 Uhr Hauptversammlung im Konzertsaale der „Liedertafel‘“. 

a) Das schwachbegabte Kind im Hause und in der Schule. — Hilfsschul- 
leiter Delitzsch -Plauen i. V.; 

b) Die Berücksichtigung der Schwachsinnigen im \ bürgerlichen und öffent- 
lichen Rechte des deutschen Reiches. — Oberamtsrichter Nolte- 
Braunschweig; 

c) Beratung über die dem 2. Verbandstage vom Hauptlehrer- Kielhorn- 
Braunschweig vorgelegten Leitsätze. 

2. Nachmittags 2'/, Uhr gemeinsames Mittagessen. 

. Besichtigung der Stadt: Dom, Römisch-germanisches Museum. 

4. Abends 8 Uhr Festabend in der Stadthalle am Rhein, veranstaltet von 
5 Mainzer Gesangvereinen. 


o 


Donnerstag, den 16. April. 

Besuch der psychiätrischen Klinik in Giessen oder der Erziehungs- 
anstalt Idstein i. T. — In Giessen wird Herr Universitätsprofessor Dr. Sommer 
über „angeborenen Schwachsinn“ sprechen. (Ort und Zeit der Abfahrten werden 
in der Hauptversammlung bekannt gegeben.) 





Inhalt. Unterrichtliche Spaziergänge mit Schülern der Hilfsschule. (Th. Fuhr- 
mann.) — Wir Werdenden ... (K. Ziegler.) — Mitteilungen: Berlin, Leipzig, Lesch- 
nitz O.S., Schwelm, Treysa, Wandsbeck. — Tagesordnung des IV. Verbandstages . der 
Hilfsschulen Deutschlands zu Mainz am 14., 15. und 16. April 1908. 


Für die Echriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 








= | 1HE NEW YORK 
Jy 16 1er " EUSRARY 


Nr. 6 u. 6. XIX. AIM Jahrg. re, 
@ o 
Leitsehrift 
für die 


Behandlung, Schwachsiniger und Enileptischer 


Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. 





Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitäterat Dr. med, H. A. Wildermuth, 
: Spezialarat 
Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. In Stattgart. 


Erscheint jährlich In 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

mindestens einem Bogen. Anzeigen für J j 1903 und Postäinter, wie auch direkt von der 

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- un ° | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Bellagen 6 Mark. | einzelne Nummer b0 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift BASE Eigentum der Herausgeber. 





Beitrag zur Epileptikerbehandlung. 

Von Oberarzt Di. Ackermann, II. Arzt der K. S. Heil- und Pflegeangtalt Hochweitzschen. 
`. Die in die Anstalt neu aufgenommenen Kranken empfiehlt es sich der 
Aufnahme- bezw. Beobachtungsstation zu überweisen, sie eventuell zu Bett zu 
legen und dann längere oder kürzere Zeit zunächst im Bett zu halten. Den 
meisten besonders weiblichen Kranken und Kindern tut nach den vorherge- 
gangenen Aufregungen und Anstrengungen, die mit deın Abschied aus den 
heimatlichen Verhältnissen und . der Reise nach der Anstalt erklärlicherweise 
verbunden sind, die anfängliche Bettruhe recht wohl. Da auf diese Weise auch 
die Überwachung und Beobachtung von seiten des Pflegepersonales eine wesent- 
lich leichter auszuführende ist, so kann diese Art der ersten Verpflegung nur 
auf das angelegentlichste empfohlen werden. Sehr zu berücksichtigen ist bei 
frisch zugeführten Kranken der Umstand, ob dieselben bereits vor ihrer Zu- 
führung Antiepileptica, insbesondere Bromsalze erhalten haben. Da bekanntlich 
ein brüskes Aussetzen dieser Medikamente das Auftreten gehäufter Anfälle mit 
ihren unter Umständen lebensgefährlichen Folgen begünstigt, so muss "auch in 
dieser Hinsicht vorsichtig zu Werke gegangen, das heisst den Kranken zunächst 
das Medikament in der bisherigen Dosis weiter gegeben und nur allmählich 
damit herabgegangen werden. Da die Bettruhe an und für sich. in vielen Fälleh 
schon günstig auf die Epileptiker wirkt, so wird man durch anfänglich ver- 
ordnete diesbezügliche Behandlung um so eher vor Uneugenehmmen Überraschunger 
nach dieser Richtung hin bewahrt bleiben. : 
Die Bettbehandlung. wird auch sonst noch bei unseren Kranken vielfach 
und mit grossem Vorteil in Anwendung gebracht. Die Bettstationen gewähren 


70 

einerseits einem gewissen Stamm von Patienten dauernde Unterkunft (chronisch 
unrubige, körperlich und geistig hinfällige), die sonst noch vorhandenen Plätze 
werden aber von einem ziemlich häufig wechselnden Publikum in Anspruch ge- 
nommen; Kranke, die an gehäuften Anfällen leiden, die sich im prae- oder post- 
epileptischen Dämmerzustand befinden u. s. f, finden hier geeignete Pflege. Auf 
diese Weise ist es möglich, die soeben näher bezeichneten, insbesondere auch 
die unruhigen Kranken der Bettbehandlung teilhaftig werden zu lassen und die 
Isolierung auf ein kaum nennenswertes Mindestmass zu beschränken. 

Im Rückblick auf den neuerdings so heftig entbrannten Streit zwischen den 
Anhängern der Zellen- und denjenigen der zellenlosen Behandlung mag hier 
ausdrücklich Erwähnung finden, dass nach den hierorts gemachten Erfahrungen 
der Behauptung, dass gerade Epileptiker sich weniger für die zellenlose Ver- 
pflegung eigneten, nicht beigetreten werden kann. Wie überhaupt in der Therapie 
jedes einseitige Vertreten und Verfechten eines Prinzips seine grossen Bedenken 
hat, so ist es auch hinsichtlich der Isolierung Geisteskranker im allgemeinen und 
Epileptischer im besonderen. Jeder Fall liegt anders. Aber soviel kann wohl 
gesagt werden, dass wenigstens bei unseren Kranken, wobei allerdings bemerkt 
werden mag, dass chronisch tobsüchtige nach den Bestimmungen des Regulatives 
von der Aufnahme ausgeschlossen bezw. nach einer Pflegeanstalt zu versetzen 
sind, nur äusserst selten ein Fall sich findet, der mit Bettruhe nicht zu behandeln 
wäre, bei dem also Verbringung in das Einzelzimmer unter allen Umständen 
stattfinden müsste. Es wird deshalb bier in Hochweitzschen insofern einem 
Prinzip gehuldigt als zunächst aufgeregte Kranke auf den gemeinsamen Saal 
in das Bett gebracht werden, und die Erfahrung hat gelelırt, dass Fälle, die ınan 
früher einfach in die Zelle sperrte und von denen man eine Beruhigung im Bett 
kaum erwartet bätte, sich doch tatsächlich im Bett beruhigten. Belästigen 
die Kranken ihre Umgebung und hat man die Füglichkeit, sie im Bett in ein 
Einzelzimmer unter ständiger Beaufsichtigung von Pflegepersonal zu bringen, so 
soll man den übrigen Kranken diese Wohltat erweisen, unter Umständen wird 
man dadurch auch dem vielleicht durch seine Umgebung ebenfalls irritierten 
Kranken eher Ruhe verschaffen. 

Im Anschluss hieran mag noch die Frage der medikamentösen Beruhigungs- 
therapie gestreift werden. Dieselbe dürfte zum Teil wenigstens in innigem 
Konnexe mit der Platzirage stelen. Je mehr man die Möglichkeit hat, die 
Kranken zu dislozieren, um eventuell ein störendes Element zu eliminieren oder 
ein solches aus der Nähe eines ihm unangenehmen Patienten in sympatischere 
Verhältnisse zu bringen, um so mehr Ruhe wird man auf der Abteilung haben. 
Jedenfalls ist der Verfasser kein Anhänger der forzierten Narcoticaverordnung. 
Auch hier ist eine kausale Therapie, die Erörterung der Gründe, woher kommt 
die Erregung, wodurch ist sie bedingt, am Platze. Und tatsächlich lässt sich 
dann durch Verlegung und andere Gruppierung der Patienten zunächst schon 
viel erreichen, zumal bei unseren Kranken, den Epileptikern, die Reizbarkeit 
und Unverträglichkeit mit gewissen Elementen in der Umgebung eine grosse Rolle 
spielt. Auf die Dauer zeitigt auch das anhaltende Verordnen grosser Dosen von 


71 
Narcotieis, mögen sie nun von dem sie Empfehlenden als noch so harmlos an- 
gepriesen werden, bei den betreffenden Kranken sicher eine vermehrte Reizbarkeit. 
Es bildet sich auf diese Weise ein bedenklicher circulus vitiosus. 

Auch mit Dauerbädern wurden — neben der Bettbehandlung — bei auf- 
geregten Kranken mit meist günstigem Erfolge hier Versuche gemacht, wenn 
auch bisher noch nicht in grösserem Umfange. Jedenfalls hat sich nach der 
bisherigen Erfahrung die Befürchtung, dass dieselben dem Epileptiker in bezug 
auf sein Grundleiden schädlich sein möchten, nicht als begründet erwiesen. Für 
das Irrige dieser Annahme spricht ja auch die Tatsache, dass man selbst beim 
Status epilepticus d. i. bei gehäuften Anfällen anderwärts die Kranken viele 
Stunden — selbst Tage — im Dauerbad gehalten hat. Zweifellos günstig wirkt 
bei dieser Art der Beruhigungstherapie auf die Aufregungszustände der Kranken 
oft schon der Umstand, dass die letzteren durch die Verbringung in das Bade- 
zimmer aus ihrer bisherigen Umgebung herausgenommen werden. 

Was nun die spezifisch, medikamentöse Behandlung der Epileptiker an- 
betrifft, so erhält die Mehrzabl unserer Kranken noch Brompräparate, neuerdings 
häufiger in Gestalt des Bromnatriums. Hierbei mag nicht unerwähnt bleiben, 
dass Verfasser auch in dieser Beziehung mit Alt-Uchtspringe sympathisiert, 
der eine kritiklos angewandte Bromdarreichung direkt verwerflich nennt und dem 
Ausspruche des berühmten englischen Nervenarztes Seguin „einen Fall einmal 
sehen und eine Bromkur verordnen ist eine höchst tadelnswerte Nachlässigkeit“ 
volle Berechtigung zuspricht. Dies wird uns aber nicht verhindern, die ausser- 
ordentlich segensreiche und in so vielen Fällen zweifellos die Epilepsie in hohem 
Masse lindernde Wirkung der Brompräparate anzuerkennen und diese Tatsache 
allein genügt, um dieselben zu den wertvollsten, zur Zeit unersetzlichen Bestand- 
teilen unseres Arzneischatzes zu machen. Die Ermittelung der in dem einzelnen 
Falle erforderlichen und dienlichen Tagesdosis und die auf Grund dieser Er- 
fahrungen konsequent weitergeführte Verordnung derselben ist Aufgabe des 
Arztes, ebenso wie es Pflicht desselben ist, bei denjenigen Patienten, deren Leiden 
nachgewiesenermassen auch durch hohe Bromgaben nicht oder gar ungünstig be- 
einflusst wird, die eingeschlagene Therapie zu sistieren. Bei der Beurteilung der 
Kranken sind wir hier mehr wie je auf die Angaben und auf die Sorgfalt in 
der Buchführung und Berichierstattung des Pflegepersonales angewiesen und es 
kann dieses deshalb nicht oft und nicht eindringlich genug auf die Wichtigkeit seiner 
dienstlichen Pflichten und auf die treue Erfüllung derselben hingewiesen werden. 

Von neuerdings empfohlenen Bromverbindungen wurden Versuche mit Bromo- 
coll angestellt. Das letztere ist seiner chemischen Zusammensetzung nach eine 
Di-Brom-Tannin-Leimverbindung und enthält etwa 20°), Brom, also bedeutend 
weniger als Bromkalium, dessen Bromgehalt ungefähr dreimal so gross ist. Bei unseren 
unter Berücksichtigung dieser Verhältnisse mit Bromocoll behandelten Patienten 
sind die diesem Heilmittel zugeschriebenen Wirkungen nicht zu beobachten ge- 
wesen. Der Einfluss desselben auf die Häufigkeit und Heftigkeit der Anfälle 
war ganz gering, bei einigen ziemlich edmenten Kranken äusserte sich die 
Wirkung des Mittels in Zunahme der Benommenheit, so dass der Gebrauch aus- 


12 

gesetzt wurde. Eine Anzahl von Kranken weigerte sich auch, das Mittel im 
trockenen Zustande einzunehmen (Schwerlöslichkeit). Der einzige deutliche Er- 
folg, der hier beobachtet wurde, bestand darin, dass bei einigen mit Bromaone 
behafteten Patienten die Hauterkrankung verschwand und auch nach monate- 
langem Gebrauch der gewöhnlichen Broınpräparate nicht zum Vorschein kam, 
während die Anfälle auch hier nicht beeinflusst wurden. Der Widerwille der 
Kranken gegen die Einnahme des Mittels war bei der Pulverform wie bei der 
Tablettenform der gleiche. Ein wesentliches Moment gegen den weiteren Ge- 
brauch des Mittels bildet schliesslich sein hoher Preis. Versuche mit Bromocoll- 
salben gegen Hautkrankheiten sind hier nicht gemacht worden. 

Die von Strümpell empfohlene Kombination von Brom mit Chloral (Be- 
handlung der genuinen Epilepsie, Handbuch der Therapie, herausgegeben von 
Dr. F. Pentzoldt und Dr. R. Stintzing) erwies sich in einigen Fällen mit 
sehr häufigem Petit-mal von besonders günstigem Erfolg. 

Die von Bechterew in die Behandlung eingeführte Verbindung der Brom- 
salze mit Adonis vernalis wurde in den mit Herzfehlern komplizierten Fällen 
von Epilepsie mit befriedigendem Resultate in Anwendung gezogen. 

Auch wurde nach Vorgang von Alt-Uchtspringe ausgiebiger Gebrauch 
von Jodkalium gemacht und zwar zunächst und hauptsächlich wurde dasselbe 
Patienten, in deren Vorgeschichte luetische Infektionen zu konstatieren waren 
und dann solchen Kranken, deren Leiden auf Herderkrankungen des motorischen 
Rindengebietes basierte, verabreicht. Da die Versuche noch nicht abgeschlossen 
vor uns liegen, wird der Erfolg dieser Kuren Gegenstand späterer Bericht- 
erstattung sein müsssen. 

Im Vordergrund des therapeutischen Interesses stand in der jüngsten Zeit 
in Hochweitzschen die bereits im Jahre 1900 bei verschiedenen Kranken ein- 
geleitete metatrophische Behandlung der Epilepsie nach dem Vorgange von Richet 
und Toulouse. Die von Oberarzt Dr. Krell im Irrenfreund (XLI. Jahrgang, 
Nr. 11 u. 12) referierten Beobachtungen fanden auch im weiteren Verlaufe Be- 
stätigung. Vor allen Dingen soll auch hier wieder darauf hingewiesen werden, 
was damals schon betont wurde, dass diese Behandlungsart sich nur für Anstalts- 
kranke eignet, da sie unter Umständen nicht ungefährlich ist, ziemlich plötzlich 
Bromvergiftungserscheinungen herbeigeführt und daher beständiger ärztlicher 
Überwachung bedarf. Die Vorsicht gebietet, dass man, wie dies auch Balint- 
Budapest hervorhbebt, mit kleinsten Bromdosen beginnt. Es ist hier mit Bruch- 
teilen eines Grammes Bromnatrium pro die der Anfang gemacht worden. Die 
Wirkung der Bromsalze und nach den hiesigen Versuchen, speziell des Brom- 
natriums, ist eben bei der chlorarmen Diät eine so hochgradig gesteigerte, dass 
man mit kleinsten Gaben recht wohl auszukommen vermag. Es dürfte diese 
Erscheinung auch das Charakteristikum dieser Therapie sein. Diese geringer zu 
bemessende Einfuhr der Bromide, die an und für sich mit Freuden zu begrüssen 
wäre, gereicht aber leider dem Organismus nicht zum Vorteil, da eben verhältnis- 
mässig kleine, sonst wohlbekömmliche Dosen .bei chlorarmer .Diät bereits der- 
artig deletäre Folgen haben, wie sie sonst bei normaler Kost erst bei hohen 


Gaben in die Erscheinung treten. Dazu kommt, dass andrerseits die Verab- 
reichung von künstlich salzfrei gemachter Nahrung auf die Dauer hygienisch 
als nicht unbedenklich zu erachten ist. Es erscheint nicht unmöglich. dass 
einige Hautstörungen bei zwei weiblichen, plötzlich auftretender Decubitus bei 
zwei männlichen Kranken mit der Hypochlorierung in ätiologische Verbindung 
zu bringen sind; die Annahme, dass es sich hierbei um Symptome von Bromis- 
mus, der ja bekanntlich in den mannigfachsten krankhaften Hautveränderungen 
zum Ausdruck kommt, handelt, soll nicht vollständig von der Hand gewiesen 
werden. Von zahnärztlicher Seite wurde eine Erscheinung an den Zähnen einer 
mit chlorarmer Diät behandelten Tatientin in ursächlichen Zusammenhang mit 
dem verordneten Kostregime gebracht und dürfte auch dieser Behauptung durch- 
aug nicht jegliche Berechtigung abgesprochen werden. In Anbetracht des Um- 
standes, dass man zunächst hinreichende Erfahrungen mit der neuen Behandlungs- 
art gemacht zu haben glaubte und in Erwägung der eben beschriebenen Ver- 
hältnisse beschloss man zunächst von einer Fortsetzung der Versuche abzusehen. 
Zu bedauern ist, dass in Ermangelung geeigneter Apparate und des diesbezüglich 
vorgebildeten Beamtenpersonales von einer Vornahme von Stoffwechselunter- 
suchungen bei diesen mit chlorarmer Diät beköstigten Patienten nicht hat vor- 
genommen werden können. Die geplante Errichtung eines Laboratoriums für 
physiologisch-chemische Analysen und die bereits erfolgte Anstellung eines 
Anstaltsapothekers dürfte in Zukunft die Füglichkeit bieten, derartige Unter- 
suchungen hier vorzunehmen. 

Der Kuriosität halber mag hier erwähnt werden, dass man anderwärts 
therapeutische Versuche bei Epilepsie mit Verabreichung von erheblichen 
Mengen von Kochsalz und wie es scheint mit teilweisem Erfolg gemacht hat. 
Bemerkt wird aber und dies spricht für die Berechtigung der metatrophischen 
Behandlung, dass bei der Kochsalztherapie in einzelnen Fällen das Auftreten ge- 
häufter Anfälle beobachtet worden ist. 

Zu den gefürchtetsten Ereignissen, die in früherer Zeit in der Epileptiker- 
anstalt sich einzustellen pflegten, gehört der Status epilepticus, d. i. das der- 
artig gehäufte Auftreten der Anfälle, dass unter Umständen einzelne Intervalle 
zwischen ihnen nicht mehr deutlich zu erkennen sind. Diese Zustände sollen 
nach einigen Beobachtern an und für sich seltener in den Anstalten geworden 
sein und mag das umsomehr der Fall sein, je besser und intensiver die 
Patienten in gesundheitlicher Beziehung überwacht werden. Diese Paroxysmen 
haben aber auch entschieden in ihrer Furchtbarkeit eingebüsst, seit durch Wilder- 
muths Verdienst das Amıylenhydrat in die Epilepsiatrie eingeführt worden ist. 
Die trostlose Situation, in der man sich als Arzt befand, wenn man zu einem 
Status epilepticus hinzugerufen wurde, liess den Verfasser in den ersten Jahren 
seiner hiesigen Tätigkeit unausgesetzt auf die gegen diese Zustände empfohlenen 
Massnahmen, so weit sie in der Literatur bekannt wurden, sein Augenmerk 
richten. Die Versuche, die von Habermaas-Stetten, dem Nachfolger Wilder- 
muths, angestellt und bei denen das Amylenhydrat subcutan gegeben beim 
Status elepticus sich von geradezu lebensrettender Wirkung erwiesen haben sollte, 


a 


wurde vom Verfasser in der Weise nachgeprüft, dass er es in der Form von 
Klystieren einführen liess. Die prompten Erfolge, welche hierdurch herbeigeführt 
wurden, liessen Verfasser weitere Kreise im Junibeft 1896 dieser Zeitschrift auf 
die vorzügliche Wirkung des Amylenlhydrats erneut aufmerksam machen. Auf 
der 59. ordentlichen Versammlung des psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz 
am 19. Juni 1897 zu Bonn referierte Flügge, dass er in der Anwendungsweise 
dem Vorgange des Verfassers dieses folgend bei Erwachsenen 5., g Amylen- 
hydrat in 50., g Wasser und 20,, g Mucilago gummi arabici gegeben habe. 
Erwies sich diese Menge nicht als ausreichend, so wurde nach einigen Stunden 
noch die Hälfte der angegebenen Dosis appliziert, nur in 2 Fällen erreichte man 
erst mit 10, g (2>x<5,, g mit einer zwischenliegenden P.ıuse von 4 Stunden) 
den gewünschten Erfolg. Eine üble Einwirkung auf das nachherige geistige oder 
körperliche Befinden des behandelten Kranken wurde niemals konstatiert. Bei 
der Applikation des Klysma hat sich auch nach Flügges Erfahruugen die 
strenge Befolgung weiterer, vom Verfasser damals empfohlener Regeln, die loco 
citato wiederholt sind, als ungemein wichtig und in Frage kommend heraus- 
gestellt. Gleichgünstige Erfahrungen haben nach Flügge in dieser Beziehung 
gemacht Alt-Uchtspringe, der in seinem II. Verwaltungsberichte schreibt 
„Bei der Bekämpfung des Status epilepticus erwies sich das Amylenhydrat in 
subcutaner und rectaler Darreichung nach wie vor als das wirksamste Mittel.“ 
Auch Dr. Naab -Bethel bei Bielefeld (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie ete., 
57. Band, 1900) nennt die Verabreichung des Amylenhydrats im Kiysma die 
gebräuchlichste, in neuerer Zeit fast ausschliesslich geübte Methode. Desgleichen 
schreibt Binswanger (Die Epilepsie, Spez. Path. u. Ther. XII. Band) dem 
Amylenhydrat sowohl bei innerer Darreichung, und da dieselbe bei schweren 
soporösen Zuständen nicht möglich ist, per Klysma eine günstige Wirkung zu, 
Dieser Autor gibt an, dass er bei Status epilepticus auch vom Chloralhydrat 
einen guten Erfolg gesehen habe, während Naab (siehe oben) keine sehr günstigen 
Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht haben will. In einigen leichteren Fällen 
wurde auch bei uns Chloralhydrat mit Nutzen angewendet. Ebenso konnte man 
sich von der günstigen Wirkung des Chloroforms in einem unserer Fälle über- 
zeugen. Da die Epilepsie eine ätiologisch so eminent verschiedene Krankheit ist, 
so wäre von Haus zu erwarten, dass die Applikation von Amylenhydrat uns beim 
Status epilepticus auch hier und da im Stiche lassen würde. In der Tat wollte 
es uns scheinen, dass in manchen Fällen von partieller (Jacksonscher) Epilepsie 
die Wirkung keine so recht prompte gewesen wäre. 

Dem Amylenhydratklystier soll die Applikation eines Reinigungsklystiers 
voraufgehen und nicht selten war besonders bei Kindern, aber auch bei Er- 
wachsenen infolge dieser letzteren Massregel schon ein Nachlassen der Paro- 
xysınen zu beobachten. Dieser günstige Einfluss der mechanischen Reinigung 
führt uns aber auf die neuerdings vielfach vertretene Ansicht, dass es sich an 
und für sich in vielen Fällen, besonders bei der sogenannten idiopathischen 
Epilepsie um Intoxikationserscheinungen handelt, die eben beim Status epilepticus 
ganz besonders in den Vordergrund treten. Dass bei solchen Erwägungen die 


75 
Eliminierung der Toxine aus dem Körper von hervorragender Bedeutung sein muss, 
dürfte klar auf der Hand liegen. 

Auf Beschaffung angemessener und zweckdienlicher Ernährung hat der Arzt 
bei dem Epileptiker ganz besondere Sorgfalt zu verwenden. Bezüglich der 
Getränke mag hier noch Erwähnung finden, dass in Hochweitzschen das Bestreben 
vorherrschend ist, Alcoholica für Epileptiker prinzipiell zu untersagen. Aus 
diesem Grunde ist auch der Verbrauch des einfachen Bieres allmählich auf ein 
Mindestmass beschränkt worden. Die Ansicht, dass das „Einfache“ in dieser 
Beziehung ganz harmlos sei, ist irrig. Erst kürzlich hat Dr. Süss, Assistent am 
hygienischen Institute der Technischen Hochschule zu Dresden gelegentlich eines 
Vortrags in dem Vereine deutscher Chemiker den Prozentgehalt an Alkohol der 
einfachen Biere anf 1,,5,— 2,4, angegeben. Der Verfasser hat in früheren Jahren, 
als bei Festlichkeiten noch einfaches Bier gereicht wurde, an hiesigen Kranken 
die berauschende Wirkung in grösserer Menge wenossenen einfachen Bieres be- 
obachten können. Neuerdings erhalten die Kranken hiesiger Anstalt auch bei 
festlichen Gelegenheiten, Tanzbelustigen und dergleichen ausschliesslich Limonade, 
die uns ein Mineralwasserapparat wohlfeil liefert. Nicht selten hört man auch 
von ärztlicher Seite den Einwurf, dass man doch die Kranken das einfache Bier 
ruhig trinken lassen möge. Hierzu muss gesagt werden: Die Frage der Alkohol- 
abstinenz in der Epileptikeranstalt hat eine prinzipielle Bedeutung und zwar nach 
der erzieherischen Seite hin. Speziell in der Heilanstalt für Epileptische soll 
den Kranken systematisch, tagtäglich und möglichst eindringlich zum Be- 
wusstsein gebracht werden, dass für sie der Alkohol in jeder Form ein ganz 
besonders starkes und deshalb ängstlich zu meidendes Gift ist. Die Patienten 
sollen hier zu einer Lebensweise erzogen werden, deren hygienische Grundzüge 
sie auch sach ihrer Entlassung zu befolgen haben. Die Epileptikerheil- 
anstalt hat demnach in gewisser Beziehung genau dieselben Aufgaben wie z. B. 
die Kuranstalt für Schwindsüchtige: Die Kranken zu einer vernünftigen, ihnen 
zuträglichen Lebensweise anleiten. 

Die Arbeit in der Irren- und Epileptikeranstalt soll nicht als „Selbstzweck, 
sondern als ein im Interesse der Pflezlinge erwünschtes Mittel zur Gesundung 
und Beruhigung aufgefasst werden“. Die Dosierung hat von seiten des Arztes 
zu geschehen und ist: dieser Umstand bei dem in seinem Befinden so zahlreichen 
Schwankungen unterworfenem Epileptiker ganz besonders zu betonen. 

Die Erteilung des Unterrichts der kranken Kinder — in hiesiger Austalt 
betrug die Zahl derselben im Jahre 1901 durchschnittlich 48 — erfordert eine 
grosse Geduld und Ausdauer von seiten des Lehrers. Aber nicht allein die Ge- 
duld ist es, die als Erfordernis an einen Lehrer für epileptische und schwach- 
sinnige Kinder gestellt werden muss, es gehört auch ganz besondere Befähigung 
und gute Beanlagung dazu. Es liegt dies eigentlich klar auf der Hand und 
doch wird es noch viel zu wenig — wohl zum Teil selbst in pädagogischen 
Kreisen — anerkannt. Ws ist dem Verfasser deshalb eine um so grössere Freude 
gewesen, erst kürzlich aus dem Munde des Leiters einer grossstädtischen Schule, 
der auch eine Abteilung für Schwachbelähigte angegliedert ist, zu hören, dass 


u, 


er für seine Person als Lehrer für diese Klasse nur ganz hervorragend befähigte 
Kräfte bestimmt und auch unter diesen wieder eine besonders strenge Auswahl 
halten muss. Das Beste scheint ihm eben für diesen Zweck gerade gut genug! 


| Bericht 
über den IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 
zu Mainz am 14., 15. und 16. April 1903. 
Von Fr. Frenzel-Stolp i. Pom. 

Über die Verhandlungen des Verbandstages erscheint ein eingehender Bericht 
als Sonderdruck, auch wird darüber in der „Zeitschrift für Kinderforschung“ aus- 
führlich berichtet. Wir können deshalb auf eine ausführliche Berichterstattung 
verzichten, wollen aber unsern Lesern doch eine Gesamtübersicht über die Ver- 
handlungen des Verbandstages bieten und die in mancher Beziehung recht 
interessanten und anregenden Darbietungen mit einigen Bemerkungen begleiten. 

Die Vorversammlung, welche am 14. April abends 7 Uhr im „Heilig- 
Geist-Restaurant“ stattfand, war von etwa 200 Teilnehmern besucht, darunter 
befanden sich Vertreter von Ministerien, Regierungen, Schulbehörden und Städten; 
auch Ausländer waren erschienen, u. a. aus der Schweiz, England und Österreich- 
Ungarn. Nach einer kurzen Begrüssung durch den Verbandsvorsitzenden, Stadt- 
schulrat Dr. Wehrhahn-Hannover hielt Hauptlehrer Giese-Magdeburg einen 
Vortrag über „das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule“*), der zur 
Annahme folgender Leitsätze führte: 

l. In der Hilfsschule kommen auf der ersten Stufe Addition und Sub- 
traktion im Zahlenraume von 1—5 und auf der zweiten Stufe dieselben 
Grundrechnungsarten von 1—10 zur Behandlung. 

2. Durch mannigfache und häufige Veranschaulichung und praktische 
Selbsttätigkeit der Schüler wird Bechenverständnis angebahnt. 

3. Durch vielseitige Übung und unermüdliche Wiederholung ist Rechen- 
fertigkeit zu erzielen. 

4. Für die Hilfsschule ist ein den Verhältnissen derselben angepasstes 
Rechenbuch wünschenswert. 

In der Debatte, die ungemein lebhaft geführt wurde, kamen verschiedene 
Meinungen über den ersten Rechenunterricht zum Ausdrucke, unter denen be- 
sonders die des Schulinspektors Scherer-Worms unsere Beachtung verdient. 
Er verlangte individuelle Behandlung des Rechenunterrichts und Anschluss des- 
selben an den „Werkunterricht*. Nach dem Grundsatze: Was der Mensch 
darstellen kann, das versteht er, hat seine Forderung eine gewisse Berechtigung. 
Eine genaue psychologische Darstellung des Rechnens hätte für unsere Schulen 
einen grossen Wert, allein daran fehlt es noch immer. Es wäre wirklich 
lohnend, die Frage: Wie entstehen und entwickeln sich ursprüngliche 
Zahlvorstellungen bei unsern Schülern? auf Grund psychologischer Be- 
obachtungen zu beantworten. Ohne die Beantwortung dieser Frage schweben alle 
Rechenmethoden, deren es jetzt eine ganze Menge gibt, in der Luft. Daher 


 *) Siehe Seite 87. 


17 
müssen wir es uns auch versagen, auf die Auseinandersetzungen anderer Redner 
einzugehen, da wichtige Fragen von prinzipieller Bedeutung nicht von ihnen be- 
rührt wurden. 

Rektor Grote-Hannover referierte über die Frage: Können die Kinder 
zwangsweise der Hilfssehule zugeführt werden? Seine Ausführungen riefen 
einen lebhaften Meinungsaustausch hervor und führten zur Annahme folgender 
Leitsätze: 

1. Es liegt im Interesse der Gemeinde, der Schule, des schwachbefähigten 
Kindes und seiner Eltern, dass da, wo Hilfsschulen bestehen, jedes schwach- 
befähigte schulpflichtige Kind die Hilfsschule besucht. 

2. Es muss durch gesetzliche Bestimmungen oder behördliche Ver- 
fügungen die Möglichkeit gegeben werden, Kinder, welche als schwachbefähigt 
erkannt sind, auch gegen den Willen der Eltern der Hilfsschule zu über- 
weisen. 

3. Die zwangsweise Überweisung hat nur da einzutreten, wo Eltern 
hartnäckig ihre Einwilligung zur Überführung ihres Kindes in die Hilfsschule 
verweigern, oder ihren Kindern nicht einen entsprechenden Unterricht an- 
gedeihen lassen. 

4. Die zwangsweise Überweisung ist abhängig zu machen von einer 
pädagogischen und ärztlichen Feststellung der Schwachbefähigung des zu 
überweisenden Kindes, 

5. Der Erlass gesetzlicher Bestimmungen vder behördlicher Verfügungen, 
welche die zwangsweise Überweisung von Kindern in die Hilfsschule er- 
möglichen, ist überall da anzustreben, wo zur Zeit solche Bestimmungen 
oder Verfügungen noch nicht bestehen. 

Die Hilfsschullehrer wollten anfänglich durch die Erfolge ihrer Tätigkeit 
die Eltern willig und geneigt machen, ihre Kinder den Hilfsschulen anzuvertrauen. 
In den meisten Fällen ist ihnen dieses auch gelungen, und nur selten waren 
besondere Massnahmen erforderlich. Bei der heutigen Ausbreitung der Hilfs- 
schulen wäre es nun an der Zeit, wenn durch gesetzliche Bestimmungen die 
Einschulung schwachbegabter Kinder in die Hilfsschulen besonders geregelt 
würde, wie dieses z. B. schon in Braunschweig durch ein Landesgesetz geschehen 
ist. Das preussische Unterrichtsministerium scheint die Auffassung zu vertreten, 
dass die Hilfsschulen nur eine besondere Veranstaltung der Volksschulen 
bedeuten; es hat daher in einigen Fällen die Beschwerden der Eltern gegen 
die Einschulung ihrer schwachbegabten Kinder in die Hilfsschulen als ungerecht- 
fertigt zurückgewiesen. Einzelne Bezirksregierungen, z. B. die Königliche Regierung 
zu Erfurt, sind dieser Auffassung beigetreten und ordnen im Weigerungsfalle 
die zwangsweise Einschulung in die Hilfsschulen an. Um jedoch eine Gleich- 
mässigkeit in der Behandlung solcher Fälle zu erzielen, wäre ein Erlass gesetz- 
licher Bestimmungen oder behördlicher Verfügungen über die zwangsmässige 
Einschulung schwachbegabter Kinder in die Hilfsschulen anzuerstreben. Zur 
Erreichung dieses Zweckes können zwei Wege beschritten werden; es kann ent- 
weder der Vorstand des Verbandstages an massgebenden Stellen in diesem Sinne 


18 


petitionieren, oder die betreffenden Schulen resp. Schulverwaltungen, wo Weigerungs- 
fälle auftreten, wenden sich an ihre Abgeordneten, um landesgesetzliche Be- 
stimmungen in dieser Angelegenheit allmählich zu erwirken. Es würde sich 
empfehlen, beide Wege zur Erreichung diesbezüglicher Verordnungen zu beschreiten. 

Im geschäftlichen Teil der Vorversammlung wurde zunächst eine 
Statutenänderung des Verbandes in dem Sinne vorgenommen, dass auch die 
soziale Fürsorge für die den Hilfsschulen überwiesenen Kinder während und 
nach der Schulzeit als Aufgabe des Verbandes gelten soll. Des weiteren wurde 
beschlossen, bei den Staatsregierungen auf die Einrichtung von Kursen 
für die Aus- und Fortbildung der Hilfsschullehrer hinzawirken, 
eine aktuelle Massnahme im Interesse der Hilfsschulbestrebungen, die anderweitig 
erkannt und auch bereits durchgeführt worden ist. So fand in der Zeit vom 
24. April bis zum 1. Juli 1899 ein Bilduugskurs für Lehrer und Lehrerinnen 
an Spezialklassen für Schwachbegabte in Zürich statt. Nach dortigen Mit- 
teilungen ist eine Wiederholung derartiger Bildungskurse für die Zukunft ge- 
plant. Eine recht gründliche Vorbildung erhalten die Lehrer an der Landes- 
idiotenanstalt zu Budapest. Sie müssen dort zunächst einen einjährigen 
Bildungskursus an der Anstalt absolvieren, während dessen sie praktisch und 
theoretisch mit dem ganzen Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens bekannt 
gemacht werden. Amı Schlusse des Jahres findet die Prüfung für Idiotenlehrer 
statt; ihre Ablegung berechtigt zur definitiven Anstellung als Idiotenlehrer. 

Die Taubstummen- und Blindenlehrer müssen bei ung auch eine 
gründliche Vorbildung nachweisen, ehe sie definitiv als solche angestellt werden. 
Erstere haben zu diesem Zwecke die Taubstummenlehrerprüfung abzulegen ; ihre 
Prüfungsordnung besteht schon seit dem Jahre 1878. Die Blindenlehrer streben 
zur Zeit auch naclı einer Fachprüfung; auf dem letzten Blindenlehrer-Kongresse 
wurde diese Angelegenheit ebenfalls zur Sprache und Diskussion gebracht. Es 
wäre daher an der Zeit, wenn wir gleichfalls eine besondere Prüfung für Lehrer 
für Schwachbegabte verlangten. Bei der heutigen Ausbreitung unserer Schulen 
und Anstalten dürfte dieser Wunsch gerechtfertigt erscheinen, ohne dass er noch 
besonders begründet werden müsste. Wenn für jene Kategorien von Lehrern 
besondere Fachprüfungen nötig sind, dann sind sie für uns erst recht erforderlich, 
da unser Arbeitsgebiet jenen Arbeitsgebieten an Umfang und Eigenart zum min- 
desten gleich, wenn nicht noch umfangreicher und eigenartiger als die ihrigen 
gestaltet ist. 

Es ist so oft die Frage erörtert worden, mitunter sogar mit einer gewissen 
Gehässigkeit, wem die Leitung der Anstalten für Schwachsinnige gebürt, ob 
dem Arzte oder dem Pädagogen. Diese Frage könnte mit der Einführung einer 
Fachprüfung zunächst für Lehrer, später für Vorsteher sulcher Anstalten (analog 
den Prüfungen der Taubstummenlehrer und der Vorsteher der Taubstummen- 
anstalten) aus der Welt geschafft werden. Auf dem Gebiete des Taubstummen- 
bildungswesens ist mit der Durchführung der Prüfungen grosse Klarheit und 
weitgehende Übersicht in vielen Beziehungen erzielt worden, so dass die dortigen 
Verhältnisse geradezu nachahmenswert erscheinen. 





79 


Zun Schlusse der Vorversammlung kamen noch einige Vereinsangelegenheiten 
zur Verhandlung, u. a. wurde Bericht über den Stand der Verbandskasse er- 
stattet und dem Kassenführer Entlastung erteilt; bei der zuletzt vorgenommenen 
Vorstandswahl wurden die ausscheidenden Vorstandsmitglieder durch Zuruf wieder- 
gewählt, so dass der Vorstand derselbe geblieben ist. Es gehören demselben 
folgende Mitglieder an: Stadtschulrat Dr. Wehrhahn, Hannover, 1. Vorsitzender. 
Hauptlehrer Kielhorn, Braunschweig, 2. Vorsitzender. Rektor Grote, Han- 
nover, 1. Schriftführer. Rektor Henze, Hannover, 2. Schriftführer. Rektor 
Basedow, Hannover, 3. Schriftführer. Lehrer Bock, Braunschweig, 1. Rechnungs- 
führer. Schulvorsteher Wintermann, Bremen, 2. Rechnungsführer. 


Die Hauptversammlung fand um 9 Uhr im Konzertsaal der Liedertafel 
statt und war von etwa 300 Teilnehmern besucht. In seiner Begrüssungsrede 
gab der Vorsitzende des Verbandes, Stadtschulrat Dr. Wehrhahn -Hannover, 
einen kurzen Überblick über die überaus rasche Entwicklung des Hilfsschul- 
wesens in den letzteu Jabıen. Während im Gründungsjahre des Verbandes (1898) 
in 52 deutschen Städten Hilfsschulen mit 4300 Kindern bestanden, sind gegen- 
wärtig in 147 deutschen Städten solche Schulen mit ca. 15000 Kindern vor- 
handen. Die Zahl der Schüler hat sich seit 1898 etwa vervierfacht. Trotzdem 
entbehren noch immer viele Tausende schwachbegabteı Schüler eines geeigneten 
Unterrichts, so dass der Verband noch manche Arbeit auf dem Gebiete der 
Verbreitung der Hilfsschulen zu leisten hat. — Nach dieser kurzen Übersicht 
seitens des Verbandsvorsitzenden folgten die üblichen Begrüssungen. Die Ver- 
sammlung wurde begrüsst im Namen der Grossherzoglich Hessischen Regierung 
durch Oberschulrat Dr. Scheuermann, im Namen der Stadt Mainz durch den 
1. Beigeordneten Dr. Schmidt und im Namen des ÖOrtsausschusses und der 
Lehrerschaft durch Kreisschulinspektor Dr. Zang. Vom Geh. Oberregierungsrat 
Brandi im preussischen Kultusministerium lag ein Begrüssungsschreiben vor. 
Die Versammlung beschloss, Danktelegramme zu entsenden an das preussische 
Unterrichtsministerium, an Geheimrat Brandi und an Oberschulrat Eisenhut- 
Darmstadt. Nach Bestätigung der Beschlüsse der Vorversammlung folgten die 
Vorträge. | 

Hilfsschulleiter Delitsch -Plauen i/V. referierte über das Thema: „Das 
schwachbegabte Kind im Haus und in der Schule.“ Seiner Arbeit lag 
folgender Gedankengang zu Grunde: 

Kindlicher Schwachsinn wird vielfach erst nach der für die geistige Ent- 
wicklung sehr bedeutsamen vorschulpflichtigen Zeit erkannt. 

Ihn verursachen Entwicklungsstörungen in der Grosshirnrinde. 

Er äussert sich in Verzögerung und Schwächung, seltener in krankhafter 
Steigerung, geistiger Funktionen. Er entstellt auch die äussere Erscheinung des 
. Schwachbegabten. 

Der immer lästiger fallende Mangel an äussern Reizen (? Ref.) und innern 
Vorzügen entzieht den Bedauernswürdigen das allgemeine Wohlwollen, trübt 
selbst die ihnen besonders nötige elterliche Liebe. 


80 


Mit dem Eintritt in die Schule wird die Schwäche der minderbegabten 
Kleinen der Öffentlichkeit preisgegeben. 

Die Volksschule für normale Kinder überbürdet und bedrückt schwachbegabte 
Schüler bis zur Gefährdung ihrer Gesundheit. 

Meist unterstüzt das Elternhaus den verfehlten Versuch der Schule, anormale 
Kinder zu normalen Leistungen zu zwingen. 

Nach fruchtlossem Bemühen von Schule und Haus werden schwachbegabte 
Zöglinge im wesentlichen sich selbst überlassen, obgleich gerade sie der Leitung 
bedürfen. 

Die Erziehung Schwachbegabter können Hilfsschulen eher übernehmen als 
Hilfsklassen. | 

Doch sind an die Organisation der Hilfsschule folgende Sonderforderungen 
zu stellen: 

Eine sorgfältige Aufnahmeprüfung vereine in der Hilfsschule nur schwach- 
begabte Schüler. i 

Eine nach Bedürfnis später wiederholte ärztliche Untersuchung der An- 
gemeldeten führe zum Ausschlusse von Kindern mit schweren Sinnesdefekten 
und von Kranken, die ihre Mitschüler gefährden, führe aber auch zu ärztlicher 
Hilfe und pädagogischer Schonung leidender Schüler. 

Die Hilfsschule sei hinreichend gegliedert und zweckmässig mit Lehrkräften, 
Lehrstunden und Lehrmitteln bedacht. 

Der Hilfsschullehrer gewinne erst seine Schüler, erwecke erst ihr Selbst- 
vertrauen. — Er unterrichte individuell, sei Erzieher, verbinde sich demgemäss, 
soweit es dienlich ist, mit den Eltern seiner Zöglinge, treffe anderseits Mass- 
regeln zur Verhütung falscher Behandlung oder im Elternhause drohender Ver- 
wahrlosung. — Er leite seine Pfleglinge von der Schule ins Leben, wenn nötig 
bis zu geeigneter Berutsstätte, bleibe auch den aus der Hilfsschule Entlassenen 
auf Wunsch (oder Bedürfnis d. Ref.) ein treuer Berater und Helfer. — Er wehre 
unverständiger Beurteilung und Behandlung Schwachbegabter, erwecke das all- 
gemeine Mitgefühl für ihr unverschuldetes Elend und werbe diesen Stiefkindern 
der Natur hilfbereite Freunde. 

Zur Erfüllung solcher Pflichten bedarf er hinreichender Gelegenheit zur 
Selbstbildung, Freiheit der Bewegung im Amte und behördlicher Unterstützung 
seiner Erziehungsmassregeln wie seiner sonstigen humanen Bestrebungen. 

Unter allen diesen Voraussetzungen werden Hilfsschulen den Schwach- 
begabten zum Segen gereichen. 

Eine Besprechung dieses Vortrages, der mit einer gewissen Wärme vom 
Referenten zum Ausdruck gebracht wurde, fand nicht statt. Im allgemeinen 
boten seine Ausführungen für den Fachmann wenig neue Aussichten und be- 
achtenswerte Anregungen, es lag dieses wohl in der Fassung der Aufgabe be- 
gründet; die Allgemeinheit dagegen wird sicher manches profitiert haben, sowohl < 
in Beziehung auf die Psychologie des Schwachsinnes, als auch nach der Seite 
der pädagogischen und didaktischen Behandlung der Schwachbegabten hin. 

Als zweiter Referent berichtete Oberamtsrichter Nolte -Braunschweig über 


81 


„die Berücksichtigung der Sehwachsinnigen im bürgerlichen und öffent- 
lichen Recht des Deutschen Reiches.“ Redner beleuchtete zunächst die 
Rechtsstellung der Schwachsinnigen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche, be- 
rührte hierauf die für die Rechtspflege der Schwachsinnigen massgebenden 
Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches und verbreitete sich des weiteren über 
die Zivilprozessordnung in ihrer Bedeutung für solche Personen. Er bot eine 
Zusammenstellung und Erläuterung des hier in Betracht kommenden sehr reichen 
Materials und gab Aufschluss über Geschäftsfähigkeit, Geschäftsbeschränktheit, 
Geschäftsunfähigkeit, Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft. So inter- 
essant auch seine Darlegungen waren, so wenig vermochte man ihnen zu folgen, 
da sie manche juristische Kenntnisse voraussetzten, die den meisten Pädagogen, 
namentlich in der Bekanntschaft der vielen bezeichneten Paragraphen ver- 
schiedener Gesetzbücher vollständig mangeln. Interessant war es zu vernehmen, 
dass Redner bisher keine Fälle von Geistesschwäche in seiner richterlichen Praxis 
zu behandeln Gelegenheit hatte. Von der Drucklegung dieses Vortrages ver- 
sprechen wir uns manche Vorteile für die Rechtspflege der Schwachsinnigen. 

Eine lebhafte Debatte entspann sich bei der folgenden Beratung über die 
bereits dem II. Verbandstag vom Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig vorgelegten 
Leitsätze über die Organisation der Hilfsschule, welche in folgender 
Fassung angenommen wurden: 


G. Der Unterricht. 
I. Allgemeine Gesichtspunkte. 

l. Der Unterricht trage erziehlichen Charakter, er suche die Kinder für 
das tägliche Leben tüchtig zu machen und deren Erwerbsfähigkeit anzubahnen. 

2. Nicht auf die Stoffmenge kommt es an, sondern auf eine zweck- 
entsprechende, sorgfältige Verarbeitung und vollständige Aneignung des 
Stoffes. Überbürdung ist zu vermeiden. 

3. Die Darbietung des Stoffes sei einfach, knapp. anschaulich und 
möglichst lückenlos aufbauend. 

4. Lehr- und Anschauungsmittel müssen ausreichend und mannigfaltig 
vorhanden sein, damit der Unterricht von der Anschauung ausgehen und 
durch die Anschauung unterstützt werden kann. 

5. Häusliche Arbeiten sind auf das Mindestmass zu beschränken. 

b. Schulspaziergänge sind oft zu unternehmen; sie dienen unterrichtlichen 
Zwecken und können in die Unterrichtszeit fallen. 


II Der Stundenplan. 

1. Die Unterrichtsstunden für Lehrer betragen im Durchschnitt wöchent- 
lich etwa 24; daneben ist ihnen die Verpftichtung aufzuerlegen, die Wohlfahrts- 
bestrebungen für die Hilfsschulschüler zu fördern. 

2. Die Unterrichtsstunden für die Kinder betragen in der Regel wöchent- 
lich 20—26 einschliesslich Handarbeit und Turnen. 

3. Die Verteilung auf die einzelnen Tage ist derart vorzunehmen, dass 
ein Wechsel zwischen mehr und minder ermüdenden Fächern stattfindet. 


82 


4. Jede Unterrichtsstunde werde durch eine Pause von 10—15 Minuten 
gokürzt. 

5. Soweit als möglich finde der Unterricht des Vormittags statt. 

6. In der mehrklassigen Hilfsschule ist darauf Bedacht zu nehmen, dass 
einzelne Kinder in einzelnen Fächern ausgewechselt werden können. 

Es ist durchaus erforderlich, dass feste Grundsätze für die Organisation der 
Hilfsschule gewonnen werden, denn nur auf sicherer Grundlage kann die Hilfs- 
schule gedeihen und Segen schaffen. Den Hilfsschullehrern muss wohl eine gewisse 
Bewegungsfreiheit gestattet werden, das verlangt die individuell verschiedenartige 
Veranlagung ihrer Schüler, aber besser ist es, wenn die Ziele und Grundsätze 
der Hilfsschule in bestimmter Form und Fassung in die Öffentlichkeit gelangen. 
Die Kielhornschen Leitsätze über die Organisation der Hilfsschule haben in 
ihrer Folge nun schon drei Verbandstage beschäftigt, sie gelten als das Fun- 
dament, worauf der ganze Hilfsschulbau gegründet ist. 

Den Schlussvortrag hielt Hilfsschullebrer Mayer-Mannheim über das 
Thema: „Welche Besonderheiten ergeben sich für den Sach- 
unterricht in der Hilfsschule?“ Er wies zunächst darauf hin, dass bei 
den Schwachbegabten erst ein gewisser Aufmerksamkeitszustand geschaffen 
werden müsse, bevor der Unterricht beginnen kann. Dieser Zustand sei durch 
Übungen der Sinne anzubahnen und herbeizuführen. Dem Formenunterricht sei 
eine besondere Pflege zu widmen. Von grösster Bedeutung für die Hilfsschule 
erscheine ein besonders geregelter Darstellungsunterricht (Arbeitsunterricht), wo- 
durch eine zweckmässige motorische Ausbildung erzielt wird. Die Erziehung 
und Bildung durcli Arbeit möge unsere besondere Beachtung verdienen. — 
Dieses ungefähr waren die Ideen, welche Redner entwickelte Die Beispiele, 
welche zu den Sinnesübungen (Auge, Ohr, Geschmack, Tastsinn) bezeichnet 
wurden, sind allgemein gebräuchlich, sie lehnten sich in der Hauptsache an 
Dr. Liebmanns Vorschläge an. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Darlegungen 
des Referenten etwas für sich haben, da schliesslich eine zweckmässige motorische 
Ausbildung in vielen Fällen doch unser Hauptbestreben bleiben wird. Auf- 
merksamkeit ist nach Preyer ein Willensakt; Betätigung des Willens aber ver- 
langt motorische Leistungen, und diese setzen motorische Ausbildung voraus. 
Es ist zuerst von Du-Bois-Reymond-Berlin hervorgehoben worden, dass 
jede Leibesübung auch eine Geistesgymnastik bedeutet. Jede Tätigkeit wirkt auf 
das Nervensystem zurück und hängt von diesem ab und trägt so zur Bildung dessen 
bei, was wir Geist nennen. Das schwachbegabte Kind zeigt sich als ein Schwäch- 
ling in Bezug auf Aufmerksamkeit und Wollen, das sind diejenigen psychischen 
Tätigkeiten, welche „alle untergeordneten Funktionen des Geistes verdichten und 
konzentrieren“. Daher wird eine zweckmässige Massnahme, durch welche jene 
Tätigkeitsäusserungen gestärkt und gepflegt werden, ganz gleich ob es ein Arbeits- 
unterricht oder eine Sinnesübung ist, wohl am Platze sein. Diese Ideen sind 
bereits von Dr. Demoor praktisch durch das eurhythmische Turnen für die 
Schwachsinnigenpädagogik verwertet worden. Neu waren also die Darbietungen 
des Referenten durchaus nicht, dazu Jagen auch keine Leitsätze vor, so dass eine 


83 


kritische Beurteilung seiner Ausführungen erst möglich sein wird, wenn die 
Drucklegung des Vortrages erfolgt ist. Auch scheint man auf dem Gebiete der 
Volksschule der Erziehung durch Arbeit in einzelnen Kreisen eine gewisse 
Beachtung zu schenken ; bahnbrechend in dieser Angelegenheit geht Seminar- 


oberlehrer Lay vor, der durch seine Arbeiten ja hinlänglich genug bekannt sein 
dürfte. 


Als Versammlungsort für den nächsten Verbandstag wurde Bremen in 
Aussicht genommen. Während der Verhandlungen lief vom preussischen Kultus- 
ministerium ein Danktelegramm ein. Nach dem gemeinschaftlichen Mittagsmahl 
besichtigten die Teilnelımer die Sehenswärdigkeiten der Stadt, den Dom, die 
Rheinanlagen und das Römisch-Germanische Museum. Zum Abschluss der Ver- 
anstaltungen fand abends 8 Uhr ein Festabend in der Stadthalle, dem zweit- 
grössten Saale Deutschlands, statt, der einen äusserst schönen Verlauf nahm. 
Hilfsschullehrer Büttner-Mainz erfreute die Gäste durch einen formvollendeten 
Prolog, Oberlehrer Stenner-Mainz entbot im Namen des Ortsausschusses ein 
herzliches Willkommen, und Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover gab dem 
Danke der Gäste für den überaus liebenswürdigen Empfang im „güldenen 
Mainz“ mit beredten Worten Ausdruck. Die Gesamichöre verschiedener Mainzer 
Männergesangvereine fanden grossen Anklang, ebenso die Leistungen der Musik- 
kapelle. Nur zu schnell verliefen die schönen Stunden bei den wohlgelungenen 
musikalischen Darbietungen, bei Unterhaltung und anregendem, gemütlichem und 
humorvollem Geplauder, selbst die Satire erschien und forderte ihre Opfer. Es 
hatte sich jemand aus der Versammlung dem Vitriol, das sich überall durch - 
frisst, ähnlich bezeichnet, sofort wurde ihm die wenig schmeichelhafte Bezeichnung: 
„Vitriolmensch“ beigelegt. Eine Lehrerin, die mit Chic und Konformität ge- 
kleidet war, erhielt den Beinamen: „Die Moderne“. 


Am 16. April fanden die Besuche der psychiatrischen Klinik zu 
Giessen und der Erziehungsanstalt für schwachbegabte Kinder zu 
Idstein i./T. statt. Universitätsprofessor Dr. Sommer-Giessen empfing in 
liebenswürdiger Weise die Teilnehmer und versammelte sie in dem Hörsaale der 
Klinik zu einem interessanten Vortrage Er sprach über das Thema: „Die 
verschiedenen Formen der Idiotie vom Standpunkte der Therapie und 
Prophylaxe“. Die Thesen seines Vortrages waren folgende: 


1. Bei den unter dem Sammelnamen Idiotie zusammengefussten Zu- 
ständen von geistiger Störung handelt es sich um das Endresultat sehr 
verschiedener Krankheitsprozesse. 


2. Die Idiotie ist nur in einem Teil der Fälle angeboren, bei dem 
andern handelt es sich um Krankheiten, welche in den ersten Lebens- 
jahren erworben worden sind. 


3. Mehrere Gruppen der in den ersten Lebensjahren erworbenen Idiotie, 
vor allem die Hydrocephalie, sind im Beginn der Krankheit thera- 
peutisch beeinflussbar und werden bei weiterm Fortschritt der 
Behandlungsmethoden vermutlich heilbar sein. 


84 


4. Auch die unheilbaren Zustände von Idiotie, speziell die epileptischen 
Formen, erweisen sich öfter in einzelnen Symptomen als besserungsfähig. 

5. Einige Gruppen der angeborenen Zustände von Jdiotie im engern 
Sinne bilden einen Gegenstand der Prophylaxe. 

6. Mit Bezug auf die angedeuteten Formen von Idiotie erscheint es als 
eine hygienisch und sozial-ökonomisch dringende Aufgabe, die Zahl 
der idiotischen Geistesstörungen durch Prophylaxe und soweit 
als möglich, durch Therapie im Beginn der Störung zu vermindern, 

7. Als Grundlage für die pädagogische Behandlung der Idiotie 
ist eine medizinische Psychologie auf naturwissenschaftlichem 
Boden erforderlich. 

Dr. Sommer hat sich in seinen Ausführungen im ganzen wenig an diese 
Thesen gehalten, sondern ist andere Wege gegangen. Er gab zunächst eine 
Erklärung der Anlage der ganzen psychiatrischen Klinik und eine Beschreibung 
der einzelnen Häuser und Gartenanlagen. Daran schloss sich ein Rundgang durch 
verschiedene Häuser mit Besichtigung einzelner Räume unter demonstrativer 
Erklärung an. Zurückgekehrt nach dem Hörsaale begann er seinen eigentlichen 
Vortrag, der durch zalılreiche photographische Aufnahmen anschaulich erläutert 
wurde. Er verbreitete sich zunächst über die Hydrocephalie. Diese ist nach 
seiner Darstellung eine sekundäre Folge innerer primärer Erkrankungen. Der 
Flüssigkeitsandrang im Gehirn ruft periodisch wachsende Störungen hervor. Die 
Hydrocephalen bieten im allgemeinen eine gute Prognose, ihre Behandlung wird 
sich für die Zukunft in therapeutischer Beziehung günstig gestalten lassen, 
namentlich bei weiterm Fortschritt der medizinischen Behandlungsmethoden. 
Meistens kommen Restzustände der Hydrocephalie in die ärztliche Behandlung, 
in welchen Fällen in der Regel nichts mehr zu machen ist. Es wäre wünschens- 
wert, wenn Primärzustände den psychiatrischen Kliniken zugewiesen würden. 
Alsdann kam Redner auf die Mikrocephalie zu sprechen, die nach seinem 
Urteile wenig beeinflussbar ist und eine ungünstige Prognose bietet. Die Mykro- 
cephalen sind die reinen Schmerzenskinder sowohl für den Pädagogen wie für 
den Arzt. Die Therapie bat bisher bei ihnen keine nennenswerten Resultate er- 
zielen können. Referent ging dann zur Beschreibung des Kretinismus über, 
der seiner Ansicht nach medizinisch sehr günstig zu behandeln geht. Er kam 
auch auf die Behandlung der Kretinen mit Schilddrüsenextrakt zu sprechen und 
entwickelte darüber äusserst optimistische Ansichten. Auch einer Art Rhachitis, 
welche sehr grosse Ähnlichkeit mit dem Kretinismus bekundet, wurde von ihm bei 
dieser Gelegenheit beschrieben, welche jedoch eine ungünstige Prognose und 
Therapie entgegengesetzt dem reinen Kretinismus bietet. Zuletzt gab er eine Be- 
schreibung der Porencephalie und Epilepsie, von beiden Gruppen sagte 
er für die Behandlung viel Günstiges aus. Er meinte sogar, dass die Epilepsie 
mit dem Fortschritte der medizinischen Wissenschaft zu heilen sein werde. Die 
Porencephalen sind, wenn nicht Lähmungen vorliegen, einer motorischen Aus- 
bildung fähig. Sie behalten mechanische Reihen gut, abstrakte Sachen dagegen 
schlecht, sind grossartig im Reproduzieren automatischer Wortreihen und können 


85 


v 

in der Handtertigkeit ausgebildet werden. Zum Schlusse wurden noch mehrere 
anormal gebaute Schädel vorgezeigt, woran sich belehrende Mitteilungen knüptten. 
Im ganzen war der Vortrag des Professors Dr. Sommer in seiner anschaulichen 
Darstellung für uns Pädagogen sehr lehrreich; wir sind ilım deshalb zu grossem 
Dank verpflichtet. Der Veröffentlichung seiner Ausführungen sehen wir mit ge- 
spannter Erwartung entgegen und erhoffen auch des weiteren von ihm noch 
manche Anregungen. Unerwähnt darf nicht bleiben, dass Dr. Sommer aus- 
drücklich herverhob, Ärzte und Pädagogen müssen auf dem Gebiete der Schwach- 
sinnigenbildung Hand in Hand miteinander wirken, wenn etwas Erspriessliches 
geleistet werden soll. Überhaupt liessen seine Darlegungen erkennen, dass er 
der pädagogischen Mitwirkung auf diesem Gebiete grosse Bedeutung beilegte und 
sie richtig zu werten wusste. 

Beim Verlassen der psychiatrischen Klinik ereignete sich noch ein recht 
drastischer Vorfall. Ein Teilnehmer des Verbandstages, der jedenfalls infolge des 
Festabends einen Flüssigkeitsandrang im Gehirn hatte, klagte über heftige Kopt- 
schmerzen. Schnell war jemand mit dem guten Rate dabei: „Sie hätten sich 
einen von den Schädeln des Professors aufsetzen sollen, dann würde er Ihnen nie 
mehr Schmerzen bereiten können.“ Der also Beratene soll stillschweigend da- 
vongegangen sein. 

Von Giessen begaben sich einzelne Teilnehmer noch nach Idstein i./T., 
um die dortige Erziehungsanstalt für Schwachbegabte zu besuchen. Es 
war kein offizieller Besuchstag mehr, aber dennoch wurden wir als liebe Gäste auf 
das herzlichste aufgenommen und mit grösster Bereitwilligkeit in die Anstalts- 
wirksamkeit eingeführt. Wir hospitierten in den einzelnen Schulklassen, be- 
suchten die Wohn- und Schlafräume und nahmen die Werkstätten in Augenschein, 
selbst Küche, Keller, Speisesaal und Baderaum waren uns geöffnet. Die Lage 
der Anstalt ist eine äusserst günstige, ebenso zweckmässig erscheint die Grup- 
pierung der einzelnen Anstaltsgebäude, die Anlage des Turnplatzes, Gartens und 
Parkes. Die innere Einrichtung sämtlicher Räume ist geschinackvoll und praktisch 
getroffen, alles war äusserst sauber, hell, luftig und machte den Eindruck eines 
wohlgeordneten Hauswesens, bis zu dem komfortabel eingerichteten Pensionat, 
in welchem doch verschiedene Insassen vereinigt waren. Wenn schon der äussere 
Eindruck der Anstalt angenehm wirkte, um so viel mehr Freude bereitete uns das 
innere Leben des wohlorganisierten, musterhaft eingerichteten Erziehungsheims. 
Wir sahen fröhliche Kindergesichter, freundliches Hauspersonal, freudige Lehr- 
personen und durchweg munteres Leben und Weben im Hause, in der Schule 
und auf dem Spielplatze. Wo sich alles so schön und wohlgeordnet unter weit- 
blickender Oberleitung vollzieht, da ist den Ärmsten unter den Armen eine 
rechte Bildungsstätte bereitet, in der sie zu nützlichen Gliedern der Menschbeit 
erzogen werden. Die Schule, an welcher erfahrene, äusserst strebsame Lehrer 
wirken, kann als Muster einer Anstaltschule bezeichnet werden, wir sahen selten 
so erfreuliche Resultate in einer Erziehungsanstalt für Schwachbegabte, wie hier, 
auch fanden wir selten ein so zielbewusstes, pädagogisch gewandtes und psycho- 
logisch richtiges Arbeiten in einer Anstalt wie in Idstein. Es würde zu weit 


86 


< 


führen, Einzelnes eingehender zu schildern, wir wollen nur noch bemerken, dass 
die Erziehungsanstalt für Schwachbegabte zu Idstein als Musteranstalt 
in jeder Hinsicht bezeichnet werden muss. Wir schieden von Idstein mit dem 
Bewusstsein, dass wir etwas wirklich Hervorragendes und Vollendetes auf dem 
Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens gesehen und manche Anregungen für 
unsere Schulen gewonnen hätten. 

Der 1V. Verbandstag bot seinen Teilnehmern mannigfache Belehrungen, 
hoffentlich ist in dieser Beziehung ein jeder befriedigt heimgekehrt. Einzelne 
Vorträge waren allerdings von unendlicher Länge, so dass erzāhlt wurde, ein 
Teilnehmer wäre beim Beginne des einen Vortrages schnell nach dem nahe 
gelegenen Wiesbaden gefahren, hätte sich dieses angesehen, und als er von 
seinem Besuche zurückkehrend den Saal aufsuchte, stände noch immer der- 
selbe Referent am Rednerpulte in seinem Vortrage. — Wir schliessen unsern 
Bericht mit dem Wunsche, dass es dem Verbande vergönnt sein möge, das 
Interesse für die Fürsorge der Schwachbegabten wach zu erhalten und die Hilfs- 


schulbestrebungen zu verständnisvoller Würdigung und Pflege zu führen. 


Prolog. 


Verfasst und gesprochen von H. Büttner, Hilfsschullehrer in Mainz. 


Gebrochen ist des Winters Macht, 
Verweht bald seine Spur; 
Ein neues Leben jetzt erwacht, 
Im Wald, auf Wies’ und Flur. 


„Wach’ aufl* ruft uns nun alles zu, 
Die Vöglein, Blumen, Aun. 
„Wach auf, du Menschenkind! auch du 
Sollst Gottes Wunder schau’n:“ 


Viel tausend Knösplein zart verhüllt 
Im hoffnungsvollen Grün. 
Des Frühlings Sonn’, dies Zauberbild, 
Lässt daraus Blumen blühn. 


Wie freut sich dann des Menschen Herz 
Und hebt uns hoch die Brust, 
Wird frei von Kummer, frei von Schmerz, 
Es winkt nur Freud’ und Lust. 


Doch ach — in kühler Maiennacht 
Ein rauher Windstoss fegt, 
Zerstört die Blüten, all die Pracht, 
Die kaum Natur gehegt. 

O, so schwindet auch beim Kinde 
Mancher Eltern Hoffnungsstrahl. 
Wo sie wähnen, Glück zu gründen, 
Sprossen Jammer, Sorgen, Qual. 


-anaa 


Oft schon in des Lebens Frühling 
Schleichen Krankheitskeime ein, 
Trüben Herz und Geist dem Liebling. 
Süsse Hoffnung weicht der Pein! 


Vergebens Haus und Schul’ sich rühret, 
Zu wecken hier des Geistes Licht. 
Ein Fortschritt wird dann kaum verspüret, 
Des Schicksals Schlag — er weichet nicht. 


Nur eine Rettung jetzt noch winket, 
Die lohnen kann ein ernst Bemühn, 
Wenn dem Armen, der da sinket, 

Drei Wunderblumen bald erblüh’n. 


„Liebe“ nennet sich die eine, 
Die zweite wird „Geduld“ genannt, 
Die, mit „Ausdauer“ vereinet, 
Des Geschickes Härte bannt. 


Ihr wackern Lehrer pflanzet, pfleget 
Diese Blumen immerdar! 
Übt die Kunst, die da noch reget, 
Wo andrer Müh’ vergeblich war. 


Geniesset einst den süssen Frieden, 
Der Euch beschert vom Himmel ward, 
Wenn Ihr gemildert stets hienieden 
Der Wunden Schmerz, das Schicksal hart. 


87 


Drum lasst uns wacker streiten Der Kinderfreund — er spende Heil 
Auf dem von uns betret’'nen Pfad. Auf Euer Streben, Euer Tun! 
Gott wird unser Schifflein leiten, Seine Hand mag alles geben, 
Der Segen uns versprochen hat. Mög’ über Eurem Werke ruh’n! 


Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. 
Vortrag, gehalten auf dem IV. Verbandstage der Hilfsschulen Deutschlands zu Mainz 
am 14. April 1903 von H. Giese, Hauptlehrer in Magdeburg. 

I, 

Das Rechnen ist auch in unsern Schulen eins der wichtigsten Unter- 
richtsfächer. Neben einem hohen formalen Wert hat es einen grossen prak- 
tischen Nutzen: es rüstet das Kind mit einer Fertigkeit aus, die schon 
während der Schulzeit ihm manchen Vorteil bringt, nach derselben aber unent- 
bebrlich ist. Denn im „häuslichen und bürgerlichen Leben wird täglich ge- 
_ messen, gewogen, gezählt und überschlagen, oder, mit einem Worte, gerechnet“. 
Wer nicht rechnen kann, kommt ebenso schwer vorwärts als der des Lesens 
und Schreibens Unkundige, auch er wird an allen Ecken und Enden über- 
vorteilt, betrogen. — Ja, für manchen ist es noch wichtiger, als die beiden vor- 
hergenannten Fertigkeiten. Der Knecht und der Tagelöhner z. B. brauchen oft 
wochenlang nicht zu lesen und zu schreiben; rechnen aber müssen auch sie 
jeden Tag. 

Unsere schwachbegabten Schüler können nur einen geringen Rechen- 
stoff bewältigen, und ibre spätere Lebensstellung verlangt auch keinen umfang- 
reichen. Wenn sie die vier Grundrechnungsarten bis 100 im Kopfe sicher 
lösen können, mit der schriftlichen Darstellung derselben bis 1000 vertraut sind, 
auch die bekanntesten Münzen, Maße und Gewichte und ihre Schreibweise 
kennen und die gebräuchlichsten Brüche anzuwenden imstande sind, dann haben 
sie eine für ihre Verhältnisse ausreichende Rechenfertigkeit sich angeeignet. 

Dieser Stoff würde sich auf die sechs Schuljahre der Hilfsschule am besten 
so verteilen: 1. Schuljahr: Addition und Subtraktion bis 10; 2. Schuljahr: 
dieselben Arten bis 20; 3. Schuljahr: dieselben bis 100; 4. Schuljahr: Mul- 
tiplikation und Division bis 100, und die beiden letzten Jahre: die Grund- 
rechnungsarten bis 1000, dezimale Schreibung von M — Pf, m — cm, hI—1 und 
die bekanntesten Fälle aus der Bruchrechnung. 

Selbstverständlich kann diese Aufstellung nicht für sämtliche Hilfsschulen 
Gültigkeit beanspruchen. Wer nur eine geringe Anzahl Schüler unterrichtet, 
diese zu einer Abteilung vereinigen kann und wöchentlich 5 oder sogar 
6 Stunden Rechenunterricht erteilt, leistet mehr als der, der unter nicht so 
günstigen Verhältnissen arbeitet. 


Für die Unterstufe der Hilfsschule — also für das erste und zweite Schul- 
abr — verlangte ich Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1--20 


88 


Wir tun gut, wenn wir in diesem Kreise die beiden anderen Grundrechnungen 
noch nicht lehren, sondern sie für das vierte Schuljahr aufsparen. 

Unsere Rekruten haben vollauf zu tun, die beiden erstgenannten Arten dem 
Wesen und ihrer Bezeichnung nach auseinander zu halten. Treten nun aber 
noch zwei oder richtiger drei andere hinzu — denn Enthaltensein und Teilen 
wollen unterschieden werden — dann ist Verwirrung da. 

Multiplikation und Division sind ein abgekürztes Addieren und Subtrahieren. 
Daraus ergibt sich, dass sie, weil sie eben abgeleitet sind, nur dann mit Erfolg 
behandelt werden können, wenn die beiden Stammarten zur vollen Sicherheit 
und Geläufigkeit gelangt sind. Dazu gehört aber vielfache, auch nach Beendigung 
dieses Kreises noch andauernde Übung. 

Es folgt hieraus aber auch weiter, dass sie, weil sie das Verfahren be- 
deutend abkürzen, schwieriger aufzufassen sein müssen als die Stammarten. 
Und das bestätigt die Erfahrung. Die meisten Schüler unserer Unterstufen sind 
nicht zum klaren Erkennen der beim Malnehmen, Teilen und Enthaltensein auf- 
tretenden Zahlenbeziehungen zu bringen. Mit einem verständnislosen Aneignen 
aber ist ihnen ebenso wenig wie andern Kindern gedient. Auch die Hilfsschule 
muss das Rechnen auf allen Stufen als Übung im klaren Denken betreiben und 
„darf es nicht zum mechanischen Drill herabsinken lassen“. 

Und wenn es wirklich gelingen sollte, unsere Zöglinge schon auf der Unter- 
stufe zur Einsicht in diese beiden Rechnungsarten zu führen, auch dann stände 
der Gewinn in keinem rechten Verhältnis zu der aufgewandten Zeit und Arbeit. 
Nur wenige neue Zablenverhältnisse wären ihnen hierdurch klar geworden, und 
diese so mühsam erworbenen Kenntnisse würden, da sie im folgenden Schuljahre, 
das Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1—100 treibt, nicht gebrauch! 
werden und deshalb auch selten zur Wiederholung kämen, bald verloren sein. 

Selbst für den ersten Unterricht normaler Schüler sind einige Methodiker 
mit der Durchnahme der beiden ersten Grundrechnungsarten zufrienden, so Sobo- 
lewsky*) und Hübner.**) Darum meine ich, auch wir begnügen uns auf der 
Unterstufe mit diesen. 

Im ersten Schuljahre kommen Addition und Subtraktionim Zahlen- 
raum 1—10 zur Behandlung. Welche Übungen werden hier vorgenommen ? 
Die Zahlen treten in einer bestimmten Reihenfolge auf, die das Kind durch das 
Zählen kennen lernt. Man lässt vorwärts und rückwärts zählen, bald mit 


*) Wir finden es für gut, in dem Zahlenraum bis 20 nur eben die Grundaufgaben 
des Zuzählens und Abziehens vorzunehmen und sich mit dem Vervielfältigen und Teilen 
nicht erst sehr einzulassen, ausser etwa solche naheliegende Bemerkungen, wie statt 747=14 
sagen zu lassen 2X7=14. Es sind ja doch nur gleichsam ein paar Brocken, die man davon 
beibringen kann, und die nachher im Zahlenraum bis 100 sich ohne Mühe mit Leichtigkeit 
nachholen lassen. Allenfalls das Einmaleins der 2 kann man vornehmen, da dies sich inner- 
halb des Zahlenraumes 1—20 zu Ende führen lässt. 

**) Wenn die Verhältnisse nicht die vollständige Durcharbeitung gestatten, kann die 
Multiplikation und Division im Gebiete 1—20 ausgeschieden werden, da sie bei Behandlung 
des Zahlenkreises 1—100 gründlich einzuäben sind. 


R 


dieser bald mit jener der den Schülern bekannten Zahlen beginnen und den Platz 
der einzelnen in der Reihe bestimmen. 

Jede Zahl steht mit der voraufgehenden in enger Beziehung; sie ist aus 
ihr durch Zulegen der Einheit gebildet worden. Als Einheit kann sich der 
Schüler nur ein sinnlich wahrnehmbares Ding denken. Deshalb übt er das Zählen 
zuerst an ihm bekannten Dingen, dann an Zeichen und, wenn die Zahlenreihe 
richtig aufgefasst worden ist, auch ohne sinnliche Veranschaulichung. 

Das Zählen ist eine sehr wichtige Übung, doch genügt es m. M. allein 
nicht, den Inhalt der Zahl voll und ganz erkennen zu lassen. Es setzt die be- 
treffende Grösse wohl in Vergleich zu ibren beiden nächsten Nachbarn, aber 
nicht zu den entfernteren, wenigstens nicht auf direktem und leichtem, sondern 
auf einem umständlichen und deshalb für unsere Schüler nicht gangbaren Wege. 
Und doch ist es durchaus notwendig, dass das Verhältnis aller Grundzahlen zu- 
einander klar erkannt wird. Das Kind soll nicht nur wissen, dass z. B. die 6 
aus 5-4-1 besteht — ein verständiges Zählen hat ihm das gezeigt — sondern, dass 
sie sich auch aus 442, aus 343, aus 2-44 und aus 1-5 zusammensetzt. 
Darum ist ebenfalls fleissiges Zerlegen der Grundzahlen in zwei Posten er- 
forderlich. 

Die Umkehrung dieser Übung ist das Ergänzen, bei dem der Rechner 
von der kleineren der zu vergleichenden Grössen ausgeht. Wählt man leicht- 
verständliche Ausdrücke, so werden diese Rechenvorgänge auch von unsern 
Schülern bald aufgefasst. 

Zerlegen und Ergänzen in diesem Kreise möchte ich nicht missen, durch 
sie wird das Auffassen der Zahlen sicherer und klarer, das mechanische Aus- 
wendiglernen der verhältnismässig wenigen Aufgaben erschwert und das schwierige 
und gefürchtete Überschreiten des Zehners vortrefflich vorbereitet und so wesent- 
lich erleichtert. 

Mit ihnen sind dem Wesen nach das Zuzählen und Abziehen gleich. 
Wenn das Kind verstanden hat, dass die grössere Zahl aus 2 kleineren zu- 
sammengesetzt ist, so muss es doch auch leicht einsehen, dass durch Zusammen- 
bringen dieser beiden die grössere wieder entsteht und durch Wegnehmen des 
einen Postens von der Vollzahl der anderen übrig bleibt. 

In welcher Aufeinanderfolge man diese Gruppen auftreten lässt — ob Zer- 
legen und Ergänzen vor oder nach dein Zuzählen und Abziehen — ist gleich- 
gültig; denn sie sind, wie schon gesagt, nur verschiedene Formen derselben 
Arbeit. 

Der Zahlenraum 1—10 wird von verschiedenen Methodikern in 2 Gruppen, 
in 1—5 und 6—10, zerlegt, und in jeder derselben treten die einzelnen Rechen- 
arten nacheinander auf. — Dieser Gang ist für den Unterricht schwachbefähigter 
Schüler nicht zu empfehlen. Sie alle wissen, wie schwer die meisten unserer 
Zöglinge zum Erkennen und Unterscheiden selbst nur weniger, auch der kleinsten 
Zahlengrösse, zu bringen sind, und wie mancher von ihnen, wenn er auch nach 
vieler Mühe die Zahlen sachlich richtig aufgefasst bat — er kann 2 und 3 vor- 
gelegte Gegenstände nachlegen — doch noch nicht imstande ist, sie sprachlich 


90 
zu unterscheiden: er vergisst oder verwechselt die Vokabeln. Ganz unmöglich 
ist es solchem Schüler, mehrere Zahlenvorstellungen kurz nacheinander auf- 
zunehmen. Mit jeder neuen Grösse muss er längere Zeit operieren und sie mit 
den bekannten in Beziehungen setzen können, wenn der empfangene Eindruck 
haften bleiben soll. Für ibn darf der neue Kreis sich nur jedesmal um eine 
Einheit, vergrössern, wir müssen im ersten Schuljahre von Zahl zu Zahl 
fortschreitend vorgehen, also die Gruppen 1 und 2, 1—3, 1—4 und s. f. 
bis zur 10 bilden. 

Wie geschieht die Bildung dieser Abschnitte, und welche Übungen sind in 
ihnen vorzunehmen, um den Schüler zu einem denkenden Rechnen zu bringen? 
Normale Kinder sind bei ihrer Aufnahme in die Schule schon mit den aller- 
ersten Anfängen des Rechens bekannt; sie unterscheiden 1, 2, 3 und auch wohl 
noch mehr Gegenstände, sie können diese zählen, sie kennen die Ausdrücke 
„viel“ und „wenig“, „mehr“ und „weniger“ und verstehen den Sinn derselben. 
Anders bei unsern Pfleglingen! „Man darf bei ihnen richts, garnichts voraus- 
setzen, sonst wird man bittere Enttäuschung erfahren.“ Antworten, wie diese: 
Das ist ein Ofen! Das ist eine Tür! zeigen noch nicht, dass sie eine klare 
Vorstellung von der Eins haben. Und Redewendungen wie: Ich habe zwei 
Ohren! Ich habe zwei Augen! sind nur in den allerseltensten Fällen nicht aus- 
wendig gelernt. — Deshalb gilt als erste Arbeit: Gewinnung des Begriffs der 
„Eins“ und zwar im Gegensatz zu dem „Viel“. Das Kind sieht hier einen - 
Ball, dort viele Bälle — hier einen Pfennig, dort viele Pfennige. An der Wand- 
tafel steben ein Strich und viele Striche, ein Kreis und viele Kreise. Der Lehrer 
zeigt ihm einen Bogen mit vielen Bildern, einen Baukasten mit vielen Steinen 
und dergleichen mehr. Es antwortet: Das ist ein Klotz! Das ist ein Stäbchen! 
Das sind viele Bilder! Das sind viele Kugeln! 

Ist die Eins klar erkannt, lasse man die Zwei aus dieser (durch Zerlegen 
einer Einheit) entstehen und setze diese beiden Zahlengrössen in Vergleich zu- 
einander: Der Lehrer hält einen oder zwei Finger, einen oder zwei Schiefer in 
die Höhe, und die Schüler tun dasselbe, ohne den Namen der Zahl zu 
bringen ; sie lernen die beiden Grössen ihrem Inhalte nach unterscheiden. — 
Auf die Frage: Wieviel Dinge zeige ich? geben die Schüler jedesmal die 
Menge und die Art derselben an: Das ist eine Uhr! Das sind zwei Tafeln! 
Mit dem Inhalte wird der Name verbunden. — Der Lehrer verlangt: Zeigt Ihr 
einen Finger ! zwei Schiefer! Bringe mir einen Klotz! zeichne zwei Striche u. s. w.— 
Der eine Schüler erhält einen Pfennig, der andere zwei Pfennige. Es wird ent- 
wickelt: A hat mehr als B; und umgekehrt: B hat weniger als A. — Es 
wird gezählt: 1 Fenster, 2 Fenster! 1 Stäbchen, 2 Stäbchen! u. s. w. Das 
Rückwärtszäblen ist schwieriger und tritt deshalb erst später auf. — Nach 
diesen Übungen beginnt das eigentliche Rechnen. Bei unsern Schülern 
wird man aber nicht schon hier sämtliche für den Kreis bis 10 vorge- 
schlagene Rechenformen heranziehen wollen, sondern mit einer Art sich 
begnügen und die übrigen nach und nach einführen. Ebensowenig kann man 
verlangen, dass alle unserer Schüler schon in den ersten Schulwochen in ganzen 


2 


Sätzen antworten sollen; man kann zufrieden sein, wenn sie am Schluss dieses 
Schuljahres sich an die vollständige Form gewöhnt haben. 

Sind die Übungen bis zur Zwei sicher, vergrössert sich der Kreis um eine 
Einheit, und ähnlich wie das erste wird nun das zweite Zahlengebiet 1—3 be- 
handelt, dem dann die Gruppen 1—4, 1—5 u. s. f. bis zur Zehn folgen. 

Das Verständnis jeder Rechenoperation kann nur au Dingen gewonnen 
werden; deshalb rechnet das Kind in jeder Gruppe zuerst mit benannten 
Zahlen und zwar 1. mit Hilfe der Verauschaulichungsmittel und 2. ohne die- 
selben. Sein Sachgebiet ist die Schulstube und das Elternhaus. Die ihm be- 
kannten Gegenstände werden im Unterrichte herangezogen. Es lernt auch das 
Ein-, Zwei-, Fünf- und Zehnpfennigstück und das Verhältnis zwischen Woche 
und Tag kennen. 

Ist die Vorstellung klar und deutlich, so tritt auch die unbenannte Zahl 
auf. Obwohl das Leben die Aufgaben in solcher Fassung nicht bringt, kann die 
Schule ihrer doch nicht entbehren; denn sie erfordern weniger Zeit und eignen 
sich infolgedessen besonders zur Einübung und Befestigung des Rechenstoffes. 

Das Rechnen soll sich den Bedürfnissen des praktischen Lebens anpassen; 
schon deswegen allein müsste die Schule angewandte Aufgaben stellen. Sie 
beleben aber auch den Unterricht, fördern das Interesse, die Denkkraft und die 
Sprachfertigkeit des Kindes. Sowohl dem Inhalte wie der Form nach müssen 
sie recht einfach sein. 

Neben der mündlichen Übung geht eine schriftliche Beschäftigung 
ber. Ehe die Ziffern geschrieben werden, behilft man sich mit andern Zeichen. 
Der senkrechte Strich (als Bild des Fingers), der Kreis (Bild der Kugel) 
und auch das Quadrat (Bild dns Würfels) eignen sich sehr gut hierzu. So 
schreibt man z. B. naclı Behandlung der Zwei an die Wandtafel: einen Strich 
und darunter zwei Striche, lässt diese als „einen Finger“ und zwei Finger“ 
lesen, die Gruppe abschreiben und auch später nach Diktat aufschreiben. Wenn 
möglich, können auch kleine Additions- und Subtraktionsaufgaben mit den ge- 
nannten Zeichen dargestellt und gelöst werden. 

Kommen die Ziffern zur Anwendung, dann treten die übrigen Zeichen mehr 
und mehr zurück. Ich habe sie gewöhnlich nach Behandlung der Fünf ein- 
geführt, bei sehr geringer Schreibfähigkeit der Schüler auch einige Stufen später. 


Das Rechenpensum des zweiten Schuljahres ist Addition und 
Subtraktion im Zahlenraum 1—20 Einer eingehenden Belehrung über 
Jehner und Einer bedarf es hier nicht; eine solche ist in diesem Kreise wertlos, 
weil der Stellenwert noch nicht gebraucht wird, und bei unsern Schülern auch 
nicht ausführbar, weil sie zur Erfassung des Zehnersystems noch nicht zu bringen 
sind. Es genügt, wenn sie verstehen, dass z. B. die Zahl 11 aus 10 und 1 zu- 
sammengesetzt ist. 

Die Vorgänge von 10—20 werden leicht aufgefasst, wenn der erste Zahlen- 
Jaum sicher ist; es findet hier nur eine Wiederholung statt. Darum ist es 


92 
auch gleichgültig, in welcher Reihenfolge man noch Bildung der neuen Zahlen 
die betreffenden Aufgaben auftreten lässt. 

Bedeutende Arbeit erfordert dagegen die zweite Gruppe, das Über- 
schreiten des Zehners, weil das Kind bei jeder Aufgabe eine dreifache Tätigkeit 
ausübt. Ergänzen und Zerlegen sind die beiden schwierigsten Übungen. In ihnen 
muss der kleine Rechner vollkommene Sicherheit und Geläufigkeit erlangen; 
ohne langes Besinnen muss er jede Einerzahl zur Zehn ergänzen bezw. sie von 
der Zehu abziehen und die zweite Zahl der Additions- und Subtraktionsaufgaben 
zerlegen können, wenn die erste genannt wird. Die Probe ist ein verständiges 
Vorrechnen seitens der Schüler. Man nehme die Mühe des Einübens mit in 
den Kauf; der Vorteil ist nicht gering! 

Die Schüler lernen im zweiten Schuljahre das Verhältnis zwischen. Dtz. 
und Stck., Mdl. und Stck., J. und Mt. und die Geldsorten im Werte von 1—20 M, 
sowie das Liter- und Metermass kennen. Wo irgend eins dieser Zählmasse nicht 
gebräuchlich ist, fällt es natürlich fort; wo dagegen ein anderes bekannt ist, 
wird das herangezogen. 

Das ist der Stoff für die beiden ersten Schuljahre. Zuzählen und Abziehen 
von gemischten Zehnern übe ich auf der Unterstufe noch nicht, einmal, weil 
hier doch nur ein kleiner Teil solcher Aufgaben gelöst werden kann, und dann, 
weil es uns in diesem Kreise an Zeit zur gewinnbringenden Durcharbeitung 
derselben fehlen würde. 

II. 

Das Rechnen ist aber nicht nur ein sehr wichtiger, sondern auch ein sehr 
schwieriger, ja der schwierigste Unterrichtsgegenstand der Hilfsschule, weil 
das Denkvermögen unserer Schüler so ungemein schwach ist. Sie bedürfen Ver- 
anschaulichungen in weit grösserer Zahl und weit stärkerem Maße als normale, 
um zum Verständnis der Zablen und Rechenvorgänge geführt werden zu können. 

Die Anschauung sei wahr! An konkreten Dingen muss die Vorstellung 
gewommen werden. Das Kind zählt zuerst an Dingen; es lernt an Dingen die 
verschiedenen Rechenarten verstehen. Es werden ibm Münzen, Maße und Ge- 
wichte durch unmittelbare Anschauung bekannt gegeben; Abbildungen oder Be- 
schreibungen von ihnen wären zwecklos. 

Die Anschauung sei mannigfaltig! So genügt nicht, dass das Meter- 
mass nur gezeigt wird. Das Kind soll mit demselben auch messen, z. B. Länge 
und Breite der Schulstube angeben. Das Litermass wird mit Sand oder Wasser 
gefüllt. Die Geldstücke werden gezählt, dem Werte nach verglichen, gewechselt. 
Die Gewichte werden nach ihrer Schwere geordnet und auf einer einfachen Wage 
passende Gegenstände gewogen. Jeder Hilfsschule wünsche ich einen Kautladen, 
wie ihn die Anstalt Idstein und die Hilfsschule Barmen haben: da wird gekauft. 
und verkauft, gemessen und gewogen, bezahlt und gewechselt, mit einem Worte, 
praktisch gerechnet. — Natürlich können die hier aufgezählten Übungen nicht 
sämtlich auf der Unterstufe vorgenommen werden. 

Die Anschauung wiederhole sich! Bei unsern Schülern muss sie häufiger 
auftreten als bei andern, nicht nur bei der Durchnahme, oft auch bei der Ein- 


übung und Wiederholung. Ist auch der betreffende Vorgang verstanden und 
bis zur Sicherheit geübt, so ist doch nicht selten bei manchem Schüler nach 
kurzer Zeit alles wieder vergessen. Und das passiert demselben Stoff leider 
nicht nur einmal! Selbst während der Durchnahme einer Gruppe gehen die grund- 
legenden Vorstellungen derselben oft verloren. So wundert man sich wohl, dass 
das Zuzählen' und Abziehen von 10—20 nicht schnell und sicher aufgefasst wirl. 
Und die Ursache? Dieselben Verhältnisse des ersten Zehners sind nicht mehr 
klar. Nicht Trägheit, sondern Schwäche ist schuld hieran. Da hilft nur eins: 
erneute Veranschaulichung. 

Aber nicht nur Rechenfähigkeit, sondern auch Rechenfertigkeit muss 
gewonnen werden. Verständnis allein hat keinen Wert fürs Leben, sondern nur 
im Verein mit dem Können. Darum folge der Einführung in das Verständnis 
die Übung, die solange dauert, bis der Schüler selbständig und sicher die 
ihm gestellten Aufgaben lösen kann. Darum keine neue Art beginnen, bevor 
nicht die alte sein Eigentum geworden ist! — Und besonders die Beziehungen 
der Zahlen bis 20 zueinander müssen klar erkannt und fest eingeprägt werden, 
natürlich nicht mechanisch auswendig gelernt. Denn wer in den Rechenelementen 
nicht sicher ist, kann kein Rechner werden. 

Die gedächtnismässige Aneignung der hier inbetracht kommenden Aufgaben 
wird durch folgende Rechenvorteile unterstützt: 

1. Vertauschen der Summanden. Das Kind rechnet 9-++2 leichter als 2-49. 

2. Ausgehen von bequemen Aufgaben. Bei 7 +8 erinnere der Rechner 
sich an 747! Die Summe aus 2 gleichen Zahlen bleibt bekanntlich leicht 
haften. 

3. Zurückführen auf die Grundzahlen. Bei 18-3 denke man an 8—3! 

4. Heranziehen einer verwandten Rechnungsart. Leichter als 10—8 ist die 
betreffende Ergänzung. Bei grösseren Zahlen, wie 81—79, ist dieser Vorteil 
och auffälliger. 

5. Gegenüberstellen von Zuzählen und Abziehen. 

Als dritte im Bunde gelte die Wiederholung! Doch sei sie nicht planlos, 
bald hierin, bald dorthin greifend, sondern trete ebenfalls geordnet auf, zwar 
nicht denselben Weg einschlagend, wie die Durchnahme, sondern, um Ab- 
wechselung zu bringen, nach andern Gesichtspunkten geordnet! Hat man, wie 
ich vorschlug, im ersten Kreise die beiden Grundrechnungsarten von Zahl zu 
Zahl fortschreitend behandelt, so lasse man hier erst die Eins, dann die Zwei etc. 
zu allen Einern zulegen und von diesen abziehen, lasse Reihen bilden oder be- 
nutze Tabellen und das Schülerheft zu diesem Zwecke, nehme einmal die beiden 
Rechnungsarten getrennt und das andere Mal zusammen durch! Nur sorge man 
dafür, dass die behandelten Stoffe sämtlich in einem bestimmten Zeitraum zur 
Wiederholung gelangen und vergesse auch in den höheren Klassen nicht, auf 
die der Unterstufe oft zurückzugreifen, um sie hierdurch fest einzuprägen und 
zum unverlierbaren Eigentum des Rechners zu bringen! 

Es ist nicht zu befürchten, dass das Interesse der Schüler hierbei verloren 
gehen könnte, dass ihnen die häufige Durchnahme desselben Stoffes langweilig 


würde. Nein, solche Arbeit erweckt die Arbeitsfreudigkeit des Kindes und hebt 
sein Selbstvertrauen; es sieht, dass es etwas gelernt hat, dass es weiter kommt. 
Und das ist ein zweiter Nutzen anhaltender Übung und unermüdlicher Wieder- 
holung. Ä 
Ein anschaulicher Unterricht bedarf Anschauungsmittel. Zunächst 
wähle man einfache Gegenstände aus der Umgebung und dem Anschauungs- 
kreise des Kindes, wie Finger, Schiefer, Würfel, Stäbchen, Kegel und Kugeln, 
und ziehe dann auch graphische Darstellungen, wie Striche, Punkte und 
Kreise, zur Veranschaulichung heran! 

Von künstlichen Anschauungsmittelu benutzen wir in unsern Unter- 
klassen den von Müller-Zeitz verbesserten Tillichschen Rechenkasten 
bezw. das von Troelltsch herausgegebene Nürnberger Rechenbrett und 
die russische Rechenmaschine, letztere mit 20 recht grossen und sauber 
gestrichenen Kugeln. Bei der Vorführung ordne man die betreffenden Körper 
und Zeichen so, dass der Schüler die- Aufgaben. ebenso wie bei der schriftlichen 
Darstellung — also von links nach rechts — ablesen muss. 

Andere praktische Hilfsmittel zu erwähnen, erlaubt mir leider die Zeit nicht 
die Besprechung wird gewiss auf solche hinweisen. 

Es empfiehlt sich, mit den Anschauungsmitteln abzuwechseln; denn die 
Jahlenbegriffe sind um so klarer, je grösser die Zahl der verschiedenen Gegen- 
stände ist, an denen sie gewonnen werden. So behaupten Heinze und Hübner, 
und ich stimme ihnen bei. 

Um das Auffassen der Zahlengrössen und Rechenvorgänge zu. erleichtern, 
bringt man die Dinge und Zeichen wohl in bestimmte Gruppen und schafft so 
die Zahlenbilder, über deren Wert. die Meinungen ja sehr geteilt sind. Ich 
benutze sie gern als ein, aber nicht als einziges Anschauungsmittel, lasse die 
(Grössen bis zur 10 auf diese Art darstellen und ordne sie in zwei Reihen, weil 
in solcher Gruppierung das Zerlegen und Zusammensetzen der Zalılenbilder keine 
nennenswerten Abweichungen von der ursprünglichen Form bringen. 

Besonders solche Anschauungsmittel sind mir lieb, die das selbstän- 
dire Darstellen der Schüler zulassen. Die Kinder wollen nicht nur zusehen 
und zuhören, sie wollen selbst arbeiten, selbst tätig sein. Darum benutzen sie 
auch so gern die Finger im ersten Rechenunterricht. Man unterstütze diese 
Neigung! Nur schade, dass so mancher unserer Schüler so ungeschiekt in der 
Handhabung dieses Mittels ist! — Jeder meiner Rekıuten erhält im ersten 
Jahre einen Pappkasten mit 10 Holzwürfeln von 3cm Höhe — der Lehrer 
benutzt solche von 12 cm Seitenkante — und im folgenden einen Rechenkasten 
mit 20 Kugeln. Die Übungen gestalten sich vielseitig, sie erwecken rechte, 
freudige Lernlust und bringen reichen Gewiun. Allen Kollegen, und nicht nur 
denen an der Hilfsschule, möchte ich die Mahnung ans Herz legen: Lassen Sie 
Ihre kleinen Schüler auch im Rechenunterricht selbst darstellen! Sie werden 
bald Wohlgefallen an ihrem frischen, fröhlichen Arbeiten finden und sich mit 
ihnen über die Unterrichtserfolge freuen! Lust und Liebe zum Dinge, macht Mühe 
und Arbeit geringe. „Eine Tätigkeit selbst ein einziges Mal ausführen bringt 


mehr Gewinn, als sie zehnmal von fremder Hand machen sehen,“ so urteilt 
hierüber Beetz. Und Grass: „Das einmalige Selbstdarstellen nützt oft mehr 
als stundenlanges Zuschauen beim Veranschaulichen durch andere.“ 


TI. 


Und nun zum Schluss eine von unserm Vorstande gewünschte kleine 
Zugabe: | 

Die Rechenbuchfrage. Unsere Schulen zeigen in betreff der Einrich- 
tung ein recht buntes Bild: von einklassigen geht es bis zu sechsstufigen auf- 
wärts; die eine Anstalt hat eine „Vorstufe“, die andere nicht; hier werden in 
einem Fortbildungsunterricht die aus der Schulpflicht Eintlassenen weiter ge- 
fördert, und dort gibt’s diese segensreiche Einrichtung noch nicht, 

Um den Unterrichtsbetrieb zeigen zu können, greife ich eine Gruppe heraus, 
die dreistufige Hilfsschule, wie wir sie auch in Magdebnrg haben. Jede Klasse 
umfasst 2 Jahrgänge, hat also auch mindestens zwei Abteilungen. Während 
die eine vom Lehrer unterrichtet wird, muss die andere schriftlich: beschäftigt 
werden. Haben die Schüler passende Aufgabenhefte in Händen, dann heisst es: 
Abteilung I oder II rechnet Nr... .. ! Fehlen sie aber, dann ist man ge- 
zwungen, die zur stillen Beschäftigung bestimmten Aufgaben entweder an die 
Wandtafel zu schreiben oder sie zu diktieren. Abgesehen davon, dass man bei 
dieser Art der Aufgabenstellung nie sicher ist, ob die Aufgaben auch richtig 
niedergeschrieben werden — kurzsichtige bezw. schwerhörige Schüler können es 
beim besten Willen nicht — und ob die für die häusliche Arbeit bestimmten 
auch leserlich bleiben, geht durch das Anschreiben und Diktieren viel kostbare 
Zeit verloren, die, zum Unterrichten benutzt, bedeutend mehr Segen bringen 
würde. 

Das Rechnen fordert gedächtnismässige Aneignung einzelner Stoffe, wie des 
Einmaleins und der Währungen und verlangt richtige Schreibung der Bezeich- 
nungen für Münzen, Masse und Gewichte. Auch hierfür leistet ein Aufgabenheft 
gute Dienste. | 

In seinem späteren Leben begegnen dem Kinde angewandte Aufgaben. Hat 
es diese aber noch nie schriftlich dargestellt gesehen — denn wer von uns 
würde der Rechenstunde soviel Zeit nehmen, um solche anzuschreiben oder zu 
diktieren? — daun wird’s mit dem Verständnis und der Ausrechuung derselben 
in den allermeisten Fällen wohl recht hapern. 

Das Aufgabenheft zeigt sodann auch die riehtige Form der Darstellung. 
Es ist ein Wegweiser, nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Eltern, 
die ihren Kindern bei der häuslichen Arbeit gern helfend zur Seite stehen 
wollen. 

Durch Schülerhefte wird endlich auch dafür gesorgt, dass Einbeitlichkeit, 
Vollständigkeit und richtige Stufenfolge nicht leidet, was sonst leicht, besonders 
in vielklassigen Anstalten und bei eintretendem Lehrerwechsel geschehen kann. — 
Darum meine ich: Auch in Hilfsschulen wird der Rechenunterricht durch Schüler- 
hefte wesentlich unterstützt. 


96 


Über die Einrichtung eines solchen Buches brauche ich nicht viel Worte 
zu machen. Was es an Stoff enthalten muss, habe ich bereits angedeutet. 
Vielleicht wären noch leicht verständliche Aufgaben aus der Arbeiterversicherung 
aufzunehmen, die, wenn nicht während der Schulzeit, so doch in einem Fort- 
bildungskursus zur Durchnabme gelangen würden. 

Dass der Rechenstoff unsern Schülern in einem besonderen Zuschnitt ge- 
boten werden muss, ist selbstverständlich. Alle schwierigen Zahlenverhältnisse 
und Lösungsformen fallen fort, von allem Beiwerk und Nebensächlichen wird 
abgesehen, und nur das Notwendige und Erreichbare darf Aufnahme finden. Der 
Stoff ist aus dem Anschauungskreise unserer Schüler zu nehmen, muss ihre 
spätere Lebensstellung berücksichtigen und in einer leichten, ihnen zusagenden 
Form geboten werden. | 

Andererseits muss der Stoff bedeutend erweitert werden. Der Fortschritt 
darf nur in kleinen Schritten geschehen, jede Gruppe nur eine Schwierigkeit 
bringen, der Aufbau muss lückenlos sein. Nur durch viele Übung wird Sicher- 
heit erzielt, darum muss das Schülerheft reichlichen Übungsstoff bringen, es 
muss jede Gruppe möglichst allseitig behandelt werden. 

Das sind meine Ansichten und Wünsche über den „Rechenunterricht auf 
der Unterstufe der Hilfsschule“. Ich schliesse hiermit und sage Ihnen für Ihre 
freundliche Aufmerksamkeit meinen besten Dank! 


Mitteilungen. 


Mühlhausen. (Hilfsschule.) Mit dem 1. Mai d. J. ist hier eine 2. Hilfs- 
klasse mit 25 Schülern errichtet worden. Den Unterricht hat der Lehrer Grosch 
übernommen. Die 1. Klasse zählt 30 Schüler. Auffallend ist es, dass unter 55 Schülern 
beider Klassen 7 Geschwisterpaare sich befinden. 

Offenbach a. Main. (Eröffnung der neuen Hilfsschule) Am Montag 
den 20. April wurde die neue Hilfsschule mit 2 Klassen und einem Bestand von 
54 Kindern eröffnet. Da noch Zuwachs zu erwarten steht, so ist die Gründung einer 
dritten Klasse beabsichtigt und wird ein diesbezöglicher Antrag von dem Leiter, 
Herrn Lehrer Marbach, gestellt werden. 

Oppeln. (Gerichtsverhandlung.) Vor der hiesigen Strafkammer hatte 
sich der Zögling der Idiotenanstalt zu Leschnitz, Paul Scholz, wegen Mordes, begangen 
an der Lehrerin Anna Bartsch, und wegen Brandstiftung zu verantworten. Der 
Angeklagte ist 17 Jahre alt; er benahm sich gegen seine Vorgesetzten stets störrisch 
und führte, wo er nur konnte, Diebstähle aus. So vermutete er auch bei der Lehrerin, 
Fräulein B.,, Geld und Wertsachen. Er heckte nun den schousslichen Plan aus, seine 
Lehrerin, die ihm stets zugetan war, zu ermorden und zu berauben. Die Tat führte 
er auch alsbald aus. Er begab sich unter dem Vorwand, sich von Fräulein J. ein 
Buch zu leihen, in deren Zimmer und schnitt ihr mit einem haarscharf geschliffenen 
Taschenmesser den Hals durch. Alsdann nahm er die goldene Uhr an sich, suchte 
nach andern Schmucksachen und steckte schliesslich das Zimmer in Brand. Ais ob 


97 


nichts geschehen wäre, begab er sich zu den andern Zöglingen, die veim Frühstück 
sassen. Der Brand und der Mord wurden bald bemerkt, und die durch den Anstalts- 
arzt und den inzwischen herbeigeeilten Gendarmen angestellten Ermittelungen ergaben 
die Schuld des Angeklagten. Der Staatsanwalt beantragte die höchste zulässige Strafe 
von 15 Jahren Gefängnis. Der Gerichtshuf beschloss, den Angeklagten behufs Unter- 
suchung seines Geisteszustandes auf 6 Wochen einer Irrenanstalt zu überweisen. 
(Pr. L.-Z.) 

Schreiberhau. (Idiotenanstalt.) Die mit der ‚Anstalt bisher verbunden ge- 
wesene „Bettungshausschule* ist im vergangenen Jahre aufgegeben worden, und die 
dadurch freigewordenen Räume hat man zur Erweiterung der Erziehungsanstalt für 
Schwachsinnige benutzt. Am 1. Januar 1902 betrug die Zahl der Zöglinge 116 
(62 männl. und 54 weibl.), während am Schlusse des vergangenen Jahres die Anstalt 
126 Zöglinge (67 männl. und 59 weibl.) zählte. Von den neu eingetretenen Zöglingen 
waren 26 unter und 5 über 18 Jahre alt. — 

Worms a. Rhein. (Hilfsschule) Unsere Hilfsschule, welche nunmehr seit 
Ostern 1899 besteht und gegenwärtig zwei Klassen umfasst, wurde im abgelaufenen 
Schuljahr von 49 Kindern besucht und zwar von 80 Knaben und 19 Mädchen, welche 
sich so verteilten, dass in der obersten Klasse 25, in der untersten Klasse 24 Kinder 
waren. Am Schlusse des Schuljahres hatten wir uns noch eines Besuches vom Gross- 
herzoglichen Ministerium in Darmstadt zu erfreuen, indem Herr Geheimer Oberschulrat 
Dr. Scheuermann aus Darmstadt im Beisein von Herrn Kreisschulinspektor Professor 
Dr. Frenzel und Herrn Stadtschulinspektor Scherer die beiden Hilfsklassen einer 
eingehenden und sehr zufriedenstellenden Prüfung unterzog. — Entlassen konnten wir 
am Schlusse des vorigen Schuljahres 9 Kinder, von denen wir die feste Hoffnung 
hegen dürfen, dass sie alle erwerbsfähig und später selbständig ihr Fortkommen finden 
werden. Davon werden 2 Schlosser, 1 Metzger (im Betrieb seines Vaters), 1 Haus- 
bursche, 2 Fabrikarbeiter, 2 Näherinnen und 1 Büglerin. Neuaufgenommen wurden 
10 Kinder, so dass wir mit Beginn des neuen Schuljahres einen Bestand von 
50 Kindern haben, welche sich auf die beiden Klassen so verteilen, dass jede Klasse 
25 Kinder zählt. Da nächstes Jahr voraussichtlich wenig Abgänge und mehr Neu- 
aufnahmen zu erwarten stehen, so besteht an massgebender Stelle die Absicht, mit 
Ostern nächsten Jahres eine neue dritte Klasse zu errichten, was wir im Interesse 
der Sache nur mit Freuden begrüssen würden. — Bereits seither schon wurden im 
Handfertigkeitsunterricht genommen Stäbchenlegen, Papierfalten, Papierflechten, Papp- 
arbeiten und Holzarbeiten. Aber von der Ansicht ausgehend, dass in dieser Beziehung 
für unsere Armen nicht genug ‚geschehen könne und dass, wie Herr Schulinspektor 
Scherer-Worms in der Debatte auf dem letzten Verbandstage in Mainz so richtig 
hervorgehoben hat, der ganze Unterricht in der Hilfsschule auf Anschauen und Dar- 
stellen beruhen und der Muskelsinn eine sorgfältigere Ausbildung erfahren müsse, 
wollen wir in diesem Jahre noch das Formen und Modellieren mit Ton hinzunehmen. 
Und zwar soll dieses Formen den ganzen Unterricht, alle Disziplinen durchwoben und 
unterstützen. 


98 


Literatur. 


Die ärztliche Feststellung der verschiedenen Formen des Schwach- 
sinns in den ersten Schuljahren. Von Dr. L. Laquer. München 1901. Verlag 
von Seitz & Schauer. 14 S. Preis Mk. 1,—. 

In kurzer Darstellung skizziert der Verfasser die drei bekannten Formen der 
Geistesschwäche: Debilität, Imbecillität und Idiotie.e. Andeutungsweise werden auch 
einige Fingerzeige für die Erziehung und Behandlung Schwachsinniger geboten, sonst 
verfolgt die Schrift hauptsächlich schulärztliche Zwecke. Besonders hervorheben wollen 
wir, dass der Verfasser die Arbeit der Pädagogen auf dem Gebiete des Schwach- 
sinnigenbildungswesens richtig einzuschätzen weiss. Wenn die gesamte Ärztewelt in 
dieser Angelegenheit auf dem Standpunkte stände, welchen Dr. Laquer in seiner 
Schrift vertritt, so würde eine Verständigung zwischen Ärzten und Pädagogen leicht 
möglich sein und manche Voreingenommenheit schwinden. Den Ärzten an Hilfs- 
schulen und an Anstalten für schwachbegabte Kinder können wir die Schrift zu 
Informationszwecken angelegentlich empfehlen. 

Die Pflege der Selbsttätigkeit im ersten Rechenunterrichte mittelst 
des Unterlaufschen Rechenapparates. Von G. Unterlauf. Verlag von C. Gesch 
in Berlin O, Friedrichsberg und Straussberg. 16 Seiten. Preis Mk. 0,30. 

Der Rechenunterricht, unser Schmerzenskind, erfreut sich auch in unsern Schulen 
einer ganz besondern Pflege; man ist vor allen Dingen bemüht, ihn recht anschaulich 
und natürlich zu gestalten, um die Schüler zur Selbsttätigkeit und Selbständigkeit zu 
erziehen. Schon aus diesem Grunde halten wir scharfe Umschau und beachten alle 
Vorschläge, die zur Verbesserung des Rechenunterrichts gemacht werden. Mit Interesse 
haben wir deshalb die Ausführungen vorliegender Schrift verfolgt und müssen manchen 
Folgerungen durchaus beistimmen Es ist richtig, wie hervorgehoben wird, dass das 
Kind durch Vergleichen der Zahlbilder miteinander zu dem Zahlbegriff geführt werden 
muss nnd nicht etwa durch Zählen. Die Zahl soll als ein gleichmässiges, von 1 zu 
1 fortschreitendes, individuelles Ganze dargestellt werden. Dieses erscheint besonders 
für uns von grösster Wichtigkeit. Der vom Verfüsser erfundene Rechenapparat ist 
auf Grund dieser Erkenntnis konstruiert und lässt Zahlbild nach Zahlbild vor den 
Augen der Kinder entstehen. Die Schüler können an ihm zur Selbstveranschaulichung 
angeleitet werden und somit zur Selbsttätigkeit. Überhaupt bieten die kurzen Dar- 
legungen der kleinen Schrift viele anregende Gedanken über den ersten Rechenunterricht, 
wir empfehlen sie zur prüfenden Erwägung. 

Das Arbeits-Sanatorium. Von Dr. Eschle. München 1902. Verlag der 
Ärztlichen Rundschau (Otto Gmelin). 26 Seiten. Preis Mk. 1,—. 

Der Verfasser vorliegender Schrift, Direktor der Kreispflegeanstalt Sinsheim in 
Baden, versteht unter Arbeits-Sanatorium eine solche Anstalt, die für eine Reihe an 
sich ganz verschiedener Krankheitsformon bestimmt ist, in der aber die Landwirtschaft 
und eine Anzahl gewerblicher Betriebe das Band bilden sollen, das ihre Iusassen 
vereinigt. In unsern Anstalten gelangt dieses Prinzip schon vielfach zur Anwendung, 
und wie es scheint, mit günstigem Erfolge. Ob aber derartige Massnahmen für ver- 
schiedene Kategorien von Krankheitserscheinungen, wie der Verfasser sie durchgeführt 


99 


wissen will, sich praktisch erweisen dürften, könnte bezweifelt werden, da hier in 
erster J,inie Individualisierung am Platze wäre. Immerhin aber verdienen seine Aus- 
führungen eine gewisse Beachtung, da sie Vorschläge von tief einschneidender Be- 
deutung für den Ausbau von Wohlfahrtseinrichtungen in weitgehender Beziehung bieten. 

terichtliche Medizin. Der von dem Zentralkomitee für das ärzt- 
liche Fortbildungswesen in Preussen im vorigen Frühjahr veraustaltete 
Vortrags-Cyklus über gerichtliche Medizin, bei welchem viele der hervor- 
ragendsten Vertreter dieses Faches beteiligt waren, ist nunmehr als Sonderband 
des Klinischen Jahrbuches im Verlage von Gustav Fischer in Jena im 
Buchhandel erschienen. Preis: 5 Mk., geb. 6 Mk. 

Die Erziehung der schwachbegabten und schwachsinnigen Taub- 
stummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt. Dargestellt an 
der Hand eines Reiseberichts über dänische und norwegische Taubstunmen- 
anstalten von H. Stelling, Taubstummenlehrer in Emden. Leipzig 1902. 
Verlag von Carl Merseburger. Preis Mk. 1,80. 

Der Verfasser beschreibt zunächst in kritischer Darstellung die Massnahmen, 
welche in Dänemark und Norwegen auf dem Gebiete der Taubstummenbildung zur 
Trennung nach Fähigkeiten getroffen sind und tritt dann mit seinen Forderungen 
zwecks einer besseren Beschulung der Taubstummen für Deutschland, speziell für die 
Provinz Hannover hervor. Seine Ausführungen bekunden durchweg tiefes Verständnis 
der anormalen Erscheinungen in der geistigen Entwicklung des Kindes und bieten 
auch wertvolle Fingerzeige für die Erziehung und Bildung anormaler Kinder in metho- 
discher und schultechnischer Beziehung. Dadurch gewinnen seine Erörterungen auch 
für uns eine ‚grosse Bedeutung, zumal sie eine Fülle von anregenden Gedanken und 
weitgehenden Aussichten enthalten. Die neuste pädagogische Literatur findet in der 
Arbeit kritische Beleuchtung, die gewonnenen Grundsätze verdienen ausdrückliche An- 
erkennung und Beachtung auch für unser Gebiet, namentlich deshalb, weil der Ver- 
fasser sich schon vorher in einer anregenden Arbeit mit der Fürsorge für die schwach- 
begabten Kinder beschäftigt hat und Erfahrungen in dieser Angelegenheit besitzt. 
Das Buch verdient in vollstem Masse unsere Empfehlung. 

Beziehungen des Seelenlebens zum Nervenleben. Grundlegende Tat- 
sachen der Nerven- und Seelenlehre von Dr. med. Eduard Hirt. München 
1903. Verlag von Ernst Reinhardt. | 

Die Schrift handelt in knapper Darstellung von den Anfängen und Grundlagen 
des Seelenlebens in seinen Beziehungen zum Nervenleben. Der Verfasser geht in 
interessanter Weise von der werdenden Seele aus und kommt dann ganz von selbst 
zu den Wechselbeziehungen zwischen Materie und Psyche. Er erschliesst uns einen 
Einblick ia die Abhängigkeit seelischer Erscheinungen von bestimmten Zuständen 
unserer nervösen Gebilde und beantwortet im Anschlusse hieran die Frage nach den 
Grundlagen der verschiedenen geistigen Begabung (Veranlagung). Zuletzt spricht er 
darüber, dass psychische Vorgänge sich in verschiedenartigen körperlichen Erscheinungen 
wirksam zeigen, deren sichtbare Zeichen uns Aufschlüsse über die tiefinnerlichen 
Regungen eines Menschen bieten können. Er nimmt durchweg Bezug auf pathologische 
Erscheinungen des Seelenlebens, so dass seine Ausführungen auch einen gewissen 


301.800 


100 


Wert für die Psychiatrie besitzen. Leider ist die Darstellung in einzelnen Teilen eine 
sehr gedrängte und .skizzenhafte, so dass ein selbständiges Überdenken und Ausbanen 
des Gebotenen im Sinne des Verfassers für den, der bisher von ihm aoch nichts ge- 
lesen hat, doch zweifelhaft erscheinen dürfte. Für uns besitzt die Schrift trotzdem 
einen hohen Wert, da sie geeignet erscheint, uns in die Kenntnis des menschlichen 
Seelenlebens und seiner wichtigsten pathologischen Erscheinungen in überaus ver- 
ständlicher Weise einzuführen. | 

Aus der Welt der Idioten.. Von Matthias Ellenbach, Lehrer an der 
Idiotenanstalt in Budapest. Mit einem Vorworte von Direktor Johann Bereinza. 
Verlag von Ludwig Tokty in. Budapest. 1903. Preis 2 Kronen. 

Das in ungarischer Sprache erschienene Werkchen gibt im 1. Teile in kurzen 
Umrissen einen Überblick über die Idiotenfürsorge in Ungarn. Im zweiten Teile 
folgt ein Hinweis auf den gegenwärtigen Stand der Idiotenfürsorge im Auslande, ins- 
besondere in Deutschland. Der Verfasser gibt alsdann in kurzen Zügen eine Erklärung 
vom Wesen des Idiotismus und Kretinismus und den Ursachen der geistigen Minder- 
wertigkeit. Hierauf berichtet der Verfasser über seine Studienreise im Auslande und 
bespricht die Anstalten Hartheim, Ecksberg, Alsterdorf, Kückenmühle, Idstein, Regens- 
berg, Paris, Rüti und Prag. In den einzelnen Abschnitten wird die Geschichte jeder 
Anstalt dem Leser vor Augen gestellt, worauf die Beschreibung des Anstaltsgebäudes, 
der Pflege, der Erziehung, des Unterrichtes und insbesondere der Heranbildung zum 
nützlichen Gliede der Menschheit sich anschliesst. Zur besseren Veranschaulichung 
des Gesagten dienen 10 Illustrationen. Zum Schlusse gedenkt der Verfasser noch 
der sogenannten Aushilfsklassen (Hilfsschulen).. Der Verfasser hat durch Herausgabe 
seiner Erfahrungen sicher ein nützliches Werk getan, denn abgesehen ‘davon, dass 
das Buch zu den bahnbrechenden gezählt werden kann, wird es gewiss auch die 
Herzen der Menschenfreunde Ungarns rühren und für die Sache der unglücklichen 
Blöden erwärmen. Mentor. 


Brief kasten. 


C.F.i.W. Einzelne Exemplare von Nr. 2 und 3 dieses Jahrganges können nicht mehr 
abgegeben werden. Der darin enthaltene Aufsatz von Wehle — „Das Auswendig- 
schreiben als Mittel der Sprachbildung Schwachsinniger“ — ist aber als 
Sonderabdruck erschienen und durch die Buchhandlung von Hellmuth Wollermann in 
Braunschweig und Leipzig, sowie ronst durch den Buchhandel für je 30 Pf. zu beziehen. — 
J. P. i. D. Sehr bedauert, hoffentlich passt es ein anderes Mal. — Dir. F. K.i. Z Für 
Nr. 4 zu spät und für gegenwärtige ` Ken nan a o Ein sicherer Korrespondent für 





die Schweiz fehlt uns immer noch. — Für die Karten besten Dank; hoffentlich 
berichten Sie uns regelmässig 








mn mn nn L—— 


Inhalt. Polia zur Epileptikerbehandlung. (Dr. Ackermann.) — Bericht über 
den IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. (Fr. Frenzel.) — Das Rechnen 
auf der Unterstufe der Hilfsschule. (H. Giese.) — Mitteilungen: Mühlhausen, Offen- 
bach a. M., Oppeln, Schreiberhau, Worms. — Literatur: Die ärztliche Feststellung der 
verschiedenen Formen des Schwachsinns in den ersten Schuljahren. — Die Pflege der 
Selbsttätigkeit. — Das Arbeits-Sanatorium. — (ierichtliche Medizin. — Die Erziehung 
der schwachbegabten und schwachsinnigen Taubstummen und die Teilung nach Fähig- 
keiten überhaupt. — Beziehungen des Sesienlehens zum Nervenleben. — Aus der Welt 
der Idioten. — Briefkasten. l 











ne Sram ar er) a en l ar nr i mann. e rn a a e a ae 


Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


nn 





> 


Nr. %. XIX. (Ill) Jahrg. 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung sehwachsinnieer und Epilepüscher. 


Organ der Konferenz | für das Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden - Strehlen, für Me eenkhälen 
Residenzstrasse 27. In Stuttgart. 


' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 

"nindestens einem Bogen. Anzeigen für } li 1903 und Postäniter, wie auch direkt von der 

die gespaltene Petltzeile 35 Pfg. Lite- u i Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. | eiuzeine Nummer 50 Pfg. 


Erscheint jährlich in 12 Nummern von 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Allgemein 
Interessantes aus dem Taubstummenunterrichte. 
Von P. Riemann- Weissenfels. 

Gewiss wird es mauchem Leser dieser Zeitechrift von Interesse sein, in der 
jetzigen Zeit, wo die Wissenschaft der Methode des Taubstummenunterrichtes 
vielfach neue Bahnen eröffnet hat, wo durch dieselbe der Unterricht an den 
Taubstummen ein ganz anderer und seine Ziele höhere geworden sind, sich 


einmal einigen allgemeines Interesse beanspruchenden Ansichten aus dem Gebiete 


des Taubstummenunterrichtes zuzuwenden. 

Zwar kann es dabei nicht ausbleiben, dass diesem und jenem manches Be- 
kannte geboten wird; jedoch begegnet man ja alten Bekannten immer wieder 
gern und begrüsst sie um so lieber, je mehr sie sich allgemeiner Gültigkeit 
und Beliebtheit erfreuen. Wer aber ausschliesslich nach Neuem sucht, dem rate 
ich von vornherein, diese Arbeit lieber nicht zu lesen. 

Als die Menschen anfingen, sich die Bildung der Taubstummen angelegen 
sein zu lassen, war ihre Absicht auch stets dahin gerichtet, sie aus jener Iso- 
lierung, in welche sie ihr Gebrechen stellte, die sje der Kenntnisse beraubte, 
welche die Menschen besassen, und die jeder Intelligenz so überaus gefährlich 
wird, herauszureissen. Man suchte ihr intellektuelles Leben auf Grundlage der 
Ertabrung zu stellen und die Tätigkeit der den höchsten Geistesqualitäten 
dienenden Nervenorgane durch sinnliche Wahrnehmungen bis zu einer gewissen 
Grenze hin zu korrigieren. Nach der physiologisch wie psychologisch fest- 
stehenden Tatsache, dass die Sinne vorzugsweise uns das Material für unsere 
spezifisch psychischen Tätigkeiten liefern, wandte man sich ganz naturgemäss dem 


102 

Auge der unglücklichen Taubstummen zu und suchte ihnen mit Hilfe dieses 
Sinnes die Wege in die Wissensgebiete zu ebnen. Vor allem strebte man da- 
n&äch, den Taubstummen das zu geben, was sie als Folge ihres Gebrechens 
nicht auf dem gewöhnlichen Wege erlernen konnten, die Sprache. Zu diesem 
Zwecke liessen es sich Männer, die sich im 16., 17. und 18. Jahrhundert um 
die Begründung und Ausbreitung des Taubstummenunterrichtes verdient gemacht 
haben, wie Pedro de Ponce (t 1584), Bonet, Wallis (geb. 1616), Amman 
(1669 — 1724), Kerger, Raphel (1673—1740), Arnoldi (1737—1783), 
Pereira (1715 -1780), Deschamps u. a. angelegen sein, neben dem mecha- 
nischen Sprechen ein klares Verständnis der Sprache zu erzielen, wozu ihnen in 
ausgedehntem Maße die Gebārdensprache, in der Regel aber auch Bilder 
und die Sache selbst, an welche das Wort unmittelbar angeschlossen wurde, 
diente, und wobei manche der Genannten die Schriftsprache, andere die 
Lautsprache in den Vordergrund stellten.*) 

Wenn man bedenkt, dass die Gebärde jedem hörenden Kinde bei der Er- 
lernung der Lautsprache überaus wichtige Dienste leistet, und dass sie sich bei 
dem taubstummen Kinde notgedrungen als die alleinige Form seiner Gedanken- 
kundgebung festsetzt, so ist es nur zu natürlich, dass sie bei dem Taubstummen- 
unterrichte einen wichtigen Ausgangspunkt bot und noch heute als solcher volle 
Berücksichtigung finden muss. Ein kurzes Verweilen bei der Gebärdensprache 
ist darum hier durchaus gerechtfertigt. 

„Die Wünsche und Gemütsbewegungen kleiner Kinder werden in einer 
geringen Anzahl von Lauten, aber in einer grossen Mannigfaltigkeit von Gebärden 
und Grimassen mitgeteilt. Die Gebärden eines Kindes zeigen Verständnis 
schon lange vor dem Sprechen und zwar trotzdem, dass frühe und nachdrückliche 
Bemühungen dahin aufgewandt werden, es in letzterem, nicht aber in erterem 
zu unterrichten, und zwar schon von frühester Zeit an. Es lernt Wörter nur, 
soweit sie ihm gelehrt werden, und lernt sie durch Vermittelung von Zeichen, 
die ihm nicht ausdrücklich gelehrt werden. Noch lange nach seinem Vertraut- 
sein mit der Sprache hat es acht auf die Gebärden und Gesichtsausdrücke 
seiner Eltern und Wärterinnen, als ob es deren Worte auf diese Weise zu über- 
setzen und zu erklären suchte.“**) Daraus ersehen wir deutlich, dass die 
Gebärdensprache im Vergleich zu der artikulierten Sprache das einfachere, natär- 
lichere und darum primitivere Mittel zur Mitteilung ist. Diese allgemeine 
Wahrheit finden wir auch in der Tatsache ausgedrückt, dass die Gebärdensprache 
stets von Menschen zu Hilfe genommen wird, die ihre artikulierte Sprache 
gegenseitig nicht verstehen. „So z. B. haben die Indianer, die im zivilisierten 
Osten gezeigt wurden, häufig durch Anwendung der von ihnen erfundenen 
Prinzipien einer sozusagen „lautlosen Muttersprache“ eine erfolgreiche Unter- 
haltung mit weissen Taubstummen angeknüpft, die uustreitig keinen anderen 
den Indianern bekannten Kodex dieser Kunst besitzen, als den von ihrem gemein- 
samen Menschentum abgeleiteten. Die Indianer bezeigten das grösste Vergnügen 


*) Vergleiche Walther, Geschichte des Taubstummen-Bildungswesens, S. 16. 
*+) Mallery, Sign-language among the North American Indians, 


103 

bei der Begegnung mit den Taubstummen, ganz wie Reisende in einem fremden 
Lande erfreut sind, wenn sie auf Personen treffen, die ihre Sprache sprechen.“*) 

Mag diese Unterhaltung der Taubstummen und Indianer noch so primitiv 
gewesen sein, so geht doch immerhin daraus hervor, dass mit Hilfe von Zeichen 
bezw. durch Ausdruck und Anwendung derselben eine ganz erkleckliche Summe 
von Kenntnissen aufzunehmen ist. Es ist uns auch vollständig einleuchtend, 
wenn de l'Éppée (1712—1789), der Begründer des Pariser Taubstummen- 
institutes, sagt: „Jeder Taubstumme, den man uns bringt, hat schon eine 
Sprache, die ihm geläufig und um so ausdrucksvoller ist, als sie die Sprache 
der Natur selbst und allen Menschen gemein ist. In dieser Sprache bringt er 
es durch die häufige Anwendung derselben zu einer solchen Fertigkeit, dass er 
sich den Personen, mit welchen er zusammen lebt, ja selbst solchen, die vorüber- 
gehend davon Gebrauch machen, verständigen kann. Er drückt darin seine 
Bedürfnisse, Wünsche, Neigungen und Besorgnisse, seiue Furcht, seinen Schmerz, 
seinen Kummer etc. aus, und irrt sich nie, wenn andere ähnliche Gefühle auf 
gleiche Weise äussern. Er empfängt in ihr Aufträge, führt sie treu aus und 
legt genau Rechenschaft ab. Es sind allein die verschiedenen Eindrücke, welche 
er in seinem Innern empfunden hat, die ihm diese Sprache, und zwar ohne 
Hilfe der Kunst, verschafft haben. Und diese Sprache ist die Sprache der 
Zeichen. Man kann ihn daher unterrichten; und um zum Ziele zu gelangen, 
handelt es sich darum, ihm die französische Sprache zu verschaffen. Welches 
wird die kürzeste und leichteste Methode sein? Wird es nicht diejenige sein, 
welche sich in der Sprache ausdrückt, an welche er sich gewöhnt hat und in 
welcher man ihm selbst sagen kann, was er zu wissen notwendig hat?‘“**) 

Leider hatte aber die von ihm ausgebildete Sprache mit der ursprünglichen 
Gebärdensprache nicht viel mehr gemein, und es ist zweifellos, dass man bei 
Annahme seiner Ansicht, man habe nur nötig, die Gebärdensprache unserer 
„konventionellen“ Sprache analog zu gestalten, um aus jener in die Lautsprache 
übersetzen zu können, den Gedanken aufgeben muss, den Taubstummen durch 
seinen Unterricht zum Verkehre mit seinen hörenden Mitmenschen zu befähigen. 
Selbst zugegeben, dass man möglicherweise — bis heute soll dieser Beweis noch 
erbracht werden — einmal ein vollständig konventionelles Gebärdensystem aus- 
zuarbeiten verimöchte, welches allen abstrakten Worten und Beugungen der ge- 
sprochenen Sprache entspräche, und dass alsdann das eine Zeichensystem an 
Stelle des anderen treten könnte, in ähnlicher Weise, wie das Zeichensystem 
der Schrift das der Sprache zu ersetzen vermag, so berechtigt dies noch nicht 
zu der Annalıme, dass ein so vervollkommnetes Gebärdensystem durch einen 
natürlichen Entwickelungsprozess entstehen könnte, und wenn wir den wesentlich 
ideographischen Charakter solcher Zeichen berücksichtigen, so erhebt sich die 
wohlberechtigte Frage, ob selbst unter den dringendsten Uhnständen (wie z. B. 
für den Fall, dass der Mensch oder seine Vorfahren nicht imstande gewesen 


*, Mallery, a. a. O. 
* Walther, Geschichte des Taubstummen - Bildungswesen». 


104 


wären zu artikulieren) die Gebärdensprache zu irgend einem annähernden Ersatz 
für die Wortsprache sich hätte entwickeln können.*) 

De l’Ep6e sowohl, wie sein Nachfolger Sicard (1742—1822) haben sich 
die grösste Mühe gegeben, ein vollständiges Wörterbuch der Zeichen zu 
schreiben, aber ihre Aufgabe nicht zu lösen vermocht. Letzterer gab sich dieser 
Arbeit ganz besonders hin und zog auch die grammatischen Formen unserer 
Sprache, die de l’Ep&e etwas Äusserliches waren und die er ibrer rein konventio- 
nellen Natur wegen lehrte, wie man etwa eine Regel lehrt, als ein Abbild der 
Funktionen des Geistes und der Operationen des Denkens auf und bezeichnete 
und lehrte sie in diesem Sinne. Es ist wahrlich bewunderungswürdig, welche 
grosse hingebende Liebe sie bei ihrem Unterrichte an den Taubstummen be- 
tätigten; aber aus ihrer Isoliertheit konnten sie dieselben dennoch nicht reissen. 
Sobald sich die Gebärdensprache zu einer künstlichen ausgestaltet, sobald sie 
sich rein konventioneller Zeichen zum Ausdrucke bedient, so versteht sie eben 
nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten, während die grosse Masse der hörenden 
Menschheit ihr verständnislos gegenübersteht. Dazu kommt, dass auch die aus- 
gebildetste Gebärdensprache an Schwerfälligkeit und unter dem noch ernstlicheren 
Mangel an Genauigkeit leidet, und dass sie zur Entwickelung von Abstraktionen 
viel ungeeigneter ist, als die gesprochene Sprache. Die mehr oder weniger als 
rein konventionelle Zeichen dienenden Worte sind nicht an materielle Dinge 
gebunden, denn obwohl sich gewiss alle ursprünglich auf sinnliche Wahr- 
nehmungen bezogen und nicht notwendig ideographisch zu sein brauchen, lassen 
sie sich doch leicht als Zeichen für allgemeine Ideen verwenden und dienen 
schliesslich zum Ausdrucke für die höchsten Abstraktionen. „Worte sind die 
leicht zu handhabenden Rechenpfennige des Gedankens.“ Gebärden dagegen, die 
stets mehr oder weniger ideographisch sind, sind auch viel enger an sinnliche 
Wahrnehmungen gebunden und können deshalb nur, wenn auf „vertraute Dinge“ 
gerichtet, als Ausdrucksmittel mit Worten rivalisieren, während sie nie den 
hohen Flug zu dem feineren Medium der reinen Abstraktion zu nehmen im- 
stande sind.**) So erklärte denn auch der internationale Taubstummen- 
Kongress 1900 iu Paris: Mit Rücksicht auf die unbestreitbare Überlegenheit 
des Wortes über die Zeichen nach der Richtung, dass es den Taubstummen der 
Gesellschaft wiedergibt und ihm auch eine vollkommenere Kenntnis der Sprache 
vermittelt, die Beschlüsse des Mailänder Kongresses aufrecht zu erhalten. Diese 
Beschlüsse, die im Jahre 1880 vom internationalen Taubstummenlehrer-Kongress 
zu Mailand gefasst wurden, lauten: 1. „In der Überzeugung der unbestrittenen 
Überlegenheit der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache, insofera jene die 
Taubstummen dem Verkehre mit der hörenden Welt wiedergibt und ihnen ein 
tieferes Eindringen in den Geist der Sprache ermöglicht, erklärt der Kongress, 
dass die Anwendung der Lautsprachmethode bei der Erziehung und dem Unter- 
richte der Taubstummen der der Gebärdensprache vorzuziehen sei.“ 2. „In Er- 
wägung, dass die gleichzeitige Anwendung der Gebärdeusprache und des ge- 


*) Romanes, Die geistige Entwickelung beim Menschen. 
*) Romanes, a.a O. 


105 
sprochenen Wortes den Nachteil mit sich führt, dass dadurch das Sprechen, 
das Absehen von den Lippen und die Klarheit der Begriffe beeinträchtigt wird, 
erklärt der Kongress, dass die reine Lautsprachmethode vorzuziehen sei.“ 

So hat denn die deutsche Methode, die von jeher daran festgehalten hat, 
dass die Taubstummen die Lautsprache erlernen müssen, wenn sie eine wahrhaft 
menschliche Bildung erlangen sollen, immermehr an allgemeiner Anerkennung 
und Verbreitung gewonnen, und ihr Sieg ist soweit vorgedrungen, dass sie jetzt 
auch in Nordamerika die erste Stelle einnimmt.*) 

Die deutsche Taubstummenschule wird nie vergessen, wie tief die gesprochene 
Sprache dem aufbauenden Einfluss der Gebärde verschuldet ist und darum die 
natürliche Gebärde, d. i. Mimik und Aktion, bei ihrem Unterrichte stets 
zur Anwendung bringen. Sie weiss, dass die Taubstummen der natürlichen 
Gebärde zur Bildung des Gemütes und Willens bedürfen, und dass sie der 
lebendigen Erfassung des gesprochenen Wortes in hervorragender Weise dient, 
während dieselbe durch Anwendung blosser künstlicher Zeichen um kein Jota 
gefördert wird, ja sogar Hemmung erfährt und deshalb in einer Schule, die die 
Taubstummen befähigen will, mit ihrer hörenden Umgebung zu verkehren, keine 
Verwertung finden kann und darf.**)***) 

Nicht weniger interessant und wichtig, wie die Stellung des deutschen 
Taubstummenunterrichtes zur Gebärde, ist seine Stellung zur Schrift. Es soll 
dieserhalb auch hier die Stellung der Schrift in der Taubstummenschule in 
einem besonderen Abschnitte charakterisiert werden. 

Schon weiter oben sagte ich, dass verschiedene der genannten Männer bei 
ihrem Unterrichte die Schriftsprache in den Vordergrund stellten. So führte 
Pedro de Ponce erst, nachdem seine Schüler einen gewissen Sprachschatz ge- 
sammelt und eine ziemliche Kenntnis der Schriftsprache erlangt hatten, die 
Lautsprache auf Grundlage der erlernten Schriftsprache ein. Bonet liess den 
Sprachunterricht ebenfalls erst eintreten, wenn sich die taubstummen Schüler 
vermittelst der Schrift eine Elementarsprache angeeignet hatten. Ferner ver- 
langte Wallis, die taubstummen Kinder sind sobald als möglich mit der 
Schriftsprache bekannt zu machen, denn für sie ist die Schrift das, was für die 
Hörenden der Laut ist. Am meisten huldigte aber diesem Prinzipe die Wiener 
Schule, deren Hauptvertreter Venus (1774—1850), Schwarzer (1808—1834 
Direktor in Waitzen) und Reitter (1781—1830) sind. Sie hielt daran fest, 
dass sie die Schriftsprache als die Basis des gesamten Sprachunterrichtes be- 
trachtete und ihre Schüler mit Beginn des Unterrichtes in diese Sprache ein- 
zuführen suchte, die Lautsprache aber erst lehrte, wenn die Schüler bereits einen 
Sprachkursus in der Schriftsprache durchgemacht hatten, und zwar hauptsächlich 
zwecks Befestigung dieser. Darch ihre Herrschaft, welche sie ein halbes Jahr- 
hundert in Deutschland behauptete, beeinflusste sie nicht nur den Taubstummen- 





*) S. Bitt. f. Tbst.-Bld., Jahrg. XIV, Nr. 7, S. 112. 

**) (+, Riemann, Extreme. 

***) Man vergl. des Verf. Aufs. „Die Gebärdensprache“ in Nr. 1 u. 2 d. Bitt. f. Tbst.- 
Bld., Jahrg. VI. 


106 


unterricht in ganz Österreich und Süddeutschland, sondern wirkte auch auf die 
in den norddeutschen Taubstummenanstalten angewandte Methode, also auf die 
Leipziger und Schleswiger Schule, ein.*) Und, ist es Zufall oder Fügung, in 
allerjüngster Zeit trat Kollege Göpfert-Leipzig dafür ein, als Grundlage für 
den Sprachunterricht der Gehörlosen nicht mehr, wie bisher, das Absehen und 
Sprechen, sondern die Schriftform der Wortsprache zu wählen. Mit ihm ver- 
band sich Forchhammer-Nyborg (Dänemark) durch die Herausgabe seines 
„imitativen Sprachunterrichtes“. 

Alle diese Männer gingen bei der Begründung ihrer Ansicht davon aus, 
dass das Absehen des Gesprochenen vom Munde sehr schwierig und künstlich 
und meist ein unsicheres und unvollkommenes Mittel der Sprachaneignung sei, 
während die Schrift für den Taubstummen die am leichtesten erkennbare und 
am sichersten auffassbare und auch am leichtesten verständliche Ausdrucksform 
der Wortsprache sei. In dieser Allgemeinheit hat der Satz sicher etwas Richtiges, 
Bestechendes und für den ersten Augenblick auch Einleuchtendes. Bei jeder 
Sinnesperception gelangen nur diejenigen Nervenerregungen in der Seele zur 
Perception, welche, bevor sie von anderen verdrängt werden, der Seele die ihr 
für ihre Tätigkeit nötige Zeit lassen. Es wird niemand leugnen, dass die Schrift- 
zeichen dem Auge einen weit konstanteren Stützpunkt bieten, als die flüchtigen 
Bewegungen des sprechenden Mundes und darum auch der Seele eine genügendere 
Zeit zur Perception gewähren. Aber was nützt dem Taubstummen eine der- 
artige Perception der Schrift selbst bei richtiger Verbindung mit den durch die 
Schriftbilder bezeichneten Begriffen für sein Zusammenleben mit seiner hörenden 
Umgebung?! Die Verfechter der Schriftform für den ersten Taubstummen- 
unterricht sagen selbst, dass die Schrift auch für den Taubstummen erst ihren 
rechten Wert erlangt, wenn er gelernt hat, die Lautsymbole der Buchstaben in 
Sprechbewegungen umzusetzen, also mit lauter Stimme lesen gelernt hat. Sie 
fordern darum auch: Der Unterricht im Sprechen hat sich dem Sprachunterrichte 
auf Grund der Schriftform sofort anzuschliessen. Mit dieser Tatsache kommen 
sie genau auf dieselben Schwierigkeiten, die diejenigen zu überwinden haben, 
welche von vornherein vom Absehen und Sprechen ausgehen; ja, es ist sogar zu 
behaupten, dass sich bei ihrer Methode die Schwierigkeiten des Artikulierens 
noch steigern, denn sie wollen nun gleich von deutsamen, nach phonetischen 
Rücksichten ausgewählten Lautverbindungen (Normalwörtern des Artikulations- 
unterrichtes) ausgehen, während bei dem sonst üblichen Verfahren der Einzellaut 
im Vordergrunde steht. Sind nun aber dieselben Schwierigkeiten auf diesem 
wie auf jenem Wege zu überwinden, so ist es doch eine alte Erfahrung, dass 
man dieselben um so leichter überwindet, je früher man sich an sie heranmacht. 
Es wird sich auch hier zeigen, dass der gerade Weg der kürzeste ist. Wird 
der Taubstumme zuerst nur auf die Schriftform der Sprache hingewiesen, so 
wird ihm wobl die Auffassung und Anwendung des Äusseren der Wortsprache 
erleichtert, nicht aber die Begriffsbildung und das Erfassen logischer Beziehungs- 


*) Walther, Geschichte des Taubstummen - Bildungswesens. 


107 
verhältnisse, die doch das Wichtigste der Sprachaneignung ausmachen. Aber 
auch die zugegebene Erleichterung der Auffassung und Anwendung des Äusseren 
der Wortsprache wird uns viel bedeutungsloser erscheinen, wenn wir bedenken, 
dass die „Schärfe des Sehens“ — und um eine solche handelt es sich doch auch 
beim Lippenlesen — nicht bloss abhängig ist von dem katoptrischen und diop- 
trischen Apparat des Auges, der die Aufgabe hat, die von einem leuchtenden 
Punkte auf das Auge fallenden Strahlen in einem Punkte der Retina zu ver- 
einigen, so dass niemals mehrere, im Objekt getrennt liegende Punkte auf die- 
selbe Stelle der Retina ihr Licht werfen können; nicht bloss bedingt durch die 
Konstruktion der Retina, durch die sie befähigt ist, die mit Hilfe jenes Apparates 
entworfenen Lichtpunkte in der Sonderung, in welcher sie auf ihrer Oberfläche 
entworfen wurden, dem Gehirn mitzuteilen; — die Schärfe des Sehens ist viel- 
mehr ebenso sehr und noch mehr abhängig von dem Grade der Aufmerksam- 
keit, welchen die Seele den von der Retina aufgenommenen Bildern zuwendet 
oder zuwenden kann.“*) Und der berühmte Physiologe E. H. Weber erklärt 
ganz im allgemeinen: „Damit die Vorstellung einer Empfindung zustande 
(d.h. eine Empfindung uns zum Bewusstsein) komme, muss die Aufmerksam- 
keit auf die vorzustellende Empfindung hingelenkt werden, während die Em- 
pfindung allein auch dann zustande kommt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit 
mit aller Anstrengung auf einen anderen Gegenstand richten.“ Gerade die 
spezifisch psychische Tätigkeit der Aufmerksamkeit, die einzige Pforte in den 
Geist der Schüler, lässt uns bei unserem Unterrichte, der den Taubstummen 
zum Verkehr mit seinen hörenden Mitmenschen befähigen will, das Ausgehen 
vom Absehen und Sprechen gerecht und natürlich erscheinen. Bei genügender 
Aufmerksamkeit seitens der Schüler, und soviel kann man von jedem kleinen, 
bildungsfäbigen taubstummen Kinde verlangen, werden die vielfach undeutlichen 
und rasch verschwindenden optischen Lautbilder bald an Bedeutung und bleiben- 
den Wert gewinnen. Es wird sich bei ihnen bald eine ähnliche Tatsache voll- 
ziehen, wie sie Helmholtz bei dem sogen. Wettstreit der Sehfelder charakteri- 
siert, indem er sagt: „Dadurch, dass man die Aufmerksamkeit auf ein ganz 
schwach beleuchtetes Objekt fesselt, kann man ein dasselbe deckendes viel 
helleres, im Netzhautbilde des anderen Auges stehendes Objekt verdrängen.“ 
Durch ein solches Schärferwerden der kleinsten sichtbaren Lautbewegungen wird 
der Taubstumme gewiss manches sehen, wovon wir uns bei normalen Sinnen 
gar keine rechte Vorstellung machen können. Dazu kommt, dass durch das 
Ausgehen vom isolierten Sprachlaute und dem gleichzeitigen Erlernen des Ab- 
sehens mit dem Sprechen sich einesteils die Schwierigkeiten verringern, andern- 
teils durch möglichst lange und vielseitige Übung eine grössere Fertigkeit im 
Absehen erreichbar ist. Eine vielseitige Übung und Pflege des Absehens ist 
aber unbedingt notwendig, wenn es dem Taubstummen für das praktische Leben 
den grossen Nutzen gewähren soll, zu dem es für ihn werden kann. Mässigen 
Anforderungen an seine Absehtertigkeit muss und wird er jedoch jederzeit ge- 





*) Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 


108 
nügen, wenn er von vornherein zu rechter Aufmerksamkeit auf diese seine Auf- 
gabe angeleitet wird. Die allgemeine Wahrheit des Satzes: „Wer in der Schule 
gelernt hat, mit angestrengter Aufmerksamkeit, mit voller Hingabe, mit inniger 
Sammlung seiner Aufgabe sich zu widmen, der hat eine Zucht des Willens 
durchgemacht, die ihm zeitlebens zu gute kommen wird“, wird sich auch dem 
Taubstummen für sein Absehen bestätigen. 


Unser praktisches Ziel, den Gehörlosen durch seinen Unterricht aus seiner 
Isolierung möglichst herauszureissen, verlangt unbedingt. dass die Lautform 
unserer Sprache der Schriftform vorausgehen muss. Die Schrift aber kann auf 
allen Stufen bei der Auffassung schwer absehbarer Lautverbindungen und der 
Einprägung des Sprach- und Wissensstoffes schätzenswerte Dienste leisten und 
können die Bedenken gegen ein Vorherrschen derselben desto mehr zurücktreten, 
je mehr das Lautwort Träger der Gedanken geworden ist und die mangelhafte 
Auffassungsfähigkeit mancher Schüler ihre Unterstützung fordert. 


In diesem Sinne urteilte auch die Mehrzahl der Teilnehmer an der Ver- 
sammlung des Bundes deutscher Taubstummenlehrer zu Hamburg (1900) und 
gab dadurch von neuem ihre ablehnende Stellung zur Gründung des Taubstummen- 
unterrichtes auf die Schrift kund. Damit hat diese vielumstrittene Frage 
hoffentlich für längere Zeit eine glückliche Lösung gefunden. 


Unentschieden ist dagegen heute noch die Art und Weise der Verwertung 
der Gehörreste bei Taubstummen. Man steht in den beteiligten Kreisen in dieser 
Beziehung noch mitten im Streite. Es gibt zwar wohl kaum einen Taubstummen- 
lehrer, der der Verwertung der Gehörreste bei seinen Zöglingen nicht das Wort 
redete; denn dazu zwingt ihn neben der grossen Anzahl der Taubstummen, die 
noch einen Rest vun Gehör für Schall und Töne, Sprachlaute, Wörter und ganze 
Sätze besitzen, der bedeutende praktische Nutzen, welchen die Verwertung der 
Gehörreste den Schülern in Bezug auf ihre intellektuelle Ausbildung und den 
gesamten Unterrichtszweck gewährt. Verschieden denkt man aber über die 
hierbei einzuschlagenden Wege. 

Einige wollen nur eine gelegentliche Berücksichtigung der vorhandenen 
Gehörreste im Unterrichte in der Weise, dass sie die mit solchen Resten begabten 
Schüler in ihre Nähe setzen, so dass ihnen der im gewöhnlichen Artikulations- 
ton erteilte Unterricht Gehörsanregungen in Menge bietet, ihnen auch wohl ins 
Ohr gesprochen wird, sie ferner öfters ein Hörrohr in die Hände bekommen, 
damit sie sich selbst sprechen hören und ihre Stimme mit dem Klangvorbilde 
vergleichen können. Sie achten also während der ganzen Schulzeit darauf, dass 
die vorhandenen Gehörreste zum Auffassen der Lautsprache verwendet werden 
und zur Erzielung der Reinheit, des Wohlklanges und der Natürlichkeit der 
Stimme führen. In diesem Sinne hat ein rationeller Taubstummenunterricht die 
vorhandenen Gehörreste während des allgemeinen Klassenunterrichtes stets benutzt 
und wird sie auch sicher stets benutzen; eine weitere Berücksichtigung muss 
er aber entschieden zurückweisen. 


Andere wollen die hörenden Schüler in besonderen Stunden ausserhalb des 





109 


gewöhnlichen Unterrichtes nebenher durchs Ohr unterrichten, dieselben aber im 
übrigen an dem allgemeinen Unterrichte teilnehmen lassen. 

Hier wird den von der Natur schon an und für sich Bevorzugten den 
gänzlich Tauben gegenüber durch eine Art Privatunterricht ein ganz bedeutender 
Vorteil gewährt. Angenommen selbst, dass es sich in diesen Stunden in der 
Hauptsache um Wiederholung der Klassenpensen und -stoffe handelt, so muss 
doch das Wissen der betreffenden Schüler auf diese Weise ein viel festeres und 
tieferes werden. Jeder Lehrer wird nun gewiss allen seinen Schülern von ganzem 
Herzen ein solches Wissen wünschen, muss aber seine Wünsche zurückdrängen, 
wenn sich deren Erfüllung auf Kosten der Schwachen und Schwächsten vollzieht. 
Ein solcher Fall liegt aber hier vor; denn man setzt leider die bei den Hör- 
schülern erlangte tiefere geistige und sprachliche Bildung fast ausschliesslich 
auf Rechnung der Gehörübungen oder wenn man will, auf den Sprachunterricht 
durch das Ohr, und übersieht dabei ganz und gar, dass dieselbe Privatstunden- 
zahl sicher den gleichen Erfolg, abgesehen von den akustischen Wirkungen, bei 
den meisten unserer gutbefähigten totaltauben Schüler erzielen würde. 

Diese Art der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen zählt nur wenig 
Anhänger und ist auf die Dauer wohl unhaltbar. Man stimmt vielmehr lieber 
denen zu, welche einer vollständigen Trennung der mit grösseren Gehörresten 
begabten Kinder von den eigentlichen Taubstummen das Wort reden. Mag 
diese Trennung nun durchgeführt werden durch Bildung von Hörerklassen oder 
Höreranstalten. | 

Eine derartige Trennung der Schüler lässt sich nach 1 bis 2 Schuljahren 
um so sicherer vornehmen, als es Professor Dr. Bezold in München gelungen 
ist, in der kontinuierlichen Tonreihe ein Mittel herzustellen, mit welchem sich 
die noch vorhandenen Gehörreste in Bezug auf Qualität und Quantität genau 
feststellen lassen und seine Untersuchungen ergeben haben, dass das Vorhanden- 
sein des Gehörs für die Tonstrecke b’—g” die Bedingung für das Hören der 
menschlichen Sprache ist; denn in ihr liegen «ie Eigentöne der Vokale. 

Als notwendig erweist sich aber die Trennung der Hörer von den Total- 
tauben im Hinblick auf die Eigenart beider Gebrechen, die Pflicht, welche die 
Menschheit ihnen gegenüber hat, und die Arbeit, die die Ausbildung derartiger 
Kirder fordert. 

Taubheit und Schwerhörigkeit sind in ihrem Wesen so verschieden, dass 
die Errichtung besonderer Anstalten für die Schwerhörigen volle Berechtigung 
hat. Ihr Unterricht bezieht sich, abgesehen von seinen sonstigen Zwecken, im 
wesentlichen auf: 

1. die Bildung des sensorisch -akustischen Zentrums, 
2. die Bildung des motorisch-akustischen Zentrums, 
3. Einschleifung der höheren Sprachbahn.*) 

Dies sind Massnahmen, die sich mit dem Unterrichte Totaltauber nicht 

vereinigen lassen und darum nach einer Ausscheidung aller derjenigen Kinder 


*, R. Brohmer, Von der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. Biltt. f. 
Tbst.-Bid., Jahrg. XV, Nr. 11. 


110 
aus den Taubstummenanstalten drängen, die noch einen Unterricht durch das 
Ohr empfangen können. 

Den Taubstummenanstalten, die doch ihren Unterricht ausschliesslich dem 
Gebrechen der eigentlichen Taubstummen anzupassen haben, würde eine solche 
Scheidung zum Segen gereichen und ihnen aus derselben gewiss mancher Vorteil 
erwachsen. 

Wenn wir auch gern anerkennen, dass die Methode des Taubstummen- 
unterrichtes in den letzten Jahrzehnten ganz wesentliche Verbesserungen erfahren 
hat, so wird doch niemand bestreiten, dass dieselbe nach manchen Seiten hin 
noch erfolgreicher auszugestalten und besserungsfähig wäre. Unter anderem 
dürfte uns eine Frage noch recht oft und viel beschäftigen, nämlich die: 

Wie führen wir die Taubstummen zu einem recht häufigen, verständigen, 
geistbildenden Lesen nach der Schulzeit? 

Es ist dies eine Frage, die mit unserem Ziele, die Taubstummen der 
Menschheit wiederzugeben, eng verbunden ist. Harms sagt: „Wer nicht liest, 
der lebt nicht“. Doppelt wahr sind diese Worte für die aus den Anstalten ent- 
lassenen Taubstummen, wenn sie dann nicht gern und häufig lesen; denn ihr 
mündlicher Verkehr mit den Vollsinnigen bleibt nun einmal für ihr ganzes 
Leben verschiedenen Schwierigkeiten unterworfen, und sie sind zu ihrer Fort- 
bildung und weiteren Belehrung vielfach allein auf das Lesen angewiesen. „Die 
Lektüre ist das vornelimste geistige Förderungsmittel für den erwachsenen Taub- 
stummen“* (Vatter). 

Manchem Leser erscheint es sicher befremdlich, dass uns obige Frage über- 
baupt Sorge macht. Nun, das mechanische Lesen lernen ja die Taubstummen 
verhältnismässig bald und ohne grosse Schwierigkeiten; allein, zu einem geist- 
bildenden Lesen gelangt eine grosse Zahl von ihnen auch heute noch nicht. 
Wer bedenkt, dass wir den Taubstummen in der Schule ihre ganze Sprache erst 
schaffen müssen, der wird auch einen richtigen Schluss auf ihren Umfang und 
den daraus resultierenden Tatsachen ziehen. 

Vielleicht führt uns „der freie Anschauungsunterricht“, der mit gutem 
Rechte immermehr an Terrain in unseren Schulen gewinnt, zur Lösung beregter 
Frage; vielleicht bedarf es aber auch hier noch psychologischer Studien und Er- 
örterungen. In Anbetracht der Gewissheit, dass alles Lernen, wie überhaupt 
alles Tun, das nicht mit Lustwerten behaftet ist, für das Handeln und für die 
Charakterbildung ganz wirkungslos ist, wird sich der Lehrer mit allen metho- 
dischen Werkzeugen ausrüsten, um den Kindern in der Schule den Unterricht 
angenehm zu machen. Aus diesen Erwägungen heraus will es mir nicht als 
das Richtige erscheinen, unseren Schülern bei ihrem ersten Leseunterrichte fast 
ausschliesslich Satzreihen beschreibender Form und Wiederholungen des im 
Anschauungsunterrichte bereits behandelten Stoffes zu bieten. Wo soll denn da 
das Interesse bei den Kindern am Stoffe herkommen, und wo bleibt dabei die 
für unsere Schüler in den ersten Schuljahren an und für sich so überaus dürftige 
Ausbildung des Empfindungsvermögens?! Muss man es sich schon versagen, 
den Anschauungsstoff mit wahrhaft kindlichen Erzählungen zu würzen und da- 


111 

durch denselben gemütbildender zu gestalten, so ist doch ihr seltenes Auftreten 
beim ersten Leseunterrichte noch viel schmerzlicher. Es bleibt unumstösslich 
wahr, „der Weg zu dem Kopfe muss durch das Herz geöffnet werden“, und der 
bekannte Leipziger Germanist Rudolf Hildebrand sagt: „Das blosse Wissen, 
der blosse Verstand gibt uns von einem Gegenstande nur die Umrisse und die 
Fläche, . . . die Farbe aber und den Duft und die Seele oder das volle Leben, 
die Tiefe gibt uns allein die eigenste Beteiligung, d. h. das Empfinden, das 
Gemüt.“ Ein vorzüglicher Schlüssel in das Gemüt, das Herz und den Kopf 
eines Kindes ist die Erzählung. Darum mit ihr möglichst früh auch binein in 
unsere Anstalten, vor allem in unsere ersten Lesebücher. Sie helfen dazu bei- 
tragen, die Taubstummen, die durch ihr Gebrechen vielem Kummer und Elend 
verfallen sind, zu einer beglückenden Selbsttätigkeit zu führen und ihnen im 
späteren Leben manche erbauliche und fröhliche Stunde lesend zu bereiten. 

Freilich darf man hier nicht übersehen, dass eine derartige Einführung 
nicht nur durch die langsame geistige und sprachliche Entwickelung unserer 
Schüler schwer wird, sondern dass zu diesem Zwecke auch die Erzählungen erst 
gesammelt bezw. gemacht werden müssen. Aus dem „Vermächtnis an die liebe 
Jugend“ von Christoph von Schmid habe ich, so gut seine Erzählungen auch 
später zu verwerten sind, unter 200 auch nicht eine geeignete finden können. 
Es geht das schon aus ihrer Bestimmung „für Knaben und Mädchen mittleren 
Alters“ hervor. Meines Erachtens kommen hier nur Erzählungen für Kinder 
von 4—7 Jahren in Frage, wie sie von Müttern oder anderen in diesem Sinne 
erzäblenden Personen gehalten werden. 

Sollte nun dieser oder jener Leser durch meine Ausführungen zu einem 
Sammeln oder Selbstverfassen solcher Erzählungen Anregung empfangen haben, 
so wäre dadurch den Taubstummen ein schöner Dienst geleistet.*) Schliessen 
aber will ich diese Arbeit mit dem Wunsche, dass immer weitere Kreise 
Interesse an der Versorgung der Taubstummen mit passenden Erzählungen 
nehmen möchten. Er hat sicher ebensoviel Berechtigung, wie die in unseren 
belletristischen Zeitschriften oft wiederkehrende Bitte un Herstellung von Er- 
zäblungen in Blindenschrift für Blinde. 


Über Epilepsie. 


Zu den vielen Entstehungsursachen der Epilepsie, welche man vermutet, 
will Dr. Tiburtius, Oberarzt an der Anstalt für Epileptische zu Karlshof b. Rasten- 
burg in Ostpreussen, nach der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift**) eine neue 
entdeckt haben. Der Umstand, dass das Krankheitsbild der genuinen (echten) Epilepsie 
in seinen Erscheinungen eine unverkennbare Ähnlichkeit mit gewissen Geistesstörungen 
auf toxischer Basis besitzt, führte ihn zu der berechtigten Annahme, dass als Ent- 


*) Inzwischen sind vom Koll. E. Reuschert-Berlin zwei Hefte mit kleinen Fr- 
zählungen für taubstumme Kinder herausgegeben. 

**) Pgychiatrisch-neurologische Wochenschrift. Jahrgang 1903. Nr. 6. 
Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. Preis für das Vierteljahr 4 Mark. 


112 


stehungsursach oe der genuinen Epilepsie eine Intoxikation und zwar eine 
Auto-Intoxikation vorliegen könne. 

Es gilt als erwiesen, dass der tierische Organismus unter Umständen Gifte 
produziert, die den Körper krank machen können. Gewöhnlich werden die Gifte 
durch verschiedene Vorgänge aus dem Körper ausgeschieden; sie wirken erst dann 
schädigend, wenn sie in bestimmten Mengen in den Organen sich angesammelt haben. 
Die Epilepsie sei auf eine solche Giftansammlung im Organismus des Epileptischen, 
die eine eigenartige Vergiftung herbeiführe, zurückzuführen, das Gift, durch welches 
sie hervorgerufen werde, sei aber zur Zeit noch völlig unbekannt. Man vermutet, 
dass das Gift in den Organen und Säften des Körpers sich befinde, vielleicht auch 
in seinen Ausscheidungen. Es soll nicht an einer bestimmten Stelle des Organismus 
entstehen, sondern im Gesamtorganismus sich entwickeln. Als Entstehungsursache 
wird abnorme Säftebildung in Verbindung mit mangelhaften Ausscheidungsapparaten 
bezeichnet. Das Gift sammelt sich nach und nach im Körper an, bis die Säfte damit 
gesättigt werden; die mit Gift gesättigten Säfte rufen zuerst im Gehirn, das von 
allen Organen am schnellsten auf derartige Einwirkungen reagiert, Veränderungen und 
Reizzustände hervor, deren Folgen Aura, Krämpfe und Bewusstseinsstörungen sind. 

Dr. Tibartius vermutet über die Wirkung des Giftes, dass bei Herabsetzung 
der Erregbarkeit des Gehirns eine grössere Anhäufung desselben notwendig sei, um 
Vergiftungserscheinungen zu erzeugen. Unmittelbar vor dem Anfall müsse der 
Organismus mit dem Gifte aber nahezu gesättigt sein, so dass schon ein kleines 
Mehr an seelischer oder stofflicher Schädlichkeit den Anfall bewirken könne. Die 
Bestätirung dieser Auffassung findet er darin, dass oft ein unbedeutender Anlass, 
z. B. ein ganz kleiner Ärger oder Schreck, die schwersten Krämpfe zur Folge haben kann. 
Auch weist er darauf hin, dass viele Epileptiker den Anfall dann bekommen, wenn 
eine Vermehruug der Säfte im allgemeinen stattfindet, wobei ja auch eine beschleunigte 
Vermehrung des fraglichen Giftes eintreten muss, wie z. B. nach eingenommener 
reichlicher Mahlzeit. Aus eigener Erfahrung können wir diese Beobachtung bestätigen. 
Fast nach jedem Besuche, den unsere epileptischen Kinder seitens ihrer Angehörigen 
empfingen, wobei sie häufig überreichlich Naschwerk und heckerbissen einnahmen 
traten in der Regel gegen ihre sonstige Gepflogenheit Anfälle auf, die nicht selten 
von grösster Heftigkeit waren. 

Bei behinderter Sekretionsauescheidung, in welchem Falle ja auch die vermutliche 
Ausscheidung des fraglichen Giftes behindert würde, haben wir gleichfalls epileptieche 
Anfälle beobachtet So stellten sich bei einem Kinde, wenn es längere Zeit an Hart- 
leibigkeit litt, regelmässig Krämpfe ein, während diese bei offenem Leibe gänzlich ausblieben. 

Dr. Tiburtius nimmt des weiteren an, dass das Blut als Träger des vermut- 
lichen Giftes zu betrachten sei; er glaubt aber auch, dass selbst Kot, Urin, Schweiss 
und Speichel den betreffenden Giftstoff oder Spaltungsprodukte desselben enthalten. 
Während des Anfalls findet die Ausscheidung des den Krampf verarsachenden Zuviels 
von dem fraglichen Gift statt. Das beweist die enorme Arbeit, welche die Sekretions- 
organe und der Darm-Traktus innerhalb der kurzen Zeit des Anfalls leisten. Der 
Krampfanfall bedeutet desshalb eine Art von Selbsthilfe des Organismus, wodurch 
dieser sich des schädigenden Stoffes entäussert. 


113 


Nach dem Anfall soll die Quelle, aus welcher die giftige Säftemischung dem 
Organismus zufliesst, unverstopft bleiben; sie kann aber allmählich durch physio- 
logische Prozesse, wie Wachstum, Gravidität zum Versiegen kommen. So erinnern 
wir uns hierbei, dass einst bei einem epileptischen Zöglinge die Anfälle ungefähr 
ją Jahr während einer Zeit, in welcher er ganz bedeutende Wachstumserscheinungenı 
aufwies, verschwanden, dann aber beim Stillstand des Wachsens sich nach und naclı 
wieder einstellten. Dieser eigentümliche Ausfall war uns damals ganz unerklärlich; 
wir suchten nach allen möglichen ursächlichen Umständen, konnten jedoch keinen 
bestimmten Anhalt dafür finden. 

Dr. Tiburtius berichtet ferner, dass es ihm in zahlreichen Fällen durch be- 
stimmte Massnahmen gelang, typische epileptische Krämpfe willkürlich zum Verschwinden 
zu brıngen bezw. dieselben zu erzeugen. Die Verhinderung geschah dadurch, dass 
zu einer Zeit, wo der Organismus augenscheinlich mit dem fraglichen Gift beinahe 
gesättigt war, nur ein ganz geringer Zufluss von Blut zum Gehirn bewerkstelligt 
wurde. Der Anfall blieb dann auf kurze Zeit aus. — Versuche zur Herbeiführung 
des Anfalls in völlig anfallsfreien Zwischenräumen durch künstliche Ansammlung von 
Blut im Gehirn bei vorn übergeneigtem Oberkörper gelangen nicht. Daraus zieht 
Dr. Tiburtius den Schluss, dass eine blosse Anhäufung des Blutes im Gehirn, ohne 
dass dieses gleichzeitig mit dem vermeintlichen Gifte gesättigt werde, Krämpfe durch- 
aus nicht zu erzeugen vermag. 

Die willkürliche Herbeiführung des Anfalls erfolgte dadurch, dass die 
Epileptischen veranlasst wurden, minutenlang mit gespannter Aufmerksamkeit auf einen in 
unmittelbarer Nähe vor ihren Augen gehaltenen Gegenstand zu starren, wobei sie sich 
gleichzeitig mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam über Stirn und Nase streichen 
mussten. Der Anfall stellte sich jedesmal mit frappierender Sicherheit ein, allerdings 
nur dann, wenn die Kranken erklären konnten, dass ihre Zeit bald gekommen wäre. 
Die Anspannung der Aufmerksamkeit bewirkte eine Anhäufuns des Blutes im Gehirn, 
womit auch das noch fehlende Quantum des fraglichen Giftes ins Gehirn geschafft 
und die Bedingung zur Loslösung des Anfalls hergestellt wurde. 

Für die Möglichkeit beider Eventualitäten stehen uns Beispiele aus unserer Er- 
fahrung zur Illustration zu Gebote. In unserer Schule gibt es gewisse Kinder, die 
den epileptischen Anfall manchmal durch eigenartige Stimmäusserungen oder durch 
Cyanose annoncieren. Wenn es dann sofort gelingt, sie zu erfassen und zum Gehen 
(mit Unterstützung) zu bringen, so kommt der Anfall nicht zum Ausbruche, er wird 
unterdrückt. Es scheint, als ob durch die motorische Tätigkeit des Organismus beim 
Gehen eine Ausscheidung des vermeintlichen Giftes irgendwie herbeigeführt würde. 
Kine Sekretion ist hierbei nicht beobachtet worden. Es entzieht sich such unserer 
Kenntnis, nach wie langer Zeit der Anfall dann wieder auftrat. — Im Unterrichte 
ist es uns Öfter passiert, dass bei angestrengter Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit 
plötzlich Anfälle bei epileptischen Kindern ausgelöst wurden, gewöhnlich in der Weise, 
dass schnell hintereinander sämtliche epileptische Schüler davun befallen wurden. 
Dieses eigenartige Auftreten der Anfälle lässt vermuten, dass es sich hierbei nicht 
allein um eine psychische Ansteckung handeln könne, sondern os bestätigt die 
Annahme des Dr. Tiburtius, dass eben durch die Anspannung der Aufmerksamkeit 


114 
eine lebhaftere Blutzufuhr zum Gehirn erzielt werde, die durch die dabei gleichzeitig 
eintretende Vermehrung des fraglichen Giftes den Sättigungspunkt zur Loslösung des 
Anfalls herbeiführe. 

Dr. Tiburtius hat durch Versuche an Tieren festgestellt, dass der bei einem 
Epileptiker während des Anfalles abgehende Urin giftig wirkt, während der Harn 
gesunder Menschen sich vollständig unschädlich erweist. Die Tiere sollen gewöhnlich 
an krampfartigen Zuckungen gestorben sein. Versuche mit andern Körperflüssigkeiten 
der Epileptiker haben nach seinen Mitteilungen bisher noch keine Resultate von 
Belang ergeben. 

Welche Aussichten für die Behandlung resp. Heilung der Epilepsie 
eröffnen uns die Ansichten des Dr. Tiburtius? — An einer Stelle wird erwähnt, 
dass eine infektiöse Allgemeinerkrankung (mutmasslich die Meningitis im frühen 
Kindesalter) in ätiologischem Zusammenhange mit der genuinen Epilepsie stehe. Diese 
fieberhafte Allgemeinerkrankung wäre auf eine Infektion durch das vermeintliche 
Epilepsie-Gift zurückzuführen. Es müssten nun Versuche zur Isolierung dieses frag- 
lichen Epilepsie-Giftes aus dem Gesamtorganismus angestellt werden. Gelänge dieser 
Versuch, daran würde sich ein zweiter anschliessen, nämlich der Versuch einer Serum- 
Therapie der Epilepsie. 

Es sind bei der Epilepsie- Therapie schon so oft optimistische Ansichten zum 
Ausdrucke gebracht worden, so dass es geboten erscheint, weniger zuversichtlich in 
die Zukunft zu blicken. Die meisten auf die Heilung der Epilepsie gerichteten Ver- 
suche iu den letzten Jahren (die Flechsig’sche Behandlung, die Behandlung nach der 
Methode Toulouse-Richet etc.) haben fast durchweg nur die Erfahrung bestätigt, 
dass wir die Epilepsie zwar lindern aber nicht heilen können. Immerhin aber ver- 
dienen die berechtigten Vermutungen des Dr. Tiburtius weitere Beobachtung und 
Nachprüfung. Wir raten dringend dazu und bitten im Interesse der Wissen- 
schaft und der leidenden Epileptischen um Mitteilung der ge- 
wonnenen Ergebnisse. Fr. Frenzel, Stolp. i. Pom. 


Mitteilungen. 


Chemnitz. (Hilfsklassen). Gegenwärtig zählt Chemnitz an der 2. und 9. 
Bezirksschule Hilfsklassen für Schwachbefähigte;, am 1. Oktober d. J. werden auch 
solche an deı 3. Bezirksschule neu eingerichtet. Jede der genannten Bezirksschulen 
hat eine Unter-, Mittel- und Oberklasse. Knaben und Mädchen sind getrennt. Die 
Stundenzahl der 3 Klassen beträgt 16, 20 und 22. Die Leitung liegt in den Händen 
der Direktoren der betreffenden Bezirksschulen. Nenerdings sind in einer Knaben- 
unterklasse Fröbelarbeiten, bestehend in Stäbchenlegen, Ausnähen, Papierflechten und 
Formen mit Plastilina, probeweise genehmigt worden. Es steht zu erwarten, dass 
hiermit endlich der Anfang zur Einführung des Handfertigkeitsunterrichts an allen 
Hilfsklasseun gemacht ist. Auch wird seit kurzem für jedes Kind bei seinem Eintritte 
in eine Hilfsklasse eine Schülercharakteristik angelegt, ebenso ist die Aufnahme durch 
Einführung von gedruckten Aufnahmeformularen strenger geregelt worden. Infolge 
eines im hiesigen „Pädagogischen Vereine“ gehaltenen Vortrages über psychopathische 


116 


Minderwertigkeiten, der sich in der Hauptsache auf das Schülermaterial der Hilfsschulen 
bezog, beantragte der Vorstand dieses Vereins die Erteilung eines „besonderen“ 
Konfirmationsunterrichts für Hilfsschüler. Er fand bei den massgebenden Kirchen- 
behörden bereitwilliges Entgegenkommen. Zum IV. Verbandstage der Hilfsschulen 
Deutschlands sandte die Stadt einen an den Hilfsklassen beschäftigten Lehrer nach 
Mainz, der dann einen „mündlichen“ Bericht vor dem Schulausschusse, dem Bezirks- 
schulinspektor, den Direktoren und Lehrern sämtlicher Hilfsklassen geben musste. 
Möchte das in der sich daran anschliessenden Besprechung zum Ausdruck gebrachte 
Verlangen nach Einrichtung von „selbständigen“ Hilfsschulen bald in Erfüllung gehen! 

Mannheim. (Hilfsschule.) Die hiesige Hilfsschule war im Schuljahr 1902/03 
von 52 Kindern (36 Knaben und 16 Mädchen) besucht. Diese verteilen sich auf 
2 Stufen mit je 2 Parallelklassen. Zugewissen werden ihr nach einer Prüfung durch 
den Schulleiter und einen Arzt die Kinder, welche auch im zweiten Jahre ihres 
Schulbesuchs in einer Wiederholungsklasse I, in welcher die Repetenten der Anfänger- 
klasse vereinigt werden, trotz der dort bestehenden günstigeren Unterrichtsbedingungen 
(geringe Klassenstärke — durchschnittlich 80 Kinder — successiver Abteilungsunter- 
richt, erfahrene Lehrkräfte) nicht gefördert werden konnten und auch solche Kinder, 
welche schon im ersten Jahre sich unzweifelhaft als schwachsinnig zu erkennen gaben. 
Um den Unterricht möglichst individuell gestalten zu können, ist bei geringer Klassen- 
stärke (Maximum 20) der successive Abteilungsunterricht und der parallele Stunden- 
plan eingeführt. Der für ein Kind längstens 3 Stunden dauernde Vormittagsunterricht 
ist unterbrochen durch eine längere Pause, während welcher im Schulhofe Bewegungs- 
spiele gemacht werden. Entsprechend der Rückständigkeit in ihrer ganzen Entwickelung 
lassen wir diese Kinder in der Schule in systematischem Verfahren durch Spiel, spezielle 
Sinnesübungen, Handarbeit (Papier-, Karton-, Stäbchenarbeiten und Modellieren), Garten- 
arbeit in dem im Schulhofe angelegten Unterrichtssgärtchen und zahlreiche Unterrichts- 
gänge ins Freie zunächst den Entwicklungsgang durchmachen, den ein normales Kind, 
dem es nicht an Kraft und Lebensenergie fehlt, im vorschulpflichtigen Alter durch- 
macht. Durch Entsendung in Ferienkolonieen oder in Solbäder, durch Verabreichung 
von warmem Frühstück, bestehend aus Milch und Brötchen, durch Verschaflung von 
Freiplätzen am Mittagstisch der Volksküche, durch ausgiebige Benutzung der Schul- 
brausebäder, durch gymnastische Übungen, durch Spiele und Spaziergänge im Freien 
suchen wir eine gesunde, körperliche Entwicklung zu fördern. Auch wenn so die 
Kinder für einen mehr schulmässigen Unterricht fähig gemacht sind, bleibt der 
konkrete Sachunterricht im Mittelpunkt. Er umfasst Anschauungs- und Darstellungs- 
unterricht. Dieser letztere baut sich aus zum Handarbeitsunterricht, der mit dem An- 
schauungsunterricht nicht mehr notwendig in organischer Beziehung stehen muss. 
Das Kind soll zur Arbeit fähig gemacht und so gefördert werden, dass es später in 
einfachen sozialen Verhältnissen selbst für sich sorgen kann. Darum werden auch 
Fertigkeiten erlernt, mit denen Knaben und Mädchen im ungünstigen Falle direkt 
nach der Schulentlassung wenigstens einen Teil ihres Unterhaltes verdienen können, 
wie z. B. das Stuhlflechten. — So ist es uns gelungen, das Selbstvertrauen und den 
Mut unserer anfänglich so energielosen und eingeschüchterten Schwachen bedeutend 
zu heben und in ihnen eine erfrenliche Lust und Liebe zur Arbeit und zur Schule 


116 
zu erzeugen, und ihre Leistungsfähigkeit ist wesentlich gewachsen. Die Eltern, die 
anfangs der: neuen Schuleinrichtung misstrauisch gegenüberstanden, bringen ihr nun 
volles Vertrauen entgegen und ergreifen gern Gelegenheit, ihrer neuerlangten Hoffnung 
für die Zukunft und ihrer Freude über die günstige Veränderang ihres Kindes Aus- 
druck zu geben. 

Zur Erklärung des „sucoessiven Abteilungsunterrichtes“ und des 
„parallelen Stundenplanes“ sei noch das Folgende gesagt: Die Schüler jeder 
Klasse sind nach ihren Fähigkeiten in 2 Abteilungen geteilt, welche wöchentlich 6 
Stunden getrennten Unterricht in Rechnen und Deutsch erhalten, während die übrigen 
16 Stunden gemeinsam erteilt werden. Die Abteilungsstunden liegen .am Anfang und 
am Ende der Unterrichtszeit.e. In der ersten Hälfte der Woche kommt die Abteilung 
B, welche die besseren Schüler der Klasse enthält, morgens um 8 Uhr zur Schule 
und hat von 8—9 Unterricht im Lesen und Rechnen. Um 9 Uhr kommt die Ab- 
teilung A, welche die schwächeren Schüler vereinigt, dazu, und nun wird die ganze 
Klasse (A und B) unterrichtet in Religion, Schreiben oder Anschauungs- und Dar- 
stellungsu: terricht u. s. w. Um 10 Uhr bezw. 11 Uhr wird die Abteilung B entlassen, 
und nun hat die Abteilung A von 10—11 bezw. 11—12 allein Unterricht im Rechnen 
und Lesen. In der zweiten Hälfte der Woche beginnt die Abteilung A um 8 Uhr. 
— Um weitere Teilung der Klasse zu vermeiden, sind im Stundenplane der ver- 
schiedenen Klassenstufen die gleichen Unterrichtsfächer auf die gleichen Stunden 
gelegt, damit einseitig geförderte Kinder ausgetauscht werden können, wie das in der 
laeipziger Hilfsschule in ausgedehntem Maße der Fall ist. O. M. 

Oppeln. (Verurteilung). Der ehemalige Zögling der Idiotenanstalt zu Leschnitz 
— Paul Scholz — wurde in der neuerlichen Verhandlung zu 10 ‚Jahren Gefängnis 
verurteilt. Bei Begründung dos Urteils führte der Vorsitzende des Gerichtshofes aus. 
dass leider die Gesetzgebung eine höhere Strafe nicht zulasse. 

Schöneberg. (Ferienausflüge.. Auf Anregung der Schulärzte hat der 
Magistrat unter Zustimmung der Stadtverordneten beschlossen, den bedürftigen Kindern 
der Hilfsschule während der grossen Ferien durch Veranstaltung von Ausflügen 
nach dem Grunewald eine Erholung zu schaffen. Es kommen dabei etwa 30 Kinder 
in Frage, die dreimal wöchentlich hinausgeführt werden sollen. Die Kosten für diese 
Ausflüge sind mit 485 Mk. berechnet worden. 

Briefkasten. 

H. M. i. Ch. Besten Dank! — 0. M. i. M. Besten Dank für den Bericht. Da der 
Vortrag bereits anderwärts erscheint, so würde derselbe in unserer Zeitschrift lediglich 
als Abdruck erscheinen. Um solches zu vermeiden, müsste derselbe eine Umarbeitung 
erfahren. — R.R.i.K. Die nächste (Xl.) Konferenz soll in Stettin abgehalten werden. 
Was Sie sonst zu wissen begehren, erfahren Sie am besten durch den Vorsitzenden der- 
selben, Herrn Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf. Die vorherige Bekanntgabe der 


Leitätze zu den Vorträgen blieb bisher nicht ein stiller, sondern ein „lauter: Wunsch. — 
P., Sch. i. M. In nächster Nr. — 





Inhalı. Allgemein Interessantes aus dem Taubstummenunterrichte. (P. Riemann.) 
—- Über Epilepsie. (Fr. Frenzel) — Mitteilungen: Chemnitz, Mannheim, Oppeln, 
Schöneberg. — Briefkasten. i 




















Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


g 


Nr. 8. gar oT? XIX. (Ill) Jahrg. 
für die “LIBRARY M 


Behandlung Schwaclsinniger Und Fe 


Organ der Konferenz für das "Idiotenwhsen.— 
Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 
Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 


Spezialarzt 
Dresden - Streohlen, für Nervenkrankheiten 
Residenzstrasse 27. in Stuttgart. 











ent: ren in 12 Summern von | Zu venenon durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. nzeigen für und Postänmter, wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzeile 35 Pfg. Lite- August 1903. | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 


rarische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg. 


Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 





Der Austausch von Schülern 
zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule. 


Von P. Schwahn, Lehrer an der Hilfsschule zu Mainz. 

Der Charakter der Hilfsschule ist ein eigenartiger. Derselbe wird in seiner 
Natur durch das anormale Wesen der Schüler geschaffen und in seiner Richtung 
durch deren Defekte gegeben. Er weicht von deın Charakter der Normalschule 
insoweit ab, als sich das anormale Kind von dem normalen unterscheidet. Denn 
während wir uns das letztere in der Regel körperlich und geistig gesund und 
im Besitze voller Sinne und gesunder Geisteskıäfte denken, haben wir in ersterem 
ein Kind vor uns, das an Geist und Körper krank, schwach oder gar verkümmert 
ist. Dem Lehrer an der Normalschnle sind im allgemeinen die Geistestore 
seiner Schüler geöffnet; der Lehrer der Hilfsschule hingegen findet diese viel- 
fach verschlossen. Und indem so jener das geistige Ackerland seiner Zöglinge 
ohne besondere Hindernisse fruchtbringend bebauen kann, hat dieser in vielen 
Fällen sich zuerst den Weg zum geistigen Brachfeld seiner Kleinen freizumachen, 
um es bereinigen und anpflanzen zu können, dann noch in der schwachen Hoff- 
nung auf Ernte. Der Lehrer der Hilfsschule ist hiernach an erster Stelle Heil- 
pädagoge und hat als solcher in seiner Tätigkeit mehr Liebe und Geduld, 
sowie grössere Hingebung und Ausdauer von nöten als der Normallehrer. Was 
jedoch die allgemein giltigen Grundsätze der Pädagogif"angelt, sind diese für 
beide Schulen die gleichen; nur werden sie sich hier und dort in Mass und 
Art der Anwendung und Durchführung voneinander unterscheiden — so 
die Sätze: von der Sache zum Wort, vom Wort zum Zeichen! vom Nahen zum 
Entfernten, vom Leichten zam Schweren, vom Bekannten zum Unbekannten ; 


118 
unterrichte anschaulich, naturgemäss, individuell, anziehend, interessant, lebendig, 
klar, leicht fasslich, praktisch, dauerhaft! eile mit Weile! wiederhole! u. a. m. — 


Nun steht noch die Hilfsschule da als ein junger Trieb an dem grossen 
und weitverzweigten Baume des Erziehungs- und Unterrichtswesens, neu in ihrer 
Einrichtung, unvollendet in ihrem Ausbau und allenthalben, soweit Erfahrung, 
Kraft und guter Wille reichten, in ihrer Eigenart zweckmässig ausgestaltet. 
Allein auch sie wird, unvollkommen wie alle menschlichen Institutionen, sich 
bald "im Wechsel der fortschreitenden Entwicklung verbesserungsbedürftig er- 
weisen. Ja, schon heute dürfte sich an ihr diese oder jene Anordnung, Mass- 
nahme und Bestimmung wenig empfehlen oder gar als nachteilig herausstellen. 


So erscheint mir z. B. der an vielen Hilfsschulen üblich gewordene Aus- 
tausch von Schülern, welche. im Deutsch oder Rechnen besonders zurück 
sind, von schwerwiegendem Nachteil für die Schule und ihre Schüler. Wo 
immer ich dieser Frage in Rede oder Schrift begegnete, konnte ich mich mit 
ihr nicht vertraut machen und heute, wo meine eigene Klasse von dem Aus- 
tausch in Mitleidenschaft gezogen ist, kann ich mich auch noch nicht von dessen 
Nützlichkeit und Notwendigkeit überzeugen; ich fühlte mich vielmehr zu diesen 
meinen Ausführungen stärker veranlasst. Wenn ich mir daher erlaube, Gründe 
gegen einen Austausch von Schülern geltend zu machen, darf mir dies nicht 
als Neuerungssucht, auch nicht als Anmassung, noch weniger als Überhebung 
gedeutet werden. Zum allergeringsten ist es Absicht, die Hilfsschule dadurch 
in ihren Grundfesten zu erschüttern. Es geschieht nur im Interesse der Sache, 
für welche einzutreten jeder Lehrer nicht nur berechtigt, sondern sogar ver- 
pflichtet ist. — 


In Hilfsschulklassen, welche verschiedene Abteilungen aufweisen, können 
wohl Kinder, welche in einem gewissen Fache sehr schwach sind und in dem- 
selben auf einer oberen Stufe nicht leicht fortkommen, unberufen und still- 
schweigend noch ein Jahr weiter auf der seitherigen Stufe unterrichtet werden, 
ohne dass sie dadurch eine besondere Kränkung erfahren oder dadurch die Schul- 
ordnung gestört würde. Diese Massregel ist in Anstalten für Schwachsinnige, 
wie auch in der Volksschule mit verhältnismässigem Erfolg in Anwendung. 


Aber nun zeigt es sich, dass diese Massregel unter vorstehenden Verhält- 
nissen von einem Austausch zwischen verschiedenen Klassen und Lehrern, von 
einem sich täglich wiederholenden Ausscheiden und Zurückverweisen grund- 
verschieden ist, und dass gerade in dieser Verschiedenheit die Gründe zu finden 
sind, welche gegen den Austausch sprechen. 


Stellen wir uns einmal den Hergang beim Austausch vor Augen! Da sehen 
wir täglich in den Deutsch- und Rechenstunden ein Anzahl Schüler von Klasse 
zu Klasse wandern, um daselbst zu suchen, was man ihnen oben nicht geben 
konnte — ? weil sie in den betreffenden Disziplinen rückständig sind, und sie 
wandern von oben nach unten, selten in entgegengesetzter Richtung, so dass 
dabei die oberen, resp. die oberste Klasse entlastet, die untere belastet wird. 
Was die eingesessenen Schüler der unteren Klassen bei der Einwanderung ge- 


119 


winnen und wie sich dabei die Arbeit des betroffenen Lehrers gestaltet, weiss 
der praktische und erfahrene Lehrer zu beurteilen! 

Ist schon durch die Eigenart der Hilfsschule, sowie durch die ungünstigen 
Verhältnisse, unter welchen sie bezüglich des verschiedenen Geschlechtes und 
Glaubensbekenntnisses der Schüler, bezüglich der Handarbeit, des Singens, 
Turnens und Zeichnens zu leiden hat, einerseits ein Zerreissen, andrerseits ein 
Kombinieren von Klassen notwendig und dadurch innerhalb des Schulkörpers 
eine, der Natur des anormalen Kindes wenig zusagende Unruhe und Bewegung 
geschaffen worden, so wird dieser nachteilige Zustand noch in bedenklichem 
Masse verschlimmert durch den oben erwähnten, mir nicht viel versprechenden 
Austausch. Der zweifelhafte Erfolg desselben wird für unsere geistig und körper- 
lich unsicheren, schwankenden und energielosen Kleinen, denen eine äussere Ruhe 
und Stetigkeit recht heilsam wäre, um einen zu hohen Preis erkauft; denn die 
„heil'ge Ordnung, diese segensreiche Himmelstochter“, ist durch die bezeichneten 
Übelstände illusorisch gemacht. Wie wohltätig dagegen wirkt dieselbe an der 
Normalschule, wo man eine derartige Einrichtung mit ihren Missständen nicht 
kennt! Und doch hat auch dort eine jede Klasse ihre schwachen Kinder, welche 
auch in manchen Fächern ungenügende Kenntnisse vorweisen. Allein man weiss, 
dass ein Austausch nie und nimmer den heilsamen Einfluss einer guten Schul- 
ordnung aufwiegen kann. 

Die massgebenden Faktoren bei der Auswahl der zum Austausch zu bringen- 
den Schüler sind wohl das Lehrziel der Klassenlehrer und der Hilfsschul- 
vorstebher. 

Die Lehr- oder Unterrichtsziele werden in der Regel durch den allgemeinen 
Lehrplan festgelegt. Da aber für die Hilfsschulen ein solcher wegen ihrer Eigen- 
art und wegen der grossen Verschiedenheit der Örtlichkeiten und ihrer Ver- 
hältnisse nicht zustande kommen kann, liegt die Entscheidung bei obigem Ge- 
schäfte in Händen des jeweiligen Leiters und Klassenlehrers, welche auch die 
Klassenziele nach Möglichkeit abgrenzen. 

Wo nun des Klassenlehrers Urteil über diesen oder jenen rückständigen 
Schüler allein massgebend ist, ladet derselbe nicht selten das Odium auf sich, 
im gegebenen Falle nicht ganz selbstlos zu handeln, um etwa einen unsympathischen 
Schüler los zu werden, oder sich gar einer lästigen Arbeit zu entledigen! 

Liegt aber die Entscheidung bei dem Hilfsschulleiter, so hat dieser eine 
eingehende Prüfung der in Frage kommenden Kinder vorzunehmen, welche 
jedoch, wenn nur einmal vorgenommen, ein falsches Resultat ergeben kann, da 
das schwachsinnige Kind heute gut, morgen weniger gut aufgeräumt ist. Hieraus 
folgt, dass ein Austausch in Anbetracht der durch ihn hervorgerufenen Un- 
zuträglichkeiten und Schwierigkeiten als eine nicht zu empfehlende Einrichtung 
erscheint. 

Der Austausch fordert ferner die Vereinigung wo möglich sämtlicher Hilfs- 
schulklassen einer Stadt in einem einzigen Lokale, eine Forderung, welche ja 
im Interesse einer einheitlichen Leitung und einer zweckmässigen Klassenbildung 
gut und wünschenswert ist, die aber in sehr grossen Städten von der Gemeinde, 


120 


Familie und von den Schülern oft schwere Opfer erheischt. Kinder, die da 
einen stundenweiten Weg zur Schule machen müssen, sind in Gesundheit und 
Leben ernsten Gefahren ausgesetzt, gewisslich immer ermüdet. Die Eltern dann 
haben nicht geringe Sorgen und Mühen, ihre ohnmächtigen Kleinen rechtzeitig 
und wohlbehalten zur Schule und wieder heim zu bringen, Den Städten endlich 
fällt es oft recht schwer, im Zentrum des Ortes die geeigneten Räumlichkeiten 
zu finden. Gewiss wären viele dieser Gefahren und Opfer erspart, könnte die 
Hilfsschule au verschiedenen Punkten des allzuausgedehnten Ortes errichtet 
werden. 

Ein anderes! Der Austausch an der Hilfsschule erschwert die Auf- 
stellung des allgemeinen Stundenplans und lässt der pädagogischen Forderung 
bezüglich der Aufeinanderfolge der einzelnen Unterrichtsstunden einer Klasse 
wenig Gerechtigkeit widerfahren. Jeder Hauptlehrer oder Rektor einer Hilfs- 
schule wird uns zugeben, dass ihm schon bei der Aufstellung des Stundenplans 
die Festlegung der Stunden, welche die kombinierten Klassen im Singen, Turnen, 
Zeichnen, in Religion und Handarbeit fordern, seine freie Bewegung hindern; 
tritt nun noch der beabsichtigte Austausch mit seiner Forderung auf Gleich- 
legung sämtlicher Stunden im Deutsch und Rechnen für alle Klassen hinzu, 
so sind ihm alle Hände gebunden. Dadurch ist er genötigt, auch mit Rücksicht 
auf die Lehrer, Singen, Zeichnen, Turnen und Handarbeit als erste oder letzte 
Stunden zu legen, während die wichtigen Fächer, welche des Kindes Geist frisch 
und kräftig fordern, in unmittelbarer Aufeinanderfolge zu liegen kommen, eine 
Anordnung, welche ein grober Verstoss gegen die Pädagogik ist, für einen ge- 
deihlichen Unterricht von den nachteiligsten Folgen. Einen nicht geringeren 
pädagogischen Missstand schafft die Gleichlegung der wertvollen Disziplinen da- 
mit, dass der Unterricht der Kleinen in genannten Fächern auf den unteren 
Stufen. sich, wie in den oberen Klassen, auf die Dauer einer ganzen Stunde er- 
strecken muss. Wie langweilig, wie ermüdend und abstumpfend wirkt eine 
solche Stunde auf unsere geistigen und körperlichen Schwächlinge! Sprächen 
daher neben den hier gegebenen Erwägungen keine sonstigen Gründe mehr gegen 
einen Austausch, so wären diese Grund genug, überall von demselben abzusehen. — 

Habe ich in meinen Ausführungen hinreichend dargetan, wie durch den 
vielfach beliebten Austausch die äussere und innere Organisation der Hilfsschule 
in ihrem wirksamen Einfluss auf Unterricht und Erziehung gestört und ge- 
schädigt wird, so erübrigt nur noch zu zeigen, wie derselbe für einen gedeih- 
lichen Unterricht selbst mehr Schatten- als Lichtseiten erkennen lässt. 

Man preist den Austausch als eine zweckmässige Einrichtung, weil man in 
ihm Mittel und Weg zur rettenden Tat erblickt. Durch ihn sollen die schwachen 
Kinder, welche in eine höhere Klasse aufgestiegen sind, das Ziel zum guten 
Fortkommen aber nicht erreicht haben, auf der seitherigen niederen Stufe das 
Versäumte in dem betreffenden Fache nachholen. Nun erscheint es auffallend 
und merkwürdig, dass die Normalschule trotz ihres hohen Alters sich von dieser 
vermeintlichen Zweckmässigkeit nicht überzeugen konnte. Dort ist man bis 
jetzt der Ansicht gewesen, das ein Austausch entweder dem Zurückgebliebenen 


u. 


nichts nütze oder aber, dass man den erhofften Erfolg bei gutem Willen und 
etwas Mühe auch ohne Austausch erzielen könne. 

Indem ich auch dieser Ansicht bin, balte ich die erwähnte Massregel einer- 
seits für unnütz, andrerseits für ganz überflüssig. Zur Begründung meiner 
Behauptung gebe ich nachfolgende Umstände zur Erwägung: Da ist ein Schüler, 
welcher zwei Jahre ohne Erfolg die Volksschule besuchte. Als anormales Kind 
wurde derselbe der Hilfsschule zugewiesen, woselbst er jetzt auch schon im 
dritten Jahre sitzt. Zur Zeit sind seine allgemeinen Kenntuisse soweit be- 
friedigend, dass er in eine höhere Klasse aufstieg. Nur im Rechnen ist der 
Schüler so unbewandert, dass er heute, nach vierjährigem Schulbesuch, nicht 
imstande ist, innerhalb des Zahlenkreises 1—20 mit Überschreitung des Zehners 
ab- und zuzuzählen. Dieser Umstand veranlasst seinen Austausch im Rechen- 
unterricht, weil man es oben für ausgeschlossen hält, dass der Betreffende in 
der neuen Klasse mit fortkomme. 

Wie die Sache in dem angezogenen Falle liegt, das Ergebnis des Aus- 
tausches wird im fünften Schuljahr je nach dem Grade der geringen Befähigung 
ein verschiedenes, ein zweifaches sein. Vermag das Kind kaum und nur an der 
Anschauung, Rechenbrett oder Rechenmaschine, die Zahlen 1—20 in ihrer Grösse, 
in ihrem Unterschied, in Mehr oder Weniger zu erkennen und nur höchst not- 
dürftig zu- und abzuzählen; hat es aber diese Vorstellung in der Abstraktion 
nicht, begreift es nicht, mit der reinen Zahl zu operieren, ist ihm vielleicht 
bei der Abstraktion 5 -+ 7 = 8, 12 -+ 6 = 11 oder 19 — 7 = 4; ist es in dem 
Grade schwankend und unfähig, dann holt auch der Austausch das Versäumte 
im fünften Jahr nicht nach; das „Eis“ kommt auch in diesem Fall nicht zum 
Brechen! Und dieser Fall ist, dass sich zu dem Mangel an Geist, an Zablen- 
vorstellung und an Zahlenbegriff noch der Umstand pädagogischer Fehler gesellt. 
Vier Jabre hindurch operiert das arme Kind in dem engen Raum 1—20 und 
wenig oder garnichts blieb haften. Und jetzt beginnt das alte Spiel von neuem; 
nichts Neues, nichts Interessantes, sondern immer wieder das Alte, das Nicht- 
erfasste wird ihm dargeboten. Wie soll nun der sich in den längst ausgefahrenen 
Geleisen fortbewegende Unterricht das schwerfassende aber leichtvergessliche 
Kind anregen, begeistern, erfreuen und anspornen? Wie nicht anders zu er- 
warten, sehen wir das ärmste von den armen Kindern teilnahmlos, gelangweilt, 
abgestumpft, jeder Energie und jeglichen Strebens bar! Kann dann auch der 
Lehrer seinem alten Schüler keine neue Seite abgewinuen und demselben in An- 
betracht seiner Schülerzahl keine besondere Rücksicht angedeihen lassen, dann 
geht derselbe auch im fünften Jahr leer aus. Also ist unter solchen Verbält- 
nissen ein Austausch nutzlos. Überflüssig wird derselbe aber da sein, wo bei 
dem ausgetauschten Schüler die Sache günstiger steht. Da sitzt neben dem 
soeben geschilderten Jungen ein zweiter, der in demselben Zeitlauf die gleiche 
Schule passierte, sich von jenem nur dadurch unterscheidet, dass sein Auge etwas 
heller blickt. Er gestaltete sich zu einem wackeren Schüler der Hilfsschule. 
Frohen Mutes zog derselbe in die höhere, neue Klasse ein. „Doch mit des 
Geschickes Mächten“ — denn bald hat der neue Lehrer entdeckt, dass auch 


122 


dieser zweite Schüler im Rechnen nicht sattelfest ist, dass er zwar notdürftig 
bis 20 in der Abstraktion zu- und abzählen kaun, nicht aber beim besten 
Willen den Übergang des ersten Zehners beherrscht. Der Lehrer verurteilt 
ihn darum ebenfalls zum Austausch. Schon in der nächsten Stunde vernimmt 
der Arme schmerzlich überrascht des Lehrers Bescheid und wandert mit seinem 
Kamerad unter Tränen, ganz trostlos wieder hinab zur unteren Klasse, wo er 
niedergeschlagen, gekränkt und beschämt als Dümmster unter den Dummen 
seinen Platz beim Rechnen einnimmt. In diesem Gefühle ‚geht er jetzt fast 
täglich das ganze Jahr hindurch diesen Weg der Verdemütigung als Aus- 
geschiedener; und heilt auch die Zeit alle Wunden und mildert sich die Strenge 
der Bitterkeit in der Erinnerung an den Ausschluss, der Stachel bleibt. — 

Dr. Demoor berührt in seinem „anormalen Kind“ den gleichen Ge- 
danken und verwirft dabei ganz entschieden jede Massregel, welche das Kind 
in seinem Ehrgefühl zu verletzen und vor den andern Kindern zu beschämen 
imstande ist; denn auch das schwachbegabte Kind habe Ehrgefühl. Eine Schule, 
welche sich zur Aufgabe setze, den Ärmsten der Armen Freude, Trost, Linderung 
und Hilfe zu bringen, müsse alles verhüten, was dieser Absicht zuwider sei! 

Nehmen wir an, das zweite Kind, das da besser veranlagt ist, erreicht 
trotz der unliebsamen Verhältnisse das Ziel der Unterklasse. Ist es aber mit 
seinen Mitschülern auf der oberen Klasse im Rechnen gleich? O nein! Diese 
blieben ja während dieser Zeit nicht stehen und sind somit wiederum einen be- 
deutenden Schritt voraus. Unser Schüler war zurück und bleibt zurück, setzt 
sich selbst der Austausch bis zu seiner Entlassung aus der Schule fort. Ja, 
der Austausch ist die alleinige Ursache, dass er fortgesetzt zurückgehalten wird, 
ein Zustand, den eine gesunde und vernünftige Pädagogik nicht gutheissen kann. 
Wäre das Kind durch einen einjährigen Wechsel den Mitschülern auf der oberen 
Klasse gleichzubringen, dann könne man sich, wenn auch mit schwerem Herzen, 
mit einer solchen Massregel einverstanden erklären, bei den tatsächlichen Ver- 
hältnissen nicht. Darum bleibe ich bei meiner Ansicht und sage noch einmal, 
dass der letztere Schüler, so er im Rechnen gleich seinen Mitschülern in der 
oberen Klasse mit derjenigen Rücksicht behandelt worden wäre, welche die Hilfs- 
schule ihren Zöglingen schuldet, er hätte nicht allein das Ziel der unteren Klasse 
erreicht, sondern noch vieles von dem gewonnen, was den übrigen Schülern ge- 
boten wurde. Zu meiner Rechtfertigung lasse ich hier Gutzmann sprechen, 
der bezüglich schwachbegabter Schüler sagt: „Einer trage des andern Last! 
Dies muss überall im Gemeinwesen, besonders in der Schule beherzigt werden, 
wo begabte und unbegabte, geistig frische und träge, fleissige und faule Kinder 
nebeneinander sich entwickeln sollen. Wieviel Zeit nimmt ein schwachbegabtes 
Kind im Vergleich zu einem gutbegabten in Anspruch, wenn der Lehrer es 
nicht will fallen lassen, sondern es immer und immer wieder heranzieht, um 68 
möglichst auf dem Niveau der Klasse zu halten.“ 

Das ausgetauschte Kind kann in dem betreffenden Fach nicht auf das 
Niveau seiner Klasse gehoben werden, weil es in eine niedere Sphäre ver- 
setzt ist, und aus der niederen Sphäre kann es sich ebensowenig direkt 





123 


auf das Niveau der höheren Klasse erbeben, als ein Junge, der in einem 
Bassin das Schwimmen erlernt, sich sofort im offenen Strom über Wasser 
halten kann. Jenes ist nur möglich, wenn der Schüler in seiner einge- 
tretenen Klasse verbleibt und sein Lehrer den Forderungen Gutzmanns 
entspricht. Volksschulen, Realschulen, Gymnasien und selbst Lehrerseminare 
haben Zöglinge, welche in diesem oder jenem Unterrichtszweig ganz Ungenügendes 
leisten; darob bleiben sie weder sitzen, noch werden sie ausgetauscht. Man hofft, 
dass sie sich in dem rückständigen Fach durch Fleiss und eigene Kraft oder 
durch die besondere Mühe und Kunst der neuen Lehrer bessern würden. Ist 
dem nicht so, nun, dann sagt man, dass es dem Schüler in dem genannten 
Gegenstand überhaupt nicht gegeben sei, dass es einmal nicht gehe, dass es 
auch kein Unglück sei, wenn er in einer Disziplin nichts leiste, er möge nur 
im Leben mit seinen besseren Gaben und Fähigkeiten fleissig wuchern! Darum 
auch an der Hilfsschule keinen Austausch! Alle rückständigen Schüler unter- 
richte man in ihrer Klasse und behandle sie mit soviel Liebe, Hingebung, Geduld 
und Ausdauer, als man von jedem Lehrer der Hilfsschule verlangen kann, und 
ohne welche dieselbe ihrer Bedeutung und Aufgabe weder entspräche, noch in 
die Tat umsetzte.e Wird doch auch nur in diesem Sinne ihre Tätigkeit höher 
gewertet und der Lehrer vielfach demgemäss belohnt! 

Gewiss, es leuchtet mir ein, dass man durch den Austausch minderwertiges 
Material abschieben, die Klassen und Abteilungen mit Schülern gleicher Fähig- 
keiten und Leistungen bilden und sich dadurch die Arbeit um ein ganz Be- 
deutendes erleichtern kann! Aber ebenso klar ist es, dass dadurch in den 
unteren Klassen, in welchen kein Austausch möglich wird, alles Material ge- 
sammelt, dem Lehrer daselbst die Last erschwert und die übrigen Schüler be- 
einträchtigt werden. Gerade die unterste Klasse ist schon an sich am meisten 
belastet; hier ist die Sammelstätte aller körperlichen und geistigen Defekte; 
hier muss zuerst der Weg zum verödeten Geistesfeld gebahnt und dasselbe ur- 
bar gemacht werden; hier sind die Geistestore dem Lichte zu Öffnen und Sinn 
und Geist für den Unterricht fähig zu machen, damit man später weiterbauen 
kann. Niemand nimmt hier dem Lehrer jene Schüler ab, von welchen er schon 
im voraus sieht, dass sie in manchen Unterrichtsfächern nicht mit der Mehrzahl 
gleichen Schritt halten können! Drum schicke man keine Schüler von oben 
hinzu, welche noch die Arbeit erschweren helfen! — 

Individuelle Behandlung der Kinder! das ist die erste Forderung 
der Hilfsschule, von deren Erfüllung sie Heil und Segen erhofft — und das mit 
Recht. Allein nichts arbeitet genannter Forderung mehr entgegen, als eben der 
Austausch. Denn da, wo die Klassen oder Abteilungen, wie eben erwähnt, 
in den wertvollsten Disziplinen nur mit Schülern von fast gleichen Anlagen 
und Leistungen zusammengesetzt, die rückständigen dagegen ausgeschlossen 
werden, kann von einem individuellen Unterrichte keine Rede mehr sein; viel- 
mehr greift da ein Gesamtunterricht Platz, der bei günstiger Beurteilung 
noch als ein naturgemässer denkbar ist. Die Schlagwörter „individuelle 
Behandlung“ oder „individueller Unterricht* haben hier Sinn und Bedeutung verloren! 


124 


Der Austausch trägt ferner zur Entfremdung zwischen den ausgeschiedenen 
Schülern und ihren Lehrern bei, welcher Umstand einen nicht zu unterschätzen- 
den Nachteil involviert. Kann doch tatsächlich der Fall eintreten, dass 
ein Kind gleichzeitig in Religion, Singen, Turnen und Handarbeit einen anderen 
als seinen Klassenlehrer hat. Rechnet man noch zu diesen die Stunden im 
Austausch, so geschieht es, dass das betreffende Kind wöchentlich 14—19 Unter- 
richtsstunden nicht unter der Obhut seines Klassenlehrers steht. Inwieweit es 
unter solchen Verhältnissen seinen Lehrer entfremdet wird, vermag der Leser 
zu beurteilen. Auch brauche ich nicht besunders darzutun, welch nütz- 
lichen und heilsamen Einfluss es bezüglich seiner Erziehung und Schulung 
dadurch verlustig geht; denn wie wenig Gelegenheit ist in vorliegendem Fall 
dem Klassenlehrer geboten, die guten und schlechten Seiten, die Vorzüge und 
Mängel seines Schülers genügend kennen zu lernen und ihn demgemäss zu be- 
handeln. Der Austausch schafft den Fachunterricht; dieser aber ist für eine 
gedeihliche Erziehung weniger förderlich als der Klassenunterricht, was 
durch die Erfahrung hinreichend bestätigt wird. 

Ein Austausch endlich verstösst gegen den Konzentrationsgedanken 
des Unterrichts, welcher in nachstehendem Satze seinen Ausdruck findet: „Alles 
soll ineinander greifen, eins durchs andere blühen und reifen.“ Diese Idee 
fordert, dass die Vorstellungen und Gedanken der Schüler nicht isoliert, sondern 
in gehörige Wechselbeziehung gesetzt werden. Zu diesem Zwecke sind alle 
Unterrichtsgegenstände in gegenseitige Beziehung aufeinander und in gemein- 
same Beziehung auf die zu erstrebende sittliche Bildung zu bringen. Die in 
einem Unterrichtsgegenstande bereits gewonnenen Vorstellungen müssen als 
verwandte und bekannte Dinge zur Gewinnung neuer Gedanken in einem 
anderen Fach als Anknüpfungs- und Stützpunkte dienen. Dieser Weg ist 
dem ausgeschiedenen Schüler gegenüber ausgeschlossen, da ja derselbe in den 
wichtigen Fächern, wie Deutsch und Rechnen, isoliert ist. — Noch malen sich 
da die Schatten schwärzer, wo man sogar ein Kind wegen ınangelhaften Lesens 
austauscht und so das Deutsch, zu welchem doch Anschauungs- und Sprech- 
unterricht, Schreiben, Aufsatz und Lesen zählen, unnatürlich auseinanderreisst. — 
Wohl liessen sich noch mehr Gründe anführen, welche gegen den Austausch an 
den Hiltsschulen sprechen, doch will ich mit meinen Ausführungen schliessen, 
in dem ich kurz resumiere: der Austausch von Schülern an der Hilfsschule 
erscheint mir weder notwendig noch wünschenswert. Derselbe veranlasst ein 
permanentes Wandern von Schülern und eine empfindliche Mehrbelastung der 
untersten Klassen; er schafft eine lästige Unruhe im Schulkörper und stört ohne 
Not die Schulordnung; den Leitern und Lehrern bereitet derselbe Schwierigkeiten 
und Unzuträglichkeiten; den Kindern, Eltern und Gemeinden ladet er unter 
Umständen schwere Opfer auf. Der Austausch erschwert ferner die Aufstellung 
des Stundenplans, fordert die unpädagogische Gleichlegung der Stunden, die 
verwerfliche Aufeinanderfolge der schwierigen Unterrichtsstunden und die er- 
müdende Unterrichtszeit für die Kleinen. Manchen Schülern nützt derselbe 
unterrichtlich absolut nichts, vielen wenig, einigen was Geringes, das ihnen 


125 


jedoch leichter ohne ihn geworden wäre. Er wirkt bei den Ausgeschiedenen 
schmerzlich, entmutigend, abstumpfend, sehr kränkend und verletzend. Endlich 
wird durch den Austausch der Lehrer an den oberen Klassen weniger selbstlos 
und opferwillig, der individuelle Unterricht bedeutungslos gemacht. Er entfremdet 
Lehrer und Kinder, fördert weniger die Erziehung und verstösst zuletzt gegen 
die Konzentrationsidee der Schule. — 

Wo man nun nach dem Gesagten Wert und Bedeutung, Erfolg und Segen 
der Hilfsschule nicht in hochtönenden Schlagwörtern, nicht in verwickelter 
Schulorganisation, nicht in gekünstelten Einrichtungen und ni=ht in zwecklosem 
und überflüssigem Zerreissen und Zusammensetzen der Klassen sucht, sondern 
in einfach natürlicher Schulordnung, wie in stiller und selbstloser Tätigkeit 
der Lehrer, da verschone man die Schule mit dem vielerorts üblichen Austausch 
und anderen sinn- und nutzlosen Massregeln! 


Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in 


Württemberg.*) 
Von Sanitätsrat Dr. Wildermuth in Stuttgart. 

Eine planmässige Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische bestand bis in 
die ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts in Württemberg so wenig, wie in 
anderen deutschen Ländern, 

Zuerst waren es die Schwachsinnigen, deren man sich annahm. Besonders war 
es die endemische Form der Idiotie: der Kretinimus, der die Aufmerksamkeit von 
Menschenfreunden auf sich lenkte; viel später bekümmerte man sich um die Epilep- 
tischen. Weiterhin hat sich die Fürsorge für Idioten und Fallsüchtige gemeinsam 
entwickelt. Sie muss auch gemeinsam besprochen werden. 

Die Anstalten für Schwachsinnige und Epileptische. Die erste Anstalt 
für Idioten in Württemberg, soviel ich weiss in Deutschland überhaupt die erste, 
gründete der Pfarrer Haldenwang im Jahre 1835 in Wildberg. Sie bestand bis 
zum Jahre 1847, wo ihre Insassen in die Anstalt zu Mariaberg übersiedelten. 

Den Anstoss zu weiterer Entwicklung der Idiotenfürsorge gab die Tätigkeit des 
Dr. Guggenbühl, der auf dem Abendberg in der Schweiz eine Anstalt für Kretinen 
errichtet hatte. Mit schallendem Ruf verkündete er der Welt die Heilbarkeit des 
Kretiniismus. Guggenbühl selbst, eine durchaus problematische Mischung aus 
Philantropie, Genialität und Charlatanerie, hat ein übles Ende genommen. Aber es 
gebührt ihm das Verdienst, die praktische Fürsorge für die Idioten weithin angeregt 
zu haben. Zweifellos waren es gerade die marktschreierisch übertriebenen und aus- 
posaunten „Heilerfolge“ bei Krefinen, die anderen Männern den Mut gaben, sind mit 
einem Gebiet des kranken Lebens zu befassen, das bisher für durchaus trostlos und 
unfruchtbar gegolten hatte. 

In Württemberg brachte Dr. Rösch, der sich schon früher mit dem Kretinismus 
beschäftigt hatte, bei der K. Regierung eine statistische Erhebung über den Krotinismus 


*) Aus dem Württ. Mediz. Correspondenz-Blatt 1902, 


126 


in Württemberg in Anregung. König Wilhelm I. interessierte sich persönlich für die 
Sache und Rösch wurde mit der Abfassung beauftragt. Die Erhebungen machte 
Rösch teils persönlich, teils durch Vermittlung von Fragebogen an die Pfarrämter 
und die Ärzte. Er berechnete, dass 4967 Kretinen im Lande seien, darunter 2901 
unter 15 Jahren. In dieser Zahl sind alle Personen inbegriffen, die Erscheinungen 
der kretinistischen Entartung, wenn auch nur in körperlicher Hinsicht, zeigen. Bei 
der damaligen Bevölkerungszahl von za. 1'/, Millionen betrug die Prozentzahl der 
Kretinen ca. 0,32. Dabei ist zu bemerken, dass der Name Kretinismus damals lange 
nicht in der scharfen Umgrenzung wie heute, und vielfach als Bezeichnung für alle 
Formen idiotischen Schwachsinns gebraucht wurde. 

Die Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige zu Mariaberg. Die 
Zahl der Idioten war gross genug, um endlich an eine ordentliche Fürsorge die Hand 
zu legen. Leider kam es nicht zur Gründung einer Staatsanstalt. Aber es wurde 
dem Dr. Rösch die Staatsdomäne Mariaberg, ein altes Kloster im Laucherttal am 
Südabhang der rauhen Alb, für seine Zwecke zur Verfügung gestellt. Am 1. Mai 1847 
wurde die Anstalt mit 15 Kranken eröffnet; 10 davon stammten aus der Anstalt in 
Wildberg. — Heute zählt die Anstalt 107 m., 40 w. Idioten. 

Erwähnt möge hier noch werden die „Erzielungs- und Bewahranstalt für 
schwachsinnige Kinder“ dos Lehrers Helferich. Helferich, früher Lehrer 
auf dem Abendberg, später in Mariaberg, richtete seine, stets kleine Anstalt zunächst 
auf der Felgersburg bei Stuttgart ein, verlegte sie dann auf die Solitude, von dort 
nach Hofstett-Emerbach auf der Alb, schliesslich nach Göppingen, wo sie einging. 

Die Heil- und Pflegeanstalt Schloss Stetten i. R. Eine weitere ‚‚Heil- 
und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder‘ eröffnete Dr. G. F. Müller von Tü- 
bingen, ein psychiatrisch vorgebildeter Arzt. am 21. Mai 1849 in Rieth bei Vai- 
hingen. Am Schluss des Jahres zählte eie 12 Kranke. Im Jahre 1851 wurde sie 
in das kleine Schwefelbad zu Winterbach im Remstal verlegt. Von dort kam sie im 
Jahre 1864 in das benachbarte Schloss Stetten i. R. In Winterbach war die 
Anstalt mit 51 Kranken eröffnet worden, in Stetten zogen 63 ein. Im Jahre 1867 
war der Bestand etwa 90 Ptleglinge. 

Beginn der Fürsorge für Epileptische. Natürlich war unter den Idioten, 
die iu den erwähnten Anstalten verpflegt wurden, auch stets eine grössere oder 
kleinere Anzahl Epileptischer. Von einer planmässigen Fürsorge war noch wenig die 
Rede gewesen. Erst im Jahre 1862 ist die kleine Anstalt Pfingstweide bei Tett- 
nang errichtet werden. Sie war von Anfang an nur für erwachsene männliche Kranke 
bestimmt und zählt auch heute nicht mehr als 30 Insassen. Den Anstoss zu einer 
weiter aussehenden Fürsorge für Epileptische gab die südwestdeutsche Konferenz 
für Innere Mission in Bruchsal im Jahre 1865. Das ärztliche Referat über die 
Epileptikerfrage hatte der verstorbene Oberamtsarzt Dr. Moll, der als Arzt der 
Pfingstweide sich näher mit der Epilepsie beschäftigt hatte. Dieses Referat ist eine 
ganz vorzügliche Arbeit, die in gemeinverständlicher Form auf streng wissenschaftlicher 
Grundlage die leitenden Gesichtspunkte für die Epileptikerfürsorge entwickelte. 

Das Ergebnis der Konferenz war die Errichtung einer Anstalt für Epilep- 
tische im Zusammenhang mit der Idiotenanstalt in Schloss Stetten. 


127 
Finanziell wurde das Unternehmen besonders durch die Graf Wartensleben-Stiftung von 
80 000 Mk. gesichert, die der Johanniterorden auf Grund einer testamentarischen Ver- 
fügung des Erblassers der Anstalt zuwandte. 

Die Gesehichte der Doppelanstalt in Stetten vom Jahre 1867 an bis heute hat 
bewiesen, dass die Verpflegung von Idioten und Epileptischen im Rahmen einer Anstalt 
durchaus keine Nachteile mit sich bringt. 

Mit der Errichtung einer Abteilung für Epileptische trat in Stetten auch die 
Änderung ein, dass ein besonderer Anstaltsarzt, der aber daneben Praxis ausübte, 
angestellt wurde, nicht als Direktor, sondern dem geistlichen und Verwaltungs-Vorstand 
koordiniert. — Die Ärzte der Anstalt waren: 1867—1880 Dr. Häberle, gestorben 
als Oberamtsarzt in Ulm 1894, 1880 —1889 Dr. Wildermuth, jetzt in Stuttgart. 
Seit 1889 bekleidet Dr. Habermaas die Stelle. 

Seit der Anstellung eines Arztes erscheinen regelmässig ärztliche Jahresberichte. 
Diese machen nicht den Anspruch, wissenschaftliche Arbeiten zu sein, aber sie geben 
einen Überblick über die ärztliche Wirksamkeit einer solchen Anstalt, über die Ergeb- 
nisse der Behandlung, zum Teil auch in Kürze die Sektionsresultate. In letzter Zeit 
hat Dr. Habermaas eine sorgfältige Arbeit über die Prognose der Epilepsie er- 
scheinen lassen, beruhend auf genauen Nachforschungen über die Kranken, die in 
Stetten behandelt worden sind. 

Seit 1882 ist in der Anstalt eine Ambulanz für Krampfkranke eingerichtet. 

Nach dem letzten Jahresbericht enthielt die Anstalt: 

| 138 m., 112 w., im ganzen 250 Epileptische, 

180 „ 82, „ „ 262 Idioten. 

Ausser den genannten Anstalten bestehen im Lande noch: Die Pflegeanstalt 
in Heggbach, OA. Biberach. Diese Anstalt wurde im Jahre 1888 von der Kongre- 
gation der barmherzigen Schwestern in Reute errichtet. Sie befindet sich in einem 
alten Kloster, das der Fürst v. Waldburg-Wolfegg den Schwestern geschenkt hal. 
Anstaltsarzt ist Dr. Sautter in Laupheim. 

Zur Zeit enthält die Anstalt ausser 54 Kranken, die wegen körperlicher Ge- 
brechen verschiedener Art verpflegt werden: 

23 m., 28 w. im ganzen 51 Epileptische, 
4 „ 4) „ » „90 Idioten. 

Ferner: Die Pflege- und Bewahranstalt Liebenau bei Tettnang. 
Diese Anstalt verdankt ihre Entstehung der aufopfernden und menschenfreundlichen 
Tätigkeit eines einzigen Mannes. Pfarrer Aich hatte sich seit Mitte der 50er Jahre 
überall nach den Krüppelhaften, Schwachsinnigen und Epileptikern umgesehen und 
sich von der jammervollen Lage vieler überzeugt. Im Jahre 1866 schon erwarb er 
ein Haus mit Garten in Tettnang, indem er Krüppel, Idioten und Epileptische aufnahm. 
Bald erwiesen sich die Räume zu klein, aber die Mittel zur Erweiterung fehlten. 
Aich unternahm nun weite Wanderungen durch Deutschland und Österreich, überall 
für seinen Zweck sammelnd, bis er ein ordentliches Kapital beisammen hatte. Es 
war nun möglich, das alte montfortische Schloss Liebenau zu kaufen. Das Unter- 
nehmen gedieh rasch, es wurde ein Neubau aufgeführt, in neuerer Zeit auch eine 
landwirtschaftliche Kolonie errichtet. Seit 1897 wurde ein ärztlicher Vorstand ange- 


stellt: Dr. Weissenrieder, der die Behandlung der Kranken und dem ganıen Betrieb 
in wissenschaftlich-ärztliche Bahnen lenkte. 

Die Anstalt enthält jetzt ausser einer grossen Anzahl unheilbarer Kranker der 
verschiedensten Gattung: 

23 m. 385 w., im ganzen 58 Epileptische, 
101 „ 146. „ „ 247 Idioten. 

Da diese Anstalten dem vorhandenen Bedürfnis lange nicht genügten, so hat 
die Regirrung des Neckarkreises in Markgröningen eine Landarmenanstalt 
errichtet, in der 44 m, 46 w. Schwachsinunige untergebracht sind. 

Ferner wurde in Verbindung mit dem Diakonissenhaus in Schwäb.-Hall 
ein „Schwachsinnigenheim“ für erwachsene weibliche Schwachsinnige errichtet, 
meist ältere Kranke, indem sich 92 Pfleglinge befinden. 

Zum Schluss folge hier eine Übersicht über den dermaligen Bestand unserer 
Anstalten: 

















'l Idioten ‚  Epileptische 
SE a Er W 
l! ar e 
Mariaberg . . 2 2 2 2! 107 | 40 En 
Schloss Stetten .R . . . ».2.2..2...2..5.180 ı 82 138 | 112 
Pfiegeanstalt Hoggbach : . : 2 2202.00 41 . 49 23 | 28 
Pflegeanstals Liebenau. . . . . . . . .. 101 , 146 23 ; 35 
Diakonissenbaus Hall . 2. 22.222.011 %2] — | — 
Landesarmenanstalt Markgröningen . . . . .ı 4 . 46 — | — 
| 473 455 184 | 175 


i 

Im ganzen sind also in Anstalten untergebracht: 1287 Idioten und Epileptische. 

Hilfsschulen für Schwachsinnige. Das Hilfsschulwesen fûr Schwachsinnige, 
das in don meisten anderen Ländern schon besteht und sich als eine vortreffliche 
Ergänzung der Idiotenfürsorge überall bewährt bat, ist in Württemberg noch völlig 
unentwjckelt.. In Stuttgart ist vor einigen Jahren eine solche Schule mit sehr 
tüchtigen Lehrkräften eingerichtet worden Aber da es sich um ein Privatunternehmen 
handelte, das von den zuständigen Behörden in keiner Weise unterstützt wurde, so ist 
die Klasse über oinen bescheidenen Umfang nicht hinausgekommen. 

Erst in allerneuster Zeit, am 28. September 1902, haben in Ulm a. D. die 
bürgerlichen Kollegien beschlossen, versuchsweise eine Hilfsschule für zirka 30 Kinder 
evangelischer Religion zu errichten, die in der allgemeinen Schule nicht mitkommen 
können. Die Schule ist im vorigen Jahre eröffnet worden. 

Statistisches in Bezug auf die Anstaltsfürsorge. Die Zahl*) der Idioten 
in Württemberg beträgt nach der Zählung vom Jahre 1841: 3800, 2,4 auf 100 Ein- 
wohner, nach der Zählung von Koch im Jahre 1855: 3810, 2,0 auf 100 Einwohner. 
Seitdem hat eine allgemeine Zählung nicht mehr stattgefunden. 

Legen wir das Verhältnis der von Koch gefundenen Zahlen zu grunde, so 
würden wir nach der jetzigen Bevölkerungsziffer zirka 4200 Idioten anzunehmen haben. 


*) Die in folgendem angeführten Zahlen sind der Übersichtlichkeit halber abgerundet. 


129 


Die Vergleichung der Zahlen von Koch und Rösch ergeben eine Abnahme des 
Idiotismus. Koch selbst zieht diesen Schluss mit grösster Zurückhaltung. Man 
wird aber immerhin sagen dürfen, dass die Idiotie nicht zugenommen hat. 

Von besonderem Interesse wäre namentlich eine neuere Zählung der Kretinen, 
Man nimmt an, dass der Kretinismus im Lande im allgemeinen abgenommen habe. 
Das dürfte richtig sein, aber ein sicherer zahlenmässiger Beleg ist nicht vorhanden, 
Sicher ist die Abnahme erwiesen für Tübingen und seine Umgebung, wo der verstor- 
bene Oberamtsarzt Krauss im Jahre 1885 Erhebungon angestellt hat. In einem 
anderen Bezirk, dem Oberamt Brackenheim, hat Oberamtsarzt Dr. Schmid Unter- 
suchungen angestellt und in einer vortrefflichen Arbeit veröffentlicht. Hier wurde 
eine nicht unerhebliche Zunahme des Kretinismus festgestellt. Rösch fand in diesem 
Bezirke 1841 auf 1000 Einwohner 4,9 Kretinen, Sick 1853: 3,4, Koch 1875: 4,6, 
Schmid 5,38. Die Kosten dieser Zunahme tragen 3 Gemeinden, während in den 
anderen der Kretinismus zum Teil erheblich zurückgegangen ist. 

Die Verhältnisse liegen also in den verschiedenen Landesteilen sehr ungleich. 

Es ist sehr zu bedauern, dass seit 27 Jahren keine allgemeine Zählung mehr 
vorgenommen worden ist. Eine solche ist nötig, um feststellen zu können, in welchem 
Umfange die vorhandenen Anstalten nicht genügen. Jetzt können wir nur mit sehr 
ungefähren Schätzungen rechnen. Die Altersstufen, die für die Anstaltsfürsorge in 
erster Linie in Betracht kommen, sind die unter 15 Jahren. Koch berechnet die Zalıl 
der Idioten unter 16 Jahren auf 728, das gäbe, auf die heutige Bevölkerung be- 
rechnet, über 1000. 

Legen wir aber die ganz vorzügliche Schweizer Schulstatistik aus dem Jahre 1897 
zu Grunde, so müssten wir für Württemberg gegen 2000 idiotische Kinder im schul- 
pflichtigen Alter berechnen, die einer Anstaltspflege bedürfen, während nur ca. 900 
Idioten überhaupt in Anstalten Aufnahme finden können. 

Eine Zählung der Epileptischen ist im ganzen Lande noch nie vorgenommen 
worden. Moll hat im Jahre 1862 in 5 Oberämtern in verschiedenen Gegenden des 
Landes Zählungen veranstaltet und aus deren Ergebnis 1657 Epileptische für ganz 
Württemberg berechnet. Die Zahl ist wohl zu niedrig. Wenu wir die anderwärts 
in neuerer Zeit gefundenen Werte auf die jetzige Bevölkerungszahl von Württemberg 
übertragen, müssen wir etwas über 3000 Epileptische annehmen. Von diesen sind 
nach einer Berechnung, deren nähere Ausführung nicht hierher gehört, ca. 700 als 
anstaltsbedürftig anzunehmen. Von diesen gehören ca. 200 in Irrenanstalten, 500 in 
offene Asyl. Nun sind jetzt schon untergebracht: 


in Schloss Stetten . . . . . . 250 
„ der Pflegeanstalt Hoggbach . . 51 
Der u Liebenau . . 58 


zusammen 359 
Eine Erweiterung der Fürsorge bis zu einer einigermassen genügenden Ausdehnung 
liegt hier also im Bereich der Möglichkeit. Allerdings ist die grösste Anstalt, Stetten 
an der Grenze ihrer Erweiterungsfähigkeit angelangt. Ob und inwieweit dies bei 
Liebenau und Heggbach der Fall ist, ist mir nicht bekannt. (Schluss in nächster Nr.) 


130 


Literatur. 


Über moralisches Irresein. Ein Vortrag von Dr. med. L. v. Muralt. 
München 1903. Verlag von Ernst Reinhardt. 30 Seiten. Preis 80 Pf. 

Der Verfasser sucht in einer gemeinverstāndlichen Darstellung das moralische 
Irresein (Moral insanity) als eine selbständige Krankheit nachzuweisen und zu 
begründen, während andere Autoren die gegenteilige Lehre über die Moral insanity 
vertreten. Er kommt damit den Lehren Lombrosos vom „geborenen Verbrecher* 
näher, besonders mit seiner Erklärung, dass sich „wissenschaftlich keine bestimmte 
Grenze zwischen moralisch Irren und geborenen Gewohnheitsverbrechern“ ziehen lasse. 
Wie bei den intellektuellen Schwachen verschiedene Grade der Minderbegabung vor- 
handen sind, so sollen auch bei den moralischen Schwachen sich alle möglichen 
Übergänge und Zwischenstufen von annähernd guter Ausbildung der moralischen 
Gefühle bis zum völligen Fehlen derselben vorfinden. Die Erziehung und Heranbildung 
moralisch defekter Kinder müsste in besonderen, ihren Mängeln Rechnung tragenden 
Schulklassen oder Instituten versucht werden. Zur Lösung dieser Erziehungsaufgaben 
wären Ärzte, Pädagogen und Rechtskundige berufen. Sache des Arztes würde es 
sein, auf die krankhafte Natur der abnormen Anlage autmerksam zu machen, dem 
Pädagogen fiele dagegen die Aufgabe zu, seine speziellen Erfahrungen bei der Ein- 
richtung der besondern Methoden geltend zu machen, und der Jurist hätte die Formen 
aufzustellen, welche am geeignetsten erscheinen möchten, die Abnormen vor sich selbst 
und die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. — Da die Schrift vielfach unser Gebiet 
berührt, so empfehlen wir sie unsern Lesern zur prüfenden Erwägung, ohne jedoch 
irgend welche Stellung zu der beregten Frage vor der Hand einnehmen zu wollen. 


Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. Von 
Ernst Meumann. Leipzig 1902. Verlag von Wilhelm Engelmann. 
69 Seiten. Preis Mk. 1,20. 

Verschiedene Forscher haben schon das Gebiet der Sprachentwicklung des Kindes 
bearbeitet; allein es sollen nach des Verfassers Meinung sich manche Irrtümer in 
ihren Darstellungen befinden, so dass es geboten erscheint, zu einer objektiven Auf- 
fassung von dem wahren Gange der ersten Vorgänge der kindlichen Sprachentwicklung 
anzuleiten und eine einzig berechtigte Methode der Interpretation der Kindersprache 
zur Geltung zu brivgen. Diese Methode hat in der Durchführung folgende drei 
Grundsätze zu beachten: 


1. Wo nicht besondere Gründe entgegenstehen, haben wir uns die Wortbedeutungen 
und die psychophysischen Prozesse, die bei ihrer Gewinnung und Verwendung 
in Aktion treten, so einfach wie möglich zu denken. 

2. Wo die Wortbedeutungen des Kindes nicht vollkommen eindeutig sind, muss 
die allgemeine körperlich-geistige Entwickeltheit des Kindes die massgebenden 
Gesichtspunkte für die Interpretation abgeben. 

3. Wenn irgend möglich, muss die Deutung der kindlichen Worte, ihrer Ge- 
winnung und Verwendung aus spätern Entwickelungsstadien geschehen, die 
der Beobachtung besser zugänglich sind. 


131 


Die Bearbeitung des Materials umfasst neun Abschnitte, deren Inhalte folgende sind: 
1. Vorbedingungen und Vorstufen der kindlichen Sprachentwicklung. 
2. Die Entwicklung des Sprachverständnjsses beim Kinde. . 
3. Die erste Stufe des aktiven Sprecheng: Die emotionell-volitionale Sprachstufe 
oder Stufe der Wunschwörter. 

. Die Intellektualisierung der emotionellen Sprache. 

. Die associativ-reproduktive Sprachstufe des Kindes. a. 
Einige besonders schwierige Fälle erster Wortbedeutungen des Kindes. 

. Die logisch-begriffliche Stufe der kindlichen Wortbedeutung. 

. Die Tätigkeit des Schliessens beim Kinde. 

9. Die Frage der Worterfindung des Kindes. 

Bei der Bearbeitung dieses Stoffes lag es dem Verfasser hauptsächlich daran, 
darch rein empirische Deutung der Tatsachen und Beobachtungen eine möglichst 
objektive Darstellung von dem wahren Gange der ersten Prozesse der kindlichen 
Sprachentwicklung zu bieten. Es erscheint überflüssig, daranf hinzuweisen, welch 
einen grossen Wert die Kenntnis der Sprachentwicklung des Kindes für den Lehrer 
der Geistesschwachen besitzt. Aus der vorliegenden Schrift kann er wie aus einer 
Quelle zur Bereicherung seines Wissens nach dieser Seite hin schöpfen, zumal sie 
geradezu eine Fülle neuer und anregender Gedanken enthält. Die ganze Abhandlung 
zeichnet sich dazu durch logische Schärfe vorteilhaft aus und zwingt gleichsam zur 
Überlegung und zum weitern Nachdenken; sie verdient unsere ganze Beachtung. 

Stotternde Kinder. Von Dr. med. A. Liebmann, Arzt für Sprachstörungen 
zu Berlin. Berlin 1903. Verlag von Reuther & Reichard. 96 Seiten. 
Preis Mk. 2,40. 

Der Verfasser hat bereits mehrere Arbeiten auf heilpädagogischen Gebiete ver- 
öffentlicht, die sich fast durchweg eines guten Rufes erfreuen. Nach einer kurzen 
Einleitung, worin das Wesen des Stotterns geschildert wird, gibt er in dem vorliegen- 
den Buche an 15 Beispielen stotternder Kinder eine Beschreibung und Behandlung 
dieser Fälle. Er lehrt uns, dass bei der Behandlung stotternder Kinder das psychische 
Moment die grösste Rolle spiele, und dass jeder Fall ausschliesslich individuell zu 
behandeln sei. Die Ausführuugen enthalten viele beachtenswerte pädagogische Rat- 
schläge und interessante Charakterschilderungen stotternder Kinder. Dadurch erhält 
die Schrift auch für uns eine gewisse Bedeutung, namentlich auclı deshalb, weil sie 
uns die wichtigsten Richtlinien zur Behandlung unserer sprachgebrechlichen und 
stotternder Schüler bietet. Die Darstellung der Behandlung an Beispielen besitzt 
gewiss ihre Berechtigung und erscheint auch recht lelırreich, allein wir möchten einer 
allgemeinen Entwicklang der grundlegenden Gedanken der Stottererbehandlung im 
Interesse der Vermeidung schematischer Erörterungen doch den Vorzug geben. Eine 
solche Darlegung würde an Übersicht und an Bequemlichkeit zwecks schnellen 
Orientierens sehr gewinnen. Unstreitig bedeutet aber das Buch eine bedeutsame Er- 
scheinung auf leilpädagogischem Gebiete und verdient die Beachtung aller be- 
teiligter Kreise. 

Methodik des gesamten Volksschulunterriehts. Unter besonderer Be- 
rücksichtigung der neuern Bestrebungen von Adolf Rude, Rektor in Nakel. 


on num 


1% In 
." ..d die 


eia.’ 


on Wm Àn 


eG 7 7 
` a 
a » 


132 
1. Teil: Religion — Geschichte — Deutsch. Osterwieck a. Harz 19093. 
Verlag von A. W. Zickfeldt. 296 Seiten. Preis geh. Mk. 2,80, geb. Mk. 3,50. 

„Das Werk will in erster Linie zum Studium auf methodischem Gebiete die nötige 
Handhabe bieten und auch die Wege dazu nachweisen. Die Pädagogik und die 
Methodik sind seit einigen Jahrzehnten in einem gewaltigen Ringen begriffen; die 


d Pler Schulkundenweisheit ist abgetan, und weitgehende Reformen gelangen immer mehr 
E t gebr Geltung. Mitten in die Reformbewegungen hinein will der Verfasser seine 


. ori 
a 


~ 


Leser führen, doch so, dass nur endgültige Resultate vom praktischem Werte ihnen 
vorgelegt werden sollen. Im kleinen Monographien, die oft knapp gehalten sind, aber 
doch das Wesentlichste übersichtlich bringen, werden die methodischen Belehrungen 
geboten. Der Verfasser steht auf Herbart’schem Boden; es gelangen auch vielfach 
Herbartische Grundsätze in methodischer Beziehung zur Durchführung. Die ganze 
Darstellung der Methode ist vom Geiste des erziehenden Unterrichts durchdrungen, 
daher kann seine Methodik zur Vertiefung der praktischen Schularbeit viel beitragen. 
Wir halten das Werk in seinem ganzen Umfange zur Fortbildung des Lehrers für 
sehr geeignet, besonders auch deshalb, weil es zugleich eine Einführung in die wert- 
vollste methodische Literatur der Neuzeit bietet. Es gehört unstreitig zu den hervor- 
ragenden Firscheinungen auf dem pädagogischen Büchermarkte und hat deshalb unsere 
beste Empfehlung. — Das Buch bildet den 8. Band der Sammlung: Der Bücher- 
schatz des Lehrers, herausgegeben von K. O. Beetz, Schuldirektor in Gotha, 





Lehrergesuch. 


An unserer Anstalt ist zum 1. Oktober eine l,ehrerstelle durch eine jüngere 
Kraft zu besetzen. Das Gehalt beträgt für einen einstweilig angestellten Lehrer 
Mk. 1200. Bei fester Anstellung beträgt das Grundgehalt Mk. 1350, die Alters- 
zulagen Mk. 150 zahibar in 10 Zwischenräumen von je 2 Jahren. 

An Mietsentschädigung werden für einen unverheirateteu Lehrer 250 Mk., für 
einen verheirateten 450 Mk. gewährt. 

Meldungen mit Lebenslauf, Zeugnissen und Gesundheitsattest an die Direktion 
der evangelischen Idiotenanstalt Hephata in M.-Gladbach. 


Vom Verfasser oder durch die Schriftleitung dieser Zeitschrift gegen Einsendung 
von Mk. 0,60 zu beziehen 


Aus der Praxis der Vorschule. 


Von Gustav Nitzsche, 


Oberlehrer der Landesanstalt für schwachsinnige Kinder in Grosshennersdorf 
(Königreich Sachsen). 





Inhalt. Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der 
Hilfsschule. (P. Schwahn.) — Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in Württem- 
berg. (Dr. Wildermuth.) — Literatur: Ueber moralisches Irresein. — Die Entstehung 
der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. — Stotternde Kinder. — Methodik des gesamten 
Volksschulunterrichts. — Anzeigen. | 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. - | 


yo 1 v3 


Nr. 9 u. 10. XIX. (All) Jahrg. 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung Schwachsinniger und Enilentischer 


Organ der Konferenz für - das Idiotenwesen. 





Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 


herausgegeben von 


Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 
Dresden -Strehlen, füge r Ten krankrehlen 
Residenastrasse 27. in Stuttgart. 


Erscheint jährlich in 18 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen 
mindestens einem Bogen. Anzeigen für 


u te: wie auch direkt von der 
die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- | Oktober 1903. chriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Beilagen 6 Mark. einzeine Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Die Stellung des Arztes an der Hilfsschule, 
die Stellung des Lehrers Schwachsinniger zur Medizin 
in früherer Zeit. 
Von Oswald Berkhan, Arzt in Braunschweig. 


Schon seit einer Reihe von Jahren ist von ärztlichen Kreisen darauf hin- 
gewiesen, wie nützlich und notwendig es sei, Ärzte anzustellen, denen die ge- 
sundbeitliche Überwachung der Schule und der Schüler zu übertragen sei und 
mehr und mehr hat man damit begonnen, dieser Forderung gerecht zu werden. 

Hier möchte ich nun die Frage der Anstellung von Ärzten an Hilfsschulen 
berühren. 

“Die Kinder, welche Hilfsschulen besuchen, gehören zu den Schwachbe- 
fähigten, sie leiden an Schwachsinn geringen Grades. Der Schwachsinn geringen 
Grades aber gehört, wie der mittleren und hohen Grades gemeinsam dem. 
Krankheitsbilde an, welches Idiotie, angeborene oder früh erworbene Geistes- 
schwäche, genannt wird. 

Es ist damit ein anderes Gebiet gegeben, auf welchem der Schularzt in 
der ihm zukommenden Weise wirken soll. 

Wie ein Lehrer der Hilfsschule Verständnis für das eigenartige Gebiet, 
besondere Lust und Liebe für sein Fach haben soll, so auch der Arzt, der hier 
ein Mehr zu leisten hat als der Arzt an einer Normalschule. 

Er hat zunächst in Gemeinschaft mit den Lehrern die Schwachsinnigen 
zu prüfen und festzustellen, welche unter ihnen am wenigsten schwachsinnig 
sind, somit am meisten Aussicht auf eine erfolgreiche Ausbildung bieten und 


134 


diese für die Aufnahme in die Hilfsschule zu bestimmen, andrerseits die, welche 
an Schwachsinn mittleren und hohen Grades leiden, einer Idiotenanstalt zuzuweisen. 

Ferner hat derselbe nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen 
Gebrechen der eine Hilfsschule besuchenden Kinder festzustellen und zu be- 
achten. Ausser Skrofulose, Rhachitis, Hautausschlägen, Störungen des Seh- 
und Hörvermögens sind es die Sprach- und Schreibgebrechen, die Erscheinungen 
der Kinderlähmung, krankhafte Unruhe, Anfälle von Abwesenheit und Schwindel, 
psychische Erregungszustände, geschlechtliche und andere moralische Abirrungen, 
die einer besonderen Beachtung bedürfen und Kenntnis der Idiotie und damit 
der Psychiatrie erfordern. 

Weiter hat ein an Hilfsschulen wirkender Arzt die Ursachen des Schwach- 
sinns zu erforschen, ob demselben eine erbliche Belastung durch Schwindsucht, 
Lustseuche, Trunksucht, Geisteskrankheit, oder überstandene Kinderkrankheiten, 
wie Masern, Scharlach, Diphtherie, Hirnentzündung zu grunde liegen. 

Der Arzt wie der Lehrer haben ferner die Schwachbefähigten nach Kräften 
vor Unbilden in der menschlischen Gesellschaft zu schützen, ihnen auch nach 
ihrem Austritt aus der Schule beizustehen, wenn es sich um gerichtliche Ver- 
wickelungen oder um Einforderung zum Militärdienst handelt So weitgehend 
fasse ich die Pflichten eines Arztes, der an der Hilfsschule mitwirkt, auf. 

Aus diesem geht hervor, dass Ärzte an Hilfsschulen, um solchen An- 
forderungen genügen zu können, psychiatrisch gebildet sein müssen 

Schularzt und Lehrer haben jeder in seinem Fach vorzugehen, aber in 
Übereinstimmung und sich ergänzend. Steht doch der eine auf dem Boden 
der Psychiatrie, der andere auf dem der pädagogischen Pathologie. 

Seit ich den Anlass zur Gründung unserer Hilfsschule 1880/81 gegeben, 
habe ich derselben als Berater zur Seite gestanden und ist es mir immer eine 
Freude gewesen, mit ihren Lehrern zu verkehren, ihnen manche Anregung 
sowie Bereicherung meiner Kienntnisse verdankend. 

Es wird nicht ausbleiben, dass durch eine gemeinsame Tätigkeit des Arztes 
mit dem Lehrer der Hilfsschule das psychiatrische Fach so gut wie das päda- 
gogisch-pathologische einen rascher als bisher sich vollziehenden Ausbau er- 
leidet, die Hilfsschule aber mehr und mehr umgrenzt eine Sonderstellung er- 
reicht, welche nicht künstlich geschaffen wird, sondern sich von selbst bildet, 
ja schon gebildet hat — ein kleiner Staat im grossen Staate der Pädagogik 








Nach Besprechung der Schularztfrage treibt es mich nun, einen geschicht- 
lichen Rückblick zu tun und die Frage aufzuwerfen: „Wie verhielten sich die 
anerkannt bedeutendsten Lehrer, welche sich in früheren Zeiten mit Erziehung 
und Unterricht von Blöd- und Schwachsinnigen beschäftigten, der Medizin 
gegenüber?* 

Achtung gebietende Gestalten treten uns da entgegen, sich, fern vom Ge- 
triebe der Welt, abmühend mit der Erziehung und dem Uıterrichte der am 
Geiste Schwachen, mit Wort und Schrift für dieselben eintretend, die medi- 
zinische Wissenschaft anrufend, dass ihnen Aufklärung gegeben würde über die 


135 
Hindernisse, welche hemmend auf die Entwicklung der geistigen Kräfte ihrer 
Zöglinge einwirkten und schliesslich unter Sorgen und Mühen sich dem Studium 
der Medizin widmeten, um mit ärztlichen Kenntnissen ausgerüstet in ihrem 
Lehrfach weiter zu wirken. 

Zunächst habe ich da anzuführen den Volksschullehrer Kern, 1814 zu 
Eisenach geboren. 1834 wurde er durch den Oberkonsistorialrat Töpfer zu 
Eisenach veranlasst, zwei bei demselben zur Konfirmation angemeldete schwach- 
sinnige Knaben, die bis dahin noch keinen Unterricht empfangen hatten, vor- 
zubereiten. Der eine der beiden Knaben war zugleich taubstumm. Nach 
gutem Erfolge erhielt er darauf zwei gleichartige Kinder. 

Er ging nun, um sich für seine Tätigkeit mehr auszubilden, nach den 
Taubstummenbildungsanstalten zu Weimar und Leipzig und errichtete, 1839 
nach Eisenach zurückgekehrt, daselbst ein Institut zur Erziehung von Schwach- 
und Blödsinnigen, in welchem auch Taubstumme unterrichtet wurden. Ausser- 
dem erteilte er noch den Schulamtskanditaten Anweisung zur Erziehung taub- 
stummer und sprachgebrechlicher Kinder. 

Die fortwährende Zunalıme des Besuchs seiner Anstalt und der Wunsch, 
seiner Erziehungsmethode eine streng anatomisch-physiologische Grundlage zu 
geben, veranlasste ihn, 1847 die Anstalt nach Leipzig zu verlegen. Hier schrieb 
er: Pädagisch-diätetische Behandlung Schwach- und Blödsinniger, Leipzig 1847 
(Klinkhardt), eine wegen seiner Klarheit ausgezeichnete Abhandlung. 

Da er jedoch sehr bald die Überzeugung gewann, dass eine vollständige 
medizinische Ausbildung für seinen Zweck von hohen Werte sein würde, 
widmete er sich noch dem Studium der Medizin und erwarb durch Ver- 
teidigung seiner Dissertation: De fatuitatis cura medica et paedagogica conso- 
cianda (Über die gemeinschaftliche ärztliche und pädagogische Behandlung des 
Schwachsinns) die Doktorwürde. 

Rührend ist es, schreibt Sengelmann in seinem Idiotophilus 1885, wie 
Kern in seinem Lebensabriss seiner Frau bei Gelegenheit seiner Doktor- 
Promotion bekennt: „Und wenn ich heute hier stehe, die höchsten Ehren der 
medizinischen Wissenschaft zu empfangen, so muss ich Dir, liebste und treuste 
Lebensgefährtin, von ganzem Herzen Dank sagen; denn ohne Deine Ausdauer, 
ohne Deinen rastlosen Eifer, ohne Deine Sorgfalt und Bemühungen, die oft 
ganz auf Dir ruhten, hätte ich mein vorgestecktes Ziel nie erreicht “ 

Seine Anstalt führte er dann fort, nannte sie jetzt „Erziehungs-, Unter- 
richts- und Pflegeanstalt für Schwach- und Blödsinnige“ und verlegte sie später 
nach Möckern bei Leipzig. 

Das Gebiet seiner Tätigkeit der Psychiatrie zugehörig betrachtend, 
schrieb er in der Allg. Zeitschr. für Psychiatrie Bd. 12 1855: „Gegenwart und 
Zukunft der Blödsinnigenbildung“, wobei er Guggenbühl und Saegert bespricht. 
Nochmals wird von ihm Guggenbühl und auch Gläsche besprochen im 13. Bd. 
derselben Zeitschrift — höchst lesenswerte Aufsätze 

Auf der Versammlung deutscher Irrenärzte in Eisenach hielt er einen 
Vortrag: „Die Staatsregierungen sind nicht verpflichtet, für Erziehung uni 


136 


Unterricht der Blödinnigen zu sorgen‘ (Zeitschr. Psych. 17. Bd. 1860, Anhang >). 

Vom Standpunkte des Dr. Kern, der einer blühenden, gesuchten Privat- 
anstalt vorstand, lässt sich eine solche Forderung oder Behauptung begreifen, 
die Irrenärzte aber setzten nach einer längeren Erörterung fest, dass der Staat 
wohl die Aufgabe habe, für die Pflege der Geistesschwachen zu sorgen, dass 
aber ei er direkten Hilfe eine geregelte Fürsorge für die heilbaren und un- 
heilbaren gemeingefährlichen Irren vorangehen müsste. 


Dann tritt mir in der Geschichte die würdige Gestalt des Inspektors 
Landenberger entgegen. Er war Volksschullehrer in Württemberg und wurde 
im Jahre 1851 von seinem Schwager, Dr. med. Müller, als Hauptlehrer an 
die Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder in Winterbach berufen. 


„Es ist,“ schreibt K. Kölle („Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für 
Schwachsinnige“: J. Landenberger, Zeitschr. f. d. Beh. Schwachs. u. Epileptischer, 
Jahrgang 1901), „ein ganz seltenes Zusammentreffen, dass ein Arzt eine Erziehungs- 
anstalt für Schwachsinnige gründete und einen Lehrer fand, der ihn vollständig ver- 
stand, so dass ein Zusammenarbeiten möglich war, wie wir es heutzutage wohl 
wünschen, aber selten antreffen. Landenberger gab sich aber nicht damit zufrieden, 
dass der Arzt mit seinem pädagogischen Standpunkte übereinstimmte, sondern er lernte 
von seinem Schwager die naturwissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiete kennen.“ 


Landenberger war ein philosophisch angelegter, dabei streng religiöser 
Mann; die wenigen Stunden, die ich bei ihm — er war derzeit Vorsteher der 
Anstalt zu Stetten — verlebte, gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. 
Wie er über die ärztliche Seite auf seinem Gebiete dachte, geht wohl am besten 
aus dem 14. Anstaltsberichte 1862 hervor, in welchem er unter anderem schreibt: 


„Da wir nun den kindlichen Blödsinn als eine auf angeborener oder in früher 
Jugend entstandener Hirnerkrankung beruhende Schwächung oder Störung der Seelen- 
tätigkeit anzusehen haben, so muss es Aufgabe der Anstalt sein, die Ursache des 
vorhandenen Gebrechens möglichst zu erforschen, zu beseitigen, die noch freien, oder 
durch das Bemühen der Anstalt frei gewordenen Vermögen auszubilden, um das un- 
glückliche Kind zu einem nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen, 
oder wo ein Rückbilden des Gebrechens, ein Heilen oder Bessern des abnormen 
Zustandes nicht möglich ist, das Kind menschenwürdig zu verpflegen. Leicht ergibt 
und entscheidet sich hiernach die Aufgabe und das Gebiet des Arztes und das des 
Eıziehers und Lehrers; nur ist die Scheidung zwischen beiden Gebieten nicht der Art, 
dass sich eines um das andere nicht zu kümmern hätte. Der Arzt muss vielmehr 
bei seinen medizinichen und diätetischen Verordnungen pädagogisch, der Erzieher und 
Lehrer im Sinne wahrer Heilkunst verfahren; beide müssten also nach einem gemein- 
schaftlichen Plane arbeiten Die Regeln für die Behandlung der Blöden und Geistes- 
schwachen müssen beide, der Arzt und der Lehrer, der Entwicklung des gesunden 
Kindes entnehmen, da ja in der Tat der Verlauf des kranken Lebens nur aus den 
Gesetzen des gesunden Lebens recht begriffen werden kann.“ 


Diesem trefflichen, unvergesslichen Manne lasse ich folgen den Dr. med. 
Heyer. Er war Elementarlehrer, darauf Hauptlehrer an der Königl. Taub- 


137 


stummenanstalt in Berlin und errichtete dann eine Heil- und Bildungsanstalt 
für Blöd- und Schwachsinnige. 

„Um mich allseitig für die Idiotenangelegenheit zu befähigen‘ — schreibt 
er in seiner Abhandlung: Beiträge zur Lösung der Idiotenfrage, von Friedrich 
Heyer, Dr. med, Berlin, 1861 — „fasste ich noch im Alter von 34 Jahren 
den Entschluss, ein ordentliches ärztliches Studium durchzumachen. Unter 
vielfachen Entbehrungen und mit persönlichen Opfern, weil ich meiner äusseren 
Verhältnisse halber die Stellung als Hauptlehrer an der hiesigen Königl. Taub- 
stummenanstalt nicht aufgeben durfte, erwarb ich mir an hiesiger Universität 
den Grad des Dr. med. et chir.“ 

Bemerkensnert ist nun folgende Stelle in seinem Schriftchen: 

„Dass die medizinischen Studien auf das pädagogische Wirken einen höchst wohl- 
tätigen Einfluss üben, bedarf wohl kaum eines Beweises. Wie ganz anders betrachte 
ich jetzt manche Unarten und Fehler des Kindes; wie nachsichtig und milde bin ich 
geworden bei gewissen Schwächen und Versehen, um wieviel eher erachte ich jetzt 
aus seinem Mienenspiele, aus seiner Haltung u. s. w. die innere Ermüdung! Nur der 
Arzt wird gewisse Fehler des Sehvermögens, gewisse Anomalien um das Zahnen und 
die Entwicklung der Pubertät, die physischen und psychischen Erscheinungen vor dem 
Veitstanze, vor der Epilepsie u. s. f. rechtzeitig erkennen und richtig deuten. Er 
wird andere Übel durch zweckmässige Gymnastik, durch körperliche und geistige Diät 
abwenden und die Kinder nicht mit Arbeit überbürden, wie es leider so oft zum Nach- 
teile derselben geschieht. Es wäre in der Tat nicht so übel, wenn ausser den Schul- 
revisoren auch alle Landlehrer von dergleichen etwas verstehen müssten, und die darauf 
angewandte Zeit würde nicht nur den Eltern und Kindern nützlich, sondern ihnen selbst 
viel bildender sein, als das mechanische Abschreiben von Choral-Varianten, von zweck- 
losen Lautlehren u. s. w. Indem ich hiermit bekenne, dass ich früher aus Unkennt- 
nis mancherlei pädagogische Schnitzer machte, aber zeitig genug darüber aufgeklärt, 
mich dem Studium der Medizin zuwandte, kann ich anderseits den Wunsch nicht 
unterdrücken, dass zum besten der gesamten Erziehung recht viele und einflussreiche 
Leute diese Meinung zu der ihrigen machen und geeigneteu Orts dafür eintreten 
möchten! — Was ich dem Gesagten nach schon für gesunde Kinder fordere, gilt im 
höchsten Maße für Idioten und Halbidioten, wie und wo man sie auch erziehen mag.“ 

Diesem reihe ich an Dr. med. Kind, geboren zu Döben bei Grinma, wo 
sein Vater Kantor war. Auf dem Lehrerseminar in Grimma vorgebildet, war 
er bis 1849 an mehreren, namentlich Privatschulen tätig und wurde dann als 
Lehrer an der Erziehungsanstalt für Schwach- und Blödsinnige des Dr. Kern 
bei Leipzig angestellt. 

„Hier trat,“ wie Dr. Köhler im Nekrologe-Kind (Zeitschr f. Psychiatrie 
41. Bd., 1885) schreibt, „der Wendepunkt in seinem Leben ein. Kern, welcher 
als ehemaliger Taubstummenlehrer schon seit 1839 der Idiotenbildung sein 
ganzes Interesse zugewendet, das Unzureichende bloßer Pädagogenbildung er- 
kannt hatte und 1847 mit einem Teil seiner schwachsinnigen Zöglinge zum 
Zweck des akademischen Studiums der Medizin nach Leipzig übergesiedelt war, 
schuf in Kind die gleiche Überzeugung und war die Veranlassung, dass der- 


138 

selbe nach glücklich überstandener Maturitätsprüfung sich gleichfalls dem Studium 
der Medizin mit Ernst und Eifer hingab. So trat der eigentümliche Umstand 
ein, dass zu derselben Zeit drei in derselben Anstalt tätige Personen neben 
dem pädagogischen Beruf dem medizinischen Studium oblagen: Kern, Kind und 
Referent (Köhler), welcher als Mediziner sich mit Unterricht schwachsinniger 
Kinder beschäftigte nach dem in Kern zur Überzeugung gelangten Prinzip: 
„cura fatuitatis et medica et paedagogica consocianda“ (Dissertation Kerns: 
Die ärztliche und pädagogische Behandlung des Schwachsinns müssen gemein- 
sam stattfinden). 

Kind erwarb sich 1860 nach Verteidigung seiner Dissertation: De cranio, 
cerebro, medulla spinali et nervis in idiotia primaria (Über den Schädel, das 
Gehirn, das Rückenmark und die Neıven bei der Idiotie) die Doktorwürde, blieb 
zunächst als Lehrer und Hausvater in der Kern’schen Anstalt, praktizierte 
dann in Grimma 2 Jahre und wurde 1868 zum Direktor der Anstalt zur Er- 
ziehung schwachsinniger Kinder zu Langenhagen ernannt, wo er bis zu seinem 
Tode 1885 wirkte. 

Wie viele andere werden sich auch manche der Leser dieser Zeitschrift 
von den Konferenzen her, denen er beiwohnte, des biedern, anspruchslosen, ge- 
lehrten, für sein Fach ganz aufgehenden Mannes rühmlichst erinnern. 

Er schrieb, den Boden der Psychiatrie betretend: Über das Längenwachstum 
der Idioten (Archiv f. Psych. u. Nervenkrankheiten, 6. Bd., 1876), über die ge- 
schwisterlichen Verhältnisse der Idioten (Zeitschr. f. Psych 33 Bd. 1877), über 
die Idiotenfrage in legislatorischer Beziehung, Bericht auf der Jahresversammlung 
des Vereins der Deutschen Irrenärzte 1879 zu Heidelberg (Zeitschr. f. Psych., 
36 Bd, 1880), über den Einfluss der Trunksucht auf die Entstehung der Idiotie 
(Zeitschr. f. Psych., 40. Bd, 1884). 

Das sind die Männer, welche als Lehrer, begeistert für ihr Fach, Fühlung 
suchten mit der Medizin, zur besseren Kenntnis des Schwachsinns und damit 
zum Wohle ihrer Zöglinge, schliesslich Medizin studierten, den Boden der 
Psychiatrie betraten und weiter wirkten in ihrem Lelhrfache. 

Und wenn sie auch Schwachsinnige höheren Grades erzogen und unter- 
richteten als die in Hilfsschulen befindlichen Schwachbefähigten — ihre Er- 
ziehung, ihr Unterricht hatten gleiche Ziele, sie decken sich, wenn auch nur 
in einer Abstufung. 

De fatuitatis cura medica et paedagogica consocianda, die Behandlung des 
Schwachsinns muss gemeinschaftlich eine ärztliche und eine pädagogische 
sein — dieser Satz Kern's gilt bei Schwachsinnigen höheren, mittleren und 
geringen Grades. 


—— 


Wie vermittelt die Hilfsschule ihren Zöglingen 


die Kenntnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse? 
Von Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfsschule in Düsseldorf. 
Wie das Ablesen der Zeit von der Uhr, so macht auch das Unterscheiden 
und Erlernen der verwandtschaftlichen Verhältnisse unsern schwachbegabten 


4. on nn 


Schülern viel Kopfzerbrechen. Das kann auch nicht anders sein, da die einzelnen 
Neben- und Untergrade der Verwandtschaft, je nach der Stelle, von welcher aus 
man sie betrachtet, ihre Namen ändern, so dass die ganze Verwandtschaftsreihe 
einem Kinde, dessen Horizont beschränkt ist, das sich nicht in diese feinen 
Unterschiede bineinversetzen kann, wie Kraut und Rüben durcheinanderläuft. 
In den meisten Fällen sind für schwachveranlagte Schüler alle Menschen, die 
sie nicht mit ihrem Vor- oder Zunamen bezeichnen, ausser Vater, Mutter, Bruder, 
Schwester, Grossvater und Grossmutter einfach nur Onkel und Tante, zumal in 
einer Grossstadt, wo sie manchmal ihre Verwandten kaum kennen lernen. 
Was die Kenntnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse betrifft, so könnte sich 
der Schwachbegabte glücklich preisen, der mit dem Knappen Veit in „Undine* 
singen kann: „Vater, Mutter, Schwestern, Bıüder hab’ ich auf der Welt nicht 
mehr“, weun er ihrer nicht so häufig und so notwendig bedürfte. Aber auch 
selbst dann, wenn er keine Verwandten hat, treten ihm im Leben die ver- 
schiedenen Bezeichnungen zu oft entgegen, als dass er das Verständnis ihrer 
Bedeutung entbehren köunte. Darum bleibt der Hilfsschule nichts anders übrig, 
als darüber nachzusinnen, auf welche Weise sich dieses Gebiet am besten be- 
ackern lässt, wie sie ihre Schüler systematisch von Stufe zu Stufe in die Ver- 
wandtschaftsgrade einführen und sie dadurch auch von einem Teile des Bannes 
befreien kann, der ihren Geist umlagert. Derartige Dinge leruen sie nun einmal 
am allerwenigsten aus sich selbst, und doch ist die Kenntnis derselben ihnen 
schon deshalb nötig, weil ihr geistiger Standpunkt nicht selten nach solchen 
Kleinigkeiten, für welche manche Leute sie halten, beurteilt wird. In mehreren 
Hilfsschulen hängt die sinnreiche Tafel zur Verauschaulichung der Verwandtschafts- 
verhältnisse von Th. Giertz, welche allerdings in erster Linie für Taubstumme 
berechnet ist. Bei aller Anerkennung, die wir dem verehrten Verfasser für 
seine schöne Arbeit zollen, müssen wir jedoch erklären, dass seine Tafel für 
Hilfsschüler zu schwer verständlich ist. Die Hilfsschule geht eben am zweck- 
mässigsten von der unmittelbaren Anschauung aus und zwar, um die Wechsel- 
beziehung in den Bezeichnungen für verschiedene Menschengruppen den Kindern 
zum Bewusstsein zu bringen, zunächst von Lehrer und Schüler, Knaben und 
Mädchen. Die Übungen verteilen sich demnach auf folgende Gruppen, welche 
nach und nach behandelt werden: 
I. Gruppe: Allgemeine Verhältnisse. 
II. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch Geburt. 
Ill. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch erste Heirat. 
IV. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch zweite Heirat. 
V. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch Adoptierung. 
VI. Gruppe: Entferntere Verwandtschaftsverhältnisse. 
VII. Gruppe: Allgemeine Wiederholung. 


I 


1. Wer steht vor euch? Was seid ihr? Wie sagt der Lehrer zu euch? 
Wie sagt ihr zu mir? 


140 


2. Die Knaben treten aus den Bänken. Wer steht im Schulzimmer? Wer 
sitzt in den Bänken? Wie sagt der Lehrer, wenn diese aufstehen sollen? 

3. Wen hat Gott zuerst erschaffen? Was war Adam? Wen hat er dann 
erschaffen? Was war Eva? Wie sagte Adam zu Eva, wenn er sie nicht beim 
Namen nannte? Wie sagte Eva zu Adam? Wer ist auch Mann und Frau? 
Wie sagt der Vater zur Mutter? Wie die Mutter zum Vater? 


Ia. 

Hier fängt schon die Schwierigkeit des Auseinanderhaltens der Begriffe 
„Sohn, Tochter, Bruder und Schwester“ an. 

Wer gibt euch Nahrung und Kleidung? Warum könnt ihr euch noch keine 
Kleidung kaufen? Wer gibt euern Eltern das Geld dazu? Was müssen sie 
dafür tun? Warum könnt ihr noch kein Geld verdienen? Was seid ihr? Wie 
sagen darum die Eltern zu euch? Wie nennt ihr Vater und Mutter? Wie sagen 
die Eltern von ihren Knaben (Jungen)? Wie nennen sie ihre Mädchen, wenn 
sie den Namen nicht gebrauchen? Wer sorgt für die Söhne und Töchter? 
Wen sollen Söhne und Töchter lieb haben? Wie hiessen die Söhne Adams? 
Wie hiess der Sohn Abrahams? Wie hiessen die Söhne Isaaks? Wie viele 
Söhne hatte Jakob? Wie hiess der Vater unseres Kaisers? Wie die Mutter? 
Wie nennt der Kronprinz unsern Kaiser? Wie der Kaiser den Kronprinz? 
Wie die kleine Prinzessin Luise? Wie schreiben die Knaben unter den Neu- 
jahrsbrief an die Eltern? Wie die Mädchen? Wie die Kinder über den Neu- 
jahrsbrief, wenn Vater und Mutter noch beide leben, wenn der Vater tot ist, 
wenn die Mutter tot ist? Wie nannte Joseph den Jakob, wie Jakob den Isaak, 
wie Isaak den Abraham? Wie Abel die Eva, wie Kain den Adam? Wie nannte 
Maria den Knaben Jesus, wie Jesus die Maria? Wie bist du mit deinem Vater 
verwandt? Wie ist deine Mutter dir verwandt? Wer keinen Vater und keine 
Mutter mehr hat, ist Waise? Was ist denn eine Halbwaise ? 


IIb. 

Wie viele Söhne haben deine Eltern? Wie viele Töchter? Wie nennst 
du die Töchter deiner Eltern? Wie nennen die Töchter die Söhne? Wie viele 
Schwestern hast du? Wie viele Brüder hast du? Wie viele Brüder hatte 
Jakob, Joseph? Wie viele Schwestern hatte Joseph, Rachel? Wie heisst der 
Bruder unseres Kaisers? Wie viele Schwestern hat unser Kaiser? Wie nennen 
die Schwestern des Kaisers den Prinz Heinrich? Wie die Prinzessin Luise den 
Kronprinz? Wie sagt der Kronprinz zur Prinzessin Luise? Wie Joseph zu 
Benjamin? Wie Juda zu Simeon? Wie sagte das Mädchen zu Moses, das in 
der Ferne stehen blieb, wie zu Aaron? Wie war Moses dem Mädchen verwandt? 
Wie das Mädchen dem Moses, dem Aaron? Wie bist du dem Sohne, der 
Tochter deines Vaters verwandt? Wie der Tochter deiner Mutter, dem Sohne 
deiner Mutter? Wie ist die Tochter deines Vaters, der Sobn deiner Mutter dir 
verwandt? (Es ist ungemein wichtig, die Verwandtschaft immer vom Stand- 
punkt der Ascendenz wie auch der Descendenz angeben zu lassen.) Wie schreibst 
du über einen Brief an deinen Bruder, an deine Schwester? Wie schreibst du 


141 


unter den Brief an deinen Bruder, an deine Schwester? Wie schreibt deine 
Schwester über einen Brief an dich? Wie schreibt sie darunter? Wie ent- 
schuldigt deine Schwester dich beim Lehrer, wenn du nicht zur Schule kommen 
kannst? Wie deinen Bruder, deine Schwester? 


IIc. 


Wie sagt dein Vater zu deiner Schwester, wenn er sie nicht beim Namen 
ruft? Wie nennt deine Mutter deinen Bruder, deine Schwester? Wie nannte 
Jakob die Brūder Josephs? Wie nannten die Brüder Josephs den Jakob? Wie 
nennt Prinz Heinrich den Vater, die Mutter des Kaisers? Wie nannte Kaiser 
Friedrich den Bruder unseres Kaisers, wie dessen Schwestern? Wie nennen 
die Schwestern des Kaisers den Prinz Heinrich? u. s. w. 

Wie nennt man Schwestern und Brūder mit einem gemeinsamen Namen? 
Wie nennen die Schwestern sich einander, wie die Brüder? (nicht Gebrüder). 


IId. 


Wie nennst du den Vater deines Vaters, deiner Mutter? Wie viele Gross- 
väter habt ihr, wenn keiner noch gestorben ist? Wer hat noch beide Grossväter? 
Wer hat nur einen? Welcher ist das? Wie sagt ihr zu der Mutter eures 
Vaters, eurer Mutter? Wie viele Grossmütter habt ihr also auch? Wer hat 
sie noch beide? Wer hat nur noch eine? Welche ist das? Welche ist denn 
gestorben? Wenn wir sagen wollen, dass es die Mutter des Vaters ist, so 
müssen wir sie nennen: die Grossmutter „aus Vaters Haus“ oder „vom 
Vater her“ oder „väterlicherseits“. Was wirst du denn hinzusetzen, wenn die 
Mutter deiner Mutter gemeint ist? Was, wenn der Vater deines Vaters be- 
zeichnet werden soll? Was, wenn der Vater deiner Mutter gemeint ist? Wie 
hiess der Vater Josephs? Wie der Vater Jakobs? Wie musste Joseph zu 
“ Isaak sagen? Wie hiess der Vater Jakobs? Wie der Vater Isaaks? Wie nannte 
also Jakob den Abraham? An der Wand hängen 3 Kaiserbilder; Wilhelm I. 
Friedrich III. und Wilhelm II. Wie heisst der Vater unseres Kaisers? Wie der 
Vater Friedrichs lII.? Wer war also der Grossvater unseres Kaisers? Wie 
heisst der Vater unseres Kronprinzen? Wie der Vater unseres Kaisers? Wie 
war Kaiser Friedrich mit unserm Kronprinzen verwandt? Wie sagt mein Sohn 
zu meinem Vater, zu meiner Mutter? 

Wie heisst der Vater unseres Kronprinzen? Wie die Mutter unseres Kaisers? 
Wie ist die Mutter unseres Kaisers mit dem Kronprinzen verwandt? Wie hiess 
die Mutter des Kaisers Friedrich IH.? Wessen Grossmutter war sie? Wessen 
Grossmutter ist meine Mutter? Wie schreibst du über einen Brief an den Vater 
deines Vaters, deiner Mutter? Wie an die Mutter deines Vaters, deiner Mutter? 
Wie bist da mit deinem Vater verwandt? Wie mit deiner Mutter? Dein 
Grossvater sagt zu dir „Enkel“. Grossmutter sagt auch wohl mal: „Mein Engel“, 
aber nur dann, wenn du brav bist, sonst bist du ihr Enkel. Sprich: „Ich bin 
der Enkel meines Grossvaters und meiner Grossmutter.“ Wessen Enkel ist der 
Kaiser, der Kronprinz? Wie schreibst du unter einen Brief an deinen Gross- 
vater, an deine Grossmutter? 


142 


IIe. 


Wie schreibt deine Schwester darunter? Sage: „Meine Schwester ist die 
Enkelin meines Grossvaters und meiner Grossmutter. Mein Grossvater ist auch 
der Grossvater meiner Schwester. Meine Grossmutter ist auch die Grossmutter 
meiner Schwester.“ Wessen Grossvater ist der Grossvater des Kronprinzen, des 
Kaisers auch? Wie hiess der Enkel Abrahams, Isaaks? Wessen Enkel ist mein 
Sohn, wessen Enkelin meine Tochter? Wie nennt dein Vater deinen Grossvater 
väterlicherseits, deine Grossmutter väterlicherseits? Wie ist deine Grossmutter 
mütterlicherseits mit deiner Mutter verwandt? Wie dein Grossvater mütterlicher- 
seits? Wie sagt dein Grossvater, deine Grossmutter väterlicherseits zu deinem 
Vater? Wie dein Grossvater, deine Grossmutter mütterlicherseits zu deiner 
Mutter? Wie viele Enkel hat dein Grossvater, deine Grossmutter in euerem 
Hause? Wie viele Enkelinnen? Wer ist der Enkel des Grossvaters? Wer die 
Enkelin? Wer ist der Enkel, die Enkelin der Grossmutter ? 


If. 


Wessen Vater hat einen Bruder? Wie heisst der Bruder deines Vaters? 
Wie nennst du ihn? Auch der Bruder deiner Mutter ist dein Oheim oder Onkel. 
Wie viele Oheime väterlicherseits, mütterlicherseits hast du? Wie ist denn die 
Schwester deines Vaters, deiner Mutter ınit dir verwandt? Wie viele von deinen 
Tanten väterlicherseits leben noch? Wie viele Tanten mütterlicherseits sind 
schon tot? Wenn der Bruder deines Vaters oder deiner Mutter verheiratet ist, 
so nennst du deren Frauen auch Tante. Ist die Schwester deines Vaters oder 
deiner Mutter verheiratet, so sind deren Männer auch deine Oheime. Wie heisst 
der Oheim väterlicherseits unseres Kronprinzen? Wie viele Tanten väterlicher- 
seits hat er? Ist die Frau des Prinzen Heinrich seine Tante väterlicher- oder - 
mütterlicherseits? Kennst du einen Oheim Josephs? Hatten Kain und Abel 
auch einen Onkel und eine Tante? Warum denn nicht? Wie sagen denn 
Onkel nnd Tante zu dir, Joseph? Du weisst es nicht, sie sagen zu dir „Neffe“ 
und zu deiner Schwester „Nichte“. Wie bist du also mit deinem Oheim ver- 
wandt, Joseph? Sprich: „Ich bin der Neffe meines Oheims. Ich bin auch der 
Neffe meiner Tante.“ Sage das auch, Jakob, Hermann, Wilhelm! Wie nennen 
Onkel und Tante dich, Gertrud? Sage: „Ich bin die Nichte meines Onkels und 
meiner Tante.“ Wiederhole du das, Anna, Elisabeth, Thusnelda! Was schreibst 
du über einen Brief an deinen Onkel, Joseph? Was darunter? Was schreibst 
du darüber Gertrud? Was darunter? Was schreibt dein Oheim über einen Brief an 
dich, Jakob? Was an dich Thusnelda? Was schreibt er darunter? Wie heisst 
ein Neffe des Prinzen Heinrich? Wie heisst eine Nicbte desselben? u. s. f. 


Ilg. 


Hat dein Vater auch Neffen? Wer ist das? Wie sind die Nichten deines 
Vaters mit ihm verwandt? Wessen Kinder sind es? Wie nenut deine Mutter 
die Söhne ihres Bruders, ihrer Schwester, des Bruders oder der Schwester deines 


143 


Vaters? Wie sagt dein Vater zu den Töchtern seines Bruders, seiner Schwester, 
des Bruders oder der Schwester deiner Mutter? Wie sind die Söhne der Frau 
seines Bıuders mit deinem Vater verwandt? Wie deren Töchter? Wie nennt 
der Vater die Söhne des Mannes seiner Schwester? Wie die Töchter? Was 
sagt deine Mutter zu den Töchtern der Frau ihres Bruders, des Mannes ihrer 
Schwester? Wie nennt der Prinz Heinrich die Söhne der Kaiserin? Wie die 
Kaiserin die Tochter des Prinzen Heinrich? Wie ist der Prinz Heinrich mit 
der Tochter der Kaiserin verwandt? Welche Neffen Esaus kennst du? Hatte 
Isaak auch einen Neffen, eine Nichte väterlicherseits? Warum denn nicht? Wie 
nennt der Bruder deines Vaters deine Schwester? Wie die Frau des Bruders 
deiner Mutter? Wie viele Oheime, Tanten hat dein Bruder, deine Schwester? 

Dass vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt und von Ernst zu 
heiterm Scherz oft nicht weit ist, das musste ich einınal erfahren, als ich mich 
schon zum hundertsten Male bemühte, einem meiner Zöglinge die verwandt- 
schaftlichen Beziehungen zu dem Bruder seines Vaters und umgekehrt einzu- 
prägen. Die Sache möge hier kurz Erwähnung finden zu Nutz und Frommen 
aller, denen bei der überaus grossen Schwierigkeit dieser Materie für unsere 
Kinder manchmal der Mut entsinken möchte, denen aber eine ganz ausserhalb 
des Ralımens der Besprechung liegende Antwort, welche den etwas humorvoll 
ungelegten Erzieher anstatt zum Ärger über die vergebliche Mühe zur Heiterkeit 
stimmt, so recht ins Bewusstsein ruft: „Versuche es noch einmal mit diesem 
geistig armen Kinde, vielleicht krönt jetzt ein Erfolg dein Werk.“ Darum also, 
bitte, Verzeihung für die kleine Abschweifung! Auf meine Frage an die Schüler: 
„Hat dein Vater einen Bruder?“ erfolgte prompt die Antwort: „Ja.“ Wo 
wohnt der Bruder deines Vaters? „In Rheydt“ Darauf sagte ich: „Schön 
nächsten Sonntag sollst du nach Rheydt fahren. Du gehst dann zu dem Hause, 
wo der Bruder deines Vaters wohnt uud schellst dort. Die Tür wird geöffnet, 
und siehe, der Bruder deines Vaters steht vor dir.“ Wie wirst du ibn anreden? 
„Guten Morgen, lieber Onkel!“ „Recht, deine Schwester fährt auch einmal hin, 
der Onkel öffnet wieder.“ Wie wird der Onkel zu deiner Schwester sagen? 
„Guten Morgen, liebe Nichte!“ „Dein Vater fährt auch nächstens zu deinem 
Onkel in Rheydt.“ Bevor ich jedoch die Frage, wie der Vater den Onkel an- 
reden werde, stellen konnte, gab er die Antwort: „Nein, der Vater fährt nicht 
nach Rheydt.“ „Doch,“ sage ich, „er wird demnächst einmal hinfahren.“ Aber 
wiederum erhielt ich zur Antwort: „Nein.“ Schon wollte ich verzagen, da 
dachte ich an den Ausspruch Sailers von der Hauptsumme der Lehrertugenden 
und wiederholte zum dritten Male mit erhöhtem Nachdruck: „Du bist gefahren, 
deine Schwester ist gefahren, nun soll dein Vater auch einmal hinfahren.“ 
Da aber platzte die Bombe, und er antwortete: „Nein, nein, der fährt sicher 
nicht hin, der ist neulich nicht zur Hochzeit eingeladen worden.“ Das brachte 
für mich die vollständige Erlösung aus schwerer Not; ich musste unwillkürlich 
laut auflachen bei dem Gedanken, dass ich den schwachbefähigten Schüler in 
seine Familienverhältnisse einweihen wollte, er aber nun mich in des Wortes 
ureigenster Bedeutung in dieselben eingeweiht hatte. 


144 


Ih. 


Wie viel Söhne hat dein Oheim? Wie viel Töchter? Zu ihnen sagt dein 
Vater oder deine Mutter „Neffen oder Nichten“. Das dürft ihr aber nicht 
sagen. Die Söhne eures Oheims sind eure Vettern, die Töchter eure Cousinen. 
(Es ist eigentlich nicht zu begreifen, warum die französische „Cousine“ noch 
immer zum feinen Ton gehört. Gibt es denn kein schönes deutsches Wort für 
diese Dame. Wir würden, wenn es uns gestattet wäre, darin ein Wörtchen mit- 
zureden, selbst auf die Gefahr hin, dass man uns einer etymologischen Un- 
wissenheit zeihen würde, das Wort „Base“ und wenn sie klein und niedlich 
wäre, die Bezeichnung „Bäschen“ anwenden. Bei vielen Schriftstellern werden 
denn auch tatsächlich „Vettern und Basen“, sei es nun als wohlwollende oder 
auch als klatschsüchtige und ränkeschmiedende zusammen in Bewegung gesetzt. 
Wie sich der deutsche Sprachverein zu dem Fremdwort „Cousine“ stellt, ist uns 
nicht bekannt.) Sie nennen euch auch Vettern und Cousinen. Wenn ihr also 
an einen Vettern schreibt, so setzt ihr über den Brief: „Lieber Vetter“ und 
darunter „euer Vetter“. Wie schreibst du nun über, wie unter den Brief an 
deine Cousine, Joseph? Wie schreibt deine Cousine über, wie unter den Brief 
an dich, Joseph? Wie schreibst du über, wie unter einen Brief an deine Cousine, 
Johanna? Wie über und unter den Brief an deinen Vetter, Elise? Nenne ein- 
mal alle deine Oheime mit ihrem Vor- und Zunamen! Nenne die Vornamen 
der Kinder deines Oheims N.! Wie ist der Sohn H. mit dir verwandt? Wie 
die Tochter 2.? Die Kinder aller Oheime und Tanten sind eure Vettern und 
Cousinen. Wie viele Vettern hast du nun? Zähle sie einmal auf! Wie viele 
Cousinen? Zähle sie auch! Wie viele Vettern und Cousinen hat deine Schwester? 
Warum hat sie genau so viele wie du? Kennst du einen Vetter des Kronprinzen? 
Wie sagt der Kronprinz zu den Söhnen der Schwestern seines Vaters? Wie zu 
. den Töchtern des Bruders seiner Mutter? 

Da der heimatkundliche Unterricht in der Hilfsschule, was die Geschichte 
betrifft, nur vom regierenden Kaiser als Sohn — wenigstens einstweilen noch — 
ausgeht, und in der Ascendenz bis auf den Grossvater, von diesem Punkte aus ge- 
rechnet, reicht und höchstens noch den Prinzen Heinrich und die kaiserlichen Kinder 
in seinen Bereich zieht, so ist es selbstverständlich, dass das Gedächtnis unserer 
schwachbefähigten Schüler nicht mit noch mehr Namen als eben nötig, belastet 
wird, damit sie nicht schliesslich alle kaiserlichen Verwandtschaftsverhältnisse, 
auch die, welche sie notwendig kennen sollen, miteinander verwechseln. Gerade 
zur Einprägung der unumgänglichen Begriffe in dieser Beziehung empfehlen 
sich feststehende Merksätze im Anschlusse an die betreffenden Einzel- und 
Familienbilder. 

Illa. 

Wessen Grossvater mütterlicherseits lebt noch? Wie ist deine Mutter mit 
ihm verwandt? Ist er auch der Vater deines Vaters? Dein Vater sagt von 
ihm: „Er ist mein Schwiegervater.“ Wie wird dein Grossvater mütterlicher- 
seits wohl zu deinem Vater sagen? Wie die Grossmutter mütterlicherseits? 
Wie nennt dein Vater deine Grossmutter mütterlicherseits? Wer hat noch einen 


145 


Grossvater väterlicherseits? Was sagt dein Vater von ihm? Deine Mutter 
auch? Weisst du, wie deine Mutter ibn nennt? Wie ist denn deine Mutter 
mit deinem Grossvater väterlicherseits verwandt? Wie nennt deine Grossmutter 
väterlicherseits deine Mutter? Wie deine Mutter diese Grossmutter? Wie 
schreibt dein Vater an deinen Grossvater mütterlicherseits über, wie unter den 
Brief? Wie deine Mutter an deine Grossmutter väterlicherseits? Wie an deinen 
Grossvater väterlicherseitse? Wie schreibt dein Grossvater väterlicherseits an 
deine Mutter über und unter den Brief? Wie deine Grossmutter mütterlicher- 
seits an deinen Vater? Vater und Mutter sind Mann und Frau, oder Gatte 
und Gattin, oder Gemahl und Gemahlin. Wie wird nun der Vater, die Mutter 
des Mannes von der Frau genannt? Wie der Vater, die Mutter der Frau von 
dem Manne? Wie nennt der Vater, die Mutter des Mannes die Frau desselben? 
Wie der Vater, die Mutter der Frau den Mann der Frau? Wie viele Schwieger- 
töchter hatte Noe? Wer war das? Wie hiess der Schwiegervater unserer 
Kaiserin? Wie der Schwiegervater der Kaiserin Friedrich? Wie die Schwieger- 
mutter unserer Kaiserin? Wie nannte Kaiser Friedrich unsere Kaiserin? Wie 
nannte die Frau des Prinzen Heinrich den Kaiser Friedrich? Wie nennst du 
den Schwiegervater deines Vaters, deiner Mutter? Wie nennst du die Schwieger- 
mutter, den Schwiegervater deiner Mutter? Wie nennt der Schwiegervater 
deines Vaters, deiner Mutter dich? 


IIIb. 


Wer von euch hat eine Schwester, welche schon verheiratet ist? Wie sagt 
dein Vater zu deiner Schwester? Wie zu dem Manne deiner Schwester? Wie 
aber sagst du zu ihm? Was ist er? Wie sagt er also zu dir? Wie bist du 
also mit ihm verwandt? Wer von euch hat einen verheirateten Bruder? Wie 
sagt deine Mutter zu deinem Bruder? Wie zu der Frau deines Bruders, dem 
Manne deiner Schwester? Wie sagst du zu der Frau deines Bruders? Wie ist 
sie mit dir verwandt? Wie bist du mit ihr verwandt? Die Frauen aller deiner 
Brüder nennst du Schwägerinnen? Wie nennst du die Männer aller deiner 
Schwestern? Wie sagt denn dein Vater zu der Frau seines Bruders, dem Manne 
seiner Schwester? Wie ist deine Mutter mit der Frau ihres Bruders, dem Manne 
‚ihrer Schwester verwandt? Hast du einen Onkel väterlicherseits? Wie ist er 
mit deinem Vater verwandt? Wie kann er aber mit ihm verwandt sein? Wen 
hat er dann geheiratet? Wie ist dein Onkel mütterlicherseits mit deiner Mutter 
verwandt? Wie kann er aber auch mit ihr verwandt sein? Wen hat er dann 
geheiratet? Wie sagt dein Vater zu ihm? Wie sagt deine Mutter zu ihm, 
wenn er ihre Schwester geheiratet hat? Wie sagt dein Vater zum Bruder, zur 
Schwester deiner Mutter? Wie nennt deine Mutter die Frau des Bruders deines 
Vaters? Wie ist der Bruder deines Vaters mit deiner Mutter verwandt? Wie 
ist dein Vater mit dem Manne der Schwester deiner Mutter verwandt? Wie 
sagst du zum Schwager deines Vaters? Wie nennst du den Schwager, die 
Schwägerin deiner Mutter? Wie nennt die Schwägerin deines Vaters dich? Wie 
bist du mit dem Schwager deiner Mutter verwandt? Wie nannte Sem die 


146 


Frauen von Cham und Japhet? Wie war die Frau Japhets mit Cham, mit 
dessen Frau verwandt? Wie sagte die Frau des Cham zu der Frau des Sem? 
Wie nennt der Kaiser die Frau seines Bruders Heinrich? Wie nennt die 
Kaiserin den Prinzen Heinrich® Wie ist der Kaiser mit dem Gemahl seiner 
Schwester verwandt? Wie mit dem Bruder seiner Gemahlin? Wie sagt seine 
Schwester zur Kaiserin? Wie nannte die Frau des Jakob die Frau des Esau? 
Wie war die Frau des Joseph mit Benjamin verwandt? Wie sagte die Frau 
des Juda zur Frau des Simeon? Wessen Vater hat keine Schwäger? Warum 
denn nicht? Wessen Mutter hat keine Schwägerinnen? Hatten Adam und Eva 
Schwäger, Schwägerinnen? Warum wohl nicht? Hatte die Frau des Isaak 
Schwäger und Schwägerinnen® Warum nicht? Wie ist dein Schwager, deine 
Schwägerin mit deineın Vater, deiner Mutter verwandt? Wie nennst du den 
Schwiegersohn, die Schwiegertochter deines Vaters? Wie bist du mit dem 
Schwiegersohn, der Schwiegertochter deines Vaters, deiner Mutter verwandt? 
Wie nannte Sem die Schwiegertöchter seines Vaters? Alle? Welche denn 
nicht? Wie sagt deine Schwägerin zu den Söhnen deines Vaters? Welcher ist 
ausgenommen? Wie sagt sie zu den Schwiegertöchtern deiner Mutter? Ist 
eine ausgenommen? Wer von euch hat keinen Schwager, keine Schwägerin? 
Warum denn nicht? Wann wirst du denn Schwager, Schwägerin werden? 
Schwager und Schwägerin sind dir durch ihre Heirat mit deiner Schwester, 
deinem Bruder verwandt geworden, ihr seid verschwägert. Vater, Mutter, 
Bruder, Schwester, Grossvater, Grossmutter, Onkel und Tante sind dir seit 
deiner Geburt, von deiner Geburt an verwandt gewesen. Nenne die Verwandten 
deines Vaters seit seiner Geburt, die du kennst. Seit wann ist deine Mutter 
deinem Vater verwandt? Seit wann seine Schwiegersöhne®? Bei diesen Fragen, 
die mitunter recht schwer zu beantworten sind, wird der Lehrer häufig Ge- 
legenheit haben, die Verhältnisse zu entwickeln. Selbstverständlich beteiligen 
sich alle Schüler an dieser Geistesarbeit, auch wenn die Frage an einen 
Schüler gestellt ist. 
IV. 

Wer hat einen zweiten Vater, eine zweite Mutter? Wie bist du damit 
verwandt? Wie ist der zweite Vater, die zweite Mutter mit dir verwandt? 
Wie sagt deine zweite Mutter zu deiner älteren Schwester? Wie zu deinem 
älteren Bruder? Wie viele Söhne, Töchter hatte dein Vater, als er zum zweiten 
Male heiratete? Wie sagt deine Stiefmutter zu diesen? Wie sagen diese zu 
deiner zweiten Mutter? Wie sagst du zu ihnen? Das sind deine rechten Brüder 
und Schwestern? Wie viele Söhne hatte deine Mutter, als sie zum zweiten 
Male heiratete? Wie sagst du zu ihnen? Wie dein zweiter Vater? Wie ist 
dein Stiefvater mit diesen verwandt? Wie viele Söhne haben dein Stiefvater 
und deine Mutter, dein Vater und deine Stiefmutter? Wie nennst du diese 
Kinder? Es sind deine Halbbrüder. Wie viele Töchter haben dein Vater und 
deine Stiefmutter, dein Stiefvater und deine Mutter? Wie wirst du diese nennen? 
Wie nennt deine Stiefmutter, dein Stiefvater sie? Wie nennt dein Stiefvater, 
deine Stiefmutter euch Kinder vom ersten Vater, von der ersten Mutter? Wie 


147 


war Juda mit Joseph, Simeon mit Benjamin verwandt? Warum waren es Halb- 
brüder? Hatten diese Halbbrüder den Joseph lieb? Das war nicht recht; auch 
Halbbrüder und Halbschwestern sollen sich lieben. Sie haben ja denselben 
Vater (dieselbe Mutter). Ebenso muss man seinen Stiefvater und seine Stief- 
mutter von Herzen gern haben; sie vertreten Gottes Stelle und die Stelle des 
verstorbenen Vaters oder der verstorbenen Mutter. Diese sehen vom Himmel 
herab auf euch, ob ihr diesen auch gehorsam seid. Auch Stiefvater und Stief- 
mutter, Halbbruder und Halbschwester müsst ihr unterstützen, wenn sie in Not 
geraten. Kann ein Kind auch wohl einen Stiefvater und eine Stiefmutter zugleich 
baben? Wann denn? Diesen soll es erst recht dankbar sein dafür, dass sie 
ihm Wohnung, Nahrung und Kleidung geben, denn wenn es die Stiefeltern 
nicht bätte, so wäre es ganz verwaist und verlassen. Wie nennst du denn die 
Brüder, die Schwestern deiner zweiten Mutter, deines zweiten Vaters? Wie 
nennen sie dich? Wie ist der Vater deines zweiten Vaters, deiner zweiten 
Mutter mit dir verwandt? Wie bist du mit ihnen verwandt? Wie nennen sie 
dich also? Wie nennt dein erster Vater denn die Brüder und Schwestern seiner 
zweiten Frau? Wie nennt dein zweiter Vater die Brüder, Schwestern deiner 
ersten Mutter? Wie sagt deine erste Mutter denn zu den Brüdern und Schwestern 
deines zweiten Vaters? Wie sagt deine zweite Mutter zu den Brüdern und 
Schwestern deines ersten Vaters? Wie ist dein Grossvater väterlicherseits mit 
deiner zweiten Mutter verwandt? Wie deine Grossmutter väterlicherseits? Wie 
ist dein Grossvater mütterlicherseits mit deinem zweiten Vater verwandt? Wie 
deine Grossmutter mütterlicherseits? Wie nennt deine zweite Mutter den Gross- 
vater väterlicherseits? Wie nennt dein zweiter Vater deinen Grossvater mütter- 
licherseits? Wie deine Grossmutter mütterlicherseits? Wie sagt deine zweite 
Mutter zu der Grossmutter väterlicherseits? Wer ist dein Stiefbruder? Wer 
deine Stiefschwester ? 


Vs 


Manche Kinder haben keinen Vater und keine Mutter mehr; sie sind 
Waisenkinder oder Waisen. Da gibt es gute Menschen, welche sie in ihr Haus 
nehmen und für sie sorgen, als wären sie ihr Vater oder ihre Mutter. Häufig 
tun dies die Verwandten, manchmal nehmen aber auch Leute, welche diesen 
Kindern gar nicht verwandt sind, sie auf und pflegen sie wie eigene Kinder. 
Das sind dann ihre Kinder zum Pflegen oder ihre Pflegekinder. Wie nennt ein 
solches Kind den Mann, der es anstatt des Vaters pflegt? Wie die Frau, die 
es an Stelle der Mutter pflegt? Wie hiess der Pflegevater des Heilandes? 
Kinder sollen schon ihren Eltern dankbar sein durch Fleiss und Gehorsam, 
durch Liebe und ein gutes Betragen; aber noch tausend mal mehr Dank, als 
Kinder ihren Eltern, schulden Pflegekinder ihren Pflegeeltern. Was würde 
aus diesen armen Kindern werden, wenn nicht gute Pflegeeltern für sie sorgten, 
Ihr aber müsst, wenn ihr .gross geworden seid, stets solchen armen Waisen- 
kindern helfen; der Herr wird es euch sicher lohnen, denn er hat gesagt: 
„Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt .mich auf.“ 


148 


| | yI. 

Von den entferntern Verwandtschaftsverhältnissen kommen für unsere Schüler 
nur sehr wenige in Betracht. Ausgeschieden werden vor allen die Seitenlinien 
Grossonkel, Grosstante, Grossnefie und Grossnichte, schon deshalb, weil sie ja 
von normal veranlagten Menschen, wenn überhaupt als Verwandte betrachtet, 
mit den Namen „Onkel, Tante, Neffe, Nichte“ belegt werden, wie ja auch ent- 
fernter stehende Vettern und. Basen (Cousinen) einfach diesen Namen behalten. 
Die einzige Gruppe, die möglicherweise den Kindern davon noch näher steht, 
ist Urgrossvater und Urgrossmutter. Wessen Grossvater hat noch einen Vater? 
Der ist aber schon sebr alt. Wie alt ist er? Wie sagst du zu ihm? Wie 
sagst du zu seiner Frau? Was ist diese Frau? Wie alt ist sie? Wie bist du 
mit deinem Urgrossvater verwandt? Wie mit deiner Urgrossmutter? Wie 
schreibst du über und unter einen Brief an deinen Urgrossvater und deine Ur- 
grossmutter? Wie sagt dein Urgrossvater zu deinem Grossvater, zu deiner 
Grossmutter? Wie ist dein Urgrossvater denn mit. deinem Vater verwandt, 
wie mit deiner Mutter? Wie sagt deine Mutter zu deinem Urgrossvater väter- 
licherseits, mütterlicherseits? Wie sagt dein Vater zu deinem Urgrossvater 
mütterlicherseits? Wie zu deinem Urgrossvater väterlicherseits? Wie heisst 
der Urgrossvater unseres Kronprinzen? Wie seine Urgrossmutter? Wer war 
der Urenkel Abrahams? 

VII. 

Wer ist dein Bruder? Wie nennst du den Vater deiner Mutter? Wie 
sagt der Mann deiner Schwester zu dir? Wie bist du mit deinem Grossvater 
verwandt? Wie heisst die Schwester deines Vaters? Wie nennt dein Vater 
die Mutter deiner Mutter? Wie sagt der Bruder deines Vaters. zu dir? Wer 
ist dein Urgrossvater? Wie nennt deine Grossmutter dich? Wie sind die 
Töchter deines Oheims mit dir verwandt? Zu wem sagst du Schwägerin? 
Wie nennt dein Grossvater mütterlicherseits deine Mutter? Wer ist dein 
Vetter? Wie sagen Onkel und Tante zu dir? Wie nennst du die Töchter, 
die Söhne deiner Eltern? Wie bist du mit der Frau deines Bruders verwandt? 
Wie nennst du die Mutter deiner Grossmutter? Wer ist deine Tante? Wer 
auch? Wer ist deine Schwester? Wann erhält man eine Schwiegermutter? 
Wer ist das? Wer ist Pflegevater? Nenne Söhne der Schwester deiner Mutter. 
Wie sind sie mit dir verwandt? Hat dein Grossvater mütterlicherseits eine 
Tochter. Wer ist das? Wie sagst du zu dem Sohne deiner Tante? Wie sagt 
dein Grossvater väterlicherseits zu deiner Mutter? Wie bist du mit deiner 
Schwester verwandt? Wer ist deine Cousine? Wie sagt der Vater zu dem 
‚Manne seiner Tochter? Wie nennt die Schwiegertochter den Vater ihres Mannes? 
Wie heissen die Kinder, die keinen Vater mehr haben? Wie sagt deine Tante 
zu dir? Wie sagst du zu dem Vater deines Vaters? Wie bist du mit der 
Mutter deiner Mutter verwandt? Wie nennt ein Kind seine zweite Mntter? 
Wann bekommt man eine Schwägerin? Wer ist das? Wie nennt deine Schwester 
dich? Wie nennt der Vater seine Knaben? Wie nennen deine Schwestern 
deine Mutter? Wie sagt dein Oheim zu dir? In welchem Verhältnis. steht 


149 


dein Vater zu deinem Oheime mütterlicherseits? Wie ist der Schwiegervater 
deines Vaters mit deiner Mutter verwandt? Von wem wirst du Urenkel genannt? 
Wer ist ein Pflegesohn? Wie wird die Schwester des Vaters genannt? Welcher 
Grossvater ist der Schwiegervater deines Vaters? Wer sagt zu deiner Mutter 
Tochter? Wie heisst die Schwester deines Vetters? Wer ist dein Halbbruder ? 
Wie nannte Jakob die Brüder Josephs? Wie sagt deine Tante zu deiner 
Schwester? Wer ist deine Grossmutter? Wessen Sohn ist dein Vetter? Wessen 
Vater ist dein Onkel? Wer sagt zu deiner Tante „Mutter“? Wie sagt dein 
Vater zu den Söhnen deiner Tante? Wie nennt man den Sohn des Onkels? 
Wer sind Geschwister? Wie sagst du zur Schwester deines Vaters? Wie 
nennt der Mann deiner Tante dich? Wer sind Grosseltern? Wie nennt man 
die Schwester seiner Frau? Wer ist der Bruder des Mannes? Wer sagt zu 
zu dir „Sohn“? Wie ist dein Schwager mit dir verwandt? Wer ist dein Enkel? 
Welcher Unterschied ist zwischen Vetter und Neffe? Wie nennst du die Töchter 
deines ersten Vaters und deiner zweiten Mutter? Wie sagt deine Stiefmutter 
zu dir? Wer sagt zu dir Schwiegertochter? Wessen Tochter ist deine Tante 
mütterlicherseits? Wer sind Waisen? Wie nennst du den Solın deines Bruders? 
Wie nennt die Tochter deiner Schwester dich? Wann wird man Schwieger- 
vater? Wann ist dein Grossvater zuerst Grossvater geworden? Was ist ein 
Stiefvater? Wie nennt man den Vater seiner Frau? Wie bist du mit dem 
Bruder deiner Schwester verwandt? u. s. f. u. s. f. 

Dass demnach die systematische Übung der Verwandtschaftsverhältnisse 
unbedingt in den Lehrplan der Hilfsschule gehört, wird niemand bestreiten, 
welcher der Fülle von Unterscheidungen dieser Verhältnisse, wie sie in vorstehenden 
Zeilen zum kleinsten Teile gezeigt worden sind, ein einziges Mal sein Augen- 
merk zugewandt hat. Ist es nicht eine Übung des Unterscheidens, d. b. Denkens, 
wie kaum eine andere, wenn sie nur recht betrieben wird. Nicht alle Schüler 
werden das ganze Pensum verarbeiten, ımauche bleiben ganz gewiss auf halbem 
Wege stehen. Das darf aber den Hilfsschullehrer nicht abhalten, jede Gelegen- 
heit wahrzunehmen, um das in geordneter Reihenfolge Geübte bei diesen letztern 
zu erweitern, bei allen aber einzureihen und zu verwenden. Wenn wir ein 
Rechenbuch für Hilfsschulen schreiben würden, so würden wir sicherlich bei den 
angewandten Aufgaben anstatt der üblichen Benennungen „Anna Fritz u s. w.“ 
auch die Verwandtschaftsbezeichnungen in hervorragendem Maße anwenden, nicht, 
damit die Rechenstunde zu deren Erklärung benutzt werde, sondern hauptsächlich 
deshalb, damit der Lehrer gezwungen sei, mal wieder den diesbezüglichen Stoff 
‚aufzufrischen. Und kommen nicht in der biblischen Geschichte, in vielen Lese- 
-stücken, in der Heimatkunde und bei Familienereignissen der Schüler, an welchen 
die Schule innigen Anteil nehmen soll, manche Fälle dieser Art vor, die zu- 
nächst an und für sich erörtert werden und dann den Ausgangspunkt zu einer 
Wiederholung oder Nachholung, jedenfalls aber zu einem kleinen ’Streifzug durch 
das Verwandtschaftsgebiet bilden? Versäumen wir in dieser Beziehung nichts, 
denn es ist eine gewaltige Übung für den schwachen Geist; sie lebrt ihn um 
sich schauen, wenn auch in einem engern Kreise, und bereitet infolgedessen ein 


150 


Umschauhalten für grössere Kreise vor. Die Kinder lernen dadurch zugleich 
sich einfügen in die bestehende Gesellschaftsordnung durch Liebe und Gehorsam, 
zudem wird in ihnen das Gefühl rege, dass sie nicht allein stehen und nicht 
für sich allein hinträumen dürfen, sondern dass sie einer grosseu Familie ange- 
hören, von denen allerdings die einen Mitglieder sie mehr interessieren als andere, 
dass sie ferner als Mitglieder dieser Familie nicht stille stehen sollen, vielmehr 
tüchtig mitarbeiten müssen zu ihrem und dem allgemeinen Wohle, dabei in 
festem Glauben und Vertrauen den Blick nach oben wendend zu dem allgütigen 
Vater aller Menschenkinder. 


— 


Die Befreiung der Zöglinge der Hilfsschule 
vom Militärdienst. 


Vortrag von A. Müller, Lehrer an der Hilfsschule in Erfurt. 

„Nicht für die Schule, sondern für das Leben!“ sagt ein altes, wahres 
Wort. Die Schule soll erziehen für das Leben, ihre Zöglinge heranbilden zu 
brauchbaren und nützlichen Gliedern der Gesellschaft. Der erziehende Unter- 
richt soll charakterbildend wirken; das Wissen, das wir unseren Schülern über- 
mitteln, soll der Herausarbeitung der Persönlichkeit dienen, die Erziehung zum 
sittlichen Handeln das oberste Unterrichtsprinzip sein. Durch Erfüllung dieser 
Forderungen erzieht die Schule für das Leben. — Auch die Hilfsschule, die es 
mit der Erziehung geistig nicht normaler Kinder zu tun hat, soll der Forderung: 
„Nicht für die Schule, sondern für das Leben!“ nachkommen. Ihre Zöglinge 
brauchen ganz besonders eine Erziehung für das Leben; ja noch mehr, diese 
geistigschwachen, unselbständigen, wankelmütigen und leicht verführbaren Kinder 
bedürfen auch nach der Schulzeit der führenden Hand des Erziehers. Daraus 
erwächst für die Hilfsschullehrer die Pflicht, sich der aus der Schule entlassenen 
Hilfsschulzöglinge anzunehmen, ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Gar 
mannigfache Aufgaben sind da zu erfüllen. Ich will nur hinweisen auf die 
Berufswahl der Kinder, auf ihre Unterbringung bei tüchtigen Meistern, die ein 
Verständnis und warmes Herz für die Schwächen ihrer Schutzbefohlenen haben, 
auf die Fortbildungsschule, die organisch mit der Hilfsschule verbunden sein 
muss, auf die Einrichtung von Elternabenden, zu denen auch die ehemaligen 
Zöglinge der Hilfsschule mit zugezogen werden könnten. — Aber mit dieser 
Fürsorge ist es noch nicht genug getan. Die Schwachsinnigen bedürfen eines 
besonderen Schutzes im öffentlichen Leben, einer besonderen Berücksichtigung 
in der Rechtspflege Ich erinnere hier an die Frage der verminderten Zu- 
rechnungsfähigkeit, an den Nacheid. Es ist darum äusserst wichtig und zweck- 
mässig, wenn die Schülercharakteristik ein Urteil des Lehrers über den Grad 
der Zurechnungsfähigkeit des Schwachsinnigen enthält, der Lehrer als Sach- 
verständiger vom Gericht geladen wird in Strafsachen ehemaliger Hilfsschul- 
kinder. So mancher geistig Schwacher ist dadurch vor dem Gefängnis bewahrt 
worden. Besonderer Berücksichtigung bedürfen die Schwachsinnigen auch in 
militärischen Angelegenheiten. — 


151 

Sind unsere Knaben den Anforderungen, die der Militärdienst an Geist 
und Körper stellt, gewachsen? Der Militärdienst stellt an die Itelligenz und 
an den Körper des Soldaten hohe Anforderungen. Der Soldat soll kriegstüchtig 
gemacht werden; er soll selbständig, schlagfertig und schnell handeln lernen, 
seine Sinne schärfen. Er soll kriegsfertig sein, alle Pflichten und Obliegenheiten 
seines Berufes genau kennen, die nötige Sicherheit im Weaffengebrauch und 
Geschicklichkeit zu allen Dienstverrichtungen besitzen. Er soll mutig und tapfer 
sein, vor keiner Schwierigkeit und Gefahr zurückschrecken, sein Körper stark 
und kräftig zum Ertragen von Beschwerden aller Art. — 

Und nun vergegenwärtigen wir uns das psychische Leben unserer Zöglinge 
mit all den Schädigungen im Empfindungs- und Vorstellungsleben, mit dem 
Mangel an Farben-, Zeit-, Raum-, Zahlen-, Beziehungs- und Allgemeinvorstellungen 
höherer Ordnung, denken wir an den Defekt nuf dem Gebiete der komplexen 
Vorstellungen, an die Verlangsamung des Denkprozesses und vor allen Dingen 
an die gesteigerte Weckbarkeit der Aufmerksamkeit und die erhehlich gestörte 
und herabgedrückte Konzentrationsfähigkeit derselben -- der hin und wieder 
auftretenden Wahn- und Zwangsvorstellungen gar nicht zu gedenken — ver- 
gegenwärtigen wir uns ferner die Armut in ihrem Affektleben und die un- 
günstige Beeinflussung der Handlungen durch die ethischen und intellektuellen 
Defekte, die Bewegungsstörungen, den krankhaft gesteigerten Bewegungsdrang 
und im Gegensatz dazu die Trägheit und Langsamkeit ihrer Bewegungen, die 
mancherlei körperlichen Gebrechen, mit denen unsere Knaben behaftet sind, die 
epileptischen Anfälle: so müssen wir sagen, unsere Knaben sind den An- 
forderungen, die der Militärdienst an den Soldaten stellt, nicht gewachsen, sie 
sind unfäbig zum Dienst mit der Waffe. — 

Und wie geht es den geistig Schwachen während ihrer Dienstzeit, wie ge- 
staltet sich das Zusammenleben mit ihren Kameraden? Die bedauernswerten, 
in ihrer geistigen Entwicklung zurückgebliebenen Rekruten werden von ihren 
Kameraden gehänselt und veralbert; als die „Dummen“ sind sie die Zielscheibe 
des Spottes, der Gegenstand der Neckereien und schlechten Spässe. Man hat 
sie überall zum Besten; in der Stube, in der Kantine, auf dem Kasernenhofe, 
auf dem Exerzierplatze, auf dem Marsche. Wer Soldat war, weiss davon zu 
erzählen, was so ein armer Mensch, der zum Korporalschafts- oder Kompanie- 
schaf ernannt wird, zu erdulden hat. — 

Und was haben sie von ihren Vorgesetzten zu erwarten? Wir wissen, 
dass die Behandlung der Soldaten namentlich durch Unteroffiziere noch zu 
wünschen übrig lässt. Den Charakter eines geistig normalen Soldaten wird der 
Vorgesetzte mit der Zeit wohl erkennen. Ungemein schwierig aber ist es für 
die psychologisch und pädagogisch wenig oder gar nicht geschulten Unter- 
offiziere und Leutnants, das Verhalten eines geistig Zurückgebliebenen recht zu 
beurteilen. Da wird Unfähigkeit für Trotz und Bosheit, mangelnde Einsicht 
für bösen Willen gehalten, und nun folgt Strafe auf Strafe — von der Strafe- 
Stubenjour bis zum strengen Arrest — Misshandlung auf Misshandlung. — Und 
nun versetze man sich in die Lage eines solchen armen Rekruten. Von seinen 


152 


Kameraden gehänselt, veralbert, verspottet, von seinen Vorgesetzten beschimpft, 
bestraft und gemisshandelt, ist es da ein Wunder, wenn er sich zu ungesetz- 
lichen Handlungen, zur Desertion, Subordination, Misshandlung der Kameraden, 
hinreissen lässt oder Selbstmord verübt? Aus all dem Gesagten geht hervor, 
dass geistige Krüppel nicht Soldat werden dürfen, dass wir nichts unversucht 
lassen müssen, sie vom Militärdienst zu befreien. — 

Aber nicht nur unsere Zöglinge haben ein Interesse an ihrer Befreiung 
vom Militärdienst, auch die Militärverwaltung selbst. Es muss ihr doch daran 
liegen, nur körperlich und geistig gesunde Rekruten zur Ausbildung zu be- 
kommen. Auswahl ist ja genug da, und so mancher geistig und körperlich 
Gesunde wird als Überzähliger zurückgestellt. Jedenfalls wird durch Einstellung 
geistig Schwacher die Qualität des Heeres nicht erhöht. Das ist die eine Seite 
der Frage, und nun die andere. Unter den Soldatenmisshandiungen nehmen 
die Fälle, bei denen es sich um Schwachsinnige handelt, einen ziemlich hohen 
Prozentsatz ein. Es liegt im Interesse der Militärverwaltung, wenn der Soldaten- 
misshandlungen immer weniger werden. Diese Möglichkeit ist gegeben, wenn 
die geistig Zurückgebliebenen vom Dienst mit der Waffe befreit werden. — 

Ist nun eine Befreiung unserer ehemaligen Zöglinge vom Militärdienst 
möglich? Ja, sie ist ermögiicht auf Grund der Wehrordnung vom 22.11. 1888 
8 63,7 und $ 9, Anlage 4 der Heeresordnung. $ 63,7 lautet: „Jeder Militär- 
pflichtige, sowie seine Angehörigen sind berechtigt, spätestens im Musterungstermine 
Anträge auf Zurückstellung oder Befreiung von der Aushebung zu stellen. Die 
Beteiligten sind berechtigt, ihre Anträge durch Vorlegung von Urkunden und 
Stellung von Sachverständigen und Zeugen zu unterstützen.“ Unter Hinweis 
auf diesen Paragraph hat seiner Zeit das preussische Kriegsministerium auf 
eine Eingabe des Herrn Hauptlehrers Kielhorn-Braunschweig, die Befreiung 
der Schwachsinnigen vom Dienst im Heere betreffend, erwidert, es sei dem Ver- 
langen nach „Befreiung der Schwachsinnigen vom Dienste im Heere“ Genüge getan.— 

Was kann die Hilfsschule zur Befreiung ihrer Zöglinge vom Militärdienst 
tun? Die Hilfsschulleiter haben dafür Sorge zu tragen, dass die Schwach- 
sinnigen und ihre Angehörigen mit den Bestimmungen des oben erwähnten 
Paragraphen bekannt werden. Diese Bestimmung könnte gedruckt und dem 
Abgangszeugnis beigefügt werden. Als selbstverständlich muss vorausgesetzt 
werden, dass die Vorsteher von Hilfsschulen den Schwachsinnigen resp. ihren 
Eltern als Zeuge und Sachverstänndiger beistehen. Das ist der eine Weg, der ein- 
geschlagen werden könnte. Herr Hauptlehrer Kielborn-Braunschweig, de: in dieser 
wichtigen Frage die erste Anregung gegeben hat, geht folgenden Weg. Er hat 
mit dem Zivilvorsitzenden der Ersatzkommission zu Braunschweig ein Abkommen 
getroffen dahingehend, dass er jedes Jahr etwa im Februar die Gutachten über 
die stellungspflichtigen ehemaligen Zöglinge der Hilfsschule einreicht und ihre 
Ausmusterung be.ntragt. Ich kann nur empfehlen, es möchten alle Berufs- 
genossen dasselbe tun. Dann werden wir ein gutes Stück ırfüllen von der 
Aufgabe, die wir uns mitgestellt haben: Schutz den Schwachsinnigen im öffent- 
lichen Leben. 








153 


e 


Ergebnisse einer zahnärztlichen Untersuchung von 
84 Kindern der Magdeburger Hilfsschulen. 


Von Zahnarzt Dr. Greve, Magdeburg. 

Als im Frühjahr 19023 die Schulkinder Magdeburgs zahnärztlich untersucht wur- 
den zwecks Aufstellung einer ganz Deutschland betreffenden Sammelstatistik, habe ich 
mein besonderes Augenmerk auf die Hilfsschulen gerichtet. — 

Untersacht wurden im ganzen 84 Kinder. Für die tatkräftige Unterstützung 
bei der Arbeit sage ich auch an dieser Stelle dem Leiter der Schulen, Herrn Haupt- 
lehrer Giese, meinen besten Dank. 

Die Untersuchung hat interessante Ergebnisse gehabt. Um den gewonnenen 
Zahlen greifbaren Wert zu geben, stelle ich sie den aus der Untersuchung der 
anderen Schulkinder gewonnenen Zahlen gegenüber. 

Die Hauptkrankheit der Zähne, die Zahnfäule oder Zahncaries, ist scheinbar bei 
den Kindern der Hilfsschulen etwas geringer, denn 5,95 °;, hatten intakte Gebisse 
gegenüber 3,07°/, der übrigen Kinder. Indessen mag das Zufall sein, da hier 4522, 
dort nur 84 Kinder untersucht wurden. 

Sehr hoch ist der Prozentsatz an sogen. rachitischen Zähnen. Derartige Zähne 
erkennt man daran, dass sie verkrüppelt, ausgefressen aussehen, was von einer mangel- 
haften Schmelzbildung herrührt und wissenschaftlich als Hypoplasie bezeichnet wird. 
Die Zahlen sind 80,95°/ bei den Kindern der Hilfsschulen gegen 20,40°/, bei 
den anderen Kindern. 

Da die hypoplastisch: Ausbildung der Zähne auf Rachitis zurückgeführt wird, so 
gewinnt der hohe Prozentsatz gerade bei Kindern der Hilfsschulen ein besonderes 
Interesse. 

Noch interessanter aber ist dabei die Stillungsfrage. Von vielen Autoren wird 
behauptet, dass Rachitis lediglich dadurch entstehe, dass die Kinder nicht an der 
Mutterbrust genährt seien. Sieht man sich nun die Zählkarten daraufhin näher an, 
so ergibt sich die überraschende Tatsache, dass von den 80,95%, mit hypoplastischen 
Zähnen behafteten Kindern 21,43°/, von der Mutter gestillt waren, 9,52 °/ dagegen 
nicht. Dabei ist erwähnenswert, dass ich diejenigen Karten, auf denen diese Frage 
unbeantwortet geblieben war, zu den nicht gestillten gerechnet habe. Wahrscheinlich 
ist es indessen, dass wenigstens ein Teil davon auch gestillt wurde. 

Wenn nun die Hypoplasie der Zähne in der Tat auf rachitischer Grundlage be- 
ruht, so geht aus der Tatsache, dass die gestillten Kinder in weit höherem Maße 
als die anderen damit behaftet sind, hervor, dass die Rachitis direkt nichts mit der 
Stillung der Kinder zu tun hat. Man wird daher zu dem Schluss gezwungen, dass 
vielmehr in der schlechten Nahrung (bei den gestillten Kindern in der geringeren 
Qualität der Muttermilch gegenüber der Tiermilch) die oder eine Ursache zur Rachitis zu 
suchen ist. Die Maßregeln zur Verhütung der Rachitis hätten demnach damit zu beginnen, 
dass für eine ergiebige Ernährung der Schwangeren und der Kinder gesorgt würde. 

Unter den gefundenen Anomalien beanspruchen die sogen. kontrahierten und 
hochgezogenen Gaumengewölbe ein besonderes Interesse. Es wurden 2,38%), gegen 
0,17%, bei den übrigen Kindern festgestellt. Dieser Unterschied in der Zahl kann 


154 


nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass derartige Gaumenbildungen auf einer Ver- 
bildung des Schädels und zwar meistens einer Deviation des Septums beruhen. Das kommt 
so zustande, dass aus unbekannter Ursache die basalen Schädelteile in der Entwick- 
lung zuräckbleiben, während die Gesichtsknochen, wozu auch die Kiefer gehören, die 
normale Grösse erreichen, Verhältnisse, wie sie bei Idioten in weit grösserem Maße 
zutreffen. 

Nebenbei bemerkt findet man bei Cretins salche Verbildungen nicht, weil bei 
diesen sämtliche Knochen im Wachstum zurückbleiben. 

Durch das erwähnte Missverhältnis werden Knochen wie z. B. die Nasenbeine, 
die Nasenscheidewand, die Nasenmuscheln, ferner Knochenteile, die die Augen- und 
die Kieforhöhle bilden helfen, verlagert, wodnrch namentlich der Nasenrachenraum 
eingeengt wird. 

Deshalb findet man bei den Kindern an Hifsschulen auch so viele Mundatmer. 
Die primären Ursachen der Mundatmung sind nicht die bekannten adenoiden 
Wucherungen, sondern die Verengerung des Nasenrachenraumes, während die Wuche- 
rungen nur sekundär die Ursache sind. Die Gaumenbildung ist nicht die Folge, 
sondern die Ursache der Mundatmung. 

Im engsten Zusammenhang mit diesen Erscheinungen stehen andere an Auge 
und Ohr. Namentlich sind es Strabismus (Schielen) und pathologischer Astigmatismus, 
die von der Schädelverbildung abhängen. Infolge Verbildung der Orbita, selbst wenn 
es nur in geringem Maße der Fall ist, kommt es zu einer Verbildung des Bulbus 
und zu anomaler Insertion der denselben bewegenden Muskeln — es entsteht Astig- 
matismus und Strabismus. 

Als Zahnarzt habe ich nur eine oberflächliche Aufnahme der Augen- und Ohr- 
leiden machen können. Trotzdem fand ich bei 20,240% der Kinder Strabismus; 
bei 8,57%, starke Myopie (Kurzsichtigkeit) und bei ebenfalls 8,57%, Hornhaut- 
erkrankungen, welch letztere früher von einem Augenarzt festgestellt waren. Ein Kind 
war auf einem Auge blind; die Ursache war nicht festzustellen. Auf Astigmatismus 
konnte nicht untersucht werden, doch zweifle ich garnicht, dass eine genaue augen- 
ärztliche Untersuchung solche nicht nur in grosser Menge finden würde, sondern 
auch uoch andere Fehler. 

Stark schwerhörig waren 3,57, der Kinder. Ein Kind litt an Epilepsie und 
eines an starkem Nystagmus (unwillkürlichen Schwankungen des Bulbus). 


— m 


Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in 
Württemberg. 
Von Sanitätsrat Dr. Wildermuth in Stuttgart. 
(Schluss.) 

Die innere Entwicklung der Anstalten, Still, in weiteren Kreisen nur 
wenig beachtet, nie von dem öffentlichen Interesse getragen, wie das Irrenwosen, 
haben sich die Idioten- und Epileptikeranstalten entwickelt. Wandlungen im Innern 
‚haben sio im Verlaufe der Jahre doch erfahren. 


Es möge mir erlaubt sein, auf diese Verhältnisse einzugehen, da sie sich im 
wesentlichen in ganz Deutschland in derselben Weise gestaltet haben. 

Wie im übrigen Deutschland ging auch in Württemberg die erste grössere Be- 
wegung zur Fürsorge für die Idioten von Ärzten aus, die warmherzige Menschenliebe 
mit ernstem wissenschaftlichen Streben vereinigten. In hohem Grade war dies bei 
Dr. Rösch der Fall, aber auch Dr. Müller wahrte neben allerlei pietistischen und 
therapeutischen Wunderlichkeiten seinen ärztlichen Standpuukt. 

In erster Linie verdient Dr. Rösch ein dauerndes Andenken in der ärztlichen 
Welt, besonders in der Psychiatrie. Seine statistischen Erhebungen im Lande über 
den Kretinismus sind oben erwähnt. Sie sind in dem I. Band des Werkes „Neue 
Erhebungen über den Kretinismus“, das er mit Maffei von Salzburg herausgab, 
niedergelegt. Bösch’s Erhebungen sind für derartige Untersuchungen geradezu 
müstergültig. Er gibt nicht eine einfache Zählung der Kranken, er bringt bei jedem 
Bezirk, ja bei jedem Ort eine Beschreibung der geologischen Verhältnisse, der Wasser- 
versorgung, des wesentlichen Charakters, der Lebensweise der Einwohner. Einen 
grossen Teil der Untersuchungen hat Rösch selbst vorgenommen. Soweit ihm dies 
nicht möglich war, liess er sich von Ärzten und Pfarrern auf Grund von Fragebogen 
berichten. 

Rösch hat den Begriff des Kretinismus weiter gefasst, als dies nach unseren 
heutigen Anschauungen zulässig ist. Er fasst eigentlich alle Formen der Idiotie 
unter dem Begriff der kretinistischen Entartung zusammen. Das ist unrichtig. Aber 
er hat völlig recht, wenn er eine Anzahl körperlicher Defekte: Kropf, Zwergwuchs, 
Taudbstummheit in den Kretinismus einreiht,. Die statistische Arbeit wird eingeleitet 
durch eine vollständisch literarisch-historische Untersuchung über den Kretinismus und 
näher erläutert durch eine Anzahl sehr guter Krankengeschichten, zum Teil mit 
Sektionsergebnissen. 

Rösch hat das Hauptverdienst bei der Gründung der Anstalt in Mariaberg. 
Er war nicht selbst Arzt an der Anstalt, wandte aber als Vorstand des Verwaltungs- 
rates dem Unternehmen seine fortgesetzte Teilnahme zu. Den Ernst seines wissen- 
schaftlichen Strebens beweist die Zeitschrift, die er ins Leben rief: „Beobachtungen 
über den Kretinismus*, von der aber nur 3 Hefte erschienen sind. Das letzte 
wurde im Jahre 1852 herausgegeben. Der Inhalt der auch äusserlich sehr gut aus- 
gestatteten Zeitschrift war reichhaltig. Von ihrem Inhalt erwähnen wir die durchaus 
wissenschaftlichen Jahresberichte aus Mariaberg, Pathologisch-anatomische 
Abhandlungen von F. Betz in Heilbronn, „Mikroskopisch-chemische Unter- 
suchungen des Blutes, Stuhles und Harnes schwachsinniger Kinder* von 
Erlenmeyer in Bonn, „Über das Irresein im kindlichen Alter und dessen 
Zusammenhang mit dem Kretinismus“ von Röseh. Eingehende „Geschichtliche 
Mitteilungen über die Verbreitung des Kretinismus in der Schweiz vor 
dem Jahre 1840“ brachte Dr. Mejer-Ahrens-Zürich. „Betrachtungen über 
die mutmassliche Genesis des Kretinismus in den Tälern von Chamounix 
und Aosta“ rühren von Dr. F. K Stahl in Sulzheim her. 

Ausserdem enthält das Blatt eingehende Mitteilungen über den Fortgang der 
Idiotenfürsorge und kritische Besprechungen der Literatur auf diesem Gebiete. 


:156 

Rösch wurde in die politische Bewegung der 48er Jahre verwickelt, ist später 
nach Amerika ausgewandert und in St. Louis im Jahre 1867 gestorben. Er war 
der württembergische Arzt, der auf dem Gebiete der Idiotie wissenschaftlich und 
praktisch am meisten geleistet hat. Die Anregung, die er gegeben, hielt noch einige 
Zeit an. Vom Jahre 1850—58 war der Professor der Medizin in Tübingen, 
Dr. Autenrieth, Vorstand des Verwaltungsrates. Von ihm stammt eine ganz hübsche 
Abhandlung im IX. ‚Jahresbericht der Mariaberger Anstalt, in der die historische 
Entwickelung der Ansichten über Gehirn und Seele bis zur Zeit der Reformation dar- 
gestellt wird. 1858—1859 trat Griesinger an seine Stelle. Er ist der Verfasser 
des XII. Jahresberichtes der Anstalt, in dem er in kurzen Zügen die wesentlichen 
Formen der Idiotie skizziert und namentlich scharf den Kretinismus von der nicht 
endemischen Idiotie scheidet. An einer Stelle sagt Griesinger, nachdem er über 
die praktischen Aufgaben der Anstalten gesprochen: 

„Die Anstalten für schwachsinnige Kinder haben noch eine andere grosse Be- 
deutung. Ganz wie man von den Geisteskrankheiten erst etwas Zusammenhängendes, 
theoretisch Sicheres und praktisch Brauchbares weiss, seit es möglich ist, diese Kranken 
in zweckmässigen Irrenanstalten zu beobachten, so kann auch von den kaum be- 
gonnenen Studien über den angeborenen und in früher Jugend eingetretenen Blödsinn 
nur durch lang fortgesetzte, allein in den Anstalten mögliche treue und sorgfältige 
Beobachtung ein Resultat erwartet werden.“ 

Griesinger erinnert dann an die wissenschaftlichen Leistungen Rösch's, „deren 
Wiederaufnahme und Fortsetzung nach Kräften angestrebt werden soll“. 

Griesinger's Erwartung ist nicht in Erfüllung gegangen. 

Die erste Periode in der Entwickelung des Idiotenwesens — wir 
können sie als die ärztlich-philanthropische bezeichnen — ging zu Ende. 
Die zweite Periode steht in engem Zusammenhang mit dem Wiederauflebon einer 
planmässigen christlichen Wohltätigkeit, namentlich in protestantischen Kreisen, mit 
den Organisationen und Bestrebungen, die man unter dem Namen der „Innern 
Mission“ zusammenfasst. Ihre Leistungen verdienen alle Anerkennung. Die be- 
stehenden Anstalten wurden vergrössert und verbessert, in ganz Deutschland neue 
gegründet. Die Bewegung war und ist streng konfessionell, geistlich - pädagogische 
Gesichtspunkte treten in den Vordergrund. 

Die Hauptstärke besonders auch in den württembergischen Anstalten war von 
Anfang an der Schulunterricht. Er hat sich unter der verdienstvollen Tätigkeit von 
Männern, wie Landenberger, Kölle, Pfarrer Schall, Lehrer Thumm in Stetten 
Rall in Mariaberg u. a. zu einem pädagogischen Spezialfach entwickelt. 

Auch der gewerbliche und landwirtschaftliche Betrieb und Unterricht hat in den 
letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. 

Die ärztlich-wissenschaftliche Tätigkeit trat in den Hintergrund 
Nirgends war der Arzt an leitender Stelle, höchstens war er koordiniert, und erst in 
allerneuester Zeit ist dem Arzt der grössten Anstalt des Landes gestattet und 
ermöglicht worden, seine Kraft ausschliesslich der Anstalt zu widmen. Die Folgen 
sind nicht ausgeblieben. Es lässt sich nicht leugnen, dass nach den vielversprechenden 
Anfängen der 40er und 50er Jahre eine Stagnation in der Erforschung der idiotischen 


157 


Zustände eingetreten ist. Nur vereinzelt sind aus den Idiotenanstalten wissenschaftliche 
Arbeiten geliefert worden. Jahr für Jahr geht ein unschätzbares klinisches und 
anatomisches Material verloren, obgleich besonders der anatomische Stoff nach dem 
Stand unserer Kenntnisse für die Untersuchung dankbarer ist als der der Irrenanstalten. 


Die vielen anderen Gründe, die in unmittelbarem Interesse der Pfleglinge gegen 
diese Zurückdrängung des ärztlichen Einflusses und für Einführung der ärztlichen 
Leitung der Anstalten sprechen, sollen hier nicht angeführt werden. Das ist schon 
zur Genüge geschehen und man wird es müde, immer wieder dieselben Klagen zu 
erheben. Es hilft ja doch nichts! 


Die Zurückdrängung der ärztlichen Wirksamkeit an diesen Anstalten steht in 
engem Zusammenhang mit dem Verhalten des Staates. Er hat sich um Idioten- 
und Epileptikerfürsorge äusserst wenig gekümmert und sich auf die Gewährung 
erheblicher oder unerheblicher Beiträge und Medizinalvisitationen beschränkt. Das 
war, mit Ausnahme des Königreichs Sachsen, bis auf die allerneueste Zeit in Württem- 
berg nicht schlechter als im übrigen Deutschland. 


Erst seit Erlass des Gesetzes vom 11. Juli 1891 ist in Preussen eine 
staatliche Fürsorge angebahnt worden. Dieses Gesetz bestimmt, dass die einzelnen 
Provinzen verpflichtet sind, „für Bewachung, Kur und Pflege der hilfsbedürftigen 
Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen, Blinden, soweit dieselben der 
Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen“. In einzelnen 
Provinzen, wie in der Provinz Sachsen, ist diese Bestimmung schon in grossartige 
Weise durchgeführt worden, in anderen, z. B. der Rheinproviuz, wird dies in kurzem 
der Fall sein. 


In diesen Neuschöpfungen wurde die Organisation der Anstalten nach Art. der 
Irrenhäuser mit ärztlicher Direktion in einer Weise ausgeführt, die den Anschauungen 
und Wünschen der Psychiatrie durchaus Rechnung trägt. 


Damit ist in dem leitenden deutschen Staat für die Idioten- und 
Epileptikerfürsorge eine neue Periode angebrochen: die Organisation der 
Anstalten nach Art der Irrenanstalten mit ärztlicher Oberleitung. 


Dass es auch in Württemberg durchaus nötig wäre, dass der Staat sich um 
Idioten und Epileptische kümmere, geht aus den angeführten Zahlen zur Genüge 
hervor. Hier sind Aufgaben zu lösen, der die Privatwohltätigkeit nicht mehr ge- 
wachsen ist. Der Überfüllung der Anstalten dadurch abzuhelfen, dass man die Idioten 
in Landarmenanstalten mit allen möglichen anderen Defekten zusammen unterbringt, ist ein 
übler Ausweg. Es bedeutet die Rückkehr zu dem wenig berühmten Prinzip der 
englischen „Almshouses*. 

Auch die Angliederung einer Abteilung von Schwachsinnigen an die Diakonissen- 
anstalt in Hall, die im wesentlichen ganz anderen Zwecken dienen muss, ist ein un- 
genügender Notbehellf. 

An eine Änderung dieses Zustandes, an eine staatliche Regelung der Idioten- 
und Epileptikerfürsorge, wie sie in den preussischen Provinzen in die Wege geleitet 
worden ist, ist in Württemberg in absehbarer Zeit gar nicht zu denken. Selbst wenn 
an leitender Stelle der Wille dazu vorhanden wäre, so würde es an den nötigen 


168 


Mitteln fehlen. Alles, was der Staat in dieser Richtung aufwenden kann, wird auf 
Jahre hinaus von der Irrenfürsorge in Anspruch genommen werden. 

Wir müssen zum Schluss also feststellen, dass sich in Württemberg die 
Idioten- und Epileptikerfürsorge noch völlig in dem Stadium der geist- 
lich-konfessionellen Leitung befindet. 


Mitteilungen. 


Erfurt. (Hilfsschultag.) Am Sonntag, den 6. September, vormittags 10 Uhr, 
fand in Roses Restaurant die erste Versammlung der Lehrer und Lehrerinnen der 
Hilfsschulen der Provinz Sachsen, Thüringens und Anhalts statt. Es waren die 
Hilfsschulen folgender Städte vertreten: Magdeburg, Nordhausen, Mühlhausen, 
Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Saalfeld, Pössneck und Meiningen. 

Nach der Begrüssung durch Herrn Hauptiehrer Kannegiesser-Erfurt wurden 
für die Leitung der Versammlung folgende Herren gewählt: Hauptlehrer Kannegiesser 
als Vorsitzender, Lehrer Busch-Magdeburg zu dessen Stellvertreter und Lehrer Ahl- 
Erfurt zum Schriftführer. 

Hierauf ergriff Herr Kannegiesser Jas Wort, indem er zunächst noch einmal 
die Bedürfnisfrage nach einer Vereinigung darlegte und sprach sodann über Zweck, 
Aufgabe und Form derselben, 

In der darauffolgenden Besprechung wurden folgende Sätze angenommen: 

1. Wir bilden eine freie Vereinigung der Lehrer und Lehrerinnen an den 
Hilfsschulen der Provinz Sachsen, Thüringens und Anhalts ohne Satzungen 
und feste Beiträge. 

2. Erfurt ist ständiger Vorort unter dem Vorsitz des Herrn Hauptlehrer 
Kannegieosser. i 

8. Die freie Vereinigung bezweckt die Pflege des Hilfsschulwesens. 

4. Alljährlich werden im Herbste Wanderversammlungen abgehalten und zwar in 
denjenigen Orten der Provinz Sachsen, Thüringens und Anhalts, in welchen 
sich Hilfsschulen befinden. 

Es erscheint hierbei wünschenswert, dass solche Orte berücksichtigt werden, 
in welchen grössere Lehrerversammlungen tagen. 

Sodann hielt Herr Lehrer A. Müller-Erfurt einen Vortrag über: Die Be- 
freiung unserer Schwachsinnigen vom Militärdienste Im Anschluss an 
den in dieser Zeitschrift erscheinenden Vortrag ersuchte Referent die Teilnehmer der 
Versammlung im Februar des kommenden Jahres hiernach die geeigneten Schritte zu 
tun und ihm ihre dabei gemachten Erfahrungen mitzuteilen. 

Die nächste Versammlung wird 1904 während der Herbstferien in Halle a S. 
abgehalten werden. Auf allseitigen Wunsch erfolgte nach dem gemeinsamen Mittags- 
mahle die Besichtigung der Erfarter Hilfsschule. A. 

Grossherzogtum Hessen. (Gemeinsame Konferenzen.) Geleitet von dem 
Gedanken, dass es von eminenter Bedeutung sei, wenn sich die Kollegen der Hilfs- 
schulen ab und zu zusammenfinden, um die gegenseitigen E:fahrungen auszutauschen, 
um Fragen aus der Praxis zu besprechen und zu diskutieren, um über die neuesten 


159 


-Literaturerscheinungen zu referieren, wurde voriges Jahr die Abhaltung gelegentlicher 
Konferenzen verabredet. Unsere erste solche Zusammenkunft, bei der die 
Städte Mainz, Darmstadt und Worms vertreten waren, wurde in Gross-Gerau ab- 
gehalten. Auch unsre zweite Versammlung fand ebendaselbst am 27. Juni statt. 
Zu derselben waren auch Vertreter von Frankfurt und Idstein erschienen. Die dritte 
Konferenz soll Samstag, den 24. Oktober in Frankfurt stattfinden und hoffen 
wir daselbst wieder vertreten zu sehen Frankfurt, Idstein, Mainz, Darmstadt, Offenbach 
und Worms. Wünschen wir der Versammlung im Interesse der edlen Sache den 
besten Erfolg. 

Mainz. (Schüler ohne Finger.) Wir haben hier in unserer Hilfsschule ein 
ganz cigenartiges Kurosium aufzuweisen. Durch Beschluss des Schulvorstandes wurde 
uns nämlich ein siebenjähriges Mädchen überwiesen, das ohne Finger geboren 
ist. Nur an der linken Hand befindet sich an der Stelle des kleinen Fingers ein 
Ansatz, mit dem es fasst und auch beim Schreiben den Griffel führt. Auf Verwendung 
der Lehrerin und des Schularztes hin wird nun durch einen hiesigen Bandagisten eine 
Vorichtung konstruiert, um dem Kind das Schreiben mit der rechten Hand zu er- 
möglichen. 

Nürnberg. (Internationaler Kongress für Schulhygiene.) In der ersten 
Märzwoche 1904 wird in Nürnberg der erste internationale Kongress für Schulhygiene 
tagen. Die Einladung zu demselben ist von den ersten und hervorragendsten 
Hygienikern unterzeichnet und wendet sich an alle, welche an der schulhygienischen 
Förderung Interesse besitzen. Der Kongress wird seine Arbeiten in folgende 10 Ab- 
teilungen zerlegen: Hygiene der Schulgebäude und ihrer Einrichtungen. — Hygiene 
der Internate.. — Hygienische Untersuchungsmethoden. — Hygiene des Unterrichts 
und der Unterrichtsmittel. — Hygienische Unterweisungen der Lehrer und Schüler. — 
Körperliche Erziehung der Schuljugend.. — Krankheiten und Kränklichkeitszustände 
und ärztlicher Dienst in den Schulen. — Hilfsschulen für Schwachsinnige, 
Parallel- und Wiederholungsklassen, Stottererkurse, Blinden- und Taubstummenschulen, 
Krüppelschulen. — Hygiene der Schuljugend ausserhalb der Schule, Ferienkolonieen 
und Organisation von Elternabenden. — Hygiene des Lehrkörpers. — Vorsitzender 
des Ortsausschusses ist Oberarzt Hofrat Dr. Stich und das Schriftführeramt liegt in 
den Händen der Lehrer A. Dörr und Degebeck. 

Worms. (Unsere Entlassenen.) Bei unserm schweren und aufreibenden 
Beruf gibt es immerhin auch Momente, die uns erfreuen, erheben und mit neuem Mut 
beleben. So freuen wir nns besonders, wenn wir sehen, wie der schwache kind- 
liche Geist sich aus den tausend Fesseln löst und langsam entwickelt, wenn wir 
sehen, wie das arme Kind schlieslich doch erwerbsfähig gemacht wird und im öffent- 
lichen Leben keinen Schiffbruch leidet. Mit uusern bereits entlassenen Kindern haben 
wir bis jetzt glücklicherweise auch noch keine Enttäuschung erlebt. Wie wir durch 
Besuche im Elternhaus, durch Nachfrage bei den Lehrherrn und auf der Polizei fest- 
stellen konnten, ist noch keines derselben wegen einer gröberen Verfehlung mit der 
Polizei in Konflikt geraten. Bis jetzt haben wir 22 Kinder entlassen, nämlich 
11 Knaben und 11 Mädchen. Von den 11 Knaben sind: 1 Fuhrmann, 1 bei seinen 
Eltern, 1 Gärtner, 1 Metzger (im Betrieb seines Vaters), 1 Taglöhner, 1 Schlosser und 


160 


5 Fabriker. Bei den letzteren 5 wurde namentlich dafür gesorgt, dass sie in Werk- 
stätten kamen, wo Vater oder Brüder waren. Von den Mädchen sind: 1 bei den 
Eltern, 1 Kindermädchen, 2 in der Fabrik, 2 Büglerinnen und 5 Näherinnen. — 
Sonst haben wir noch 7 Abgänge zu verzeichnen. 2 Kinder mussten nämlich wegen 
hochgradigen Schwachsinns der Idiotenanstalt Bessungen überwiesen werden; 3 Kinder 
gingen ab wegen Wegzugs der Eltern und 2 Kinder verloren wir durch Tod. Beide 
litten an Lungenschwindsucht. 


Zürich. (Gegenwärtiger Stand der Fürsorge für die geistessch wachen 
[schwachsinnigen] Kinder in der Schweiz.) Im Anfang dieses Jahres wurde vom 
Vorstand der schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen eine Statistik über 
die am 1. Februar 1908 in der Schweiz bestehenden Anstalten für Schwach- 
sinnige und Schulen für Schwachbegabte aufgenommen. Die Ergebnisse derselben 
sowie überhaupt der Stand der Fürsorge für die Geistesschwachen in den einzelnen 
Schweizerkantonen wurden den Teilnehmern der IV. Schweiz. Konferenz für das 
Idiotenwesen in Luzern (Mai 1903) in einem längern Referate vorgeführt. Fassen 
wir das wichtigste hier kurz zusammen. 


Es bestehen gegenwärtig in der Schweiz 22 Erziehungs- und Pflegean- 
stalten für geistesschwache Kinder mit 867 Insassen, während im Jahre 1897, wo 
die erste eidgenössische Zählung der schwachsinnigen, gebrechlichen und verwahrlosten 
Kinder stattfand, erst 411 Kinder in 13 Anstalten versorgt waren. Rechnet man 
die in den beiden Anstalten für Epileptische in Zürich und Bern befindlichen schwach- 
sinnigen Pfleglinge dazu, so ergibt sich eine Gesamtzahl von 958 in Anstalten ver- 
sorgten geistesschwachen Kindern. Unter den 867 erstgenannten Kindern befinden 
sich 663 bildungsfähige, 120 bildungsunfähige, 59 taubstumme und 25 epileptische. 
Die älteste dieser 22 Anstalten ist Zürich - Hottingen, gegründet 1849, die grösste 
St. Josef- Bremgarten, die augenblicklich 221 Zöglinge hat. Seit ihrer Gründung 
haben sämtliche Anstalten zusammen 3028 Kinder, 1630 Knaben und 1398 Mädchen, 
aufgenommen. 


Fast ausschliesslich verdanken diese Anstalten ibre Entstehung christlicher 
Liebestätigkeit oder gemeinnützigen Korporationen; seit einer Reihe von Jahren 
erhalten dieselben aber auch Beiträge des Staates, hauptsächlich aus den Erträgnissen 
des Alkoholmonopols. Der Staat hat seine Pflicht erkaunt; mehrere der in nächster 
Zeit zu errichtenden Anstalten werden auf staatlichem Boden stehen. Andererseits 
ruht der gemeinnützige und wohltätige Sinn privater Kreise nicht; so sind in dem 
kleinen Kantone Glarus innerhalb Jahresfrist 100 000 Fr. auf freiwilligem Wege zur 
Gründung einer kantonalen Anstalt für Schwachsinnige gesammelt worden. — Für 
die bildungsunfähigen (blödsinnigen) Kinder geschah bis jetzt verhältnismässig 
weniger; auch hierin soll und wird es besser werden. Zürich geht hier mit gutem 
Beispiel voran; die neue kantonale Pflegeanstalt für geistesschwache (blöds.) Kinder 
in Uster, für mindestens 50 Pfleglinge berechnet, kommt noch dieses Jahr unter Dach. 

Auch die Frage der besonderen Fürsorge für die schwachsinnigen taub- 
stummen Kinder, von dem kürzlich verstorbenen Direktor Erhard, St. Gallen, an- 
geregt und befürwortet, wird in Bälde ihre Lösung gefunden haben; Schloss Turben- 


161 


thal (Kt. Zürich) wird, als erste schweizerische Anstalt für schwachsinnige Taubstumme, 
im Frühjahr 1904 eröffnet werden. 

Die Statistik über die in der Schweiz gegenwärtig vorhandenen Spezialklassen 
(Hilfsschulen) für Schwachbegabte ergibt für die letzten Jahre ebenfalls eine be- 
trächtliche Zunahme. Es bestanden nämlich im Sommer 1903 58 Hilfsklassen mit 
beinahe 1200 Schülern, was gegenüber von 1897 eine Zunahme von über 100%, 
bedeutet. 

Ein für die Schüler der Spezialklassen und Erziehungsanstalten für Schwach- 
sinnige bestimmtes Lesebueh ist von einigen Lehrern in Zürich, Winterthur und 
St. Gallen bearbeitet worden und im Sommer dieses Jahres erschienen. Das reich 
illustrierte, best ausgestattete Lehrmittel „Mein Lesebüchlein * besteht aus 3 Teilen; 
es ist bereits an den meisten Schulen und Anstalten für Geistesschwache, auch an 
einigen Taubstummenanstalten, der Schweiz eingeführt und erfährt eine günstige Be- 
urteilung. (Verlag: K. Jauch, Lehrer, Zürich II, Preis für alle 3 Teile 1 fr. 80 ct.) 

Endlich bestehen an einigen Orten, besonders in den Kantonen Appenzell und 
St. Gallen, in vielen kleineren Gemeinden, Nachhilfeklassen für Schwachbegabte 
Die schwachen Kinder erhalten hier von Lehrern der Normalklassen teils vor, teils 
nach der gewöhnlichen Schulzeit einen besondern, individualisierenden Unterricht. 
Man ist sich wohl bewusst, dass diese Nachhilfeklassen nur ein Notbehelf sind und 
die eigentlichen Hilfsklassen nicht zu ersetzen vermögen; immerhin wirken sie Gutes 
und sind an den Orten, wo die Errichtung einer Spezialklasse untunlich ist, zu 
begrüssen. — Noch dieses Spätjahr wird das Bundesgesetz betr. die Unter- 
stützung der schweiz. Volksschule durch Bundesgelder in Wirksamkeit treten; 
dasselbe wird den Kantonen Mittel in die Hand geben, auch für Erziehung und Aus- 
bildung der geistesschwachen Kinder mehr als bisher zu tun. Es ist daher zu hoffen, 
dass die Bestrebungen der Freunde dieser armen Kinder immer mehr sich verwirk- 
lichen werden. — Beiläufig sei noch erwähnt, dass der gedruckte Bericht über die 
Verhandlungen der IV. Schweiz. Konferenz f. d. Idiotenwesen in Luzern beim Präsidenten 
derselben, Herrn Sekundarlebrer Auer in Schwanden - Glarus, à 1 fr. 50 ct. zu be- 
ziehen ist. H. Qraf. 


Literatur. 

Die Hilfsschulen für sehwachbefähigte Kinder in ihrer Entwickelung, 
Bedeutung und Organisation. Darg stellt von F. Frenzel, Leiter der städt. 
Hilfsschule in Stolp in Pommern. Hamburg und Leipzig. Verlag von Leopold 
Voss. 1903. Preis Mk. 1. 

Vorliegendes Buch gibt eine kurze Darstellung über die Entstehung, Bedeutung 
und Organisation der Hilfsschulen. Der Entstehung und Entwicklung der Hilfs- 
schule ist das 1. Kapitel gewidmet, in dem die Zeit bis zum Reformationszeitalter als die- 
jenige bezeichnet wird, in welcher für die Blöden und Schwachen eine Fürsorge nicht 
bestand. Sie teilten das Los der Geisteskranken überhaupt und der Viersinnigen. Aber 
auch das 17. und 18. Jahrhundert änderte an dem Schicksale der Geistesschwachen wenig, 
und nicht selten kam es vor, dass Geisteskranke und Geistesschwache für Hexen und 
Zauberer gehalten und verfolgt wurden. Eine vernünftige Auffassung des Zustandes dieser 


162 


Unglücklichen brach sich erst Bahn mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften, aber 
wenn auch hier und da einzelne Anfänge von einer Fürsorge für die Geisteskranken 
und Idioten vor die Erscheinung traten, so hatten dieselben nur eine lokale Bedeutung. 
Erst dem 19. Jahrhundert war es vorbehalten, Wandel zu schaffen. Zunächst ent- 
standen Anstalten, einzelne von Ärzten, die meisten jedoch von Geistlichen und 
Pädagogen begründet. In den sechziger Jahren schritt man zur Errichtung von Hilfs- 
schulen, deren Zahl in Deutschland gegenwärtig annähernd 200 beträgt. Weit be- 
trächtlicher würde ihre Zahl sein, wenn seiten aller Einzelregierungen die Einschulung 
schwachbegabter Kinder in Hilfsschulen gesetzlich geregelt würde, wie solches zuerst 
in Sachsen und darnach in Braunschweig geschah. Vielleicht trägt zur Erreichung 
dieses Zieles der 2. Abschnitt des Buches bei, in dem der Verfasser sich über die 
Notwendigkeit und den Nutzen der Hilfsschulen verbreitet. — Über die 
Frage, welche Kinder eigentlich in die Hilfsschule gehören, spricht Verfasser 
im 3. Abschnitte, während im 4. und 5. Abschnitte die erziehlichen Aufgaben 
nnd die Schuleinrichtungen und Unterrichtsmaßnahmen der Hilfsschule 
behandelt werden. Eingehend verbreitet sich das Buch über den Lehrplan der 
Hilfsschulen und über die Frage der Schülerzahl der einzelnen Klassen 
Einen besonderen Abschnitt (8.) widmet Verfasser dem Lehrer der Hilfsschule. 
Als höchste Schülerzahl der einzelnen Klassen bezeichnet Verfasser 15—20, wir 
halten dies für zu reichlich bemessen und möchten einer Klasse nicht mehr als 
höchstens 15, den unteren Klassen aber nie mehr als 10 Kinder zugeteilt sehn. In 
jeder Beziehung stimmen wir den Forderungen bei, welche Verfasser inbetreff der 
Lehrer stellt, und ebenso teilen wir seine Ansichten über die Tätigkeit des Arztes 
in den Hilfsschulen und über zu schaffende Einrichtungen zur Fürsorge für die aus 
der Hilfsschule Entlassenen. Wir empfehlen das Buch, das auf jeder Seite den 
erfahrenen Hilfsschulmann erkennen lässt, und das durch sein Literaturverzeichnis 
auch zum Weiterstudium ein vortrefflicher Wegweiser ist, aufs angelegentlichste. W. S. 

Die Kurzsichtigkeit, ihre Entstehung und Bedeutung. Von Dr. J. 
Stilling, Prot der Augenheilkunde zu Strassburg i. Els. Berlin 1908. Verlag 
von Reuther & Reichard. 75 Seiten. Preis Mk. 2. 

Die vorliegende Schrift behandelt in einer gemeinveretändlichen Abhandlung das 
Wesen, die Entstehung und Bedeutung der Kurzsichtigkeit (Myopie), Zunächst weist 
per Verfasser nach, dass dieser Mangel des Gesichts zu allen Zeiten bestanden habe, 
insbesondere bei den Kulturvölkern. Als Ursache der Kurzsichtigkeit stellt er neben 
anatomischen Abweichungen im Augenbau vorzüglich die Nahearbeit bin. Zur Ver- 
meidung der Kurzsichtigkeit in der Schule ist nach seiner Empfehlung auf gute 
Beleuchtung, zweckmässige Körperhaltung, passende Subsellien und guten Bücherdruck 
zu halten. Es steht zu erwarten, dass mit der Vervollkommnung unsrer Bildungs- 
mittel und mit dem allgemeinen sozial-hygienischen Fortschritt unsres Volkes auch 
eine Abnahme der Kurzsichtigkeit eintreten werde. — Wer ein interessantes Kapitel 
aus der vielversprechenden Wissenschaft der sozialen Hygiene studieren will, dem sei 
die vorliegende Abhandlung, welche den Gegenstand erschöpfend und wissenschaftlich 
behandelt und eine Fülle interessanter Beobachtungen bietet, warm empfohlen, vor 
allen den Schul- und Anstaltsärzten. 


163 


Schule und Rückgratsverkrüämmung. Eine schulhygienische Studie von 
Dr. W. Schulthess, Privatdozent in Zürich. Hamburg und Leipzig 1902. 
Verlag von Leopold Voss. 40 Seiten. Preis Mk. 0,80. 


Dass die Schule sich auch die körperliche Fürsorge ihrer Zöglinge angelegen lassen 
sein muss, wird immer mehr dringende Forderung der Schulhygieniker. Eine ganz 
bedeutende Anzahl von Schriften, welche die verschiedensten Wünsche in schulbygienischer 
Beziehung zum Ausdrucke bringen, ist bereits erschienen, ihre Zahl aber wächst noch 
weiterhin. — Die vorliegende Schrift will einen Beitrag zur Lösung der schulhygie- 
nischen Fragen bieten und uns mit den Rückgratsverkrümmungen von Schülern mit 
besonderer Hervorhebung derjenigen, welche durch die Schuld der Schule hervorge- 
rufen worden, bekannt machen. Der Verfasser skizziert zunächst die verschiedenen 
Formen der Rückgratsverkrümmungen und verbreitet sich dann über die Mittel und 
Wege, welche die Schule zu gebrauchen hat, um den Rückgratsverkrümmungen 
entgegenzuarbeiten. Wir müssen seine Forderungen durchaus billigen und empfehlen 
namentlich unsern Anstalten und Schulen die gegebenen Ratschläge zur Beherzigung. 
Die Ausführungen sind klar und bestimmt und werden durch die beigegebenen 
Abbildungen bestens erläutert Es könnte nur unsern Schülern zum Vorteil gereichen, 
wenn wir aufmerksam auf die zweckmässigen Ratschläge, welche in der Schrift 
gegeben werden, hören und sie befolgen möchten. 


Silberfibel für Schule und Haus nebst ausführlichen Anweisungen. 
Leichteste, sicherste und vorteilhafteste Lesemethode, nach der wohl jeder 
Vater und jede Mutter unterrichten kann. Von Ernst Lehmann, Lehrer. 
Wenigenjena 1903. Selbstverlag des Verfassers. 32 Seiten. Einzelpreis 
gegen Postanweisung frei vom Verfasser Mk. 1,—, für die Herren Buchhändler 
und Kollegen 85 Pf. 


Dieser vielversprechende Titel einer Fibel liesse vermuten, dass nun das Problem 
der Fibelfrage endgültig gelöst wäre. — Die Idee, gleich zu Anfange ganze Silben 
zu lesen, ist schon vor vielen Jahren in der „Hiobfibel‘“ durchgeführt worden. Bei 
den ersten Leseübungen einzelner Laute soll bereits ein ganzer Gedanke ausgedrückt 
werden; die Schüler zeigen z. B. das o und lesen: o ein Bündel Stroh etc. Um das 
Behalten der einzelnen Laute den Schülern zu erleichtern, sind neben den Bildchen 
kleine Verse gedruckt, die oft eigenartig anmuten, wie z. B. dagegen kann die Kuh 
— ganz sicher schon das u. Siehst du dies Bündel Stroh —, so liest du auch 
schon o ete. Unserer Ansicht nach kommen die Doppellaute au, ei, eu und der Um- 
laut ä schon zu zeitig zur Behandlung; sie liessen sich sehr gut für später aufheben. 
Zweilautige Silben treten bald auf; leider ist hierbei das phonetische Prinzip wenig 
berücksichtigt. Mit den zweilautigen Silben wird das Silbenlesen geübt, welches den 
Grundstock des Lesens bildet. Stets soll dabei den Kindern auch ein Sprachinhalt 
gegeben werden, so dass die Silben dadurch bedeutungsvoll werden. Durch Beziehung 
aufeinander soll der Konzentration Rechnung getragen werden. — Es sind in letzter 
Zeit so viele neue Fibeln erschienen, dass es geboten erscheint, jede Neuerscheinung 
mit einem gewissen Mass von Vorsicht aufzunehmen. Wir raten deshalb zur Prüfung 
dieser Methode durch einzelne Versuche. 


164 


Miütterfibel. Eine Anleitung für Mütter, ihre Kinder selbst lesen 
zu lehren. Von Berthold Otto. Leipzig 1903. ni von K. G. Th. 
Scheffer. 128 Seiten. Preis Mk. 2,40. 

Die Schrift bildet in der Hauptsache eine Anleitung zur - Einführung der Kinder 
in eine vernünftige Jautbildung, Lautzusammensetzung und Jerlegung der Wörter in 
Laute. Sie behandelt also die theoretische Vorarbeit zum Lesenlernen, die von den 
Müttern auf Grund der vorliegenden Anweisungen geleistet werden kaun. Die Kinder 
sollen nach diesem Verfahren genau lernen, an welcher Stelle des Mundes jeder einzelne 
Lant gebildet wird und welche besondere Bewegung nötig ist, um ihn zu erzeugen, 
d. h. sie lernen die Laute in ihrer Entstehung begreifen, Daher nennt der Verfasser 
sein Verfahrem „begriffliche Methode“ des Lesenlernens. Jedem Laute wird 
mit Bezug auf seine Bildung ein entsprechender Name gegeben, z. B. a = Öffner, 
e — Drücker, i = Quetscher, o = Runder, u = Spitzer. Das Wort „Lampe“ wird 
folgendermaßen zerlegt: Zungenbrummen (l), kurzer Öffner (a), Lippenbrummen (m), 
Lippenstoss (p), kurzer Drücker (e). Die Kinder erhalten also für jeden Laut einen 
Namen, der in innigster Beziehung zu seinem Wesen steht. Es lässt sich nicht 
leugnen, dass ein solches Verfahren das I,esenlernen gut und erspriesslich vorbereiten 
und eine phonetische Schulung der Kinder erzielen wird, wie sie bisher keine Lose- 
lehrmethode erreicht haben dürfte. Die Idee der phonetischen Schulung im ersten 
Leseunterrichte halten wir durchaus für berechtigt, allein "die Einführung der Kinder 
in einen ganzen Apparat von Benennungen, die später im wirklichen Lesen ganz ver- 
schwinden, erscheint uns zu umständlich und überflüssig. Der Schwerpunkt beim 
Lesenlernen wird hauptsächlich auf eine innige Verbindung von Laut und Lautzeichen 
zu legen sein, allerdings kann eine phonetische Schulung der Kinder nach der Weise 
des Verfassers dem Lesenlernen goldene Brücken banen. Daher empfehlen wir die 
Vorschläge des Verfassers unseren Lesern zur Beachtung und raten zum Versuchen 
und Prüfen derselben. Die ganze Schrift zeichnet sich. durch klare Gliederung und 
übersichtliche Darstellung der Gedanken, die in pädagogischer und didaktischer Beziehung 
mancherlei Anregungen bieten, vorteilhaft aus; kein Leser wird das Buch ohne Nutzen 
aus der Hand legen. 


Anhalt. Die Stellung des Arztes an der Hilfsschule, die Stellung des Lehrers 
Schwachsinniger zur Medizin in früherer Zeit. (Dr. Berkhan.) — Wie vermittelt die 
Hilfsschule ihren Zöglingen die Kenntnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse. 
(H. Horrix) — Die Befreiung der Zöglinge der Hilfsschule vom Militärdienste. 
(A. Müller.) — Ergebnisse einer zahnärztlichen Untersuchung von 84 Kindern der 
Magdeburger Hilfsschule. (Dr. Greve.) -- Die Fürsorge für Idioten und Epileptische 
in Württemberg. (Dr. Wildermuth.) — Mitteilungen: Erfurt, Grossherzogtum Hessen, 
Mainz, Nürnberg, Worms, Zürich. — Literatur: Frenzel, F., Die Hilfsschulen für schwach- 
befähigte Kinder. — Stilling, Dr. J., Die Kurzsichtigkeit. — Schulthess, Dr. W., Schule 
und Rückgratsverkrümmung. — Lehmann, E., Silberfibel. — Otto, B., Mütterfibel. — 





Für die Schriftleitung verantwortlich: W, Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. 
Druck von Johannes Pässler in. Dresden. 


16 J4 | a 
Nr. 11 u. 12. XIX. (ll) Jahrg. 


Zeitschrift 


für die 


Behandlung Schwachsinniger und KDleptscher 


Organ der Konferenz für das ; Idiotenwesen. 


Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen 
herausgegeben von 
Stadtrat Direktor W. Schröter, _Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 


Spezialarzt 


Drenden - Strehlen, für Nervenkrankheiten 

Residenzstrasse 27. in Stuttgart 
Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu nenenen durch alle Buchhandlungen 
nindestens einem Bogen. Anzeigen ron | Dezember 1903 und Postämter, wie auch direkt von der 


lie gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- « ;, Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, 
rarische Bellagen 6 Mark. | einzeine Nummer 50 Pfg. 





Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. 


Die Auswechslung von Schülern in den Hilfsschulklassen. 
Im Lichte der Praxis dargestellt von Hilfsschulleiter Wettig, Mainz. 


Kielhorn, der rührige und verdiente Hilfsschulveteran, welcher seit 1881 
die Braunschweiger Hilfsschule leitet, hat zum 2. Verbandstag deutscher Hilfs- 
schulen zu Kassel 1899 über die Organisation der Hilfsschule eine Reihe von 
Thesen vorgeschlagen. Die Beratung derselben erstreckte sich bis jetzt über 
drei Verbandstage, nachdem der Verbandsvorstand zuvor eingehende Spezial- 
beratungen darüber gepflogen. Auf dem Mainzer Verbandstage wurde unter 
anderın auch die nachstehende These widerspruchslos angenommen: „IIT. Stunden- 
plan. 6. In der mehrklassigen Schule ist darauf Bedacht zu nehmen, dass ein- 
zelne Kinder in einzelnen Fächern ausgewechselt werden können.“ Obschon die 
These 4 Jahre bekannt war, hat sich in der Literatur unseres Wissens hiergegen 
kein Widerspruch erhoben. Als in Mainz sich zuvor Arno Fuchs-Berlin für 
die Freiheit des Stundenaustausches innerhalb derselben Woche sprach, wurde 
ihm vom Referententische aus unter allgemeiner Zustimmung mit Hinweis auf 
die in Frage stehende These das Unmögliche seiner Forderung dargetan. 
Geh. Oberregierungsrat Brandi, der Referent für das Volksschulwesen im 
preussischen Unterrichts-Ministerium, schreibt in einem sehr instruktiven Artikel 
über die Hilfsschule („Die Woche“. Jahrg. 1903, Heft 31) hierzu: „Ein und 
dasselbe Kind kann verschiedenen Klassen angehören, wenn es beispielsweise 
für Rechnen kein Verständnis besitzt, dagegen im Lesen Fortschritte macht, 
oder umgekehrt.“ 

Es dürfte deshalb nicht nur in Mainz, sondern auch sonst einiges Kopf- 
schütteln erregen, dass man jetzt post festum diese in langjähriger Erfahrung 


166 


erprobte Massregel als „sinn- und nutzlos“ hinstellt. Dem Verfasser des Artikels 
(Nr. 8 dieser Zeitschrift) muss allerdings zugute gerechnet werden, dass er 
seinen Widerspruch nicht früher geltend machen konnte, weil er zur Zeit des 
4. Verbandstages erst ein Jahr an der Hilfsschule unterrichtete und ihm zudem 
in dieser Zeit keine Gelegenheit gegeben war, den Erfolg der Schülerauswechse- 
lung zu beobachten; andere Hilfsschulen als die Mainzer kennt er nicht und 
von Anstalten hat er nur die Idsteiner gelegentlich des Verbandstages zu 
Ostern d. J. gesehen. Seine Beschäftigung mit der einschlägigen Literatur ist 
gleich alt und gleich umfangreich. Man wird daraus die Gemütsruhe begreifen, 
mit der er schreibt: „Wo immer ich dieser Frage in Rede oder Schrift begegnete, 
konnte ich mich mit ihr nicht vertraat macben und heute“ — (nach ungefähr 
4 wöchentlicher Beobachtung) — „wo meine Klasse von dem Austausch in Mit- 
leidenschaft gezogen ist, kann ich mich auch noch nicht von dessen Nützlichkeit 
und Notwendigkeit überzeugen.“ 

Mit dem Verband und dessen Vorstand sind wir auf Grund schönster, 
selbst damit erzielter Erfolge bestens von der Nützlichkeit der Auswechselung 
überzeugt und gestatten uns deshalb, unbeirrt von dem wissenschaftlichen 
Mäutelchen des Herrn Verfassers, das doch nur seine persönliche Gereiztheit 
schlecht verdeckt, streng sachlich dafür einzutreten. 

Die Auswechselung einzelner Kinder in einzelnen Fächern ist selten 
eine dauernde Einrichtung, sondern meistens eine vorübergehende. Sie greift 
nur dann Platz, wenn das Bedürfnis aus dem geistigen Standpunkt des Kindes 
gewissenhaft festgestellt ist. Dieselbe erfolgt olıne Rücksicht auf Personen, 
besonders nicht, um die oberen Klassen zu entlasten. Das wäre gefrevelt an 
den armen Kindern. Es können jahrlang ganze Klassen davon verschont bleiben, 
andrerseits kann der Fall eintreten, dass sie in demselben Jahrgang mehrfach 
nötig wird. Sie gilt nicht bloss für die unteren, sondern für alle Klassen der 
Hilfsschule. Massgebend für ihre Anwendung ist allein das Bedürfnis, d. h. das 
wohlverstandene Interesse des davon betroffenen Kindes. Hat dieses Bedürfnis 
seine Befriedigung gefunden, so fällt die Auswechslung weg, nicht früher und 
nicht später. Eine Überlastung der Klasse darf durch sie nicht hervorgerufen 
werden. Sie ist nur mit Erfolg durchführbar, wenn Jas ganze Hilfsschul- 
personal alle Kinder der Schule mit gleicher Liebe und Wärme umfasst; 
ängstliches Besorgtsein nur für die eignen Klassenkinder vereitelt den Erfolg. 
Sie erfordert eine gewisse jugendliche Elastizitāt und präzise Anwendung der 
psychologischen Gesetze seitens des Lehrers. An ihr lässt sich die Tauglichkeit 
zam Hilfsschullehrer trefflich erproben. 

Die ihr gemachten Vorwürfe treffen nicht. 

In der Regel kommen die Kinder nach zweijährigem, erfolgreichem Ver- 
weilen in der Normalschule zur Hilfsschule Hier gilt es nun ihre zurück- 
gebliebenen langsamen Geisteskräfte zu wecken, anzuregen und zu fördern. Das 
geht langsam und mühsam für beide Teile von statten. Nicht immer gelingt 
es genügend, nicht immer gleichmässig in allen Disziplinen. Das eine versagt 
im Rechnen, das andere im Behalten der Buchstabenformen, das dritte im 


167 


Sprechen nnd Erfassen der einfachsten Sachverhältnisse. Wenn sich uun am 
Ende des Schuljahres dieser Zustand auch noch zeigt, was tun? Es „unberufen 
und stillschweigend noch ein Jahr weiter auf der seitherigen Stufe unterrichten‘, 
ist allerdings ein einfaches Mittel. Kind und Eltern sird ja seit 2 Jahren ans 
„Sitzenbleiben“ gewöhnt. Sie werden leicht abzufinden sein. Ist man aber dem 
Interesse des Kindes damit gerecht geworden? Nur in dem einen Fall, dass 
es in allen Disziplinen versagt. Wenn auch nur in einem Fach bessere Leistungen 
vorhanden sind, nicht mehr. Hier muss die Hilfsschule zu Mitteln greifen, die 
in der allgemeinen Volksschule nicht durchführbar sind. Dafür ist sie gegründet, 
dafür ist ihre Klassenfrequenz so klein, dafür werden ihre Lehrkräfte besonders 
honoriert! Ein so!ches Mittel ist die Auswechselung der Kinder in mehrklassigen 
organisierten Hilfsschulen. Ist das Kind nur in einem Fach fortgeschritten, so 
wird ihm unter ausdrücklicher Anerkennung seiner Leistung erlaubt in 
diesem Fache mit der nächstfolgenden Klasse zu arbeiten. Mit Freude und 
Stolz vernimmt es dieses Lob im Gegensatz zu früher, wo es vielleicht nur 
Tadel und Zurücksetzung erfuhr. Es wird in diesem Falle nach oben aus- 
gewechselt. Ist das Kind in mehreren Fächern genügend fortgeschritten und 
nur in einem zurückgeblieben, so steigt es in die nächste Klasse auf. Seine 
Leistungen werden anerkannt, ihm aber zugleich bedeutet, dass sein Fleiss und 
sein Streben noch erweiterungsfähig sind und ihm zugleich greifbar veranschaulicht, 
in welcher Richtung das geschehen muss; es wird in diesem Fach nach unten 
ausgewechselt Ein solches Kind auch in der zurückgebliebenen Disziplin in 
der oberen Klasse unterrichten und mitschleppen wollen, hiesse die olınehin 
schon schwere Arbeit der Hilfsschule unnötig vermehren und die Kraft des 
Lehrers zwecklos verbrauchen. Gar leicht käme es auch zur praktischen An- 
wendung des Satzes: „Wer nicht mitkommt, den lasse ich ruhig sitzen!“ Nun 
dazu braucht ınan aber keine Hilfsschule! Dı aber ein Kind nicht eher laufen 
lernt, als bis es auf den Beinchen stehen kann, bringt man es vernünftiger- 
weise dahin, wo es am leichtesten stehen lernt. An der geschickten und klugen 
Darstellung und Auffassung dieser Momente den betroffenen und den anderen 
Kindern gegenüber zeigt sich der brauchbare Hilfsschullehrer. Die richtige 
Ausführung ist wirkliche individuelle Behandlung, kein „Schlagwort“! 
Wine Darstellung nun, welche in solcher Ausführung unserer Massıegel für das 
Kind eine „Kränkung“, eine „Verletzung des Ehrgefühls“, eine „Verdemütigung 
als Ausgeschiedener“ erblickt, oder gar das „Gegenteil von individueller Be- 
handlung“, stellt die Tatsachen auf den Kopf und — ist eben „nicht ver- 
traut“ mit der Sache! Aber der Lehrer, der den Ausgewechselten los wird 
oder erbält, einerlei! kann der jetzt „Gesamtunterricht Platz greifen lassen?“ 
Wie naiv! Das kann nur jemand behaupten, der die Hilfsschule und ihre Kinder 
nicht genügend kennt, oder sich in der Normalschule in eine Schablone ein- 
gewöhnt hat, aus der er nicht heraus kann. In meiner 11jährigen Hilfsschul- 
praxis fand ich niemals eine Klasse, in der Gesamtunterricht erteilt werden 
konnte; fast jeder Schüler musste mehr oder weniger besonders (individuell) an- 
gefasst werden. Wer etwas anderes erwartet, vergisst, dass er an der Hilfs- 


168 


schule ist. Die in einzelnen Fächern ausgewechselten Kinder bringen keine 
Ausnalhıne, weder beim Kommen noch beim Geben. Das mir in dieser Zeit 
unterstellte Lehrpersonal hat mit einer einzigen Ausnahme auch immer so ge- 
dacht. Es beruht eben die ganze Einrichtung auf Gegenseitigkeit und in 
diesem Sinn haben wir den zitierten Ausspruch Gutzmanns: „Einer trage des 
andern Last!“ etc. wie wir hoffen, im Interesse unsrer armen Hilfsschulkinder 
richtig angewandt. Eine Mehrbelastung der gerade so oft betonten untersten 
Klasse ist dadurch niemals entstanden. Ihre Frequenz war stets die kleinste. 
Auch die Auswahl der auszuwechselnden Kinder macht von diesem Gesichts- 
punkt und Willen sus durchaus keine Schwierigkeiten. Der Hilfsschulleiter 
braucht das Kind gar nicht einmal zu prüfen, um unglücklicherweise gerade 
dann zu kommen, wenn es „nicht aufgeräumt“ ist; er muss durch seine Klassen- 
besuche während des Jalıres sein Urteil mit dem Klassenlehrer gebildet haben. 
Es darf aber niemand an „abschieben“ oder „oben“ und „unten“ denken, sondern 
es ist nur die eine Frage zu beantworten: was nützt meinem Zögling? 

Dass die Auswechselung nur möglich ist, bei Gleichlegung der ent- 
sprechenden Stunden versteht sich hiernach von selbst. Eine vollständige 
Gleichlegung ist nicht nötig und wird wohl auch nirgends der Fall sein. 
„Unpädagogisch“ kann das aber nicht sein.. Auf dem Mainzer Verbandstag 
äusserte sich Pietzsch-Leipzig bierüber folgendermassen: „Diese Einrichtung 
ist auch von erziehlicher Bedeutung insofern, als sie es ermöglicht, im allge- 
meinen reclıt schwache Kinder, die jedoch in einigen Fächern etwas mehr leisten, 
in diesen Fächern in eine höhere Klasse zu bringen; dadurch aber wird das 
Selbstbewusstsein derselben mächtig gefördert. Auf diese Weise er- 
reichen auch möglichst viele Kinder wenigstens in der Mehrzahl der Fächer 
die 1. Klasse.“ (Bericht ü. d. 4. Verbandstag etc. Seite 124.) Dass Kielhorn 
seine These auch auf ihren pädagogischen Wert geprüft und erprobt, dürften 
nachstehende Sätze beweisen, die er in seinem einleitenden Vortrage zu der in 
Rede stehenden Debatte gesprochen (Bericht Seite 108): „. .. . wir wollen aus 
den uns anvertrauten Kindern religiöse und sittliche Menschen bilden! .... Wir 
wollen sie dahin führen, dass sie ihren himmlischen Vater empfinden, lieben 
und erkennen lernen — und dass sie die Brüder auf Erden lieben! .... Die 
Bildung des Herzens, des Gemütes, der Lebensfreudigkeit sei unsre nächste 
Aufgabe. Das Rechtsgefühl, das Rechtsbewusstsein werde in der Kindern wach- 
gerufen und geschärft! .... In führende Lebensstellungen einzurücken, ist 
unseren Kindern versagt. Erziehen wir sie daher so, dass sie willig werden und 
sich führen lassen; denn der willige und fügsame geistesarme Mensch ist wohl 
zu leiden, während der unbotmässige überall gemieden wird. Sorgen wir aber 
auch dafür, dass sie sich nicht blindlings führen lassen, dass sie prüfen und 
urteilen lernen, ob der Führer nicht ein Verführer ist. ... . Selbsterkenntnis 
und Menschenkenntnis, Nächstenliebe und Liebe zu Gott — das sind Dinge, die 
unseren Kindern als tägliche Nahrung vorgesetzt werden müssen .. .“ Einem 
Manne, der so spricht vor einer Versammlung von erfahrenen, zum grossen Teil 
in höheren leitenden Stellen sich befindlichen Männern, wird man doch keine 


169 


„unpädagogische“ Massregel zutrauen. Und was soll man von einer Ver- 
sammlung denken, die derselben einstimmig und widerspruchslos zustimmt ? 

„Der Austausch erschwert die Aufstellung des Stundenplanes, fordert die 
unpädagogische Gleichlegung des Stundenplanes, die verwerfliche Aufeinander- 
folge der schwierigen Unterrichtsstunden und die ermüdende Unterrichtszeit für 
die Kleinen.“ Vier schwere Vorwürfe in einem, allerdings zusammenfassendeu 
Satzel Einer davon wurde soeben erledigt. Eine besondere Eıschwerung der 
Aufstellung des Stundenplanes ist mir durch diese fragliche Massregel nicht 
erwachsen. Die Erschwerung trat meistens erst ein, wenn ausgesprochene und 
nicht ausgesprochene Sonderwünsche indirekt sich geltend zu machen ver- 
suchten. Unvermeidliche Umstände, welche einen wirklichen Austausch nach 
sich ziehen, wie die Zusammensetzung der Religionsklassen in Simultanschulen 
und diejenige der Handarbeits- und Turnklassen mit Rücksicht auf die ver- 
fügbaren Räume und wenn Knaben und Mädchen vereinigt sind, können hier 
nicht in Betracht kommen, machen sich auch in der Normalschule häufig in 
noch schärferer Form geltend. 

Bei der Debatte über die Unterrichtszeit wurde auf dem 4. Verbandstag 
von autorativer Seite wiederbolt betont, dass in der Hiltsschule die Unterrichts- 
stunden alle schwer sind, mögen sie folgen wie sie wollen. Eine jede nimmt 
die ganze Kraft des Lehrers in Anspruch. 

Welche Fächer für den Schüler schwieriger sind, darüber ist bekanntlich 
der Streit noch nicht entschieden, ebensowenig als es genau feststeht, in welcher 
Stunde die Kinder am leistungsfähigsten sind; es haben die bekannten Er- 
müdungsmessungen hierüber recht eigentümliche, zum Teil sich widersprechende 
Resultate ergeben. Volle Unterrichtsstunden dürfte es wohl nirgends mehr 
geben. Kielhorn hat auf dem Mainzer Verbandstage folgende These zur An- 
nahme gebracht: „Jede Unterrichtsstunde werde durch eine Pause von 10 bis 
15 Minuten gekürzt.“ Unsere Hilfsschule hat, konform dem nebenan gelegenen 
Gymnasium, nach jeder Stunde 15 Minuten Pause. Und die restierenden 
45 Minuten sollte man nochmals teilen? Was bliebe nach Abzug der hierzu 
nötigen Vorkehrungen dann noch für den Unterricht übrig? Wie lange könnte 
man sich dann in einer Rechenstunde von 20 Minuten bei einer Klassenstärke 
von 18, 20, 24 Schülern mit dem einzelnen beschäftigen? Oder soll nicht 
jeder täglich daran kommen? Im Deutschen aber ist der Wechsel zwischen 
Lesen, Schreiben, Anschauung und Gedicht in jeder Stunde, jeden Augenblick 
möglich. Wer hindert den Hilfsschullehrer daran, bei eintretender Erschlaffung 
rasch einmal ein Liedchen singen zu lassen oder einige Freiübungen im Stehen 
vorzunehmen? „Langweilig, ermüdend, abstumpfend“ soll das sein? Dann 
haperts anderswo! Was trifft also von den 4 Vorwürfen? Nichts! sie sind 
zweckentsprechend gesucht! 

Nicht besser ist es bestellt mit den drei weiteren: Störung der Schulordnung, 
schwere Opfer für Eltern und Gemeinden, Verstoss gegen den Konzentrationsgedanken. 

Die Ordnung an der Hilfsschule ist vielleicht etwas anders als an der 
Normalschule; aber eine andere Ordnung ist doch noch keine Unordnung. 


170 

Die Gleichlegung einer Anzahl Stunden für den ganzen Schulkörper bringt dem 
schwachbegabten Kinde selbst beim Übertritt in eine andere Klasse keine neue Zu- 
mutung Die wichtigsten Stuuden liegen für dasselbe die ganze Schulzeit hindurch 
an den gleichen Tagen und den gleichen Stunden. Wenn nun das eine oder 
andere Kind am Schlusse einer Stunde aufmerksam zu machen ist, dass es 
nach der Pause vom Hofe aus in ein anderes Klassenzimnier zu gehen hat, 
um nach der zweiten Pause wieder im ersten Klassenzimmer einzutreffen, kann 
man das ein „Illusorischmachen der heiligen Orduung, dieser srgensreichen 
Himmelstochter“, „ein permanentes Wandern“ nennen? Ist wirklich eine stärkere 
Übertreibung und Verdrehung möglich? Die Ordnung an der Hilfsschule ist 
gerade durch die Gleichlegung stabiler als irgendwo. Es verlangt das Ans- 
wechseln des einzelnen Kindes in einzelnen Fächern nur eine gewisse Mühe — 
das im Anfang häufig nötige Erinnern des verges lichen Kindes — was aller- 
dings der an langjährigen „Gesamtunterricht“ gewöhnte Lehrer leicht vergisst. 
Für mich gebört dieses Erinnern eben auch zur individnellen Behandlung. 

Mit der Forderung einer Teilung der Hilfsschule und Verlegung „an ver- 
schiedene Punkte des allzu ausgedehnten Ortes“ wird trotz gegenteiliger Ver- 
sicherung die Hilfsschule selbst angegriffen. Hier kann auch ein „Nicht- 
vertrautsein‘“ nicht geltend gemacht werden. Auch der jüngste Tehrer kennt 
die Vorteile der mehrklassigen Schule vor der einklassigen. 

In grösseren Städten und wo sich sonst das Bedürfnis geltend macht, wie 
Breslau (9), Dortmund (2), Dresden (2), Essen (2), Hamburg (8), Leipzig (3) 
Köln (2), Charlottenburg (3), hat man mehrere Hilfsschulen errichtet, wie aus 
den beigefügten Zahlen zu ersehen ist. Einige sächsische Städte machen eine Aus- 
nahme. In anderen Städten, wie beispielsweise Frankfurt a. M. und unseres 
Wissens auch Leipzig erhalten weitwohnende Kinder Freikarten zur Benützung 
der Strassenbahn auf dem Schulweg. Kleineren Städten eine Zerstücklung ihrer 
organisierten Hilfsschulen zumuten, heisst dieselbe ihres Erfolges und damit 
ihrer Existenzberechtigung berauben. Das klassische Beispiel hierfür ist — 
Berlin, weil man dort die nötigen Beweise unfreiwillig gesammelt hat. Ent- 
gegen den meisten übrigen deutschen Städten hat man dort erst 1898 an- 
gefangen, die schwachbegabten Kinder in Einzelklassen zu sammeln. Man 
hoffte, nach dem Verwaltungsbericht des Magistrats, bessere Resultate zu erzielen 
und die Kinder baldigst dem regulären Unterricht wieder zuführen zu können. 
Die Einzelklassen wurden besucht 1898 von 267 Kindern, 1899 von 648, 
1900 von 701. In den ersten 3 Halbjahren konnten davon nur 21 und im 
Jahre 1900 nur 20 Kinder dem Normalunterricht zurückgegeben werden. 
„Damit,“ schreibt Dr. v. Gizyeki, Stadtschulinspektor in Berlin-Pankow, „ist 
aber auch die Auffassung widerlegt, als könnten die Nebenklassen auf die Dauer 
ein unselbständiges Anhängsel der Gemeindeschulen bleiben .... man muss 
hier doch für weitere Kreise die Tatsache feststellen, dass wir es in unseren 
Nebenklassen mit unendlich verschieden gearteten Individuen zu tun haben, 
deren jedes seinen eignen Charakter und sein Temperament, seine Schwächen 
und Fehler, ja unter Umständen seine besonderen günstigen Anlagen und 


171 


Talente auf engbegrenztem Gebiete besitzt. Diese Individualitäten in jedem 
Falle zu erkennen, erfordert ernstes, wissenschaftliches Studium, sie richtig zu 
behandeln, hervorragenden pädagogischen Takt.“ Dann fährt er weiter: „Da die 
vereinzelten Nebenklassen in sich gewöhnlich Kinder mit ganz verschiedenen 
 Entwicklungsstufen vereinigten, sah man sich auch in Berlin genötigt, dem 
System der Hilfsschule insoweit entgegenzukommen, dass man an verschiedenen 
Stellen mehrere, einander übergeordnete Nebenklassen kombinierte. Auf diese 
Weise entstanden zablreiche kleine Schulorganismen, welche es dem Lehrer er- 
möglichten, gleichweit geförderte Kinder in Gruppen zu vereinigen. Einzelne 
Nebenklassen befinden sich zur Zeit (Ostern 1902) noch an 15 Gemeiudeschulen, 
je 2 an 17, je 3 an 6, 4 an einer Schule und 7 an einer Schule.“ Ein weiteres 
Nähern zu dem Hilfsschulsystem besteht in der Erhöhung der wöchentlichen 
Unterrichtsstunden von 12 auf 18—24. „Die Hilfsschule bietet den versprengten 
Einzelklassen gegenüber dieselben Vorteile, wie die melırklassige Stadtschule 
gegenüber der einklassigen Dorfschule. Bei schwachsinnigen Kindern aber ist 
die Scheidung in Gruppen von gleicher Entwicklung noch notwendiger als bei 
normalen Kindern“ „Natürlich bedürfen selbständige Hilfsschulen ihrer eignen 
Räume mit zweckmässiger Ausstattung. Am besten werden sie in eignen 
Schulbäusern mit ausreichendem Hofe und einem nicht zu kleinen Garten unter- 
gebracht. Dass auch eine selbständige pädagogische Leitung durch einen sach- 
verständigen Rektor, eine ausreichende Sammlung von Lehrmitteln und eine die 
wichtigste Fachliteratur umfassende Lehrerbibliotbek vorhanden sein müssen, 
bedarf kaum einer besonderen Erwähnung“ Soweit v. Gizycki. Er mutet den 
Städten ganz „schwere Opfer“ zu und redet der „Vereinigung gleich weit ge- 
förderter Kinder in Gruppen“ auf Grund unliebsamer Erfahrung entschieden das 
Wort. Also auch hier, Herr Schwahn, stehen Sie allein, nein, doch nicht, 
sondern bei den Gegnern der Hilfsschule; die sind aber in der Regel auch 
„nicht vertraut“ mit der Sache Nun zum „Konzentrationsgedanken!“ Die 
Ausführung desselben ist bei normalen Kindern schwer und selten möglich. In 
der pädagogischen Literatur findet man deshalb die widersprechendsten Ansichten 
vertreten. Wir sind überzeugt, dass ein geschickter Hilfsschullehrer bei passender 
Gelegenheit auch das in anderen Fächern Erlernte zu benützen oder zu befestigen 
weiss. Wie oft wird das aber bei den fast gänzlichen Ausscheiden der Realien 
in der Hilfsschule möglich sein? Niemals wird das ausgewechselte Kind dabei 
zu Schaden kommen. Wir halten die diesbezüglichen Ausstellungen deshalb 
gleichfalls für gesucht und deplaziert. 

Andere, die Sache wenig treffende Behauptungen seien hier übergangen. 

Einig mit den Beschlüssen des Mainzer Verbandstages deutscher Hilfs- 
schulen wollen wir aber allen, die „Wert und Bedeutung, Erfolg und Segen der 
Hilfsschule nicht in hochtönenden Schlagwörtern suchen“, sondern in „stiller 
selbstloser Tätigkeit“, die alle Kinder der Illilfsschule mit gleicher 
Liebe und Hingebung umfasst, auch die „oberste Klasse‘ hiervon nicht aus- 
nimmt, allen diesen wollen wir die vortrefflich bewährte Einrichtung des Aus- 
wechselns einzelner Kinder in einzelnen Fächern bestens empfehlen! . 


ca 


Der Austausch von Schülern 
zwischen den versehiedenen Klassen der Hilfsschule. 
Von W. Busch, Lehrer an der Hilfsschule in Magdeburg. 


Unter dieser Überschrift veröffentlicht Herr Schwahn-Mainz einen Artikel 
in Nr. 8 dieser Zeitschrift und verwirft in seinen Ausführungen einen Austausch 
von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule, und zwar 
aus folgenden Gründen: 

1. Durch einen derartigen Austausch wird ein permanentes Wandern von 
Schülern veranlasst; dadurch kommt eine lästige Unruhe in den Schulkörper, 
und es wird ohne Not die Schulordnung gestört; 

2. die unteren Klassen erleiden dadurch eine empfindliche Mehrbelastung ; 

3. Leitern und Lehrern bereitet dieser Austausch Schwierigkeiten und 
Unzuträglichkeiten; 

4. Kindern, Eltern und Gemeinden werden dadurch unter Umständen 
schwere Opfer auferlegt; 

5. der Austausch erschwert die Aufstellung des Stundenplanes, fordert un- 
pädagogische Gleichlegung der Stunden, die verwerfliche Aufeinanderfolge der 
schwierigen Unterrichtsstunden und die ermüdende Unterrichtszeit der Kleinen; 

6. manchem Schüler nützt dieser Austausch absolut nichts, vielen wenig, 
einigen Geringes, das ihnen jedoch ohne ihn geworden wäre; 

7. die Ausgeschiedenen werden entmutigt, abgestumpft und verletzt; 

8. die Lehrer der oberen Klassen werden durch den Austausch weniger 
selbstlos und opferwillig; 

9. der individuelle Unterricht wird bedeutungslos gemacht; 

10. Lehrer und Kinder werden entfremdet und die Erziehung weniger 
gefördert; 

11. dieser Austausch verstösst gegen den Konzentrationsgedanken ; 

12. in Normalschulen findet ein solcher Austausch auch nicht statt. 

Obwohl ich dem Herrn Schwahn in einigen seiner Ausführungen zu- 
stimmen muss und anerkenne, dass ein Austausch von Schülern zwischen den 
verschiedenen Klassen eventuell zum Schaden für die Schule und die Kinder 
werden kann, möchte ich doch einen solchen Austausch nicht unter allen Um- 
ständen verwerfen und ihn als eine „sinn- und nutzlose Massregel“ bezeichnen. 

1. Wenn dieser Austausch ein permanentes Wandern von Schülern ver- 
anlasst, d. h. wenn von diesem Austausch viele Kinder betroffen werden und 
derselbe auf ein Kind in mehreren Fächern angewandt wird, so kann man 
allerdings von einer lästigen Unruhe im Schulkörper sprechen, wodurch ohne 
Not die Schulordnung gestört wird. Wird von dieser Einrichtung aber nur in 
dringenden Fällen Gebrauch gemacht, wie z. B. in der Magdeburger Hilfsschule, 
in welcher von über 300 Kindern nur etwa 15 in einzelnen Fächern in eine 
untere Klasse versetzt werden, so kann man wohl von einer lästigen Unruhe 
im Schulkörper nicht reden. Früher lagen die Verhältnisse in Magdeburg so, 
dass ein Austausch der Schüler zwischen den verschiedenen Klassen nicht statt- 


173 


finden konnte. Nachdem das jetzt aber möglich ist, haben wir zwar stets die 
Vorteile, welche diese Einrichtung mit sich bringt, wahrgenommen, nachteilige 
Erscheinungen dagegen konnten wir nicht bemerken. 

2. Dass durch einen solchen Austausch die unteren Klassen, die an und 
für sich schon die schwierigste Arbeit haben, noch mehr belastet werden, wenu 
in einzelnen Fächern auch noch Kinder der oberen Klassen hinzukommen, lässt 
sich nicht abstreiten, ist für mich aber noch kein Grund, deshalb von einer 
solchen Einrichtung abzusehen. In erster Linie kommt doch immer das Interesse 
der Kinder, und es wird wohl ohne Zweifel die Entlastung der oberen Klassen, 
und der Vorteil, den ein Kind durch eine derartige Einrichtung gewinnt, grösser 
sein, als die Belastung, welche die untere Klasse dadurch erleidet. 

3. Dass Leitern und Lehrern der Hilfsschule bei einem derartigen Aus- 
tausch Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten entstehen, kann ich nicht finden. 
Bei uns pıüft zwar der Leiter der Schule die einzelnen Kinder, richtet sich 
aber in zweifelhaften Fällen stets nach dem Urteile der Lehrer, von denen er 
allerdings bis jetzt nicht befürchten musste, dass sie durch eine derartige Ein- 
richtung einen „unsympatischen Schüler los werden“, oder sich gar „einer 
lästigen Arbeit entledigen wollen“. Dass von den Lehrern das entgegengebrachte 
Vertrauen nicht gemissbraucht wurde, zeigt sich auch aus dem Umstande, dass 
unter den Lehrern selbst bis jetzt nicht die geringste Klage laut wurde. So 
wie es bei uns ist, wird es sicher auch an anderen Orten sein. 

4. Wenn Kindern, Eltern und Gemeinden durch einen solchen Austausch 
schwere Opfer auferlegt werden, sollte man allerdings lieber davon absehen. 
Dass man aber bis jetzt, um einen solchen Austausch bewerkstelligen zu können, 
selbst die Klassen einer grösseren Stadt in einem Schulhause unterbrachte, ist 
wohl nirgends vorgekommen. Dass es aber ein Vorteil ist, wenn die Klassen 
eines Stadtteils zusammenliegen, braucht wohl nicht bewiesen werden. In 
Magdeburg liegen 13 Klassen an 6 verschiedenen Orten. Wären diese 13 Klassen 
an 3 Orten uutergebracht, so würde der Schulweg für die Kinder der einzelnen Klassen 
durchaus nicht weiter, unsere Schulorganisation aber bedeutend besser sein. In 
kleineren Städten wird man erst recht die Klassen zusammenlegen können, ohne 
dass der Schulweg für die Kinder zu weit ist, wenn man nicht gerade für die 
Hilfsschule das äusserste Ende der Stadt wäblt. Dies gilt selbstverständlich 
nur für Hilfeschulen mit aufsteigenden Klassen. Wenn man dagegen den 
Standpunkt vertritt, die Kinder bis zu ihrer Konfirmation in einer Klasse und 
bei einem Lehrer zu lassen, ist es gleichgültig, ob die Klassen zusammen- 
liegen, oder an verschiedenen Orten untergebracht sind. 

5. Der Begründung, dass ein solcher Austauch die Aufstellung des Stunden- 
planes erschwert, eine unpädagogische Gleichlegung der Stunden, eine ver- 
werfliche Aufeinanderfolge der schwierigen Unterrichtsstunden und die ermüdende 
Unterrichtszeit der Kleinen fordert, kann ich nicht zustimmen. Wenn jede 
Klasse ihren eigenen Lehrer hat (wo das nicht der Fall ist, sind unnormale 
/ustände, die wir hier gar nicht in Betracht ziehen dürfen) wird die Aufstellung 
des Stundenplanes nicht erschwert sein: jede Klasse wird in ein und derselben 


174 


Stunde in ein und demselben Fache unterrichtet. Ob in der Unterklasse der 
einstündige oder halbstündige Unterricht der bessere ist, will ich nicht ent- 
scheiden. Man muss aber immer bedenken, dass sich der Unterricht niemals 
eine volle Stunde, sondern nur 45—50 Minuten ausdehnt, und wenn man weiter 
bedenkt, dass selbst in einer 3—6 klassigen Hilfsschule in den einzelnen Klassen 
immer noch verschiedene Abteilungen sind, die unterrichtet sein wollen, so ist 
meines Erachtens eine volle Unterrichtsstunde weder für den Lehrer noch für 
die Schüler zu lang. Als Lehrer der Unterstufe habe ich bis jetzt noch nicht 
sefunden, dass eine solche Unterrichtsstunde auf meine Kinder „langweilig, er- 
müdend und abstumpfend“ wirkte. 

6. Am wenigsten finde ich die Behauptung begründet, ein solcher Austausch 
nütze manchem Schüler absolut nichts, vielen wenig, einigen Geringes, das 
ihnen jedoch ohne den Austausch geworden wäre. Dafür, dass mancher Schüler 
absolut keinen Erfolg von dieser Einrichtung hat, wählt Herr Schwahn einen 
extremen und vereinzelten Fall, und auch hier scheint mir der Beweis noch 
nicht erbracht zu sein. Vor allem können die 2 Jahre, welche das Kind in 
der Volksschule verbrachte, gar nicht gerechnet werden, es sei denn in negativem 
Sinne Am meisten fürchte ich die Arbeit an den Kindern, welche 2 und melır 
Jahre in der Volksschule Stumpfsinn getrieben haben; am liebsten sind mir die 
Kinder, welche ohne eine Schule besucht zu haben, mir überwiesen werden. Es 
bleiben also für das betreffende Kind nur die 2 Jahre der Hilfsschule übrig, in 
welcher Zeit es nicht im Zahlenkreise 1—20 rechnen lerute. Bei vereinzelten 
Kindern können nun die Behauptungen des Herrn Schwahn zutreffen, jedenfalls 
soll man aber einen vereinzelten Fall nicht verallgemeinern. Es ist sehr leicht 
möglich, und an unserer Schule haben wir Beweise dafür, dass bei einem Kinde 
im 3. und 4. Schuljahre in einem Fache, in welchem es bis jetzt fast vollständig 
aussetzte, ganz leidliche Fortschritte zu verzeichnen waren. Dass einem Kinde 
der Unterricht in einem solchen Fache der unteren Klasse nicht interessant ist, 
gebe ich gerne zu. Jedenfalls ist ihm aber der Unterricht in dem betreffenden 
Fache einer höheren Stufe, in welchem es überhaupt dem Unterrichte nicht 
folgen kann, noch wninteressanter. Dabei dürfen wir auch schliesslich nicht 
vergessen, dass das Kind in jedem Fache, wenn irgendwie möglich, etwas lernen 
soll. Hat es bis jetzt in der unteren Stufe nicht im Zahlenkreise 1—20 rechnen 
gelernt, so ist doch vollständig ausgeschlossen, dass es in der oberen Klasse 
bis 100 rechnen lernt. Jedenfalls ist aber bei einer Versetzung des Kindes in 
eine untere Klasse die Möglichkeit vorhanden, dass es auch in diesem Fache 
noch das Ziel der Unterstufe erreicht, auf welchem dann weiter gebaut werden 
kann. — Dass ein solcher Austausch von einem Schüler, der in einem einzelnen 
Fache nicht recht sattelfest ist, nicht gerechtfertigt ist, wird jeder zugeben. 
lst aber die Gefahr vorhanden, dass ein Kind in einer oberen Klasse keine 
Fortschritte macht, ja vielleicht sogar das notdürftig Gelernte wieder verloren 
geht, so ist eine Zurückversetzung in dem betreffenden Fache in eine untere 
Stufe angebracht. 

7. Dass ein Kind durch die Versetzung in eine untere Klasse unangenehm 


175 





berührt wird, ja sich vielleicht verletzt fühlt, ist begreiflich. Macht man aber 
von einer solchen Versetzung überhaupt keinen Gebrauch, so wird sich sehr oft 
ergeben, dass ein Kind überhaupt nicht in eine höhere Klasse versetzt werden 
kann. Dies ist dem Kinde dann noch viel schmerzlicher. Ausserdem wird ein 
Lehrer das Interesse des Kindes besser vertreten können, als dieses selbst. — 
Nicht beipflichten kann ich der Anschauung des Herrn Schwahn, dass die 
ausgeschiedenen Kinder entmutigt und abgestumpft werden. Im Gegenteil: 
diese Kinder werden nicht durch die Versetzung in eine untere Klasse, in 
welcher sie schliesslich dem Unterrichte folgen können, sondern vielmehr in der 
höheren Klasse, in welcher sie überhaupt an dem Uuterrichte nicht teilnehmen 
können, entmutigt und stumpfsinnig, wie sie es in der Volksschule wurden. 

Punkt 8 fällt mit Punkt 2 und 3 zusammen. Es sei hier nur nochmals 
gesagt: zuerst die Schüler, dann erst der Lehrer. 

9. Wenn ein Kind in 14—19 wöchentlichen Unterrichtsstunden nicht unter 
der Obhut des Klassenlehrers stebt, so ist das ein Übelstand, wie er kaum 
grösser gedacht werden kann. Daran ist aber nicht der Austausch schuld. Wie 
ich schon oben erklärte, soll jede Klasse ihren Klassenlehrer haben; von Fach- 
lehrern (ausgenommen vielleicht Handfertigkeit in der Oberklasse) kann doch in 
unserer Schule nicht geredet werden. Wenn wir dann ferner zur Bedingung 
machen, dass dieser Austausch für ein Kind nur in einem Fache und auch hier 
nur ausnahmsweise erfolgen darf, so kann er sich nur auf wenige Stunden er- 
strecken. — Dass unsere Kinder individuell behandelt sein wollen, wird niemand 
bestreiten. Man darf aber auch nicht zu weit gehen, wenn man nicht den 
Standpunkt vertreten will, die Kinder sollen während ihrer ganzen Schulzeit in 
einer Klasse und bei einem Lehrer sein. Sobald man aber aufsteigende Stufen 
hat, müssen die Kinder in erster Linie nach dem Grade ihrer Kenntnisse in 
diesen Stufen untergebracht sein. 

10. Dass Lehrer und Kinder entfreındet werden, und die Erziehung wenig 
gefördert wird, wenn der Austausch in der von Herrn Schwahn geschilderten 
Weise erfolgt, muss zugegeben werden; wenn er aber in der Weise erfolgt wie 
bei uns, so ist er für die Kinder in jeder Hinsicht von Vorteil. 

11. „Ein Austausch verstösst gegen den Konzentrationsgedanken.“ „Alles 
soll ineinandergreifen.“ Wenn man diesen Sätzen olıne jede Einschränkung zu- 
stimmt, kann ein Kind überhaupt nicht eher in eine höhere Klasse versetzt 
werden, als bis es das Pensum der vorhergehenden Klasse vollständig beherrscht. 
Dass aber Herr Schwahn diese Bedingungen selbst nicht stellt, gehi aus seinen 
Ausführungen klar hervor. 

12. Auth der Grund, weil in Normalschulen kein Austausch stattfindet, 
darf auch in der Hilfsschule keiner stattfinden, ist nicht stichhaltig. Wir gehen 
schon in so vielen Sachen, und zwar in ganz berechtigter Weise, nicht mit den 
Normalschulen; warum sollen wir es gerade in diesem Falle machen? Ganz 
unbegreiflich ist mir die Parallele zwischen Volksschülern, Gymnasiasten und 
Seminaristen einerseits und den Kindern der Hilfsschule andererseits! Ausserdem 
ist noch gar nicht gesagt, dass auch in Volksschulen ein solcher Austausch 


176 


nicht angebracht wäre. Ich stelle auf dem Standpunkte, dass die Normalschulen 
mit der Zeil viel mehr von uns, als wir von ihnen lernen können. 

Dies wären kurz meine Bemerkungen zu den Ausführungen des Herrn 
Schwahn. Wenn ich auch fast durchweg einen gegensätzlichen Standpunkt 
vertrete, so bin ich ihm doch für seine Ausführungen dankbar. Er hat eine 
Frage angeschnitten, über die noch viel gedacht und geredet werden muss, bis 
sie völlig geklärt ist. 


Die nordischen Versammlungen für Abnormsachen. 
Von H. Stelling-Emden. 


In seinen „Bemerkungen zu den Verhandlungen der IX. Konferenz für das 
Erziehungswesen der Schwachsinnigen“ („Kinderfehler*, Jahrg. IV, S. 21 ff.) regt 
Direktor Trüper-Jena den Zusammenschluss aller Interessenten der gesamten 
Heilpädagogik zu einem gemeinsamen heilpädagogischen Kongresse an, mit der 
Begründung, dass dann mehr geschehen könne und werde zur Ausbildung der 
wissenschaftlichen physiologischen und psychologischen Grundlage der Heilpädagogik, 
und dass dann der Einfluss dieser sämtlichen Interessenten auf die öffentliche 
Meinung mehr Nachdruck gewinnen werde. Diese Idee ist nun in den nordischen 
Ländern schon seit einer Reihe von Jahren in die Wirklichkeit umgesetzt. Bereits 
zum fünften Male haben die Angestellten der skandinavischen und finnländischen 
Blinden-, Taubstummen- und Idioten-Anstalten, der Krüppel- und Epileptiker-Asvle 
und die Sprachheillehrer ihre gemeinsamen Versammlungen abgehalten. Mit Rück- 
sicht auf die jetzt mitvertretenen Kliniken und Asyle hat man die Bezeichnung 
Abnormschulversammlung fallen lassen und dafür die jedenfalls zutreffendere 
Benennung „Versammlung für Abnormsachen“ angenommen. 

Wenn man sich allerdings das Progranım eines solchen Kongresses näher 
ansieht, so bekommt man nicht gerade den Eindruck, als ob die innere Verwandtschaft 
des Berufes diese verschiedenen Fachmänner zu gemeinsamer Tagung zusammen- 
geführt habe. Wenigstens lässt die geringe Zahl der auf den letzten beiden Ver- 
sarnmlungen in gemeinsamer Sitzung behandelten Gegenstände nicht darauf schliessen. 
Noch weniger ist dies aus der Zeitschriftenfrage herzuleiten. Der Antrag auf 
Vereinigung der beiden Zeitschriften: „Nyt Tidskrift for Abnormvaesenet* und 
„Nordisk Tidskrift för Döfstumskolan* ist in diesem Jahr zum zweiten Male durch 
den Widerstand der Taubstummenlehrer abgelehnt worden. Man wird also wohl 
nicht fehl gehen, wenn man annimmt, dass es finanzielle Gründe mit gewesen sind, 
die im Norden diese Vereinigung zu stande gebracht haben. 

Die „Fünfte Nordische Versammlung für Abnormsachen“ tagte vom 
6. bis 10. Juli d. J. in Stockholm. Der gute Ruf und die günstige Lage däs 
Ortes sind sicher die Veranlassung gewesen, dass an Vertretern der Behörden und 
der Wissenschaft, an Freunden dieses grossen Missionswerkes und an Fachgenossen 
und -genossinnen etwa 700 erschienen waren. Zum ersten Mal nahmen aucb 
3 Deutsche an dieser eigenartigen Zusammenkunft teil: Landesversicherungsrat. 
Hansen-Kiel, bekannt durch seine Bemühungen um die Erweiterung des Hand- 


Bien 


arbeitsunterrichts in deutschen Vflegeanstalten, dessen auf einer finnischen Webe- 
schule ausgebildete Tochter, Fräulein J. Hansen und Taubstummenlehrer Stelling- 
Emden wollte als Fachmann sich ebenfalls in erster Linie davon überzeugen, was 
von den im Norden gepflegten praktischen Arbeiten auf deutschen Boden verpflanzt 
werden kann. 

Für die eigentlichen Verhandlungen waren 4 Tage vorgesehen. In den 
gemeinsamen Sitzungen gelangten im ganzen 7 Sachen zum Vortrage, von denen 
aber nur die Zeitschriftenfrage eine längere Besprechung zur Folge hatte. Prof. 
v. Scheele-Upsala machte die Zuhörer mit seinen interessanten Forschungen über 
„Die innere Sprache“ bekannt. „Die schädliche Einwirkung der Ge- 
fängnisarbeit auf den Absatz der von Abnormen hergestellten Pro- 
dukte“ und „Die Mässigkeitsbestrebungen unter den Abnormen“ waren 
ebenfalls für die Allgemeinheit berechnet. Und da sich für eine Gruppe von 
Sprachheillehrern nicht die genügende Teilnehmerzahl gefunden hatte, mussten auch 
folgende beide Themen dahin verwiesen werden, nämlich: „Wohin gehören die 
Kinder, welche an Aphasie leiden?* und „Die Atmung und die nervösen 
Sprachfehler, insonderheit das Stammeln‘“. 

Die übrigen sehr zahlreich angemeldeten Arbeiten waren den Gruppen über- 
wiesen worden. ÖObenan standen die Taubstummen-Gruppe und die für die Geistes- 
schwachen mit 25 bezw. 21 Themen. Das Programm der Blinden-Sektion wies 
15 Vorträge auf. Von Vertretern der Krüppel- und Epileptikersache waren dagegen 
nur 11 bezw. 3 Anmeldungen eingegangen. Dass nicht alle diese Themen in 
den 4 Tagen erledigt werden konnten, selbst wenn die aufs neue angenommene 
Geschäftsordnung streng gehandhabt woıden wäre, nach welcher dem Vortragenden 
für die Einleitung und Begründung seiner Leitsätze nur 20 Minuten bewilligt 
werden dürfen, und jedem Redner das Wort höchstens 2 mal auf 5 Minuten erteilt 
werden darf, liegt auf der Hand. 

In der Gruppe für den Unterricht und die Pflege der Geistesschwachen 
kamen z. T. recht interessante Vorträge zur Verhandlung. Der Leiter der von 
Kopenhagen nach Breining auf Jütland verlegten Kellerschen Anstalten, Prof. 
Dr. Chr. Keller, sprach „Über die Beziehungen zwischen den Anstalten 
für Geistesschwache und Geisteskranke“, und suchte die Frage zu klären, 
ob die Fürsorge für die Geistesschwachen sich auf dem rechten Wege befinde, 
wenn sie sich mehr und mehr von den Geisteskranken loszumachen suche. Un- 
gefähr die gleiche Materie behandelte Direktor Hedmann-Tavastehus (Schweden). 
Er beklagt, dass die geisteskranken Kinder im eigentlichen Sinne des Wortes, die in 
den Idiotenanstalten höchst störende Elemente abgeben, immer noch nicht die 
genügende Berücksichtigung finden. Die bildungsunfähigen können den Asylen 
überwiesen werden. Aber die unterrichtsfähigen Schwachen? Mancherlei Un- 
annehmlichkeiten drängen auf Absonderung. In grossen Anstalten kann dies 
durch Bildung einer besonderen Abteilung geschehen; besondere Anstalten würden 
allerdings die beste Organisation abgeben. 

„Über das Ziel des theoretischen Unterrichts bei schwachsinnigen 
Kindern“ referierte Direktor Jönssen-Kaallered (Schweden). Schulinspektor 


178 
Keller-Breining befasste sich im besonderen mit der Konfirmation dieser Kinder 
und will sie auf die bestbegabten beschränkt wissen. 

Der vorzugsweise praktische Sinn der skandinavischen Heilpädagogen trat 
schon in den 3 über das Arbeitsheim und das Asyl angemeldeten Vorträgen hervor, 
noch melır aber in den beiden, die sich mit den Handarbeiten und dem Slöid bei 
Geistesschwuchen beschäftigten Die von dem Slöidlehrer K. Johanssen-Stockholm 
gebotene Arbeit: „In welchem Maße fördern Slöid und Handarbeiten des 
geistesschwachen Kindes Erziehung? Welchen Nutzen gewährt eine 
grössere oder mindere Fertigkeit darin dem Fortkommen des Geistes- 
schwachen?“ fand allgemeinen Beifall. Der Redner führte aus, dass die praktische 
Betätigung bei solchen Kindern eine viel grössere Bedeutung hat, als bei den 
normalen, weil durch die Arbeit mit den Händen auch die Geisteskräfte geweckt 
werden. Durch die Hände kann man zum Gehirn des Kindes gelangen. Nur die 
Anstalten, welche ihren Zöglingen einen sorgfältig angeordneten Handfertigkeits- 
und Handarbeitsunterricht bieten, berücksichtigen in richtiger Weise das Bedürfnis 
des geistesschwachen Kindes. Soll dies erreicht werden, so muss allerdings folgendes 
gefordert werden: 

1. Dor Slöid ist den übrigen Unterrichtsfächern völlig gleichzustellen. 

2. Er muss sowohl in den Vorbereitungsklassen als in den nächstfolgenden 
Abteilungen den erziehlichen Zweck als Hauptziel im Auge behalten und darf 
deswegen hier nur von pädagogisch gebildeten Lehrkräften erteilt werden. 

3. Vom 4. Schuljahr ab kann versucht werden, eine Spezialisierung dieses 
Unterrichts anzubahnen, wobei soviel wie möglich auf des Zöglings persönliche 
Beanlagung als auf seine künftige Lebensstellung Bedacht zu nehmen ist. Dieser 
Fachunterricht muss vorzugsweise von Fachlehrern geleitet werden. 

Bei dem Thema: „Über die Ausbildung des Lehrerpersonals für die 
Idiotenschulen® wurde in Erwägung gezogen, ob es sich nicht empfehle, für 
die Idiotenlehrer ähnliche Einrichtungen anzustreben, wie sie in anderen Zweigen 
des Abnormschulwesens bestehen. Soweit dem Berichterstatter bekannt ist, ist 
Schweden von den nordischen Ländern das einzige, das in dem Manilla-Institut 
vor Stockholm ein Taubstummenlehrer-Seminar und in der Storkholmer Idioten- 
Anstalt ein „Seminar zur Ausbildung von Lehrern für geistesschwache Kinder* 
besitzt. 

Die Frage: „Muss das Lehrerpersonal in der Anstalt oder ausser- 
halb derselben wohnen?“ ist jedenfalls nicht ohne Bedeutung. In umfang- 
reichem Maße an der Aufsicht beteiligte Lehrer können keinesfalls mit der nötigen 
Frische ihre Stunden erteilen, weswegen beispielsweise in der Anstalt „Gamle 
Bakkehus“ vor Kopenhagen die eigentlichen Lehrkräfte nur ihre Unterrichtsstunden 
zu geben haben, im übrigen aber von allen Arbeiten befreit sind und darum auch 
ausserhalb wohnen. 

In der Sektion für den Unterricht und die Pflege der Epileptischen 
brach zunächst Frau E. Ramsay, die talentvolle Leiterin der Anstalt Wilhelmsro 
(Schweden), eine Lanze für „die elendigsten Kinder Schwedens“, die bildungs- 
unfähigen und verkrüppelten Idioten mit und ohne Epilepsie In einer längeren 


179 


Ausführung sprach Oberarzt Dr. med. Sell von der Anstalt Dianalund bei Terslöse 
(Dänemark) über „Die Arbeit der Epileptiker in offenen Kolonien‘. 
Anstatt der grossen Anstalten empfiehlt er Kolonien mit einzelnen Häusern für 
je 25 30 Kranke. Jedes Haus soll seinen eigenen Hausstand mit einer eigenen 
Küche haben, damit die P’fleglinge mit den Hauseltern bezw. der Hausmutter eine 
Familie bilden. Ausserdem müssen vorhanden sein: Werkstätten, (arten und Feld 
für die Beschäftigung der Kranken und ebenso besondere Räume für die Gottes- 
dienste u. s. w. 

Was die Stockholmer Versammlung gegen die früheren besonders auszeichnete, 
das war die damit verbundene Ausstellung von praktischen Arbeiten, wie sie 
in einer Reihe schwedischer, dänischer und finnländischer*) Abnormanstalten im 
Laufe des vorhergehenden Jahres hergestellt worden waren Wenn unter den 
ausstellenden Gruppen sich die für die Idivten-Anstalten infolge des Umfanges 
ihrer Ausstellung besonders auszeichnete und schon deswegen am meisten Aufsehen 
erregte, so ist das nicht zu verwundern. Neben den Erzeugnissen der Schulen 
für Geistessprache waren auch die der notwendig mit einer Idioten-Anstalt zu 
verbindenden Arbeitsheime ausgestellt. „Wenn man bei den Taubstummen und 
Krüppeln den Eifer und das erziehliche Geschick bewundert hatte, durch welche 
das Zustandekommen so schöner Sachen bewirkt worden war, so war man geradezu 
erstaunt beim Anblick all der geschmackvollen, ja man möchte sagen: einen 
künstlerischen Blick verratende Sachen verschiedenster Art, wie sie von idiotischen 
und geistesschwachen Personen verfertigt worden waren.“ Die Fachmänner dürften 
sich darin einig gewesen sein, dass die dänische Abteilung hinsichtlich des päda- 
gogischen Aufbaues obenan stand. In der schwedischen und finnländischen Ab- 
teilung für die älteren Geistesschwachen fielen besonders die Produkte der Weberei 
und Klöppelei in die Augen Und wenn Landesrat Hansen-Kiel es anstrebt, 
diesen beiden Arbeitszweigen auch in Deutschland Einganır zu verschaffen, so wird 
er ohne Frage am ehesten Erfolg haben, wenn er zunächst an die Idioten-Anstalten 
denkt. Hier gibt es Kranke, die zeit ihres Lebens dort verbleiben. Und da, wie 
das von schwedischer Seite ganz richtig betont wird, die bei der Weberei zur 
Verwendung gelangenden leuchtenden Farben ungemein anregend auf die Tätigkeit 
geistig tiefstehender Menschen einwirkt, so sollte nicht so ängstlich gefragt werden, 
ob die Anstalten dabei auf ihre Kosten kommen. 

In derartigen Ausstellungen dürfte ein nicht gering unzuschlagender Nutzen 
der gemeinsamen Tagung von Vertretern aller heilpädagogischen Anstalten zu 
suchen sein. Ohne Frage können die einzelnen Zweige manches voneinander lernen 
auf diesem rein praktischen Gebiete. Und dass auf diese Weise auch der Eindruck 
auf die öffentliche Meinung zu erreichen ist, zeigte sich in Stockholm ganz deutlich 
in der Beachtung, die diese Ausstellung selbst bis in die höchsten Kreise hinein 
fand. Gleich am Eröffnungstage beehrte der Ehrenpräsident der Versammlung, 
Prinz Kar] mit seiner hohen Gemahlin, der Prinzessin Ingeborg, die Ausstellung 


*) Über Norwegen siehe: Stelling, „Die Erziehung der schwachbegabten 
und schwachsinnigen Taubstummen.“ Ein Reisebericht über dänische und 
norwegische Taubstummen-Anstalten. Leipzig, Carl Merseburger, 1902. 


180 


mit einem lüngeren Besuche. Am Schlusstage erschien selbst Se. Majestät der 
König Oskar. Unter Führung des Versammlungssekretärs, des Majors v. Feilitzen, 
wurde eine eingehende Besichtigung der einzelnen Gruppen vorgenommen, wobei 
verschiedene Gegenstände, die dem Könige besonders gefielen, angekauft wurden. 

Möge auch diese Versammlung dazu beitragen, dass die Fürsorge für die 
Abnormen in den nordischen Ländern in immer weiteren Kreisen Verständnis und 
werktätige Unterstützung finde! 


Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde.*) 
Von Fr. Frenzel in Stolp i. Pom. 

Das anfängliche Studium der Sprachentwicklung des Kindes lieferte meistens 
biographische Aufzeichnungen über angestellte Beobachtungen Später ver- 
glich man die einzelnen Beobachtungen, stellte die daraus gewonnenen Ergebnisse 
zusammen und erhielt auf diesen Wege eine Darstellung einer allgemeinen 
Durchschnittsentwicklung. Diese beiden Richtungen in der Spracherforschung 
des Kindes boten im allgemeinen nur eine Beschreibung der Tatsachen, nicht aber 
eine Erklürung derselben. Einen Schritt weiter auf diesem Gebiete sing der Nord- 
amerikaner Baldwin,**) welcher die Einzeltatsachen des kindlichen Seelenlebens zu 
erklären und Gesetze für ihren kausalen inneren Zusammenhang aufzustellen ver- 
suchte. Auf diesem Wege will Ament ihm weiter folgen und die Anbahnung 
einer zielbewussten erklärenden Forschung und die scharfe Trennung einer reinen 
und angewandten Richtung auf dem Gebiete der Kinderpsychologie, insbesondere 
der Kindersprachwissenschaft anerstreben. 

In der Sprachentwicklung des Kindes unterscheidet der Verfasser wie die bis- 
herige Forschung drei Stufen: 1. Die Stufe des Schreis, 2. die Stufe des Lallens 
und 3. die Stufe der Wortbildung. 

1. Wenn das Kind geboren ist, kann es nichts wie unartikulierte Stimm- 
produkte, Schreie, hervorbringen, die nicht einmal sprachliche Bedeutung haben, 
sondern ausschliesslich Retlexerscheinungen sind; die physiologischen Vorgänge 
spielen sich ohne Dazwischentreten des Bewusstseins und des Willens ab. Sprach- 
liche Bedeutung erlangen die Schreie, sobald sie dem Ausdrucke körperlicher Zu- 
stände dienen, was in der Regel bereits ziemlich früh eintritt. Der Schrei, verschieden 
variiert oder modifiziert, wird allmählich Ausdruck des vitalen kindlichen Gefühls- 
lebens bei Hunger-, Kälte-, Hitze-, Nässe- oder Schmerzempfindungen. Hierin liegt 
bereits die primitivste Verknüpfung verschiedener Zentren mit dem sprachlich- 
motorischen Zentrum, in dieser Verbindung sind die Anfänge der Sprachentwicklung 
zu suchen. 

2. Auf der zweiten Stufe bringt das Kind schon artikulierte Laute und 
Silben von überreicher Mannigfaltigkeit hervor. Diese Lautproduktionen haben 


*) Ein Referat über das im Verlage von Ernst Wunderlich in Leipzig neulich 
erschienene treffliche Buch: Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim 
Kinde von Wilhelm Ament. 213 Seiten. Preis geb. 2,80 Mk. 

*) Baldwin: Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse- 
Berlin 1898. 





181 


zunächst noch nicht den Charakter eigentlicher Sprachlaute, sie sind nur anders 
geartete Gefühlsäusserungen, wie die primiliven Schreilaute Auch die Bildungen 
von Lautwiederholungen gehören noch ganz dem Stadium der reinen Gefühlsäusserung 
des Kindes an. Bald nach dem Auftreten der Wiederholungslaute (mämmäm) 
beginnt das Kind zufällige Gerüusche, unter diesen namentlich Sprachlaute, nach- 
zuahmen; zunächst werden die Laute völlig verständnislos nachgeahmt. 


3. Auf das allmähliche Verstehen und Nachahmen der gehörten Wörter folgt 
nach geraumer Zeit die selbständige Anwendung der Wörter, um damit etwas 
zu bezeichnen. Das ist das dritte Stadium in der Sprachentwicklung des Kindes. 
Das Kind benennt bewusst Gegenstände seiner täglichen Umgebung; die Wort- 
bildung hat begonnen. Das akustische und motorische Sprachzentrum treten in 
Beziehung. 


Wenn das Kind in das Stadium der Wortbildung eingetreten ist, beginnt für 
dasselbe die Periode der Erlernung der Muttersprache; in dieser stehen sich zwei 
Faktoren unvermittelt gegenüber; 

1. Das Subjekt des Kindes und 
2. die Formen der Muttersprache. 


Das Verhältnis dieser beiden ist bereits vielfach erörtert worden. Die Be- 
obachtung hat ergeben, dass das Subjekt des Kindes einerseits Formen erfindet, 
andererseits Formen nachahmt. Der Wortschatz (Vokabularium) des Kindes, den 
es sich erwirbt, ist auf das Schaffen des in ibm waltenden ursprünglichen Sprach- 
geistes zurückzuführen, während die Sprachformen aus der Muttersprache gewonnen 
oder entlehnt werden. Die Muttersprache zeigt bei den einzelnen Kindern viel 
Gemeinsames. „Die Worte sind sehr verschieden, die Gesetze ihrer Bildung gleich.“ 
Diese Regel soll für alle Sprachen zutreffen. Es erfolgt die Sprachentwicklung des 
Kindes analog der Sprachentwicklung des ganzen Stammes oder des ganzen Volkes, 
dem es angehört. Haeckel’s biogenetisches Grundgesetz gilt auch für die Ent- 
wicklungsgeschichte der Sprache: „Die ontogenetische Entwicklung der 
Sprache ist eine kurze Wiederholung der phylogenetischen.“ 


Der Verfasser bringt im Anschlusse an diese Ausführungen ein Kapital aus 
der Lautlehre der Kindersprache, worin die Laute, wie sie genetisch in der 
Kindersprache auftreten, hinsichtlich ihrer Reihenfolge und Schwierigkeit näher er- 
örtert werden. Wir finden an dieser Stelle auch Belehrungen über Lautwandlungen, 
über Lautverschiebungen und Lautversetzungen, über Lautassimilationen und den 
Akzent. 

Der folgende Abschnitt behandelt die Wortbildungslehre der Kindersprache. 
Als wortbildende Momente kommen folgende in Betracht: 

1. Die freie Erfindung, 
. die Nachahmung, 
. die Wortbildung durch Ableitung, 
. die Wortbildung durch Zusammensetzung, 
. die Wortbildung durch Kontamination, 
. die Wortbildung durch Etymologie. 


Je CO N 


m a 





182 

Die Aufeinanderfolge der einzelnen Momente repräsentiert zugleich im wesent- 
lichen auch einen gewissen Entwicklungsgang in der Wortbildung der Kindersprache. 

1. Der Urquell der kindlichen Wortbildung ist die spontaue Stimmreaktion 
des Lallens, die anfangs Laute erzeugt und aus diesen die Silben: ma, ba, da, la, 
a, na, ha etc. entwickelt, welche nach der kindlichen Gewohnheit redupliziert, 
ınama, baba, dada, lala, fafa, nana, haha etc. lauten. Diese Reduplikationen kind- 
licher Lallsilben bilden die sogenannten Urwörter, welche man in sämtlichen 
Sprachen des indogermanischen Stammes verfolgen kann. (Mama, Papa, Ada, 
Aka ete) Den Übergang von der Wortbildung durch freie Erfindung zu der durch 
Nachahmung bilden die bekannten Onomatopoeticas, Schallnachahmungen von 
Naturlauten, die aber nur bis zu einem gewissen Grade eigene Erfindungen des 
Kindes darstellen. (Mumu! mähmiäh! wauwau! tiektick etc.) 

2. Die Wortbildung durch Nachahmung von Wörtern der Muttersprache, auf 
welcher der wichtigste Teil der Spracherlernung beruht, stellt wie die onomato- 
poetische Wortbildung eine Schallnachahmung dar. Die Versuche in der Nach- 
almung sind zunächst unsicher und tastend. Laute, Silben und Wörter, ja sogar 
ganze Sätze unterliegen der umgestaltenden Tätigkeit des Kindes und lassen der- 
artig geformte Produkte entstehen, dass häufig ein Verständnis derselben ohne 
Kenntnis des Entstehens unmöglich ist. Die Wortumgestaltungen des Kindes sollen 
übrigens eine nicht zu verkennende Ähnlichkeit mit den Erscheinungen des Ver- 
sprechens, Verlesens und Verschreibens Erwachsener besitzen. *) 

Der Verfasser bemüht sich die Umgestaltungen und Veränderungen, welche das 
Kind an der Muttersprache vollzieht, zu klassifizieren. Er konstatiert Änderungen an 
Einzellauten wie an Silben in der Form der Elision. Nicht der Laut an sich, sondern 
der Lautaufbau des Wortes ist maßgebend für die Schwierigkeit der Aussprache eines 
Lautes. Derselbe Laut wird in einem Worte gewandt, in einem andern ungenau, 
Ja gar nicht ausgesprochen. Einfache Konsonanten am Anfange eines Wortes 
werden selten abgestossen, von Doppelkonsonanten in der Regel der erste: schlafe== 
lafe, Stein =tein, seltener der zweite: blau= bau Duas r als zweiter Konsonant wird 
gewöhnlich elediert: Brot== Bot, braten =- baten. Ein alleinstehender Konsonant am 
Ende eines Wortes wird meistens fortgelassen, von Doppelkonsonanten der erste 
oder der zweite. 

Die Elision der Silben zeigt sich im Anfange auch in dem Bestreben, die Wörter 
einsilbig auszusprechen: Marie=Mi, Soldat==dat; mit Vorliebe werden Anfangs- und 
Endsilben, welche unbetont sind, ausgestossen 

Nicht so häufig zeigt sich die Einfügung von Lauten und Silben in Wörtern, 
aber doch kann man in der Sprachentwicklung des Kindes Wörter, die als Redu- 
plikationssilben nach der Art der Lallsilben gebildet sind: Blume= bume etc. ver- 
nehmen. Man findet ‚ferner Umgestaltungen durch Metathesis: Fiscl-schif, rufe- 
fure, durch Prolepsis und Metalepsis: Löwe==töne, Oskar=Ottal ete. 

Ein Wort kann auch eine völlige Umwandlung dadurch erleiden, dass sich 
um einen besonders auffallenden Laut desselben einige ganz andere Laute gruppieren: 


Ber Vergl. Meringer und Mayer, Verlesen und Versprechen. Stuttgart 1895, 
Eine überaus interessante Schrift, welche die Beachtung weitester Kreise verdient. 


Frosch =loch. Endlich erstreckt sich die Veränderung auch auf ganze Sätze, be- 
sonders auf Liedertexte: Guter Mond, du gehst so stille = Guter Mund, du hast so 
viele etc. 

Es kommen in der Kindersprache noch eine ganze Menge anderer Umgestaltungen 
und Veränderungen vor,*) die einer methodischen Einordnung grosse Schwierigkeiten 
bereiten. Merkwürdig ist es, dass der grösste Teil der Umgestaltungen Analogien 
in volkssprachlichen Erscheinungen findet; dieses bietet wiederum einen Anbalts- 
punkt mehr dafür, dass die ontogenetische Entwicklung der Sprache eine kurze 
Wiederholung der phylogenetischen ist 

3. Wenn das Kind auf dem Wege der Nachahmung bereits in den Besitz von 
Wörtern der Muttersprache gelangt ist, so wirkt die Nachahmung auf einem neuen 
Gebiete weiter. Am Erlernten hat das Kind abgelauscht, wie die Sprache ihre 
Wörter bildet und wie sia diese beugt. Das Kind versucht sich dann selbst darin, 
das Abgelauschte auf eigene Faust zur Bildung von Wörtern und zu deren Beu- 
gungen anzuwenden, indem es nach bekannten Wörtern und Beugungen die Bildung 
neuer Wörter und Beugungen vollzieht oder ableitet. Ein mit einem Hammer 
arbeitender Mensch wird z. B. „Pocher“ genannt. 

4. Bei der Wortbildung durch Zusammensetzung werden neu erlernte Wörter 
mit den entsprechenden alten verbunden; aus Wule (Gans) wird Wuleänschen gebildet. 

5. Wortbildung durch Verschmelzung ist der Vorgang, dass zwei verwandte 
Ausdrucksformen sich gleichzeitig ins Bewusstsein drängen, so dass keine von beiden 
rein zur Geltung kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich die Elemente 
der einen mit den Elementen der andern mischen. Aus „allerlei Buntes‘ wird 
„bunterlei“ gebildet etc. 

6. Die spätesten Wortbildungen werden vom Kinde in jener Zeit vorgenommen, 
wo sein Geist die Bedeutung des letzten Restes aller ihm noch unbekannten Wörter 
der Muttersprache zu erfassen sucht, wobei denselben durch Gestaltveränderungen 
ein bekannter Sinn untergeschoben wird. Für Kirchenmaus wird Küchenmaus, für 
Frost = Frosch, für graben = Raben etc. gesprochen. 

Bei den vier letzten Fällen der Wortbildung handelt es sich im wesentlichen 
auch wohl nur um Nachahmung; die feine Detaillierung des Verfassers indessen 
verdient vollste Anerkennung. 

Das zweite Kapitel aus der Wortbildungslehre des Kindes bringt eine statistische 
Übersicht über die ersten 200 Begriffe eines beobachteten Kindes. 

Um das Material für die Untersuchungen über die Begriffe hinsichtlich ihrer 
Wortform und Bedeutung zu erlangen, beobachtete der Verfasser ein Kind und 
notierte von dem Augenblicke an, wo dasselbe das erste bedeutungsvolle Wort 
sprach, jedes neue Wort auf ein Blatt und numerierte die Blätter in chronologischer 
Reihenfolge. Jedes neue Wort wurde weiter verfolgt, ob sich der begriftliche 
Inhalt oder sein Uiufang bei späterem Gebrauche änderte, vergrösserte oder ver- 
kleinerte Daneben wurde auch die Wortform beobachtet. 


*) Recht mannigfach und eigenartig sind auch die Veränderungen und Umgestaltungen, 
welche schwachsinnige Kinder an Wörtern, Sätzen, Liedertexien etc. zu Wege bringen; 
man könnte ein ganzes Lexikon solcher Inomatomanien schreiben. 





184 


Über die ersten 200 Begriffe sind Berichte nach den vorhin angedeuteten Ge- 
sichtspunkten in dem Buche abgedruckt, wobei auch jede spätere Änderung des 
Begriffes oder der Form nebst Datum vermerkt steht. Dann folgt eine statistische 
Übersicht dieser Wandlungen nebst vielen Tabellen und Kurven. Dies alles muss 
im Original gelesen werden, da das Referat keine übersichtliche Darstellung zu 
geben vermag. 

Im Anschlusse an das Tagebuch wird die Entwicklung der Wortbedeutung 
näher erörtert. Die Erörterung bezieht sich auf Sachvorstellung, Wortvorstellung 
und Begriff. 

Die ersten Sachvorstellungen entstehen durch die ersten Sinneseindrücke 
von unserer Umgebung; sie sind anfänglich arm an Inhalt und demgemäss von 
sehr weitem Umfange. (Undifferenzierte Sachvorstellungen). Je mehr sich 
aber Sinnesorgane und Geist entwickeln, je mehr die Beobachtungsfähigkeit wächst, 
desto reicher wird der Inhalt der Sachvorstellungen und um so begrenzter erscheinen 
sie. (Differenzierte Sachvorstellungen). Aus den differenzierten Sachvor- 
stellungen entstehen allgemeine Sachvorstellungen. (Allgemeine Bedeutungsvor- 
stellungen, allgemeine Vorstellungen). 

Die Sachvorstellungen assoziieren und reproduzieren sich untereinander, worin 
das Grundprinzip des Denkens zu suchen ist. Diese Vorgänge erheben das 
Erlernen der Wörter zum Bedürfnis. Ihr Auftreten ist die grundlegende Vor 
bedingung für das Auftreten der Sprache. Es kommt somit später eine Assoziation 
von Wort- und Sachvorstellungen zu stande. Die Verknüpfungen von Wort- und 
Sachvorstellungen können 

1. als einfache Assoziation erfolgen und 

2- durch ein Gewebe von Assoziationen und Reproduktionen, d. h. durch 
einen komplizierten Denkprozess herbeigeführt werden. 

l. a. Die Assoziation der Wortvorstellung mit der Sachvorstellung bildet sich 
unmittelbar auf Grund der Kontignität, d. h. des Zusammengegebenseins im Be- 
wusstsein. Im Kinde entsteht eie Assoziation häufig spontan, wenn sich z. B. Lall- 
wörter wie mamamam, bababab etc. mit den Vorstellungen von herbei eilenden 
Personen, von dargereichter Nahrung u. a verknüpfen, wobei man drei Stadien 
unterscheiden kann. Im ersten Stadium schreit das Kind, worauf Personen 
kommen und Nahrung reichen, im zweiten, damit Personen kommen und Nahrung 
reichen und im dritten, um Personen und Nahrung zu rufen. 

1. b. Die Assoziation der Wortvorstellung mit der Sachvorstellung bildet sich 
mittelbar auf Grund einer mit beiden im Assoziations- bezw. Reproduktionsverhältnis 
stehenden Sachvorstellung. Hierher gehören alle Wörter, die durch Verallgemeinerung 
eine erweiterte Bedeutung erlangen. Ein Kind überträgt z. B. das Wort „deda,“ 
das „Tante“ bedeutet, auch auf seine Vettern. 

2. Die andere Art der Assoziation ist mit einer Neubildung von Wörtern ver- 
bunden, die in der Muttersprache teils gebildet, teils nicht gebildet werden. Für 
„Schnee“ wird die Bezeichnung „schnei“ gebildet auf Grund der Redensart: es 
schneit etc. 

Die erworbene Wortbedeutung ist beim Kinde keineswegs konstant; sie ändert 


185 


sich mit der Umfangsverengerung und Umfangserweiterung der Begrifie. Ältere 
selbstgeschaffene Wörter werden nach einiger Zeit vom Kinde ganz aufgegeben ung 
durch die gebräulichen der Muttersprache ersetzt. 

Bei den Begriffen hebt der Verfasser hervor, dass die ersten Begriffe nur 
Keime der späteren enthalten, er nennt sie Urbegriffe. Diese sind noch mit 
undifferenzierten Vorstellungen verknüpft. Wenn aber das Kind die Umgebung 
genauer zu differenzieren vermag, entstehen die Einzelvorstellungen und werden 
mit Wortvorstellungen, häufig mit Wörtern, die in der Muttersprache einen All- 
gemeinbegriff bedeuten, also einen grössern Umfang, in Beziehung gebracht. Das 
Kind bezeichnet zunächst nur seine Mutter mit „Mama“. — Mit der weitern Ent- 
wicklung der Einzelbegriffe entstehen wieder Wortverallgemeinerungen infolge des 
noch bestehenden Wortmangels. Das Kind gewinnt dann für Dinge, die in gewisssen 
Beziehungen zu einander stehen, die gleichen Bezeichnungen. Fortdauernde Ver- 
gleichung der Begriffe führt allmählich zur Bilduug von Allgemeinbegriffen, 
welche denen der Muttersprache teils entsprechen, teils nicht entsprechen. 

In der Entwicklung vom Ur- zum Einzel- und Allgemeinbegriff tritt später 
cine Abkürzung ein, so dass mit dem Einzelbegriff begonnen wird. Wenn die Er- 
fahrung des Kindes in der Umgrenzung der Begriffe noch weiter gewachsen ist, so 
wird es alle Wortbedeutungen, mögen es Einzel- oder Allgemeinbegriffe sein, im 
ersten Augenblicke klar zu erfassen vermögen. 

Es ist iiusserst interessant, die Entwicklung der Allgemeinbegriffe aus den 
Einzelbegriffen nicht nur beim Kinde, sondern auch bei den Völkern an der Hand 
ihrer Sprache zu verfolgen. Bei manchen Urvölkern drückt sich das Beharren auf 
einer niedrigen Stufe des Denkens in ihrer Armut an Allgemeinbegriffen aus. 
Die Melanesier können im allgemeinen nur bis 10 zählen, die Australier ge- 
wöhnlich nur bis 3 oder 5. Für Einzelbegriffe, z. B. für einige Vögel, Fische, 
Bäume etc. haben sie wohl Einzelbezeichnungen (Namen), aber es fehlt ihnen der 
Allgemeinbegriff „Vogel“, „Fisch“, „Baum“ etc. Die Tasmanier sagen für hart 
„steingleich“, für rund „mondgleich“ ete.*) Eine ähnliche Ausdrucksweise findet 
man bei einigen Kindern, die „gross“ und „klein“ durch eine Verbindung mit 
„Mama“ und „Kind“ ausdrücken. 

Der Verfasser kommt nach diesen Ausführungen auf die verschiedenen Arten 
der Begriffe zu sprechen. Welche Arten von Begriffen das Kind am meisten be- 
vorzugt, erkennt man aus den vorbin erwähnten Tagebuchaufzeichnungen und 
Tabellen. Ganz besonders ist das Lebende, sich Bewegende, was die Kinder anzieht. 
Von den ersten LO Wörtern eines beobachteten Kindes bedeuteten sechs =: Menschen, 
eins = ein Tier und drei waren Interjektionen. 

Zur bessern Erkenntnis der kindlichen Vorstellungen (des kindlichen Gedanken- 
kreises) werden von dem Verfasser auch die kindlichen Zeichnungen nach dem 
Beispiele nordamerikanischer Autoren (Sully und Tracy) herangezogen und er- 
örtert. Die ersten Zeichnungen sind in der Regel ein Wirrwarr gebrochener, ohne 
Sinn gekritzelter Linien. Nach längerer Zeit zeigt sich erst das Bestreben, mit 


*) Die angeführten Beispiele entstammen den Völkerkunden von Ratzel und 
Peschel und den Reiseschilderungen v. d. Steinen. 


186 


ihnen einen Sinn auszudrücken, obwohl die zeichnerische Fähigkeit nicht erheblich 
gewachsen ist. Mit kühner Phantasie wird das gemachte Gekritzel als irgend ein 
Gegenstand bezeichnet. Noch viel später kann man den Anfang einer gewissen 
Ordnung erkennen, von einer Ähnlichkeit aber ist noch wenig oder garuichts zu 
verspüren. Allmählich differenzieren sich die Zeichnungen zu gewissen Schemas. 
Auf dieser Stufe bleiben bereits viele Kinder stehen. Die Fähigkeit zu individua- 
lisieren erreichen nur talentvolle Kinder, sofern nicht der Unterricht eingreift. 
An den Zeichnungen der Kinder aus frühster Zeit zeigt sich wie an den ersten 
Begriffen: Geringer Inhalt, grosser Umfang. 

Das folgende Kapitel behandelt die Satz- und Formenlehre der Kinder- 
sprache, d. i. die Entwicklung der Sütze und ihrer Bedeutungen. Der Verfasser 
unterscheidet dabei folgende Stufen: 1. Satzworte, 2. Sätze ohne Flexion, 
8. Sätze mit Flexion und 4. Urteile und Schlüsse. 

Zuerst dient ein einzelnes Wort zur Bezeichnung eines Gedankens (Satzes); 
„dudu“ bedeutet: Was tust du? Dann reiht das Kind zwei oder mehrere Wörter 
aneinander, ohne sie zu flektieren; „babe dschidschi“ heisst: „Babette ist mit der 
Eisenbahn fortgefahren.“ Anreihungen unflektierter Wörter aneinander finden sich 
auch in manchen Ursprachen. Schwachsinnige Kinder flektieren häufig auch nicht, 
ebenso taubstumme, wenn sie erst die Anfangsgründe der Lautsprache erlernt 
haben, oft aber auch noch später. 

Allmäblich wendet das Kind auch Flexionen an, die jedoch oft ganz von der 
Muttersprache abweichen, namentlich in den Füllen, wo diese unregelmässige Formen 
bildet. Ein kleines Mädchen sagte z. B.: „Olga auszieht hat“ = Olga hat sich 
ausgezogen. 

Die psychologische Entwicklung der Urteile geht in ihren ersten Anfängen 
auf psychische Erscheinungen vor der Sprachbildung zurück. Ein Kind, dus bein 
Anblicke eines farbenprächtigen Hahnes freudig lacht, tut psychisch dasselbe, wie 
ein älteres, das seine Bewunderung durch das Wort „schön“ ausdrückt. Aber nur 
im letzteren Falle sprechen wir von einem Urteile und unterscheiden dabei drei 
Stufen in der Urteilsbildung: 

1. Eine Vorstellung wird durch ein Wort reproduziert. („schön“). 

2. Auf dem Wege der successiven Reproduktion werden mehrere Wörter durch 
eine Anzahl simultan oder successiv gegebener Vorstellungen ausgedrückt. („Hahn 
schön‘). 

8. Die Reproduktion von Wörtern erfolgt durch Wörter auf Grund selbständiger 
zwischen ihnen entstandener assoziativer Beziehungen. („Der Hahn ist schön.“) 
Die Kopula wird nicht durch eine dazu gehörige Sachvorstellung, sondern durch 
das aus der Muttersprache bekannte Urteilsverhältnis der beiden Wörter „Hahn“ 
und „schön“ ausgelöst. 

Eine stufenartige Entwicklung, parallel der Wort- und Urteilsbildung, lässt 
sich auch an der Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und ausdrücken, beobachten. 
Auf der ersten Stufe wird eine komplizierte Schlusskette in einem durch ein Satz- 
wort repräsentierten Urteil angedeutet, auf der zweiten schon durch eine grössere 
Zahl von Wörtern u. s. w. Zunächst treten die induktiven Schlüsse auf, die teils 


_187 


denen der Erwachsenen entsprechen, teils aber auch anders geartet sind, ein 
geschränkt oder verallgemeinert. Die letztere Art tritt besonders häufig auf. 
kinzelerfahrungen werden mitunter auffallend über die Gebühr verallgemeinert. Ein 
Kind hört z. B. das Märchen vom Rotkäppchen; nun hält es jeden grossen Hund 
für einen Wolf; jede Grossmutter muss eine Haube haben ete Es fragt seine 
Grossmutter, ob sie die wäre, die der Wolf gefressen hätte u. s. f. 

Kinder vermögen noch mangelhaft zu prüfen; sie folgern an den nächstliegenden 
Reproduktionen, unterscheiden noch nicht wesentliche von unwesentlichen Merk- 
malen, Ursache von Folge und lassen sich durch die Gleichheit der Bezeichnung 
leicht verleiten, Gleichheit der bezeichneten Vorstellungen anzunehmen. 

Der deduktive Schluss ist erst möglich, wenn das Kind durch Induktion 
allgemeine Gedanken sich erworben oder angelernt hat; er folgt also dem induk- 
tiven Schlusse in weitem Abstande. 

Darauf kommt der Verfasser auf die Stilistik des Kindes in seinen schrift- 
lichen Aufzeichnungen zu sprechen. An der Hand einiger Kinderbriefe wird die 
Stilistik einer eingehenden Kritik unterzogen. Die Armut ah Wörtern beeinflusst 
den Ausdruck ganz erheblich; es kommen vielfache Wiederholungen eines und des- 
selben Wortes in den Briefen vor, ferner Pleonasmen, häufige Metapher etc. (Ein 
Kind sagte beim Anblicke der brennenden Laterne eines Radfahrers: „Er hat 
Lichtungen “) Bildliche Ausdrücke der Muttersprache werden wörtlich genommen. 
Charakteristisch ist in den Briefen der übermüssige Gebrauch bestimmter Verben, 
ı B. haben, tun, kriegen etc. 

Der Satzbau ist durchweg einfach; der Gedanke leidet einerseits an grosser 
Knappheit, andererseits an Häufung bestimmter Vorstellungen; ebenso ist die Dar- 
stellung bald übermässig kurz und lückenhaft, bald übertrieben deutlich. Eigen- 
artig erscheint der häufige unvermittelte Gedankenwechsel, die Fixierung jedes Ge- 
dankens, der gerade das Hirn durchblitzt (enfant terrible), das in den Vordergrund- 
stellen des eigenen Ichs und das Beimessen von grosser Bedeutung kleinlichen 
Dingen aus der nächsten Umgebung. Den ergötzlichen Kinderbriefen ist als Gegen- 
stück die wörtliche Übersetzung einer Mythe der Bantu-Stämme Südafrikas gegen- 
übergestellt, um zu konstatieren, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Stile 
der kindlichen Aufzeichnungen und der sprachlichen Ausdrucksweise unkultivierter 
Völker besteht. 

Einen Abschluss in der menschlichen Erkenntnis bildet die Ausbildung einer Welt- 
anschauung; auch das Kind mit seinen mangelhaften Kenntnissen gelangt zu einer 
solchen. Die kindliche Weltanschauung ist die Urmutter aller Weltanschauung 
überhaupt. Das Kind besitzt, wie es der Verfasser an Beispielen aus eigener Be- 
obachtung und aus der Literatur*) zeigt, seine Ansichten über ein göttliches 
Wesen, die Weltkörper, die Erde, das Verhältnis der lebenden und unbelebten 
Wesen etc. 

Wenn die Untersuchungen, Vergleichungen und Erklärungen des reichen Be- 
obachtungsmaterials auch nicht auf die Gewinnung pädagogischer Vorschriften und 


*) Die einschlägische Literatur dieses Gegenstandes findet sehr häufig Berücksichtigung 
und kritische Würdigung. 


188 

Imperative gerichtet sind, so dürften die angestellten Erhebungen selbst, wie auch 
die Ergebnisse derselben für uns überaus interessant und lehrreich sein. Es ist in 
unsrer Zeitschrift schon wiederholt auf den grossen Wert, welchen eine genaue 
Kenntnis der Sprachentwicklung des Kindes für den Lehrer und Erzieher 
der Schwachsinnigen bedeutet, hingewiesen; die hier nüher besprochene Schrift er- 
scheint gerade wegen ihrer sachgemässen, prägnanten Ausführungen mehr 
als alle bisher bestehenden Arbeiten dieses Gebiets geeignet, uns weitgeliend 
Aufschlüsse über die elementarsten Regungen der Kindersprache zu geben. 
Wir wünschen daher dem Buche eine weite Verbreitung und eine eingehende Be- 
nutzung auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens 


Mitteilungen. 


Berlin. -(Nebenschulen.) Es bestehen hier gegen 90 Nebenklassen und 
1 Hilfsschule. Die neueste Nebenschule, bestehend aus 7 Klassen, wurde mit Beginn 
des Winterhalbjahres im Schulgebäude Brunnenstrasse 186 eröffnet. 


Berlin. (Vorträge über die Behandlung geistesschwacher Kinder.) 
Am 15. Oktober begaun Herr Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf seine Vortrüge 
über „die Behandlung geistesschwacher Kinder“. An der grosseu Zahl der Anmel- 
dungen zeigte es sich, dass diese Vorträge einem allseitig empfundenen Bedürfnisse ont- 
sprechen. Leider konnten wegen des beschräukten Raumes nur einige 380 Hörer 
berücksichtigt werden; weit über die doppelte Anzahl derselben musste «uf den nächst- 
jährigen Kursus vertröstet werden. Horr Inspektor Piper beabsichtigt nämlich, diese 
Vorträge, die mit zahlreichen Demonstrationen verbunden sind, im nächsten Jahre zu 
wiederholen, dann aber nicht nur für Berliner, sondern auch für auswärtige lehrkräfte- 


Berlin. (Fortbildungsschule für geistig Zurückgebliebene.) Demnächst 
wird hier in dem Schulhause, Brunnenstrasse 186, eine Fortbildungsschule für 
geistig zurückgebliobene Knaben und Mädchen eröffnet werden. Zur 
Aufnahme sollen zugelassen werden ehemalige Schüler und Schülerinnen von Noben- 
klassen und solche junge Leute, welche sich infolge von Krankheit, geistiger Minder- 
wertigkeit u. s. w. nicht das volle MaR an Schulkenntnissen und Fertigkeiten der 
Volksschule aneignen konnten. In jeder Klasse sollen höchstens 12 Schüler unter- 
richtet werden, damit sich der betr. Lehrer oder Lehrerin auch mit jelem einzelnen 
eingehend beschäftigen kann. Beruf und Eigenart eines jeden Schülers soll bei Er- 
teilung des Unterrichts eingehend berücksichtigt werden. Dieser Unterricht beschrānkt 
sich vorläufig auf Deutsch, Rechnen und praktische Gesellschaftskunde. Unter letzterem 
Fach soll das genaue Bekanntmachen mit den wichtigsten sozialen, Wohltätigkeils- 
und Verkehrseinrichtungen, Post u. s. w. zu verstehen sein. In einer besonderen 
Klasse sollen auch schwerhörige geistig Zurückgebliobene unterrichtet werden. Der 
Besuch dieser Fortbildungsschule ist kostenlos. Der Unterricht findet für beide 
Ge»chlechter je zweimal in der Woche statt (Montag und Donnerstag von 7—9 Uhr 
für Knaben, Dienstag und Freitag von 6—8 Uhr für Mädchen). Herr Filialleiter 
A. Fuchs nimmt die Anmeldungen entgegen. 


189 

Berlin. (Erziehungs- und Fürsorge-Verein.) In der Sitzung des Er. 
ziehungs- und Fürsorge-Vereins für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder 
am 3. November sprach zunächst Herr Dr. Gündel, Direktor der Idiotenanstalt 
Rastenburg über „Die Organisation der Hilfsschule‘. Er ging von dem 
Grundsatz aus, dass für diese Schule das Wort „Bete und arbeite“ zu gelten habe 
und bezeichnete als Ziel desselben, dass die Kinder konfirmations- und erwerbs- 
fähig zu machen seien. Redner sprach dann ausführlich über die Unterrichtsstoffe 
und Unterrichtsmethoden in der Hilfsschule. Als besondere Unterrichtsgegenstände 
sollten nach seiner Meinung auch das Formen, sowie der Sprech- und Handfertig- 
keitsunterricht gelten. -— Der zweite Redner war Herr Stadtschulinspektor Dr. von 
Gizicki, Vorsitzender des oben genannten Vereins. Er gab einen hochinteressanten 
Ausblick in die Zukunft der Berliner Nebenklassen. Schon lange sähen die Päda- 
gogen der Entwickelung der Nebenklassen in der Reichshauptstadt mit Spannung 
entgegen. Wohl sei bei der Umwandlung der Nebenklassen in Hilfsschulen das Für 
und Wider reiflich zu erwägen, aber der Hauptgrund dagegen, nämlich der Kosten- 
punkt, habe nach seiner Meinung keine Berechtigung. Jedes Kind der Neben- 
klasse koste Berlin jährlich 257,60 Mk., während Frankfurt a. M. ungefähr 230 Mk., 
Dresden 185,50 Mk. dafür aufwende. Die Frequenz könnte in den Klassen der 
Hilfsschule bedeutend erhöht werden, während sie jetzt durchschnittlich nur 14,,, 
beträgt und auch bei der jetzigen Zusammensetzung des Schülermaterials kaum höher 
sein dürfte. So betrage die Frequenz in Charlottenburg 18,9, in der Hölderlin- 
schule in Frankfurt a. M. 20,8. Man würde also bei der Umgestaltung die Mittel 
gewinnen nicht nur zur Errichtung von Stellen für die Leiter solcher Schulen, 
sondern auch zur Anlegung von Schüler-Werkstätten und zur Einrichtung von 
Kursen für die Ausbildung von Lehrpersonen. Der reiche Segen würde sich 
dann später auch beim Etat der Armenverwaltung, der Krankenhäuser und Ge- 
füängnisse wohl bemerkbar machen. — Beide Vorträge wurden mit grossem Beifall 
aufgenommen, doch musste der vorgeschrittenen Zeit wegen auf eine Diskussion 
leider verzichtet werden. -—- Am Mittwoch den 11. November hielt die vom Verein 
gewählte „Soziale Kommission“ ihre erste Sitzung ab. Die Tagesordnung war 
folgende: 1. Aufgabe, Organisation und Arbeitsweise der Sozialen Kommission des 
Erziehungs- und Fürsorge-Vereins. Referent: Herr Rektor Pagel aus Berlin. 
2. Beschlussfassung über Bildung von Schulausschüssen und Gewinnung von Organi- 
sationen. — Die Versammlung war von bestem Erfolg gekrönt, denn von den ungefähr 
40 Erschienenen liessen sich weit über die Hälfte als Mitglieder von Schulaus- 
schüssen und einzelne auch als Organisator solcher Schulausschüsse einschreiben. 

Dalldorf. (Stiftungsfest.) Am 17. November beging unsere Idiotenanstalt 
ihr 22. Stiftungsfest Wie immer, so war auch dieses Mal die Anzahl der er- 
schienenen Freunde und Förderer der Anstalt eine grosse. Unter ihnen bemerkten 
wir u. a. die Schwester des Oberbürgermeisters Kürschner von Berlin, die mit 
sichtlichem Interesse den Darbietungen der Zöglinge folgte, sowie den Direktor 
und mehrere Ärzte der städt. Irrenanstalt. Die Feier wurde eröffnet durch eine 
Andacht mit einer sich anschliessenden Ansprache des Leiters der Anstalt, Er- 
ziehungs-Inspektor Piper. Nach derselben wurden seit dem Bestehen der Anstalt, 


190 


den 18. November 1881, 1680 Zöglinge, (1117 Knaben und 563 Mädchen) auf- 
genommen und 1488 Zöglinge, (987 Knaben und 504 Mädchen) entlassen. Der 
gegenwärtige Bestand beträgt 192 Zöglinge, (133 Knaben und 59 Mädchen); die 
Anstalt hat Raum für 220 Zöglinge — Die Kinder wurden in einer 6stufigen 
(12klassigen) Schule von 6 Lehrern und 4 Lehrerinnen unterrichtet. Am Schusse 
des Schuljahres konnten u. a. versetzt werden von der II. in die I. Klasse 12 
Zörlinge. Den Konfirmandenuuterricht besuchten in 2 Abteilungen 21 Knaben und 
6 Mädchen, und 7 Knaben und 3 Mädchen konnten konfirmiert werden. Von der 
Buchbinderwerkstatt wurden geliefert: 228 Neuanfertigungen, 101 Reparaturen, 
ausserdem 800 Schreibhefte für den Bedarf der Anstalt, 18000 Schreibhefte für 
die städtische Schuldeputation, 1483 verschiedene Hefte für die Fachschulen und 
2 Bünde für die Blindenanstalt. Ähnliche Resultate wurden in den übrigen Werkstätten 
erzielt. In der Gärtnerei wurde für Schnittblumen und Topfgewächse der Betrag 
von 733,50 Mk. vereinnahmt. Zur Erlernung eines Handwerks kamen von den 
entlassenen Knaben im ganzen 14 und zwar wurden Gärtner 6, Tischler 4, Schuh- 
macher, Schneider, Korbmacher und Buchbinder je 1. Die übrigen Entlassenen 
kamen teils zu den Eltern, teils zu Landleuten behufs Beschäftigung in der Land-, 
Haus- und Handarbeit. In der Lehre und Pflege befinden sich gegenwärtig 75 Zög- 
linge (55 Knaben und 20 Mädchen). An Pflegegeldern wurden mit Rücksicht auf 
die Leistungen sowohl der Burschen als auch der Mädchen 1140 Mk. weniger als 
veranschlagt ausgegeben. — Auf die Ansprache folgten Unterrichtslektionen in ver- 
schiedenen Fächern. Besonders interessant erschien den Anwesenden das Modellieren 
mit Plastelina. In der Turnhalle fand alsdann die launige Begrüssung der Gäste 
durch 9 Zöglinge statt, deren jeder eine in der Anstalt betriebene Beschäftigung 
-— bez. Handwerk — vertrat, und hieran schloss sich die Vorführung einiger Turn- 
klassen an. Zum Schluss erfreute die Anwesenden noch die Hauskapelle durch 
eine musikalische Darbietung. Nach Besichtigung der ausgestellten Arbeiten der 
Zöglinge und nach Einnahme eines von dem Anstaltskuratorium gelieferten solennen 
Frühstücks verliessen die Teilnehmer die Feier vollbefriedigt und mit reichen 
Anregungen versehen die gastlichen Räume der inmitten ausgedebnter Parkanlagen 
idyllisch gelegenen Anstalt. Die Zöglinge selber wurden am Abend noch durch 
Lichtbilder mit begleitenden Text und durch kinematographische Darbietungen 
belustigst. 

Frankfurt a. M. (Versammlung von Lehrern und Lehrerinnen an 
Hilfsschulen.) Wie wir schon ver:chiedentlich in Gross-Gerau tagten, so lud dies- 
mal Herr Hilfsschulleiter Wettig-Mainz zu einer Versammlung wach Frankfurt 
ein. Diese Versammlung fand Samstag, den 24. Oktober statt und war von 25 Damen 
und Herren aus Fraukfurt, Idstein, Offenbach Darmstadt, Mainz, Worms 
und Wiesbaden besucht. Nachdem Herr Rektor Bleher-Frankfurt die Erschienenen 
in warmen Worten begrüsst und seiner Freude über das zahlreiche Erscheinen Aus- 
druck gegeben hatte, leitete Herr Wottig-Mainz die weiteren Verhandlungen. Als 
erster Punkt stand auf der Tagesordnung die Bildung eines Vereines und Wahl 
des Vorstandes, doch stellte man vorerst diesen Punkt zurück und ging zu dem 
Referate des Kollegen Schnaidt-Idstein, „Das Losebuch in der Hilfs- 


191 


schule“, über. Beferent legte seinen Ausführungen folgende Fragen zu grunde. 
1. Wolche Auforderungen stellen wir un! müssen wir stellen an ein Lesebuch für 
Hilfsschnlen? 2. Kanı ein Lesebuch für Normalschulen diesen Anforderungen gerecht 
werden? 3. Wie verhält sich’s in dieser Bezielung mit dem Leipziger Hilfsschul- 
esebuch? Es wurde uutor anderem treffend hervorgehoben, dass der Anlage eines 
guten Lesebuches ein gut auszearbeiteter Lehrplan zu grundo liegen müsse, und da:s 
die Anordnung des Stoffes in wicderlolenden konzentrischen Kreisen stattfinden müsse. 
Die Stücke dürfen nicht gross sein und sollen 2 Druckseiten nicht überschreiten. 
Der Stil sei einfach, aber nicht trocken. Gute Gedichte sollen reichliche Aufnahme 
finden Gute Abbildungen können bei richtiger Verwendung nur zweckdienlich sein, 
Die Frage, ob ein Lesebuch für Normalschulen Ersatz biete, sei entschieden zu vernoinen. 
Bezüglich des Leipziger Hilfsschullesebuches sagte Herr Schnaidt, der 1. Teil 
desselben sei, obgleich ihm auch noch verschiedene Febler und Mängel anhafteten, im 
grossen und ganzen genommen zur Verwendung zu empfehlen, während der 2. Teil 
in seiner jetzigen Form als mangelbaft bezeichnet werden müsse. — Die Debatte 
über den Vortrag war sehr lebhaft. Es beteiligten sich an derselben vornehmlich 
Bleher, May und Hofimann-Frankfurt, Wettig und Büttner-Mainz, Schnaidt 
und Ziexler-Idstein und Büttner-Worms. Wettig-Mainz hat schon verschiedentlich 
mit Herrn Direktor Richter-Leipzig Verhandlungen gepflogen, wonach verschiedene 
Lesestücke aus dem 2. Teil ausgeschieden und passende dafür eingestellt werden 
sollen. Auch habe er persönlich Vorschläge und Ausarbeitungen gemacht. Es soll 
nun in diesem Sinne mit Leipzig weiter verhandelt werden. Na h Erledigung der Lese- 
buchfrage schritt man zur Bildung eines Vereines. Zum Vorsitzenden wurde Wettig- 
Mainz, dor die erste Anregung zu den früheren Konferenzen gegeben hatte, gewählt. Als 
Stellvertreter wurde Rektor Bleher-Franfurt bestimmt. — Die nächste Ver- 
Sammlung soll nächstes Frübjahr und voraussichtlich in Worms stattfinden. Büttner- 
Mainz wird über den „Handfortigkeitsunterricht* in der Hilfsschule, Ehrhardt- 
Frankfurt möglicherweise über den „Geographieunterricht“ referieren. 

Nürnberg. (Internationaler Kongress für Schulhygiene.) Für 
die Abteilung für Hilfsschulen ist Hilfsschulleiter Fr. Frenzel in Stolp i Pom. 
als Referent bestellt worden. 

Plauen i. V. (Vereinigung zur Förderung des sächsischen Hilfs- 
schulwesens.) In den letzten Septembertagen tagte hier der „Sächsische Lehrer- 
verein. Bei dieser Gelegenheit traten die anwesenden Leiter und Lehrer von 
Hilfsschulen zusammen und gründeten eine „Vereinigung zur Förderung des 
sächsischen Hilfsschulwesens“. Diese Vereinigung wird vorläufig immer in An- 
schluss an die Versammlung des Sächsischen Lehrervereins als eine Nebenversammlung 
desselben tagen. Zum Leiter der ersten Versammlung wurde deren Einberufer, 
Öberlehrer Delitsch-Plauen, gewählt. Derselbe hielt auch einen Vortrag über 
die Grundlinien zur psychischen Diagnose in der Hilfsschule Der 
Vortragende führte aus: Die Aufoahmeprüfungen für Hilfsschulen und Nachhilfe- 
klassen haben nur die Bedeutung einer psychischen Voruntersuchung. Man müsse 
in eingehendster Weise das Geistesleben schwacher Kinder analysieren. Dabei 
habe man sein Augenmerk auf jede einzelne Empfindungsqualität zu richten, ihre 


„| 


192 


Intensität zu bewerten und ihrem Gefühlstone nachzuspüren. Auf dieser Basis 
könne man die Energie der Assoziationsvorgänge verstehen und den individuellen 
Gefühls- und Willensregungen gerecht werden. Die ganze Darlegung lehnte sich 
an ein Beispiel aus der Praxis an und klang in einer Hervorhebung des Wertes 
einer so gründlichen Diagnose aus. Die Debatte beschäftigte sich mit den örtlichen 
Gepflogenheiten bei der Aufnahme in die Hilfsschule.. — Im Einverständnisse mit 
dem Referenten wurde besonders betont, dass trotz sorgfältigster Prüfung eine 
unzutreffende Beurteilung der Befähigung der Kinder entstehen könnte. An die 
Prüfung müsse sich, sofern man zu festen Resultaten kommen wolle, ein um- 
fassendes Beobachten der Kinder in und ausserhalb der Schule anschliessen. — 
Den 2. Vortrag hielt Direktor Tätzner-Dresden über „Vor- und Fort- 
bildung der Nachhilfeschullehrer. Er ging von dem erfreulichen Umstande 
aus, dass sich im Königreiche Sachsen das Nachhilfeschulwesen der besten Ent- 
wickelung erfreue und dass die Gemeinden mit Eifer die nötigen Geldmittel auf- 
bringen. Bei der Frage, ob die Nachhilfeschulen in Wirklichkeit das leisteten, was 
man von ihnen erhoffe, müsse man in allererster Linie nach der Tätigkeit des 
Lehrers sehen, denn in keiner Schulkategorie seien Erfolge oder Misserfolge so von 
der gesamten Tätigkeit des Lehrers abhängig wie in der Nachschule.. Warmes 
Herz, unermüdliche Geduld und ein hohes Maß von Selbstüberwindung seien zwar 
unerlässliche Bedingungen für ein gesegnetes Tun; der Nachhilfeschullehrer müsse 
aber auch über einen sicheren Blick und über eine geübte Hand, die richtigen 
Mittel anzuwenden, verfügen. Der Referent beleuchtete hierauf die Vorbildung des 
Lehrers und gab zu erkennen, dass die sächsischen Seminarien mit anzuerkennendem 
Ernste bemüht seien, die nötigen Vorkenntnisse zu vermitteln; der Vortragende ist 
aber der Meinung, dass die Seminarien nur dann ihre Aufgabe, die Lehrer mit 
den einschlagenden Gebieten aus der Hygienie, der Pathologie, der Psychopathologie 
und der Psychiatrie vertraut zu machen, in zweckdienlicher Weise lösen könnten, 
wenn der Seminarkursus auf 7 Jahre verlängert würde. Der Referent kam hierauf 
auf die Seminarübungsschulen zu sprechen und führte aus, wie sehr es erwünscht 
sei, wenn in diesen Schulen sich auch geistig minderwertige Kinder befänden. 
Solche Schüler seien für die angehenden Pädagogen die sogenannten schönen Fälle, 
an denen für die Praxis namentlich durch ein mit Verständnis gepflegtes Beobachten 
der Eigenart des Kindes viel gelernt werden könnte, mehr als durch das systematisch 
geordnete und in schön logischem Aufbau erfolgende Dozieren der Lehre von den 
Fehlern der Kinder. Ferner wurde der Wunsch ausgesprochen, dass die Bezirks- 
schulinspektoren in den Hilfslehrerkonferenzen den jungen Lehrern Anleitung zur 
Behandlung schwachsinniger Kinder geben möchten und dass sie bei den vorzu- 
nehmenden Revisionen den älteren Lehrern mit ermunterndem Rate zur Seite 
ständen, aber auch nicht duldeten, dass man die Schwächlinge links liegen lasse. 
Bezüglich der Lehrer, die in den Dienst der Nachhilfeschule übergehen, wünscht 
der Vortragende, dass diese vor ihrem Eintritte in das Amt eines Nachhilfeschul- 
lehrers Urlaub erhielten und einige Wochen in einer Nachhilfeschule hospitierten ; 
es sei aber nicht angebracht, gleich den Unterricht in verschiedenen Fächern zu 
besuchen; besser sei es, sich zunächst nur in einem Fache gründlich zu orientieren 


rn. 


und die Unterschiede zu studieren, die sich bezüglich des Stoffes und der metho- 
dischen Darbietung in den aufsteigenden Klassen zeigten. Für die Fortbildung 
des Nachhilfeschulwesens wünschte der Vortragende Errichtung von Lehrer- oder 
unter Umständen von Kreisbibliotheken, die kostspielige Werke der Fachliteratur 
zu enthalten hätten, und Gewährung von Mitteln zu Instruktionsreisen. Dann 
schilderte der Vortragende, wie durch die ins Leben gerufene Vereinigung für die 
Fortbildung des Lehrers gesorgt werden könnte, und schliesslich empfahl er mit 
überzeugenden Worten die Errichtung von Ferienkursen an der Landesuniversität 
Leipzig In der Debatte erklärte man sich mit dem Gebotenen einverstanden und 
fasste einstimmig den Beschluss: „Die Vereinigung zur Förderung des sächsischen 
Hilfsschulwesens beantragt bei dem Vorstande des Allgemeinen Sächsischen Lehrer- 
vereins, dass dieser bei den vorzunehmenden Schritten bezüglich der an der Landes- 
universität anzustrebenden Einrichtung von Fortbildungskursen für Lehrer auch 
Vortragende zu gewinnen sucht, welche Förderung der Erziehung geistigminder- 
wertiger Schüler in das Bereich ihrer Forschungen gezogen haben.“ 

Am Schlussse der 35 Teilnehmer zählenden Versammlung regte der Vor- 
sitzende an, dass die Mitglieder der Vereinigung, soweit sie dem Verbande deutscher 
Hilfsschulen nicht angehören, auch diesem beitreten. Es zeichneten sich 12 Herren. 


Literatur. 

Verhandlungen der IV. Schweizerischen Konferenz für das Idioten- 
wesen in Luzern am 12. und 13. Mai 1903. Herausgegeben im Namen des 
Konferenzvorstandes von C. Auer, Sekundarlehrer in Schwanden (K. Glarus), 
K. Kölle, Direktor der Erziehungsanstalt für Geistesschwache auf Schloss 
Regensberg, und H. Graf, Lehrer an den Spezialklassen in Zürich V. Selbst- 
verlag des Konferenzvorstandes. Preis Fr. 120. 

Vorliegender Bericht, dem wir eine weite Verbreitung wünschen, gibt ein 
getreues Abbild nicht nur der Verhandlungen der IV. Schweizerischen Konferenz 
für das Idiotenwesen, sondern der in der Schweiz bestehenden Sorge für Schwach- 
und Blödsinnige überhaupt, indem er alle in den einzelnen Kantonen bestehenden 
Anstalten, Spezial- und Nachhilfeklassen unter Angabe der Zahl der Lehrer und 
Schüler anführt Man ersieht aus den Mitteilungen, welch eifriges Streben in der 
Schweiz auf dem Gebiete der Erziehung Geistesschwacher herrscht, und wie man 
daselbst darin wetteifert, den bedauernswerten Geschöpfen ein menschenwürdiges 
Dasein zu bereiten. — Die Verhandlungen der Konferenz dauerten 2 Tage. 
Nachdem am 1. Tage zunächst der Vorsitzende der Konferenz, Sekundarlehrer Auer 
in Schwanden, über den gegenwärtigen Stand der Sorge für geistesschwache 
Kinder in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der in den 
letzten beiden Jahren erzielten Fortschritte berichtet hatte, hielt der ärzt- 
liche Vorsteher der Anstalt für Epileptische in Zürich, Dr. med. Alfred Ulrich, 
einen Vortrag über den Schwachsinn bei Kindern, seine anatomische 
Grundlage, seine Ursachen und seine Verhütung. Ein mangelhaft ent- 
wickeltes oder krankes Gehirn bildet immer die Grundlage des Schwachsinns, ver- 
ursacht durch bestimmte Schiädlichkeiten, wie erbliche Belastung, Trunksucht und 


194 
Syphilis bei den Eltern, Krankheiten, Verletzungen, physische Erregungen der 
Mutter während der Schwangerschaft, Verletzungen der Kinder vor und während 
der Geburt, Verletzungen und Krankheiten des Gehirns in der ersten Kindheit, 
häusliche Verhältnisse u. s. w. Redner: fasste schliesslich den Inhalt seines Vor- 
trages in folgenden Thesen zusammen: 

1. Schwachsinn ist der Sammelname für die mannigfaltigen verschiedenen 
geistigen Schwächezustände. 

2. Der Schwachsinn ist die seelische Äusserung einer körperlichen Erkrankung 
(des Gehirns). 

Die Erkrankung ist angeboren oder erworben, sei es bei der Geburt, sei es in 
frühester Jugend. 

3. Die anatomischen Grundlagen der Gehirnerkrankung sind verschie- 
denster Art: Wachstumshemmungen, Entwicklungsfehler, Missbildungen, entzünd- 
liche und ähnliche Vorgänge im Gehirn. (Zu kleines, zu grosses Gehirn, Fehlen 
einzelner Teile, Erweiterung der Hirnhöhlen durch Flüssigkeitsansammlung u. s w.). 

4. Als Ursachen der dem Schwachsinn zu grunde liegenden Gehirnerkrankung 
kennen wir: 

Die erbliche Belastung. 

Die Vergiftung der Keimzellen mit Alkohol und anderen Giften (Trunksucht 
bei den Eltern, Rauschzustand während der Zeugung). 

Syphilis der Eltern. 

Ausfall der Tätigkeit der Schilddrüse. 

Erkrankungen, Vergiftungen und Verletzungen des kindlichen Gehirns vor, 
während und nach der Geburt. 

5. Die vorbeugenden Massnahmen zur Verhütung des Schwachsinns bestehen 
theoretischerseits in der Erforschung der Ursachen, praktischerseits in der Be- 
kämpfung der bekannten Ursachen. 

Die Hauptaufgaben sind: 
Aufklärung des Volkes über das Wesen und die Folgen der erblichen Belastung. 
Die Bekämpfung des Alkoholmissbrauches sowie anderer Gewohnheitsgifte. 
Die Bekämpfung der Syphilis. 
Die Bekämpfung der Tuberkulose. 
Die Bekämpfung des Kretinismus. 
Die Bekämpfung der Armut sowie des Elendes überhaupt. 
Fernere Mittel zur Verhütung des Schwachsinns sind: 
Schonung und richtige Pflege der Mutter während der Schwangerschaft. 
Schonung der Kinder während der Schwangerschaft, bei und nach der Geburt. 

Im Anschluss und zur Ergänzung dieses Vortrages kam eine Arbeit des am Er- 
scheinen verhinderten Dir. F. Kölle zur Verlesung, die in eingehender Weise die 
Ursachen des Schwachsinns behandelt. 

Über den Inhalt beider Vorträge entstand eine lebhafte Debatte, von einer 
Abstimmung über die Thesen aber wurde abgesehen. 

Der 2. Tag war in erster Linie den Lehrern und Pflegern der Schwachsinnigen 
gewidmet, indem der Vorsteher der Erziehungsanstalt in Mauren, P. Oberhänsli, 


über die Stellung der Lehrkräfte und übrigen Angestelten in den An- 
stalten für Schwachsinnige sprach und Lehrer J. Herzog-Luzerh die 
Stellung der Lehrkräfte an den Spezialklassen behandelte. Es geschah 
an der Hand folgender Thesen: 

l. Die Spezialklasse für Schwachbegabte ist ein integrierender Bestandteil der 
Volksschule. Der Lehrer an derselben ist deshalb den gesetzlichen Vorschriften 
und Verordnungen unterstellt, die für die Primarschule Gültigkeit haben. 

2 Es kann kein Lehrer zur Übernahme einer Spezialklasse gezwungen werden; 
deshalb muss ihm der Rücktritt in die Normalschule freistehen, wie er auch von 
den Behörden in dieselbe zurückversetzt werden kann. 

3. Durch seine spezielle berufliche Ausbildung erhält er eine gewisse selb- 
ständige Stellung, und in der Schulführung soll er so weit Freiheit erhalten, dass 
er Lehbrziel, Lehr- und Lektionsplan den jeweiligen Verhältnissen anpassen kann. 

4. Der Lehrer der Minderbegabten muss manches Angenehme entbehren, was 
im Verkehr mit geistig frischen Kindern ihn erfreut und ermutigt; auch tritt ihm 
im Verkehr mit den Kindern und deren Eltern manches Unangenehme entgegen. 

5. Die Arbeit in der Hilfsschule stellt hohe Anforderungen an die Kräfte des 
Lehrers. Diese vermehrten Anforderungen sollen durch eine Besoldungszulage 
einigermassen ausgeglichen werden. 

6. Der Lehrer soll sich der aus der Hilfsschule entlassenen Zöglinge in liebe- 
voller Fürsorge annehmen. 

Den Schluss der Vorträge bildete der Vortrag des Vorstehers J. Straumann 
von Schloss Biberstein bei Arau über die Sorge für die Schwachsinnigen 
und Schwachbegabten nach ihrem Austritte aus den Anstalten 
bezw Spezialklassen. — Diesem Vortrage waren folgende Thesen zu grunde gelegt: 

1. Erziehung und Unterricht in Anstalten und Spezialklassen für Schwachsinnige 
und Schwachbegabte sind so zu gestalten, dass auf ein möglichst selbständiges 
Fortkommen der austretenden Zöglinge Bedacht genommen wird. 

2, Zu diesem Zwecke ist neben den Schulfächern dem Handfertigkeitsunter- 
richt und den Handarbeiten alle Aufmerksamkeit zu schenken. 

3. Es sollen nach dem Vorgehen der Schweiz von (remeinnützigen Gesellschaften 
in den Orten, wo Anstalten und Spezialklassen für Schwachsinnige und Schwach- 
begabte errichtet sind, Kommissionen ernannt werden, die Patrone für austretende 
ZJöglinge bestellen. 

4. Diese Patrone haben den erwerbsfühigen Schwachsinnigen geeignete Plätze 
zu suchen und ihnen mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. 

5. Für die nur zum Teil erwerbsfähigen Schwachsinnigen sind Asyle mit land- 
wirtschaftlichen Betrieb zu gründen. 

Der Staat leistet angemessene Beiträge, und die Gemeinden, deren Orts- 
angehörige hier versorgt sind, sorgen für genügende Kostgelder. 

6. Damit für die unglücklichen Idioten allseitig gesorgt werde, sind Blöd- 
sinnige und erwerbsunfähige Schwachsinnige in besonders zu gründenden Pflege- 
anstalten unterzubringen. 

Die finanzielle Unterstützung geschieht wie bei These 5. 


196 


Unser hochverehrter Gönner und Freund, 


Geheimer Hofrat Herrlich zu Berlin, 


welcher im Oktober 1899 in voller geistiger Frische sein 60 jähriges 
Dienstjubiläum feierte, hat das Zeitliche gesegnet. 
Alle Teilnehmer unserer Konferenzen, welche den Verewigten 


als einen eifrigen Besucher und unermüdlichen Helfer derselben, 
sowie stets wohlwollenden Freund kennen gelernt haben, bewahren 
ihm ein treues Andenken. 

H. Piper, 


Vorsitzender der X. Konferenz für das Idiotenwesen 
und Schulen für schwachsinnige Kinder. 








Die XI. Konferenz für das Idiotenwesen und 
Schulen für schwachsinnige Kinder 


findet im September 1904 zu Stettin statt Der Unterzeichnete 

bittet, etwaige Wünsche für die Konferenz, sowie Vorschläge für die Beratung, 

Einsendung von Themen spätestens bis Ende März 1904 einzusenden. 
Dalldorf, im November 1903. H. Piper, 


Vorsitzender der X. Konferenz. 


Zur Beachtung! 


Mit vorliegender Nummer schliesst die 
Zeitschrift für die 


Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 


ihren XIX. Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen 
Jahrgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken. 


Die Herausgeber. 


Briefkasten. 


R. W. i. B. Obgleich die Vorteile des Austausches auf der Hand liegen, so ist es 
ewiss nur interessant, wenn derselbe einmal von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. 
Im übrigen aber hat nicht die oder jene Hilfsschule den Austausch zuerst eingeführt, 
sondern es bestand derselbe vielmehr früher in einigen Anstalten, ebenso besteht unseres 
Wissens dieselbe Einrichtung auch in einigen Priavatschulen für normale Kinder. -- 
B. K.i. L Ob am besten halb- oder kan a nage Lektionen zu halten sind, darüber 
gehen die Meinungen auseinander; vielleicht erörtert diese Frage aber einmal einer der 
Kollegen. Unsere Zeitschrift steht zur Verfügung. 











nn 


Inhalt. Die Auswechslung von Schülern in der Hilfsschulklasse.. (Wettig.) — 
Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule. (W. B ock.) 
— Die nordischen Versammlungen für Abnormsachen. H. Stelling.) — Die Entwicklun 
von Sprechen und Denken beim Kinde. (F. Frenzel.) — Mitteilungen: Berlin, Dalldorf, 
Frankfurt a. M,, Nürnberg, Plauen i. V. — Literatur: Auer, Kölle, Graf, Verhandlungen 
der IV. schweizer. Konferenz für das Idiotenwesen. — Anzeigen. — Briefkasten. 














Für die Schriftleitung verantwortlich: W, Schröter in Dresden. 
Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hufbuchhandlung in Dresden, 
Druck von Johannes Pässler in Dresden. 


N 
„< N 
E~ 


ae Google 


le 


THE NEW YORK PUBLIC LIBRARY 
REFERENCE DEPARTMENT 


This book is under no circumstances to be 
taken from the Building 





form 410 


Er Ta DE AT A GTA any, a as re 
TEAN aretnr ee ul ters a? a a ri 
| SPSS 


a4 Fr FIRE N NE rn 
hai a Br k k . 
I Ye SAL ai ee re ie ar? De 2 AF 


eura e rae A Ei 4 
+ B FE JA Fu 


La 


v 57. - AL 
et : s } 
AN Br. Fsi h 








ey en u. Pr , A A 
ur Baer Zr T A a N mis r ISE a g a EA ar 
N u re NE UT TE 8 Mer RER KR 
N NE TE NER ee 
den el AE T D d mu. ar p eu FL; ee N 
N NA Aars =. Y” 0 eh ee y r ae PR Si 
% A d g Fai Fa. Li 4 f i 2 P CE 
á! - era Wa, PIST K y f a ur Br EN FAT P 
A D A An ice u, HF n I g ERL PE E A p R r 
R N i N E RA AUA TANTI Y, 
X D: N l n a L ee DE a a RUP aA 
TAa ANON EA es My Mur; ss Tor UNE Lie us g Mu u Ne 
Den ar ee EI ET T. PAL E OTTATI TONERS, 
Ar ia NT av ec Hl = Koh if ae rien vr. ii, FREE re 
l G g r a 5 K G m On » l 
Te AA Tye MeT n l g fi : 
T a = AT FT Er Bar Te 
A P ae Be a KITT g uta rt D ‚4 a) er ne “an et z -s vw ri a 
Ara naet A N A ma 
mn a E 4 NW m a be a ud - KoT u re un, a“ S elle rar, 
DS RT r 
5 ER ER EA RT 
er v Ty re, ar) W, i Enni A, n G f A A e p 
RASY r SRA Wh Pr PEL Aae x PULY r Or 
> EEE RR I AT n Ahr KAVLA VER ARE Eu 
1 EDEN er ANNE A ORT, ERTL er 
ad ER ë d ge 
Ik m deam i er P Mis WE S y FA v Ya Hl p Fr 
i pm Dr PL TI Pr up Er 2 Y N, Ka“ Pi ‘ T ri r fr £ 
T ee ee: Fall TRORTTIE ur A ; TCD 
w CT A EEE PURE T ~ Ay 
| E 27 Br fia ler erw, ML 
x TREE NEN NET, 
u w ro E f f Pe ar 
| BRKURLRU UWE AN ATITA 


3 | g a y PR) + A a; ę s j- j V s N 
n à z p i A epN r NRG Kay Y vag rt 
rn Ma? pur KU ER 
g d 4 nga gi Lo nt ML 
d 


SH Zu ' NAP ELELEE Sg ‚Me 
x im DE RATE) = nor An reale DEN At, 
3 Kae er a RAR a EN ZEN 
BT ~ ee Ta wi pe ` NA 3 AD 9 AN Sy NE I 
> ' < P m aa CGF ; 
x TEE Ir ee a erh RER EA PETEA E SU Aa 
Ber | a ET TR RT ST ANELIE N. 
~ i PA Die u T) Ge = u ST. wen ur Sue EE l eet 
Bee, „RE Aare u | Vz rat oh. rihnrt A j ei 
. RR zur é! > A Im, A (qra Ca Ke CARNE: sy FAN AT 
\ AA ON A aa aAA PTN AA ITACA N er N 
. i K ad T) PAA ATE EINE R DiS N i 17 
all iz u | rn | 


LTE RAP AE ATE i 
u w- E Á "EG ST A = r r eye Fon: G G T ar 
FE N AE ENO AO go UTAS DE 


A D e” - pé . Fr) D - 
BE X \ ’ nn ee N ET, EVET ATAY 
malt ı> Enean Si | De nr 1 +. vt: 2 a s n a" 4 iy j. EL 
TER? RR “har ER her Kar BREI HELH IR 2 
nee et, Hi a AA FEN N nti Et Une, Ah 
N x a e. m "p. s am T m e ie. PL} A p d 
Da he Pit Ri nr a AT HAPA e Ah P EA HA het 7, 


g Aa a) ee Ak RE e AT RY CPI TY $i Int Y F 
fi MEATA rá dU a aE AES E ht RT RR VE T E K VN 2 t; a 
me p È MEN y n 


d 
E 1 A RN 
A zung rs '# G ATA Aap 4 AnA Si De) Ñ TIA h . 
EBEN k ni TA TIS y N Een NEM rue TA EEE 5 VAR ar PAIN 
Ir 





LEN 
nen 


4 


C 

a Ir 

zz » LJ T 

A 
> 


"Ta 
a e 
En m 
s 
> > 
e B^ 
A as 
a rs 
By m, S 
pP u 
— 
e A 2 e 
Tar + 
ba p ò 
—, La 
ee £ 
- cn >> 
E 2 be 
nn er 


ri 
ET CE KDR era 
N, u. 


r K 
SrA E Y D w Wu i pie gae o S & A u J 5 g i r G g 
nA Ye > ar Br k Tsg R t 1" ZT ai rs kot A u dh E arp 5 IN P m Ar MN 


TY ATI Wa Nj 
- y 4 a = w i ar 277 „un e y í = |] 
yad 4 mi t i A het a aa vy F ee! n e r mn jA u 4 go Tre y n $ e 
ne EA d j IA ren nS v Ty eV a‘ ET Mare IE in ir 
Rt Me Ss i PETI ga ja R PER WAS Te 4 BR N r Is JA" 
rf en g a. IEA Ne i p PF Aa VERON o a” VASA EN 

A u 4 x 0 T i TA To s D H a A PB“ N 

G LURR e C | aeg 4. > ur O4 un EN DET Ay, M A$ 


aa iat ann Per 


Pr LA 


g 


e P J 
rS TA A i Ta TADAA | 


d P AAR TD 4 eh + d PALTM I b HT 4 
ETA EEE TE A RER ae NEE RE AT NE TE ARE DA A 


y oA Rai 4 I“ Yırrk K Y] Dr òd 1 ò j I o 
0 fi = “ AN Aa je " m Bun 0 ` Ai 447% E , at Yi AOD) H 

» u a o y Ë $ g DR 2 + b A LAA 
i 74 na EDOR TAN a en N = A AL Karte y M OSIA Ka ae N sy 4 IIAN 
L O 5 si A . FE 5 G p { . G n k r 
= d en war nr nal P = N ch, z nd, TR, RA A N N As K ý M 
NEN TAN a EN TO ne tn 

Me er 2 ALA P - a en Hr C 4 A “ In rer | Yu n L 9, ray Ps 
r a7” Pan O P Zug D f k ET N — Ti a-f A 2 Pe Far fi d4! Aad è e AL Aa E$ 

(j 


R 9 T arre t 
i wur s x we u} ey m P n tà Tue ua 

“rare : Ss u Ku Rt ERAND or ro Rh DA 

TE u nn, A hi D i OE try na FA iD DEN a ap DY s ` Ay Le 
y u Ar -a - 7 - TELE nhas j i ° SA Te E aA NT In BANN = d 

~ iof neea p er f ES gm han y" . i T m” % j re FM N EIER, C TEET 

_ = = u’ J u c g 
A vr. er hs ` RS Bi HEN NE N, re Ea S NN AOAN 

(W "E. sdi Ta T gy“ tz i sap a ae 5, Tri A DAR iin I Ar VERT E, r