t
Zeitschrift für die gesamte
Neurologie und Psychiatrie
Begründet von A. Alzheimer und M. Lewandowsky
O. R umk e
München
M. Nonne
Hamburg
Herausgegeben von
0. Foerster
Breslau
F. Plant
München
R. Ganpp
Tübingen
W. Spielmeyer
München
H. Liepmann
Berlin
K. Wilmanns
Heidelberg
O. Foerster
Breslau
Sehriftleitung:
R. Gaupp W. Spielmeyer
Tübingeo München
Dreiundneunzigster Band
Mit 151 Textabbildungen
Berlin
Verlag von Julius Springer
1924
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Löwenberg, Konstantin. Über hyaline Degeneration der Großhirnrinde
bei progressiver Paralyse. (Mit 5 Textabbildungen). 1
Spaar, R. Ein Beitrag zur Pathologie des Zentralnervensystems bei akuter
gelber Leberatrophie. (Mit 4 Textabbildungen). 18
Henckel, K. 0. Körperbaustudien an Geisteskranken III. Konstitutioneller
Habitus und Rassenzugehörigkeit. (Mit 1 Textabbildung). 27
Pin6a$, Hermann. Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von
CO-Vergiftung. (Ein Beitrag zur Frage der psychomotorischen Apraxie
und verwandter Bewegungsstörungen.) (Mit 1 Textabbildung). . . . 36
Beringer, Kurt. Beitrag zur Analyse schizophrener Denkstörungen . . . 55
Josephy, Herrn. Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neuri¬
nom. (Zugleich ein Beitrag zur Klinik der infundibulären Prozesse.)
(Mit 3 Textabbildungen).. i;2
Lucksch, Franz. Über das „Schlafzentrum“. (Mit 5 Textabbildungen) . 83
Herrmann, G. Zur Lehre von der motorischen Amusie. (Mit 2 Text¬
abbildungen) . 95
Pötzl, 0. Über Störungen der Selbstwahrnebmung bei linksseitiger Hemi¬
plegie. (Mit 7 Textabbildungen).117
Schmincke, Alexander. Zur Kenntnis der diffusen meningealen Gliome
des Kleinhirns. (Mit 7 Textabbildungen).1(39
Stief, A. Z ur Kasuistik der Cavernome des Gehirns. (Mit 2 Textabbildungen) 181
Trautmann, Edgar. Über psychische Folgezustände nach Gehirntrauma . 186
Gerstmann, Josef. Zur Frage der Umwandlung des klinischen Bildes der
Paralyse in eine halluzinatorisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge
der Malariairapfbehandlung.200
Margulis, M. S. Ophthalmoplegischer Symptomenkoinplex der akuten epi¬
demischen und sporadischen Mesencephalitis. (Mit 5 Textabbildungen) 219
-. Rhombencephalitis. Bulbärer, pontiner und bulbo-pontiner Symptomen-
komplex der akuten epidemischen und sporadischen Encephalitis. (Mit
3 Textabbildungen).248
Hinsen, Wilhelm. Über die Wege des Liquorabflusses bei Spontandurchbrueh
infolge Hirntumors. (Mit 4 Textabbildungen).278
Gurewitsch, M. Ein Fall extrapyramidaler motorischer Insuffizienz. (Mit
1 Textabbildung) . 290
Clauß, Otto. Über hereditäre cerebellare Ataxie in Verbindung mit Pigment¬
degeneration der Retina (Retinitis pigmentosa) und Degeneration des
N. cochlearis .294
Langelüddeke, Albrecht. Zur Frage des archaisch-primitiven Erlebens und
Denkens in der Schizophrenie.299
Storch, Alfred. Bemerkungen zu dem vorstehenden Aufsatz LangelUddekes. 309
Stuurman, F. J. Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizo¬
phrenen .311
Costa, N. Über eine seltene Schlaferscheinung.336
van der Horst, L. Experimentell-psychologische Untersuchungen zu
Kretschmers ..Körperbau und Charakter“.341
IV Inhaltsverzeichnis.
Seite
Russetzky, J. J. Klinische Beobachtungen über die Wirkung von Pilocarpin
bei Nervenerkrankungen .. 381
Wolpert, I. Die Siroultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. (Mit
1 Textabbildung). 397
Grünstein, A. M. Die Erforschung der Träume als eine Methode der
topischen Diagnostik bei Großhirnerkrankungen.416
Weinberg, A. A. Psyche und unwillkürliches Nervensystem. Ein Versuch
zur Darstellung einer psychophysiologischen Theorie. III. Mitteilung.
(Mit 12 Textabbildungen).421
Perwuschin, G. W. Malaria und Erkrankungen des Nervensystems ... 446
Wildermuth, Hans. Die Totenehe einer Schizophrenen. (Mit 4 Text¬
abbildungen) ..452
Beringer, Kurt. Über erleichterte Morphiumentziehung durch gleichzeitige
parenterale Eiweißgaben.467
Schrljver, I). und S. Schrijver-Hertzberger. Untersuchungen über Leber¬
funktion bei Schizophrenen. I. Mitteilung..472
Rüdin, Ernst. Erblichkeit und Psychiatrie.502
Herrmann, G. und K. Terplan. Ein Beitrag zur Klinik und Anatomie
der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren. (Mit 3 Textabbildungen). . . . 528
Löwenberg, Konstantin. Über den Einfluß der Temperatur auf die Senkungs¬
geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken. (Mit
3 Textabbildungen).541
Kurella, H. V. und Fr. Schramm. Untersuchungen über die Muskelhärte
bei Encephalitikem und die Wirkung des Scopolamins auf dieselbe.
(Mit 5 Textabbildungen). 555
Merzbacher, Ludwig. Über Höhlenbildungen im Gehirn von Erwachsenen.
(Mit 28 Textabbildungen).563
Hitler, Friedrich. Über die krankhaften Veränderungen im Zentralnerven¬
system nach Kohlenoxydvergiftung, (Mit 17 Textabbildungen) . . . 594
Stelzner, Helene-Friderike. Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.647
Barros, Enrique. Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampf¬
gifte, insbesondere des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen
des Rückenmarks. (Mit 16 Textabbildungen).720
Gans, A. Beitrag zur Kenntnis des Aufbaus des Nucleus deritatus aus
zwei Teilen, namentlich auf Grund von Untersuchungen mit der Eisen¬
reaktion. (Mit 3 Textabbildungen).750
Snessareff, P. Färbungsmethode der Giia und einiger Körnelungen des
Nervensystems. 756
Husten, Karl. Experimentelle Untersuchungen über die Beziehungen der
Vaguskerne zu den Brust- und Bauchorganen. 763
Levlnger, Ernst. Ein solider Tumor der weichen Hirnhäute mit eigenartiger
Riesenzellbildung. (Mit 5 Textabbildungen). 774
Somogyl, Istv&n. Beiträge zur Pathohistologie der Encephalitis epidemica.
(Mit 4 Textabbildungen) . 783
Kogerer, Heinrich. Zur Frage der akuten Amiuonshornveränderungen nach
epileptischen Anfällen. Erwiderung auf die Ausführungen des Herrn
W. Weimann in Bd. 90 dieser Zeitschrift. 791
Weimann, W. Bemerkungen zu vorstehender Erwiderung des Herrn Kogerer
auf meine Arbeit „Zur Frage der akuten Ammonshornveränderungen
nach epileptischen Anfällen * 1 (diese Zeitschr. Bd. 90). 793
A u t 0 r e n v e r z eic h nis. 796
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Über hyaline Degeneration der Großhirnrinde
bei progressiver Paralyse.
Von
Dr. Konstantin Löwenberg.
(Aus dem anatomischen Laboratorium [Prof. Dr. A. Jakob ] der psychiatrischen
Universitätsklinik Hamburg-Friedrichsberg [Prof. Dr. Weygandt].)
Mit 5 Textabbildungen.
(Eingegangen am 5. Mai 1924.)
Veränderungen der Großhirnrinde im Sinne einer hyalinen (kol¬
loiden oder auch amyloiden) Degeneration kommen dem Pathologen
nur selten zu Gesicht ; es liegen über diese Veränderung nur einige
wenige Beobachtungen vor.
Der älteste einschlägige Fall stammt von Billrath , der eine glasig-gelatinöse
Umwandlung der Großhirnrinde mit Bevorzugung der Gefäße beschrieben hat.
Das Gehirn ist mit der damals üblichen Technik untersucht, und es ist infolge¬
dessen heute schwer, sich eine klare Vorstellung über die Natur der Erkrankung
zu bilden.
In den 70er und 80er Jahren folgte eine kleine Reihe von weiteren Publi¬
kationen. Die hyaline oder kolloide Veränderung fand sich in den meisten Fällen
in Gehirnen von Paralytikern, außerdem je einmal bei Schwachsinn mit Epilepsie
und bei seniler Melancholie.
Aus der neueren Zeit stammen die Beobachtungen von Alzheimer. Er unter¬
suchte 2 Fälle. Bei einem Paralytiker fand er eine bedeutende Volumenzunahme
der Stammganglien, die von fischfleischähnlicher Farbe waren und hirsekorn-
große glasige Körner enthielten. Beim 2. Falle, der klinisch eine nicht ganz klare
Gefäßerkrankung mit Krämpfen zeigte, sah er kleine derbe, durchscheinende
Herde in der Rinde. Die einzelnen Teile der „kolloiden“ Masse färbten sich ver¬
schieden, während einzelne jüngere Partien sich lebhaft mit der Weigertschen
Fibrinfärbung fingierten, färbten sich ältere Teile gar nicht. Einzelne Teile wiesen
eine „dem Amyloid mindestens sehr ähnliche“ Reaktion auf. Alzheimer faßt die
Substanz als Kolloid auf. Er weist auf die verschiedenen Reaktionen der bisher
beschriebenen Fälle hin und schließt daraus, „daß der im Gewebe niedergelegte
Eiweißkörper weiteren Umwandlungen unterworfen ist und seine Reaktion ändert“.
Bestimmter drücken sich Mignot und Marchand aus, die einen Teil des Ge¬
hirnes amyloid entartet fanden. Auch hier waren die Gefäße ergriffen, namentlich
ihre Media und Adventitia, aber auch in einzelnen Zellen wollen die Autoren
Amyloid nachgewiesen haben.
Die drei neuesten Publikationen auf diesem Gebiet stammen von Sioli,
Schröder und Dürck. Sioli fand bei einem Paralytiker gallertige Quellung eines
Gyrus, beim Durchschneiden zeigte sich ein gallertiger Tumor, jedoch ergab die
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 1
2
K. Löwenberg:
histologische Untersuchung „die Ablagerung einer eigentümlichen homogenen
Substanz im Gehirngewebe“, die aus konfluierenden Schollen bestand und sich
ungleichmäßig färbte. Ein großer Teil der Gefäße war in ein dickes starres Rohr
verwandelt. Einwandfreie Reaktionen für Amyloid fehlten.
Schröder beschrieb kleine körnige Konkremente, die ziemlich fest waren und
sich zum Teil nicht schneiden ließen. Die chemische Analyse ergab, daß diese
Körper aus Kalk und einem „albuminoiden“ Stoff bestanden. In einem weiteren
Falle Schröders lag eine Veränderung des Schläfenlappens vor. Es handelte sich um
einen markstückgroßen blauroten derben Herd. Mikroskopisch wurde an und in
den Gefäßwänden eine zum Teil schollige, homogene, kernlose, mit Toluidinblau
sich grünblau färbende Masse festgestellt. Sie kam anscheinend immer in der Um¬
gebung eines Gefäßes vor. In beiden Fällen handelt es sich um progressive Paralyse.
Der letzte, von Dürck mitgeteilte Fall betrifft ebenfalls einen Paralytiker.
Bei der Sektion fiel eine eigenartige bräunliche Verfärbung der Rinde des Stirn¬
hirns auf, die veränderten Rindenabschnitte hoben sich von den übrigen Teilen
deutlich ab. Mikroskopisch war „die ganze Rinde eingenommen von einer eigen¬
tümlichen, stark licht brechenden Masse, welche in Form von großen rundlichen,
wulstigen und ovalen Schöllen angeordnet war“. Die Hauptmasse der Schollen
war an Gefäße gebunden und legte sich dem Endothelrohr an, aber auch in ein¬
zelnen Zellen war die Einlagerung in Form eines großen Tropfens zu finden. Durch
faßt die Einlagerung als Kolloid auf und möchte annehmen, daß dieser Körper
durch das Auftreten einer fermentativ wirkenden Substanz auf einen in der
Gewebsflüssigkeit gelöst vorhandenen Stoff entsteht. Bemerkenswert ist weiterhin j
im Falle Durchs das Auftreten von Riesenzellen und herdförmigen Zellinfiltraten.
Kurz zu8aramengefaßt ist allen in der Literatur niedergelegten
Fällen gemeinsam die Ablagerung einer eigentümlichen glasigen Sub¬
stanz in der Rinde oder, seltener, auch in den Stammganglien. Der
abgelagerte Körper ist offenbar immer an Gefäße gebunden, denn
sämtliche Autoren vermerken eine besonders hochgradige Ansammlung
von „Schollen“ in der Nähe von Gefäßen oder in den Gefäßen selbst.
Histochemisch ist es anscheinend nur in einem Falle möglich gewesen,
die Substanz als Amyloid zu identifizieren. Die älteren Autoren
sprechen meist von Kolloid. Auch Alzheimer wählt diese Bezeichnung
und neuerdings wieder Dürck , einige Autoren bezeichnen den Vorgang
als „hyaline“ Degeneration. Sioli spricht von „amyloidähnlicher“
Degeneration, Schröder von einem „albuminoiden Stoff“. Diese ver¬
schiedenen Beobachtungen finden ihre Erklärung wohl darin, daß in
allen Fällen der abgelagerte Eiweißkörper sich zwar mit allen mög¬
lichen Farbstoffen färbte, aber trotzdem färberisch nichts Charakte¬
ristisches bot. Bemerkenswert ist, daß die abgelagerten Massen meist
gar keine Reaktionserscheinungen im Gewebe ausgelöst haben, nur
Schröder verzeichnet eine leichte Bindegewebsw f ucherung und Diircl:
erwähnt Fremdkörperriesenzellen und herdförmige Infiltrate.
Die beiden folgenden Fälle mögen die Kasuistik bereichern. In
dem 1. Fall handelt es sich um einen 34 Jahre alten Paralytiker, der
nach 3w r öchigem Krankenhausaufenthalt seiner klinisch typischen
Krankheit erlag. Aus dem Sektionsprotokoll entnehme ich folgendes:
Über hyaline Degeneration der Großhirnrinde bei progressiver Paralyse. 3
Schädeldach o. B. Dura mit frischen Blutaustritten auf der Innenfläche.
Pia über den vorderen zwei Dritteln der Gehirnkonvexität getrübt, ebenfalls
auch an der Basis, namentlich über den Teraporallappen. Die Windungen sind
im allgemeinen geschrumpft. Links fühlt sich der unterste Teil T 2 und T 2 , ferner
die Parietalwindungen verhärtet an, diese Partien zeigen aber sonst gewöhnliche
Konfiguration. Auf dem Durchschnitt ist die Rinde im allgemeinen verschmälert,
die Ventrikel sind erweitert. Die verhärtet sich anfühlenden Windungspartien
im Unken Temporal- sowie Parietallappen sind auf dem Schnitt von einer eigen¬
artigen Veränderung eingenommen. Die ganze Rinde und das angrenzende Mark¬
lager sind auf dem Schnitt grauweiß und körnig. In der Nachbarschaft finden sich
vereinzelt kleine Herde von gleichem Aussehen. Das Ependym des vierten Ven¬
trikels ist granuliert. Das Rückenmark ist makroskopisch o. B. Die Körper¬
sektion wird aus äußeren Gründen unterlassen.
Mikroskopisch bietet das Gehirn, die Herde ausgenommen, ein für die pro¬
gressive Paralyse typisches Bild. Die Pia ist verdickt, in ihren bindegewebigen
Elementen gewuchert und mit mäßigen Mengen von Lymphocyten und Plasma¬
zellen durchsetzt. Die Gefäße der Pia sowie der Rinde und nicht selten auch die
des Marklagers, haben dichte Mäntel von Infiltratzellen. Die Rindenarchitektonik
ist deutlich gestört, die Schichten sind überall wie durcheinandergeworfen, größere
und kleinere Zellausfälle sind deutUch sichtbar. Der histologische Charakter
dieser Rindenerkrankung spricht eindeutig im Sinne einer gewöhnlichen pro¬
gressiven Paralyse.
Ein sehr eigenartiges Bild bieten die makroskopisch veränderten Par -
tien des Schläfenlappens . Betrachtet man einen mit Toluidinblau ge¬
färbten Schnitt aus diesen Windungen mit bloßen Augen oder mit
schwachen Linsen, so findet man einen graublauen Saum, der etwa die
ganze Breite der Rinde einnimmt und dem Verlaufe der Windung
folgt. Die Grenze gegen das Mark erscheint dabei ziemlich scharf,
man erkennt aber schon bei dieser Betrachtung, daß der Prozeß an
einzelnen Stellen auf das Marklager übergreift.
Bei mikroskopischer Untersuchung erscheint die Pia über den so
veränderten Bezirken in eigenartiger Weise erkrankt. Sie ist in dicke,
plumpe, vollkommen strukturlose Lamellen verwandelt, die sich mit
Toluidinblau entweder gar nicht färben lassen und dann strohgelb
glänzend und homogen erscheinen oder einen grünlich bläulichen Ton
annehmen (Abb. 2). Sie bilden eine Art von grobem Netzwerk, in
dessen Maschen mäßige Mengen von Infiltratzellen liegen, und zwar
Lymphocyten, Plasmazellen und auch Polyblasten. An den am schwer¬
sten veränderten Stellen können diese Infiltratzellen völlig fehlen, und
die Pia erscheint hier aus strukturlosen plumpen Lamellen zusammen¬
gesetzt. Im van-Gieson-Präparat nehmen sie eine gelbrote Farbe an.
In gleicher Weise wie das Bindegewebe der Pia sind hier die Gefäße
verändert. Die Intima ist als schmaler blasser Streifen mit länglichen
meist geschrumpften Kernen noch ganz gut erkennbar. Die Media
dagegen ist in eine strukturlose, ziemlich stark lichtbrechende Masse
verwandelt, sie ist verdickt und bildet entweder einen homogenen
Ring oder besteht aus einer Art grobem Flechtwerk. Die Adventitia
1 *
4
K. Löwenberg’:
ist nicht scharf abzugrenzen. Nur an einzelnen Gefäßen ist die normale
Anordnung der Mediamuskulatur noch deutlich erkennbar, doch sind
auch hier die glatten Muskelfasern meist hyalin entartet. Das Gefä߬
lumen ist nirgends verengt und meist völlig rund. Bei Betrachtung
von Längsschnitten durch Gefäße ist ihre Wand im ganzen Verlauf
meist gleichmäßig verändert und ihr Lumen überall von gleichem Ka¬
liber, so daß man den Eindruck hat, ein starres Rohr vor sich zu haben.
Die meisten Gefäße sind von Infiltratzellen begleitet, die gewöhnlich
nur in den adventitiellen Räumen liegen. An einzelnen Stellen greift
aber die Infiltration noch auf die Media über und verdeckt die Gefä߬
wand vollständig. Im van-Gieson-Präparat färben sich diese hyalin-
entarteten Gefäße satt orange und die Strukturarmut ihrer Wand
kommt hier besonders deutlich zur Geltung. Resorcin-Fuchsin gibt
eine graue Färbung, die elastischen Fasern fehlen völlig. Mit Tannin¬
silber nach Achucarro wird eine intensive schwarze Färbung erzielt,
eine wesentliche Bindegewebswucherung ist nicht nachzuweisen.
Betrachtet man die am schwersten veränderten Stellen der Rinde,
so findet man, daß hier von einer normalen Struktur auch keine Andeu¬
tung mehr vorhanden ist (Abb. 2). Das ganze Parenchym ist umge¬
wandelt in eine strukturlose , stark lichtbrechende Masse , in der nur ganz
vereinzelte schwer veränderte Ganglienzellen und Gliazellen sichtbar
sind. Diese Masse, die sich mit Toluidinblau leicht grünlich und van
Gieson gelbrot anfärbt, ist — wenigstens am alkoholgehärteten Ma¬
terial — aus kleinen unregelmäßig geformten Einzelschollen zusammen¬
gesetzt. Irgendeine weitere Struktur läßt sich in ihr nicht erkennen,
nur sieht man überall ganz deutlich in ihr die Reste der Blutgefäße,
die sich durch eine etwas andere Lichtbrechung herausheben. Die Wand
dieser Gefäße ist überall vollständig hyalinentartet genau in der gleichen
Weise, wie wir es in der Pia gefunden haben. Zellen findet man, wie
erwähnt, in diesen schwerst veränderten Gebieten kaum, nur hie und da
sieht man eine schwer degenerierte Ganglienzelle oder auch eine größere
mit reichlichem Plasmaleib versehene Gliazelle. Nur da, wo sich diese
hyaline Degeneration in der Tiefe gegen das Mark absetzt, findet man
eine schmale Lage entzündlicher und gliöser Zellen.
Bieten diese Rindenstellen nun ein relativ einfaches Bild, das
augenscheinlich das vorgeschrittenste Stadium des ganzen Prozesses
darstellt, so finden wir in der Nachbarschaft davon und in sehr großer
Ausdehnung in der Rinde einen sehr viel mannigfaltigeren und kom¬
plizierteren Befund. Auch hier sehen wir dieselbe eigenartige Ab¬
lagerung im Parenchym, und zwar oft in Form größerer Schollen, oft
aber auch nur als kleine, eben erkennbare Ablagerungen. Das Grund -
gewebe zeigt hier in der Umgebung ebenfalls eigentlich keine schweren
Reaktionserscheinungen (Abb. 1). In den dazwischenliegenden Be-
Ph*‘r l \iüiue 1 d*r ;ÖröÜhm4SnJ.o^ h^i •
zirfen ..über, wo cto Parenchym )ioch einigermaifc*n erhalten, erscheint
finden wir schwerste Lhfükative Veränclm'OngeTj (Akk 3 u. 3). Di«
■fcftrf&ße sind Itter umyeheidet von dichte Mänt^ilw von PtesnuizeUcr
Xbiy. 1,; i'aii l. ilyaliij«rRJva^nUeg<u«ruMofi mit ti^Ulirhe/ .UivriM* 'byrrt«liyti»f
/ind^ii fcirit lUiUljO}* «HH/«>^Su'i»u,- s^vfiUi'or<U'? bei x.
Farlaii»« Aach v.iii »ij*>r>i,.- Xi^ojdiütöiüraMn». h.* V<*r’a^«5<*r-ua?.
fa^rbiWenUef Glte«; Die Gfttic1ie^eUe?( tftiiX hier fa .\%* Vofl^rtdj^;
schwunden, iqui die wenigen, die erhalten ^ifid. ,sichren sieh ^ehvver
verändert und dä* Bild der iHohaitiiscJieri ^rkrariä'ül^.'
»Spiefwe.t/fr*, Noch man?»igf;d< »g.-r wmi da« Bild -dadurch, daß *uh
nach dem Marklager ziv ei». ausiC’W'roefjetwr Sudo.« <{»<>rTpesn^ ent¬
wickelt. Siwimdinn den Schölten nmi den Parenchytniff.sion lu/rden
is^jS
'■
K Uttwenhenr,
größere und. jähere ;|üßckie»ji';-ÄCht)wT> M ’$§*!$ sieh
kolossale M«-oj»ert von ’f nfiLtratzetk-n und faScrkildrivler <»lia ftiisamtneln.
Zaliirekh*? i<)ii< i)tvgt- /omor-yteri :dui\"h^et^n das liewehi> und’ erfüllen
mit ihren •| , R%«iro.yjB'W8«h:>^ck''^wl’liiicÜtrt der «nofigutech Hotlntume.
K S*
Abb’. Ü :Kall: J : . v.rtrtM^rt^ J% iwCf .K?.4$*V AtytiMsemiifc .in '. xl : 0*
Kind»- IU\ it jlKtitlk’lu^ Hyalin v«rän»tett**, •• G&M. Au «K?>: ttr«u«<*
<\n% ni».*ht. ,ltyHüit eut.j»rtti't* tipwahb HutHi «Mh tjin»r *ti«V ltifiH
fräliffiri und fiHirtwurherung. lVilatd!Hf'liitil»rimrig
'. STtijfcljRf«* ViTgrößmiüg.
trbi't hyaline I'(Jtrent>ratii*n der GrtiWnnirinde hej progressiver Piiniiyse
d>3> i%rund^tyebes kommt i« iit«e« 33fe
l&brtllen '«r»ciie»rief) nicht gieichmällig gefärbt. sieh allmäb
lit'h Übergäuge von tieischwarauv bis graubrainier Farbe beobf.wdit.eu.
n.rral! sind.sie Mruktumnir, bald mehr schollig, bald mehr krümelig.
Betrachtet inan mit starker Vergröberung die wmig« dkdHe« hya-
iutvö^ (\Jwchnittc, scysibht «ja« das vcwlickt^ gndjl>alkigr> ynö plumpe
>;fwrcti..od«üi gewöhnln b iir-fsc.b“/arz verkUmi.pt tj n«i wie crbam.
Ä? ebizeiuü« pftlkvh tind Urbcka!, irr adlet» iferbübergtingcn von tief-:
b. F>P 1 vi>). wiiurt *(Ml vag livnlim-n SchyMon. Färbung no.-l
'#JefcHw>r*fcy. M.tkriV|rt»v‘toj^T» starke Wr^rriühruug.
.«InviVira bi» hellgrau sind nicht vcm gleicfeer« Kaliber, oft sind .sie mit
Ihm in» dunklen Körnchen bedeckt, uns ebnen nicht selten ein Ijtb
biubo - Aussehen verleiht Andere sind stark verrückt, in dev Mitte
wfcf au de« Enden atd^itriel>efi o/lör iuie.fi ifn ganzen mit
Weinen Kogel« 'qdä^'Kö^ft versehen. •'$&' 'dichter der KA‘kcöseht*rd,
■iesti. geringer wird die cellulare Jtotelligufuf. ln den eben btseiiriebvnen
-'teilen sind manchmal rieben einzelnen gesehrimipfcen Kernen noch
ücfsehwarz, gefachte lionnogeriv grolle ölwzrllen sjehtbar, Ihr ÜÜrlleih
etv.'heiijt vollständig hüiningen t'j'nd stark gebkdit., die ebeidaUs tief-
schwarzen dicken Ausläufer xind ciue Strecke 'lang deatli,eb sichtbar, :
danjj versebwinden sie ia dm hyalinen. .Schollen.. An einzeln,-u iSteOeit,
8
K. Löwenbert::
wo die hyalinveränderte Grundsubstanz feinkörnig erscheint und die
Silberimprägnation nicht sehr hochgradig ist, lassen sich zahlreiche
Gliazellen beobachten. In kleinen Gruppen liegend, heben sie sich scharf
von dem dunkelgrauen Grundgewebe ab und erscheinen wie eingebettet
in den Zerfallsmassen. Stärker wird die Beteiligung der Gliazellen dort,
wo die Entartung noch nicht vollkommen zur Ausbildung gekommen
ist. Mächtige Astrocyten füllen dann das Gesichtsfeld und senden überall¬
hin ihre starken und langen Fortsätze. In kleinen Verbänden dringen
sie zwischen den Schollen hindurch und umgreifen hier und da die
nekrotischen Bröckel, sind aber nirgends imstande, in der Tiefe der
Einlagerungen Fuß zu fassen.
Eine besondere Berücksichtigung bedürfen noch die Gefäße in dieser
Gegend. In dem ganzen Bereich der schwer veränderten Rindenpartien
zeigen sie nämlich die eigenartige hyaline Wanddegeneration, die wir
schon in der Pia gesehen haben (Abb. 4). Die Intima erscheint auch
hier vielfach ganz gut erhalten, die Media dagegen ist durchweg in eine
hyaline Masse umgewandelt, in der keine oder nur ganz vereinzelte
und schwer degenerierte Kerne liegen. Dabei erscheint sie vielfach
gegen die Norm verbreitert. Um diese veränderten Gefäße herum
findet man oft ganz gewaltige Mäntel von Infiltratzellen, die an Menge
doch erheblich über das hinauszugehen scheinen, was man sonst auch
in schwer veränderten paralytischen Gehirnen zu sehen bekommt.
Nur in den Bezirken, wo die hyaline Masse in größerer Menge abge¬
lagert ist, wird die perivasculäre Infiltration geringer.
Es sind noch einige Besonderheiten zu erwähnen. Abb. 3 zeigt ein
Gefäß, wie wir es häufiger sehen. Man erkennt deutlich die hyaline
Entartung der Wand, und um das Gefäß herum findet man in reich¬
licher Menge die hyalinen strukturlosen Massen. Das Bild, das wir
hier sehen, hat zweifellos eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gewebs¬
zerfall der senilen Drusen, besonders im Bielschowsky-Bild, sie unter¬
scheidet sich aber von diesem durch die größere Ausdehnung und durch
die unregelmäßige Abgrenzung und ihren uncharakteristischen Bau.
Auch die reaktive Veränderung der Achsenzylinder vermissen wir.
Jedenfalls scheint die Ablagerung der Hyalinmassen in gewissem
Grade abhängig zu sein von der Erkrankung der Gefäßwände. Diese
sind auch in solchen Bezirken noch im gleichen Sinne verändert, wo das
Grundgew r ebe nicht oder nur in ganz geringem Maße degeneriert ist.
Eigenartige Veränderungen lassen sich noch vielfach an der Ad-
ventitia der Gefäße feststellen. Man sieht besonders da, wo das In¬
filtrat relativ schwach ausgeprägt ist, eine starke Wucherung der ad~
ventitiellen Elemente . Die Zellkerne sind hell, deutlich vergrößert, und
das Protoplasma ist im Blaupräparat dunkel gefärbt und ebenfalls
vermehrt. Dabei kommt es an vielen Stellen zur Bildung von riesen -
(V\t hyaline D«** 2 cuor.it io» (Irr (tM^hirciriii^c hoj (»rugtt&siver handyse Q
Sijwpku'fHM". du als bmtes Band ein» ganz**■ kapillare
iüüvhlird^n kVmuru Abb4b zeigt ein derartiges eigenartiges Bi Ui
Mensen nh ah derartigen Steilen nicht gefiuüdö'n.' .An Lan^s*
v-.hnittm sieh* ne.Uh Ute derartige ddkentige BlasinumaSsro; oft die
< < fak» wa?».>♦/ ced größere Strecken begleiten, AM#. 4h . zeigt ein •üwas
Aivb'r^ Bild, - Mar« dieln hier eine plasmureiohe blumigf iJdie den
Ke^t t ine^ hyaJifulogederjerhMi C^fäßes i -:'Sn$\
du f>h• Fh^m'dfe'^rjier in ihr liegt. Ehe TiÄNyÄ etnor
dunkler als die ici Abb, 4b obgelnldeten und in ihrer Form etw-W mi-
revel mäßiger. Oberhalb dieses GehUdcs Hilden wir wieder eine ftirsen-
zelle, die mehr an die in Abb. 4 h erinnert.
U*U 4:; w:d V«, F/til [, lUe^ifti-lMviMun • um fiyaUii erteuriere >*«*tr1 ct«‘. ? ..= hpfütu». «r -
I > ^!iin’U* j n., n! — OKi. ■ IV r !»u«1iii»iU#rti4rluMi<:. MiUrtv^aorofinov.i) JnKli ZtichnuMr *l»ei lumirc-
?4i i»M - V: * r »J> * ► Lv#:> 0 n
Um ^ßäb-ryÄie--Müssen tndir Klar-
heb. zu eew.nm n. w urde eine Anzahl färberiseher Reaktionen vorge-
(K> wiecn.
Hi*Ufrh*/}n«i'h labt sieh folgendes über die eiftgelagerte Substanz
n-tste]|»a* ; \. Ju TotmdiobkMrvv-biiitte!! färbenjwh die Sehdien schwach
gX»v]blau, bei längerer Einwirkung ries Farbstoffes mehr griinhlKnzHi0
*ivr/hdmut‘deutlich kiVrnig; 2. -nach tüir-Oiesph' werden
zu Ml l>i.l
li l» htend rot, nn?fsten8 jech>ch mehr ^gelbrrU; Hie jdnd strukturlos, und
►>* fehlt bei dieser Färbung die dr eihohe Kbruefung: de- Gruiidsub.stAnz
tTs»-heint ivb:-hr leimugen. T Mit' färben sie h
enu Teil hdJbhu, gewbhititeh u'Uer rosa: k nmb der YV'-umrmeh« e.
Murksehruddvn^fbt«b* werden litä Aiüt e^ör^ifi-Ktir >
gKuA;hmaßig grau: b. mit doderim-Ku* iuui zum 4 eil intensiv rot. zum
Teil graugrün T. rrndi dakob-M^ifbry erscbeirien sie in den zeliarouTeo
rv
10
K. Löwenberg:
Bezirken intensiv blaugrün, zum Teil auch blaugrau. Die Kömelung
ist bei dieser Färbung besonders deutlich sichtbar. 8. Mit der Weigert-
schen Fibrinmethode wird nur eine blaßblaue Färbung erzielt. 9. Mit
Sudan läßt sich nirgends Fett nachweisen. 10. Die Berlinerblau¬
reaktion ist vollkommen negativ. 11. Mit Methylviolett färben sich die
Schollen graublau. 12. Mit Jodschwefelsäure strohgelb, einzelne Gefä߬
wände mehr bräunlich. Somit ist das mikrochemische Verhalten ein
vollkommen uncharakteristisches; als Amyloid ist die eingelagerte
Substanz nicht aufzufassen.
Außer in dem Rindengrau findet sich ein histologisch ähnlicher
kleiner Herd in der Substuntia nigra , im roien Kern und in der Brücke.
Die Gefäße zeigen hier ebenfalls für diesen Fall typische hyaline Ent¬
artung, das Infiltrat besteht hier fast ausschließlich aus Plasmazellen.
Auffallend oft ist die Adventitia stark aufgelockert und gewuchert,
wie es oben geschildert worden ist. Die Capillaren sind im ganzen Be¬
reich des Herdes hyalindegeneriert, und das Grundgewebe bildet ein,
wie oben geschildert, stark lichtbrechendes, starres Netzwerk, das hier
zahlreiche schwer geschädigte pigmenthaltige Ganglienzellen umgreift.
Ihr Pigment wird nicht selten in die Gefäßscheiden verschleppt und ist
dort in Form kleiner schwarzer Klumpen abgelagert; aber auch zahl¬
reiche protoplasmatische Gliazellen haben Pigmentmassen aufgenom¬
men, was dem Grundgewebe ein schwarzgesprenkeltes Aussehen ver¬
leiht. Obwohl es hier zu einer vollkommenen hyalinen Degeneration
nicht gekommen ist, so sind doch die Zellausfälle ganz deutlich. Der
herdartige Charakter der Störung tritt hier besonders deutlich hervor,
weil die umliegenden Bezirke nur geringe Veränderungen im Sinne
einer typischen progressiven Paralyse dar bieten.
Fall 2. A. D., Arbeitersfrau, 59 Jahre alt, progressive Paralyse. Die Anamnese
ergibt mit Wahrscheinlichkeit eine syphilitische Infektion der Kranken in ihrer
zweiten Ehe. Genau ist der Beginn der jetzigen Erkrankung nicht zu bestimmen.
Am Tage vor der Aufnahme soll sie einen Schlaganfall erlitten haben.
Status: Die kleine zarte Frau ist bei der Aufnahme in sehr schlechtem Er¬
nährungszustand. Die neurologische Untersuchung ergibt bis auf eine diffuse
Schmerzhaftigkeit des Kopfes beim Klopfen, sowie eine Ungleichheit der Pupillen
nichts Besonderes. Psychisch ist die Kranke zeitlich und örtlich nicht orientiert.
Sie ist unruhig, traurig verstimmt, bricht oft in Weinen aus, möchte sterben.
Die Merkfähigkeit ist stark gestört; sie vergißt sehr schnell alles. Serologischer
Befund (Dr. Kafka): Wassermannsche Reaktion in Blut und Liquor (von 0,2 an)
+ + + , Zellen 19/3, Phase 1 -f-j-, Mastixreaktion: Tabeskurve.
Im Verlaufe der Erkrankung verblödet die Kranke immer mehr, der körper¬
liche Zustand verschlechtert sich nach anfänglichen Schwankungen rapide, die
Patientin wird hinfälliger und stirbt nach 18monatigem Krankenhausaufenthalt
an allgemeiner Schwäche.
Die Sektion ergibt : Schädeldach o. B. Dura prall gespannt, bei der Eröffnung
derselben fließt wenig Liquor ab. Die Pia ist über dem Stirnhirn und rechts stärker
als links getrübt und verdickt. Sie zeigt zahlreiche blauschwarze Pigmentierungen.
Über hyaline Degeneration der Großhirnrinde bei progressiver Paralyse. H
Diese scheinen sich im wesentlichen auf die Pia zu beschränken und greifen nur
an einzelnen Stellen auf die Himsubstanz über. Die Seitenventrikel sind erweitert,
ihr Ependym ist zart, das des vierten Ventrikels ebenfalls. Die Großhirnrinde ist
deutlich verschmälert. Das Gehirn ist sonst herdfrei. Die Sektion des Körpers
ergibt bis auf eine Sklerose der großen Gefäße nichts Bemerkenswertes. Histo¬
logischer Befund: Die Pia ist überall stark verdickt durch die Wucherung ihrer
Bindegewebselemente. Es kommt zur Entwicklung eines derben Netzes von
typischem reticulären Bau. Die Durchsetzung der weichen Hirnhaut mit Lympho-
cyten und Plasmazellen ist nur schwach ausgeprägt und fehlt stellenweise voll¬
kommen. Andere Partien weisen dagegen eine starke Infiltration, auch mit poly¬
morphkernigen Leukocyten, auf. Hier finden sich zahlreiche Bacillen und Kokken
(es liegt also eine sekundäre Infektion vor).
Die bindegewebig gewucherten Piaabschnitte haben überall die
Neigung, hyalin zu entarten; dann verschwinden die Bindegewebs¬
strukturen vollkommen, und das so entstandene Bild unterscheidet
sich in nichts von dem des 1. Falles. Dasselbe gilt auch für die Gefäße
der Pia, nur läßt sich durch die van Giesonsche Färbung der satte
orangerote Ton nicht erzielen, die Gefäßwände färben sich mehr grau-
gelb.
Die für die progressive Paralyse typischen Veränderungen der Rinde,
soweit sie entzündlicher Natur sind, sind nur schwach ausgeprägt.
Die Infiltrate um die Gefäße sind spärlich und fehlen oft ganz. Die
Gliareaktion ist relativ schwach. Die Störung der Rindenarchitektonik
ist zwar deutlich erkennbar, ist aber bis auf einzelne herdförmige Aus¬
fälle, die noch geschildert werden sollen, nicht hochgradig. Schwer
veränderte Ganglienzellen sind überall sichtbar. Die Eigenart des histo¬
logischen Bildes genügt durchaus zur Diagnose der progressiven Para¬
lyse.
Außer den gewöhnlichen Veränderungen im Sinne einer Paralyse
fallen ,, atypische“ Erscheinungen an den Gefäßen der Rinde auf. Die
Zellen der Gefäßwand sind hochgradig geschwollen, die Zellgrenzen
nicht mehr erkennbar, die Kerne dunkel und vom Protoplasma schlecht
abgesetzt. An einzelnen Stellen ballen sie sich zu kleinen Haufen
zusammen; es kommt zu einer Schwellung der adventitiellen Ele¬
mente ähnlich denen, wie sie im Falle 1 geschildert worden sind. Ein
starker Wall aus Lymphocyten umgibt gewöhnlich ein solches Gefäß.
Weiterhin ist es zur Bildung von miliaren Gummen der Gefäßwand
gekommen. Die Verbindung der Granulome mit der Adventitia ist deut¬
lich sichtbar. Die Gefäßwände der ergriffenen Stellen sind in der schon
oben geschilderten Weise gewuchert. Die perivasculären Gummen zeigen
den gewöhnlichen und typischen Bau, wie er von Sträußler und A. Jakob
eingehend geschildert worden ist. Es lassen sich an diesen entzünd¬
lichen Neubildungen regressive Metamorphosen, die bis zur hyalinen
Degeneration dieser Gebilde führen, Schritt für Schritt verfolgen: Das
Grundgewebe des Gummi nimmt dabei ein homogenes leuchtendes
12
K. Löwenberg:
und stark lichtbrechendes Aussehen an; ein Gewirr von plumpen hya¬
linen Fasern, mit zahlreichen Lymphocyten durchsetzt, tritt an die
Stelle von Epitheloidzellen, und schließlich tritt eine vollständige
hyaline Degeneration ein. Sowohl die noch lebensfrischen als auch im
Zerfall begriffenen Gummen lösen eine nur schwache entzündliche
Reaktion des umliegenden Gewebes aus: Es kommt zu einer schwachen
lymphocytären Ansammlung um das Gummi; daneben besteht noch
eine ebenfalls schwache Gliawucherung.
Es ist nun außerordentlich auffällig, daß die Gefäße der Rinde an
sehr vielen Stellen eine schwere Degeneration ihrer Wandungen erkennen
lassen. In vereinzelten, fast herdförmig begrenzten Bezirken der Rinde
sieht man besonders die größeren und mittleren Arterien betroffen,
daneben aber auch Venen und Capillaren. Der Befund, der sich hier
erheben läßt, ist ziemlich gleichartig. Die Intima ist meist noch leid¬
lich erhalten, die Media dagegen ist unter völligem Verlust ihrer feineren
Struktur umgewandelt in eine stark lichtbrechende, schollige oder kör¬
nige Masse, die mit Toluidinblau sich kaum anfärbt, mit van-Gieson-
Schnitt dagegen einen gelbroten, aber stumpferen Ton als das Hyalin
des ersten Falles bekommt. Kalkreaktion ergibt diese Masse nicht
und die Form ihrer Ablagerung unterscheidet sich auch in manchen
von den ,,Kalk“-Ablagerungen, die wir in den Gefäßen des Pallidums
hier wie auch sonst so häufig finden. Dieser „Kalk“ ist sehr viel grob¬
körniger, unregelmäßig geformter und auch lange nicht so stark licht¬
brechend wie das Hyalin der Rindengefäße. Besonders bemerkenswert
erscheint nun, daß an einzelnen Stellen der Rinde, und zwar da, wo
sich die degenerierten Gefäße in größerer Menge finden, es auch zu
einer Ablagerung hyaliner Massen im Parenchym kommt. An solchen
Stellen geht die Rindenarchitektonik weitgehend verloren und man
sieht überall verstreut in Form von groben Balken oder Klumpen kern¬
lose hyaline Massen auftauchen. Sie sind im Toluidinblaupräparat un¬
gefärbt, sind stark lichtbrechend und scheinen aus einzelnen kleinen
Körnchen mosaikartig sich zusammenzusetzen. Das zwischen diesen
Massen liegende Parenchym ist weitgehend degeneriert, vor allem weisen
die Ganglienzellen schwerste Schrumpfungserscheinungen auf, es fehlt
dagegen an irgendwelcher wesentlichen Reaktion der Glia und vor allem
treten infiltrative Vorgänge an diesen Stellen so gut wie vollständig
zurück. So ist das ganze Bild wesentlich einfacher und unkomplizierter
als das, welches wir in unserem 1. Fall gesehen haben. Was den Zu¬
sammenhang dieser hyalinen im Parenchym zusammengelagerten
Massen mit den Gefäßen betrifft, so scheint es doch, als ob hier viel¬
fach eine engere Beziehung besteht. Man sieht nämlich häufig, wie die
Gefäße mit ihrer hyalinen Media umgeben werden von einem dicken
Mantel der eben beschriebenen Substanz (Abb. 5), die augenscheinlich in den
n*r hyaline Deyvomliow <l**r (SrotJlimirimle t«>i iirygressm-r Par.ilvse. 13
periadwutltwUen /$&ümen iiägt, ähnlich •wii? wir ,eß bei dinii Mantel
der Infjilratzeüeh au sehen gewohnt sind, und es scheint doch* datt eS>en
stilche in de« Adveiitifciftjrättr^tgi abgelagerten Mnsserj fihy Art von
Kn-staiii&afioriszentinnj für die weiteren Ablagerungen -iia•dVre-rtehvu»
bilden können Es ist aber hervorzuheben. dn(j solche Zusaimiienhäuge
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•.^^ft'-'iWsgefi*ngeii In »J*t A'JwattftaVtrit at»h*‘l>e Bfcf # ^YerKalkt^-.Gt.d'aM«, bei // Ah-
hiTilloei» Sub*Uü.r irn. t>a **«»•:*«>"!».' T«>1 (tfi»r»*ym?. Mlkrophototfratupu
VV. ■ x h.' • ’ V^r>sn'iß*r*iu£.
1% tErtKjri^>he Reaktion rlit Substanz stimmt 'völlig mit dem
'iharvai. sraii frtr für den 1> Fall festst«* lien kminteiv vo .duli sieh ein?
U kiUThfihuje trutjfrigt.
Bei d*r Besefereabwie de* niakrosk^pi^*te ; r\ ;JMutiden; nmrdr *ehw
auf die auffäliigen starken fignu-iiti^rBngen m (U* Pia Jimgevde^r»
>fikroj^oji: zeigt ja
jßr^fthmrog verdimt: Man fluch t hfe*r ein*- ok^lvr jrtfjtdRkle Xf»l ty* f Xwi*
Wirtes knmigeii ginin|idesclnrar?*en Pigment«^ ?>i«-se< \li.mdis* ut in
leü^ler Oranyliivdie ^tei mutig verewigten ßiriAt^^^AViL' jv.
14
K. Löwenberg:
Stellenweise ist diese Ablagerung so stark, daß der Zelleib vollkommen
verdeckt wird und dann ganz schwarz und klumpig erscheint. Kon¬
tinuierlich geht der Farbstoff auch auf die Ausläufer der Zellen über,
die sich dabei bald stärker, bald schwächer graugrün färben und
weithin verfolgen lassen.
In van-Gieson-Schnitten färben sich die mit dem Pigment beladenen
Zellen braun, während die noch nicht hyalinentarteten Bindegewebs-
fibrillen zart rosa, die Hyalinen braunrot färben. An einzelnen Stellen
kommt es zur Aufspeicherung des Farbstoffes im Piagew r ebe in Form
von rundlichen schwarzen (Toluidinblauschnitt) bzw f . dunkelbraunen
(van-Gieson-Schnitt) Klumpen. Auch die die Pia stellenweise durch¬
setzenden Leukocyten nehmen nicht selten den Farbstoff auf, dagegen
bleiben die Lymphocyten stets frei. Eigenartig ist das Verhalten der
Gefäße: Das Pigment liegt gewöhnlich in ihrer Adventitia in dichten
Massen, oft die Strukturen des Gefäßes gänzlich verdeckend; in sel¬
teneren Fällen ist die Adventitia im ganzen Verlauf gleichmäßig und nur
leicht gefärbt. Im allgemeinen bleibt das Pigment auf die Pia be¬
schränkt, es greift aber an einzelnen Stellen auf die Gefäßwände der
obersten Rindenschichten über. An solchen Stellen sind diese ganz
stark verdickt und gewuchert. Ihre Wände sind derartig mit dem
Farbstoff imprägniert, daß Einzelheiten sich zum Teil nicht mehr
erkennen lassen. Der Farbstoff durchsetzt auch hier die Gefäßwand¬
elemente in Form feinster Granula. Eine Infiltration fehlt. Die tiefer¬
liegenden Rindenschichten bleiben vom Pigment stets frei.
Die zwischen den Gefäßschlingen liegenden leicht protoplasmatisch
gewucherten Gliazellen haben große Massen des Pigmentes aufgenom¬
men, welches den Zelleib vollkommen verdeckt und nur den Kern
frei läßt. Derart veränderte Gliazellen verleihen den befallenen Be¬
zirken im histologischen Bild ein marmoriertes Aussehen. Eisenreaktion
gibt dieses Pigment nicht.
Zusammen fassend läßt sich über die beiden beschriebenen Fälle
folgendes sagen: Es handelt sich um histologisch typische und einwand¬
freie Paralytikergehirne, bei denen es an circumscripten Stellen zu
einer eigenartigen Umwandlung des Parenchyms und der Gefäße ge¬
kommen ist. Die Gefäßerkrankung charakterisiert sich als eine eigen¬
artige Veränderung vor allem der Media größerer Gefäße. Sie er¬
scheint hyalin und strukturlos. In gleichem Sinne ist vielfach auch die
Wand von Capillaren verändert. Im Parenchym finden wir in aus¬
gedehnten Bezirken als Gewebe ersetzt durch strukturlose Massen von
glasigem Aussehen, die wahrscheinlich wohl unter der Einwirkung des
Alkohols eine mosaikartige Zusammensetzung aus kleinen und klein¬
sten Schollen erkennen lassen. Eine genauere histochemische Charakteri¬
sierung dieser eigenartigen Substanz ist nicht möglich gewesen. Um
Über hyaline Degeneration der Großhirnrinde bei progressiver Paralyse. 15
Amyloid handelt es sich jedenfalls nicht. Wir sprechen in Anlehnung
an die in der Literatur niedergelegten Befunde von hyaliner Entartung ,
ohne damit einen weiteren Begriff zu verbinden als den einer homogenen
glasigen Umwandlung in eine nicht näher charakterisierbare Substanz.
Es muß sogar dahingestellt bleiben, ob es sich bei der hyalinen Degene¬
ration im Parenchym und der hyalinen Umwandlung der Gefäßwände
um dieselben Substanzen handelt, einzelne Momente, wie wir sie in
der Beschreibung schon hervorgehoben haben — so die verschiedene
Lichtbrechung der beiden Substanzen — lassen in dieser Richtung
Zweifel entstehen. Wir müssen natürlich letzten Endes es auch dahin¬
gestellt sein lassen, ob die hyaline Degeneration des 1. Falles völlig
identisch ist mit der des 2.
Sucht man die Bedingungen , unter denen es zu dieser eigenartigen
Gewebsveränderung kommt, etwas genauer zu bestimmen, so wird man
in erster Linie an Störungen in der Ernährung des Gewebes denken.
In dieser Beziehung erscheint der 2. Fall vor allem wichtig. Denn hier
ist die Veränderung der Gefäße eine räumlich viel ausgedehntere als
die hyaline Umwandlung des Rindenparenchyms, und man darf wohl
daraus schließen, daß die Gefäßveränderung das Primäre, die Um¬
wandlung des Parenchyms das Sekundäre ist. Es ist allerdings dieser
Schluß nicht unbedingt bündig, und man könnte sich auch vorstellen,
w r ie es kürzlich Schröder getan hat, daß die hyalinen Massen zunächst
im Parenchym gebildet und in die Gefäßwände aufgenommen werden.
Wir glauben aber doch diese Annahme für unsere Fälle ablehnen zu
müssen, und zwar deshalb, weil wir bei der 2. Beobachtung hyalin-
entartete Gefäße an Stellen finden, wo im Parenchym auch nicht eine
Spur einer derartigen Degeneration nachzuweisen ist. Daß auch über¬
haupt Zweifel an der Identität des Hyalins der Gefäßwände und des
Parenchyms bestehen, ist schon erwähnt. Wir glauben also, daß es
auf Grund von Ernährungsstörungen, die ihrerseits wieder abhängig
sind von Veränderungen der Gefäße, zu der eigenartigen Umwandlung
des Rindenparenchyms gekommen ist. Die primären Gefäßverände¬
rungen können dabei offenbar verschiedener Natur sein. Im Falle 2
L-t es eine allgemeine hyaline Degeneration der Blutgefäße, im Falle 1
scheint eine besonders massige und schwere Infiltration eine Rolle zu
spielen. Eine weitere Aufklärung der besonderen Bedingungen dieser
Degeneration ist uns nicht möglich. Was man im Mikroskop sehen kann,
ist eben nur die Umwandlung des Parenchyms in diese eigenartige
glasigen Massen. Daß ein Versuch des Abtransportes dieser Substanz
gemacht wird, ist deutlich. Besonders in Fall 2 haben w r ir ja die peri-
adventitiellen Räume strotzend voll von dieser Substanz gesehen.
Auffällig erscheint die verschiedene Reaktion des umgebenden
Gewebes auf das Hyalin. Im Fall 2 sehen wir eigentlich keine reaktive
16
K. Löwenberg-:
Veränderung in der Umgebung. Ganz anders im 1. Fall. Hier finden
wir eine deutliche reaktive Wucherung gliöser Elemente, die augen¬
scheinlich mit der Ablagerung dieser Substanz irgendwie in Beziehung
zu bringen ist. Ob auch der Status spongiosus irgendwelche kausalen
Beziehungen, sei es als Ursache, sei es als Folge zu der hyalinen Ab¬
lagerung hat, muß dahingestellt bleiben. Der spongiöse Rindenschwund
ist ja als Folge eines besonders raschen Verfalles des Parenchyms
aufzufassen ( Spielmeyer ), und so deuten die engen räumlichen Be¬
ziehungen zwischen ihm und der hyalinen Ablagerung ebenfalls auf die
Bedeutung von Ernährungsstörungen hin. Eine interessante reaktive
Beziehung der Umgebung zum Hyalin sehen wir in den Riesenzellen .
Sie sind bisher nur einmal und zwar von Durch beobachtet, der sie
als Fremdkörperriesenzellen anspricht. Diese Auffassung dürfte auch
die für unseren Fall richtige sein. Sie entstehen augenscheinlich als
Reaktion auf die hyalinen Veränderungen und zwar vor allem die¬
jenigen der kleinen Gefäße. Die Mehrzahl dieser Elemente, die wir
gefunden haben, ist sicher mesenchymaler Natur, wie man ja auch ihre
Entstehung aus der Adventitia direkt verfolgen kann. Bei einigen
anderen Elementen, wie sie auch in Abb. oa abgebildet sind, kann es
sich vielleicht um gliöse Riesenzellen handeln, ähnlich wie Jakob und
andere sip beschrieben haben.
Es sind zum Schluß noch einige Worte über den auffälligen Befund
von Pigment in der Pia im 2. Fall zu sagen. Was die Art dieses Pig¬
mentes betrifft, so dürfte sie sicher zu den Melaninen gehören. Diese
Diagnose ergibt sich einmal aus der Morphologie der pigmentführenden
Zellen (typische Chromatophoren) und aus dem Fehlen jeglicher Eisen¬
reaktion, die die Diagnose Blutpigment ausschließen läßt. Auf die
Entstehungsweise dieses Pigmentes, über das sich Oberndorfer kürzlich
zusammenfassend ausgesprochen hat, braucht hier nicht mehr einge¬
gangen zu werden. Derartige Ablagerungen von Farbstoffen in den
Hirnhäuten sind ja im allgemeinen keine Seltenheiten und kommen
als normaler Befund wenigstens in geringem Grade eigentlich regel¬
mäßig vor. Das Auffällige ihrer Beobachtung liegt vor allem in der
Massenhaftigkeit des Farbstoffes und darin, daß er sich nicht nur
auf die Pia beschränkt, sondern weitgehend die Gefäße des Paren¬
chyms begleitet und von hier aus sogar in Gliazellen auf genommen
ist. Es scheint nach der ganzen Art des Befundes nicht ganz
ausgeschlossen, daß das ursprünglich wohl in besonders reichlichem
Maße abgelagerte Pigment sekundär, unter dem Einfluß des chro¬
nischen entzündlichen Reizes an den Wucherungs Vorgängen des
Mesenchyms teilgenommen hat. Man könnte also von einem Fehler
in der geweblichen Zusammensetzung der Pia, einer Hamartie im
Sinne Albrechts sprechen, die sekundär in Wucherung geraten ist.
Über hyaline Degeneration der Großhirnrinde bei progressiver Paralyse. 17
Wenn diese Art der Wucherung auch in keiner Weise schon als
geschwulstmäßig zu betrachten ist, so ergeben sich doch schon Hin¬
deutungen auf die Entstehung echter tumoröser Wucherungsvorgänge,
wie sie als mehr oder minder diffuse Melanome der weichen Häute
in der Literatur bekannt sind.
Literaturverzeiehnls.
*) Alzheimer , Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 36 (hier auch die ältere
Literatur). — 2 ) Durch , Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 88, H. 1. —
3 ) Schröder , Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie $8. — 4 ) Sioli , Zeitschr. f.
d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 13 . — 5 ) Oberndorfer , Zentralbl. f. d. ges. Neurol.
u. Psychiatrie
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII.
Ein Beitrag zur Pathologie des Zentralnervensystems
bei akuter gelber Leberatrophie.
Von
Dr. R. Spaar.
(Aus der Landesanstalt Sonnenstein bei Pirna a. E. —
Direktor: Geheimrat Dr. IJJberg.)
Mit 4 Textabbildungen.
(Eingegangen am 5 . Mai 1924.)
In einer ausführlichen Bearbeitung in Bd. 77 dieser Zeitschrift
hat Kirschbaum die Gehirnbefunde bei akuter gelber Leberatrophie
einer kritischen Besprechung unterzogen. Die von ihm erhobenen
Befunde im Zentralnervensystem konnten wir im wesentlichen bei
einem von uns beobachteten Fall akuter gelber Leberatrophie bestä¬
tigen, die Einzelheiten dieser unserer Beobachtungen seien hier kurz
mitgeteilt, sie liefern in mancher Hinsicht eine Ergänzung zu Kirsch¬
baums Ergebnissen.
Zur Vorgeschichte des Falles sei kurz folgendes erwähnt: M. H. Q
60 Jahre alt, seit 10 Jahren an Dementia paranoides leidend, erkrankte
am 12. X. 1923 mit leichtem allgemeinem Ikterus und Ödemen an den
Unterschenkeln. Am folgenden Tag (13. X.) ist sie bereits benommen,
der Ikterus und die Ödeme sind erheblich verstärkt, es besteht Ascites
in mäßigem Grade. In tiefem Koma erfolgt nach weiteren 4 Tagen
der Exitus, ohne daß irgendwelche Delirien oder motorische Reiz¬
erscheinungen zu verzeichnen gewesen wären; auffallend war in den
letzten Tagen vor dem Tode eine ganz exquisite Neigung der Haut
zur Bildung von größeren und kleineren Blasen mit gelblich-serösem
Inhalt an all den Stellen, an welchen auch noch so geringer Druck
ein wirkte.
Sektionsbefund: Anasarka, mäßiger Ascites; starker Ikterus der Haut und
der Schleimhäute, Schrumpfniere beiderseits, Atherosklerose der Aorta. Leber
stark verkleinert, Kapsel fein gefältelt, Rand scharf, Farbe des Organs trübgelb,
Konsistenz teigig-schlaff; auf dem Schnitt völlig unklare, trübe Zeichnung mit
unregelmäßigen Blutaustritten.
Gehirn: Haut des Schädels stark gelb gefärbt, Dura stark gespannt, auf ihrer
Innenseite zarte, rote bis rotbraune, häutchenartige Auflagerungen, feinste Blu¬
tungen in die stark gespannte, in ihren Maschen reichlich Flüssigkeit enthaltende.
R. Spaar: Ein Beitrag zur Pathologie des Zentralnervensystems usw. 19
weiche Hirnhaut. Das symmetrisch gebaute Hirn mit abgeplatteten Windungen
ist sehr feucht. An manchen Stellen (Lob. front.) erscheint die Rinde etwas ver¬
schmälert. Allenthalben im Marklager, vor allem im Balken, weniger im Him-
stanim, mehr wieder im Mark des Kleinhirns, endlich auch vereinzelt im ver¬
längerten Mark finden sich bis zu hirsekorngroße Blutaustritte in das umgebende
Gewebe. Schon makroskopisch fällt auf, daß die Rinde überall anscheinend völlig
frei von Blutungen ist.
Untersucht wurden außer Stücken aus dem Gehirn und seinen Häuten Leber,
Milz, Niere und die auffallend schmalen, wenig lipoidreichen Nebennieren. Da
Formolmaterial vom C. N. S. nicht zur Verfügung stand, mußte die Fettfärbung
und die Fibrillenfärbung leider unterbleiben, und es konnte nur nach Nissl, Holzer,
van Gieson, Weigert sowie mit Hämatoxylin-Eosin, Methylgrün-Pyronin gefärbt
werden.
Der an den einzelnen Hirnteilen erhobene mikroskopische Befund stellt sich
folgendermaßen dar.
Pia mater: In den Lymphräumen der Pia sind die Balkennetze sehr deutlich;
vereinzelt finden sich kleine Blutaustritte reaktionslos im Gewebe liegend. Kleine
lymphocytäre Elemente tauchen in geringer Zahl an einzelnen Stellen im Gewebe
auf, ab und zu findet sich besonders in der Pia des Stirnhirns, eine Mastzelle mit
ihren typisch in Knötchenform angeordneten Chromiolen. Nirgends finden sich
lymphocytäre Infiltrate; auch Plasmazellen fehlen.
Die Gefäße der Pia mit ihrer blassen, schlecht sich färbenden, relativ kern¬
armen Media zeigen große, blasse Intimakerne mit feinen, punktförmigen, dunklen
Körnchen; die sie verbindenden Plasmabrücken sind sehr dünn.
Stirmcindung: Die Zellarchitektonik der Rinde ist im großen und ganzen nicht
k'estört; doch finden sich vor allem in den mittleren und tieferen Rindenschichten
unregelmäßige Ganglienzellausfälle. Wenn auf den ersten Blick, insbesondere bei
schwacher Vergrößerung, diese Lücken zusammenhanglos erscheinen, so kann
man in den meisten Fällen mit stärkerer Vergrößerung (Zeiß Obj. D. Ok. 3) Capil-
laren mit großen, blassen Endothelkernen und feinwabigem Protoplasma erkennen,
die die genannten Ausfälle untereinander verbinden. In allen Ausfallsherden
läßt sich eine derartige Capillare in der Nähe aber nicht nach weisen, es liegen
diese Herde dann anscheinend völlig reaktionslos im Gewebe. Was die einzelnen
Rindenschichten selber anlangt, so sind die Nervenzellen der mittleren Schichten
fast durchweg abgerundet, geschwollen, gleichmäßig gefärbt; die sonst färbbaren
Protoplasmasubstanzen zeigen eine staubartig-krümelige, gleichmäßige Beschaffen¬
heit, der Kern der Nervenzellen ist durchweg groß und blaß, das Kernkörperchen
sehr deutlich. Die Zellfortsätze sind oft weithin sichtbar. Auch unregelmäßig
entfärbte Ganglienzelleiber finden sich ab und zu. An anderen Stellen derselben
Hindenschichten finden sich im ganzen verkleinerte Zellen von gleichmäßig dunkler
Farbe» mit länglichem dunklem Kern und geschlängelten Fortsätzen.
Je mehr man die Veränderungen der Ganglienzellen auch in den tieferen
Rindenschichten verfolgt, um so mehr trifft man auf kaum noch färbbare Nerven¬
zelleiber und mannigfache Zellschatten. In der 5. und 6. Rindenschicht erscheinen
diese Zellschatten oftmals mehr gruppenweise angeordnet. Die noch intakten
Nerv enzellen enthalten zum großen Teil grünlichgelbes Pigment, ihr Protoplasma
zeigt oft einen feinwabigen Bau.
Was die Glia anlangt, so finden sich in den obersten Schichten der Stirn¬
windungen reichliche große, blasse, bläschenförmige Gliakerne meist mit 2 oder
3 kleinen Körperchen; im Nissl-Präparat erkennt man um die meisten dieser Glia¬
kerne einen blaßvioletten, großen Zelleib mit dünnen, nach der Peripherie zu
immer feiner werdenden Fortsätzen. Diese Fortsätze stehen oft untereinander
2 *
20
R. Spaar: Ein Beitrag zur Pathologie
im Zusammenhang; auf diese Weise entsteht dann ein zusammenhängender,
fein blaßvioletter Plasmaverband. Auch in den tieferen Rindenschichten finden
sich in reichlicher Anzahl die eben erwähnten großen, blassen, manchmal nicht
ganz runden Gliakeme in feinfädigem, protoplasmatischem Zusammenhang; dem¬
gegenüber treten überall die kleinen, dunklen Kerne der Neuroglia zurück. Die
Trabantzellen sind vermehrt und bilden in vielen Fällen syncytiale Zusammen¬
hänge um die veränderten Ganglienzellen. Auch im Mark trifft man auf die
zahlreich vorhandenen, oben erwähnten großen Gliakerne. Die Gliafaserbildung
ist nach dem Holzer-Präparat durchschnittlich gering. Die größeren Gefäße zeigen
fast überall eine blasse, kernarme Media; die Endothelkerne auch der kleinsten
Capillaren sind groß, blaß mit feinen dunkleren Körnchen; die Capillaren selber
sind an manchen Stellen vermehrt und bilden ein feines, blasses Maschenwerk.
Uber den anderen Himteilen zeigt die Pia im wesentlichen dasselbe Verhalten
wie über dem Stirnhirn; vereinzelt findet man einmal Plasmazellen. Zur Regel
gehören sie nicht; Rundzelleninfiltrate fehlen völlig.
Was die Ganglienzellen anlangt, so trifft man überall in der Hirnrinde den¬
selben Prozeß, neben dem Stirnhirn vor allem in der Gegend der Zentral Windungen.
Zentralmndung: Auch hier finden sich bei sonst im ganzen intakter Zell¬
architektonik in den mittleren und tieferen Rindenschichten unregelmäßige Aus¬
fallsherde; wie überall in der Rinde sind auch hier die Nervenzellen der mittleren
und tiefen Schichten gebläht, geschwollen, von abgerundeter Form mit großem,
hellem, rundem Kern, dessen Kerngerüst ab und zu als feine Streifen zu erkennen
ist; die Nervenzellfortsätze sind weithin sichtbar. Ein großer Teil der Nerven¬
zellen selber ist zugrunde gegangen, ihre Schatten finden sich besonders in den
tieferen Schichten. Wenn auch die großen Beetz sehen Zellen zum größten Teil
intakt erscheinen, sind doch manche von ihnen abgerundet in ihrer äußeren Gestalt
und von gleichmäßig krümeligem Aussehen. In den Nervenzellen findet sich viel
bräunlichgelbliches Pigment, viele Ganglienzellen sind feinwabig gezeichnet. Da¬
neben kommen in mäßiger Anzahl verkleinerte, gleichmäßig dunkelgefärbte
Ganglienzellen mit korkzieherartig geschlängelten Fortsätzen vor. Ähnlich wie
überall in der Rinde findet sich auch hier eine in erster Linie stark progressiv
gewucherte Glia mit großen, blassen Kernen, vergrößertem Zelleib, mit teilweise
untereinander zusammenhängenden Fortsätzen, deren färbbare Substanz an ihrer
Begrenzung oft dichter erscheint. Daneben finden sich auch — aber weniger
zahlreich — regressiv umgewandelte Gliazellen mit zusammengeballtem, ein¬
geschnürten, stark pigmentierten Kernen und mehr oder weniger deutlichem
Zelleib. Umklammerungen sieht man in den meisten Rindenschnitten. Die Holzer-
Färbung ergibt nirgends in der Rinde nennenswert vermehrte Faserglia.
Die größeren Gefäße mit ihrer blassen Media verlaufen oftmals stark ge¬
schlängelt, in ihrer nächsten Umgebung finden sich oft helle, blasse, kernlose
Zonen. An vereinzelten langen Rindengefäßen sieht man Körnchenzellen. Die
Gefäßinnenhaut zeigt oft geblähte helle Kerne und schlecht färbbares Protoplasma.
Ungemein charakteristisch sind die sich überall im Mark der Hemisphären vor¬
findenden Ringblutungen. Auf sie wird bei Besprechung der Balkenbefunde
zurückgekommen werden.
Die kleinsten Gefäße sind an vielen Hirnstellen zweifellos vermehrt.
Balken: Im Balken treten vermehrte, große, blasse Gliakerne mit vergrö¬
ßertem, blaß violettem Leib auf, daneben in auffallender Menge größere und
kleinere Ringblutungen, die das Bild einer regelrechten „Hirnpurpura“ abgeben.
Abb. 1 (Zeiss Ok. 3. Obj. A) gibt einen anschaulichen Begriff davon.
In der Mitte eines nekrotischen Zentrums findet man in den meisten Fällen
hier noch eben erkennbar, ein präcapillares Gefäß, aus dem die Blutung wohl
de* '
2 t
: ein Wall von OJiazeOcm, d»e palisiuieoaftig erscheinen, nm-
üiM. in plAsmanHcbem Verba wie dre riefe ro£ (sein* Zone/und wischen ihnen Und
über sie hinaus findet man ' '-•$#* : ; 6<fcjir
kürp^henzone fehlt an anderen Stehen in ^»ejc» <b*rarujji‘n Herdm im Innern
»i?j r«rkrötisoheo Zonc^iebt man feine SchqUen mul Faden. IÄ Heide ohne Blutung
und völik gebaut wie mit Blutung; Haß es hei einer de»-
• ärtigrii Rrn&Mlviung %u einer OüWaft^MIduiig im weiteren Verlaut kommen kann.
Ahh: 9 iiod .V Beide geben riiesFIhe Stelle wieder. Hier ak ht tn&n ein dent-
JiVh<i» Y;jiaf»^riietz unj die eine Jfa^erlnkhing hat hier
'bwAi# v >n starker AV£ifcyeingesetzt, •C Eingblüiungen de« Balketm eptspw^him
ia jbrviu j
WPj'ßlX,
«IT wn~Hii iFil ( - jr- • .•:.
V':-', : 'Cy
Khb* u
Ctfrpv/t tffkilnm: Iw t orjma Striatum finden steh eben falb zHlÜmVh^ iyk j in
<kr Rinde veränderte Ganglienzellen und eine Sri mäßigeit. I Anfang verwehrte,
pivi. nplöuÄniatirtehe Glia; dasselbe ist ferner im ;/i»#r/7^tfÄ--'?ii%fr/.FaLll.
Thalama# ojAkvx; Jir< Thalamus opticus sind die Servenzell^n pft nur-noch
fchättenhaft angedeu tet; an manchen Zellen hat man den EiudrtJek, ab #b Mt
foforr Ring mit iemeri Brücken im Mleifa uxu dtfn Kern kerumführt} zohlrmh
find im Thtftüiiiu# opffru* die Umklammerungen, und stark vermehrt, sind oft
iu Form
m den
. kHqen B | I . y
ciliaren brild mehr iangjrcbc, bald mehr rundliehe Henk mm, öhüke^m> ^prt
*fcmn *iv h die meisten in regresaiver Verändern og .Wfi.ndetk• ,‘ltV { y^l^bjrlhgeri'r .
.Iiuthl als im Balken und tra Mark der Hetnisphiireo findet man äueb ih dtav
Z^mraJcanglieri RmgWutungeh und zentrale Kekrmnherde:mit didhuim^ p&lis&dfcrn
artigem GlUzellfciaH in klarem Plafcniaverbande. Auch duer wieder im Uolztr-Hilfle.
druliiehe. Faterlnlduog uni diese Herde.
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i .-';■ vvl ,0 l*’’'-'i >' V'
K Späior Ein Beit mg zur Patb niogie
■hleinhun; hu Kleinhirn erscheinen die -meisten Piirkinjje-^elfen intakt; viele
kind g leie hin« d u « kd gefärbt and laseen nur schwer den K ern erkennen , v«ji
anderen sieht man tm Nissl-Bikt nur blasse, undeutliche Formen mit iembt un-
TegelifmlSiir gestaltetem Kern. Auffallend ha in der Motekularaooo de* Klein-
Mm« das Vöyfeomihcn von ifHavcrlmrideru die inan als. stfauehwerkartige Bildungen
■■im .Sinne ■Sl-jrieMieyerx bezeichnen muß;; Ea handelt sich zwm Teil um große, relativ
duiilcif* Karrte, dio nui d**h EttrtejUzen ihm* zmti großen Teil deutlich erkenrd;mrt*n
Leibes luit^redikm^ \erbäride bilden; auf der anderen Seite
uiii <&$br sbUieheiiförndg mit blaßsejv schmalen Furt*
snt/eu; dabei ^scheinen dir* fcdztgenannten Kerne nicht pfin% so schlank und
ajpit?. wie >Stabehet)Äellen y sondern Heben wie eesiatiebt und plump aus.
wmrmmm*
Abb. 4 (Zei^s Öfc $ hofuogenö Imniers. 1
iverk ein gutes Bild- . . ' '
Im Marji d p A Kleiniiirrffi fef die Olia ifi mftLbgVuii Grade iHo^re^si^ Yer'ändert:
ös finden sich auch liier Mufig fUngblutungen und ISiekroseherde ohne BLift-
k'.rp* leheDwaJj.
Brinke hi der Brücke si nd difel^Ter^eint<ijien im biföftphstdiai tK*1r ■
ulokdunäßig dunkelblau gefärbt Und fehdrt anteetvieiyen, uwUe/• blasse • •Ghak*-n±<r'
• mit- ; ctoiittfeh: -«tichibareTU« vergrößertem TsAMh mäßig vermehrt, Ab ii?trl zu trifft
mihi aufdm Uhen erwähnten Blutungs- und.'I>ekiuHi*h^d<v
. P&lfrritjerte* Märk; im vtTlimeet.ten MahK enthalten
liefen Nervenk^mr auffallend viel r^ilriiitliclu*.^ Fmrneni: die Zellen selber
<dm! fast dundm'eg gut erhalten und zeigen tinkforicll bis ftetf Aasttalnnetf
/.,1b im .und im i-f>p<yk*ssuHkmi, normales Vorhaben. In den
■i gibt vön eibettv derartigen
des Z^rrtraln^ven^st^ffi^ hoi akuter gelber Lvtieratrophm.
23
beiden erwähnten J^ervenkerneiT 'finden, sich rtnre^ejrrfäöi^ ißgerufniiete* gleich-
mäßig dunkel gefärbt« («ariglierizelJeiK a« denen ßinxellieden der Pjtytnp!a*ma«
bz.vv. der KtTnätroJktät Mum w* fielen ?iu<L Kirrn ve$hH)tniMmäl5ig kompakte
.Anhäufung großer CUiakecne teh in dem eine« Vagiiskern Yorhantkm
Auffallend ,r$?t .dftft • Oliven; Sie sind
fast alle mit grünlich «relheui Pigment angdfiÖIt, ihr Zelleib, rueist gJojdimäßig
rhntkgj fefArlit, off aber auch von wabiger Struktur.,. zeigt überall stark?Auf
iriühungert der äußefen Förm, der Zellkern i#t i*ur schwer ajcdithar, Relativ zahl¬
reiche ZeHäehfttte» finden äich hier. Die Olia erscheint vermehrt; in Form Kfthl-
reiohor großer, blauer Kenn*- mit deufcUeheni Leib. An «meinen Stellen inner-
halh 3^ iollßcbfobteti dev Dlive k^mmt es zur .Bildung ttliahr^dehen.'
Kieme ßlnUirtggit und Nekrosen finden sieh atich liier relativ zahlreich. Sie sind
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ui allgt'meinen nicht vennehrt, mit Ausnahme der Fuscrbikhuig um die
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bleibt noch übrig* kurv. auf den iuikrc«dcjipiäehen Befund der Leber, Niertj;
■Xoljermiore und Milz vmzugehen.
L*:ha\. ln der Leber findet sich eine ausgedehnte. völlige..'Nekrose der Leber-
■•seilen im Zentrum der Leberläppebon NW. uwh von l^ber/eljeii in vier Peripherie
der iJip|irthtui vOrJmnden ist, j*t. feimvabig gebftiii uiit (WÜrnfarbstoff und v.um
Teil niit Eifert beladen; viele Leberzdleu srnd völlig verfettet, Risen findet «ich
auch tr« den Kupfemdien Sternhellen. Div Capillarensind-stark y< frillt, Blutungen
."relativ aelitm. Eibe fclrinfceJHge .thi'üt rattern bst mögend* su die«neu, ivgtmcrutive
Ihrtze^se, insbe^öbdme von asedeTi der (falkm^ivitg^-ptt&dihrt^ fehlen völlig.
frier?: Die Niere zeigt relativ wenig, hyalin suigruride -jr^aneene OlmtteruJL
dwifigg iyuafdiqeytffre Infiliration;»daneben in -<i^n jas^-dfi
24
R. Spaar: Ein Beitrag zur Pathologie
kaum vermehrte Kerne, sehr wenig Fett in feinsten Tröpfchen, im Kapselraum
einiger Gefäßknäuel abgestoßene Epithelien. Daneben findet sich eine aus¬
gesprochene, systematische, reguläre Hämosiderose der Tubuli contorti.
Milz: Die Milz erweist sich mikroskopisch als relativ blutreich; es findet
sich nirgends in ihrem reticulo-endothelialem Apparat Eisen.
Nebenniere: Die einzelnen Schichten der Rinde sind schmal, es besteht ein
ausgesprochenes ödem, der Lipoidgehalt ist sehr gering, ganz unregelmäßig ver¬
teilt. Die Rindenzellen erscheinen wabig auf gequollen.
Zusammengefaßt ergibt sich folgendes: Der vorliegende Fall ist
klinisch ausgezeichnet durch die Kürze der Krankheitsdauer, durch
die von Anfang an vorhandene schwere Beeinträchtigung des Bewußt¬
seins, die frühzeitig auf tretenden Ödeme. Eine luetische Infektion
lag nicht vor. Die Krankheit hat nicht länger als 6 Tage gedauert,
sie bot von vornherein das Bild schwerster Intoxikation. Dement¬
sprechend handelt es sich im Zentralnervensystem ähnlich wie in
Kirschbaums Fällen um einen rein degenerativen Parenchymprozeß
(Kirschbaum). Nirgends finden sich irgendwelche Zeichen infiltrativer
Vorgänge; in erster Linie erweist sich das nervöse Parenchym des
Cortex als geschädigt, in zweiter Linie das der Stammganglien und
weiterhin dasjenige des Kleinhirns; besonders bevorzugte Stellen
konnten wir nicht nach weisen; wenn auch im Corpus Striatum an¬
scheinend weniger intensive Schädigungen vorliegen, so kann man
deshalb doch nicht von einer einseitigen Bevorzugung bestimmter
Hirngebiete hier sprechen.
Was die einzelnen Komponenten des ganzen Prozesses anlangt,
so stellt sich die Hirnschädigung dar in erster Linie als akute Zell¬
erkrankung, die zu herdweisem Untergang des funktionstragenden
Parenchyms führte; dieser ist in erster Linie der Ausdruck der schweren
Intoxikation nicht etwa das pathologisch-anatomische Substrat der
Dementia praecox, wobei man sich klar sein muß, daß entsprechend
den Befunden Josephis bei der Dementia praecox auch im vorliegenden
Falle manche Zell ausfälle in der Rinde auf den pathologisch-anato¬
mischen Prozeß bei der Dementia praecox zurückgeführt werden kön¬
nen, vor allem solche Ausfälle, in denen Abhängigkeit von Capillaren
oder Präcapillaren nicht zu sehen ist und eine progressive Gliawucherung
nicht stattgefunden hat.
Des weiteren stellt sich der vorliegende Prozeß pathologisch-ana¬
tomisch als eine ausgesprochene Gliareaktion im Sinne einer progres¬
siven Gliawucherung dar, ganz wie es Kirschbaum beschrieben hat.
Es bleibt aber nicht wie in Kirschbaums Fällen eine Kleinhirnbeteiligung
etwa aus; auch im Cerebellura findet sich genau so wie sonst — wenn
auch weniger — eine Vermehrung progressiv veränderter Gliakerne
und auch die Bildung strauchwerkartiger Gliakomplexe in der Mole¬
kularzone, ähnlich den Bildungen, wie sie bei anderen toxischen Schädi-
des Zentralnervensystems bei akuter gelber Leberatrophie. 25
gungen, Urämie usw., von Spielmeyer u. a. beschrieben wurden; daß
auch hier eine Alteration des Purkin je-Apparates vorliegt, muß man
danach annehmen, wenn auch im Nissl-Bild relativ wenig davon zu er¬
kennen ist.
Ferner gibt in unserem Falle dem ganzen Bild des Prozesses ein
eigentümliches Gepräge das Auftreten äußerst zahlreicher, in Ab¬
hängigkeit von Capillaren stehender Nekroseherde mit pallisaden-
artigem Gliawall mit und ohne Blutkörperchen wall.
Ringblutungen liegen also dem Bild der „Hirnpurpura“ zugrunde,
welches das Gehirn makroskopisch bot.
Wenn etwas als bevorzugt bei dem ganzen Prozeß zu bezeichnen
ist, dann ist es das Beschränktsein dieser Blutungen und Nekrosen
auf das Hemisphärenmark, den Balken, in geringem Maße den Hirn¬
stamm, das Kleinhirnmark und das verlängerte Mark bei völligem
Freisein der Hirnrinde; es scheint eben doch, als ob bestimmte Gefä߬
gebiete leichter schwer geschädigt werden könnten als andere (Rinde).
Auffallend ist ferner dabei die Bildung eines starken Gliafaser¬
walles um diese Herde, und zwar nur um diese Herde, durch welchen
letztere gegen die Umgebung wie abgestützt erscheinen. Schon die
Tatsache, daß sich dieser Gliafaserwall nur um diese Herde bildete,
somit streng lokalisiert ist, unter Freilassen der Hirnrinde, weiter
der übrige Bau der Herde selbst, spricht ohne weiteres gegen einen
der Dementia praecox eigentümlichen Prozeß. Daß sich überhaupt
Gliafasern in dem Maße in beiden Arten von Herden bilden konnten,
deutet auf eine frühzeitige Entstehung derselben und damit auf eine
sehr zeitige schwere toxische Schädigung bestimmter präcapillarer
Gefäßgebiete.
Auch sonst hat man den Eindruck einer sehr zeitig einsetzenden
Gefäßschädigung; gehören doch wohl auch hierher das frühzeitige
Auftreten von Ödemen — am 1. Krankheitstag — wie es sonst bei
akuter gelber Leberatrophie im allgemeinen nicht üblich zu sein pflegt.
Was die übrigen untersuchten Organe anlangt, so spricht das Fehlen
von Regenerationszeichen seitens der Leber, der äußerst geringe
Lipoidgehalt der Nebennieren mit ihren wabig gequollenen Rinden¬
zellen wohl auch für die Schwere der Krankheitsvorganges.
Das Freisein der Milz von Eisen bei Hämosiderose anscheinend
mehr oder weniger noch funktionstüchtiger Leberteile bedeutet eine
völlige Ausschwemmung des Eisens aus dem reticulo-endothelialen
Apparat der Milz; daß eine derartige Ausschwemmung stattgefunden
bat, darauf weist die systematische Eisenspeicherung in den Tubuli
tontorti der Niere hin.
Es drängt sich noch die Frage auf nach dem Beginn und damit
der eigentlichen Dauer des ganzes Prozesses. Am 12. X. fällt der
26
R. Spaar: Ein Beitrag zur Pathologie des Zentralnervensystems usw.
„leichte“ Ikterus auf. Der Ikterus bei akuter gelber Leberatrophie
ist nach Eppinger in erster Linie im Beginn der Erkrankung als durch
die Destruktion des Leberparenchyms bedingt aufzufassen, weiterhin
ist er ein pleiochromer bzw. hepato-lienaler Ikterus im Eppinger sehen
Sinne. Wenn man bedenkt, daß ein Ikterus, um sichtbar zu werden,
immer einiger Zeit bedarf, denn der Gallenfarbstoff muß ja erst lang¬
sam diffus in die Gewebsflüssigkeit und damit in die Gewebe übertreten,
so muß man den Beginn der Erkrankung im vorliegenden Falle vor
den 12. X. noch verlegen, wie lange vorher, ist mit Sicherheit nicht zu
sagen.
Helm Geheimrat Prof. Dr. Schmort und Herrn Oberarzt Dr. Schob
bin ich für die Durchsicht der Präparate und die Herstellung der Mikro¬
photogramme sehr zu Dank verpflichtet.
Körperbaustudien an Geisteskranken III 1 ).
Konstitutioneller Habitus und Rassenzugehörigkeit.
Von
K. 0. Henckel.
(Aus dem Anthropologischen Institut der Universität [Vorstand: Geheimrat
Prof. R. Martin ] und der Abteilung für Genealogie und Familienforschung der
Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie — Kaiser Wilhelm-Institut — in
München [Abteilungsleiter: Prof. Dr. E . Rüdin.])
Mit 1 Textabbildung.
(Eingegangen am 27. Mai 1924.)
Es ist vom allgemein-biologischen Standpunkte theoretisch wichtig,
über das Verhältnis der Rassenzugehörigkeit zur Konstitution des
Menschen, das bereits in ,,Körperbaustudien I und II“ gestreift wurde,
Klarheit zu erhalten. Davon hat aber auch die klinische Psychiatrie
praktischen Gewinn. Wenn sich nämlich finden lassen wird, wie das
von Stern-Piper (1923) behauptet wird, daß die einzelnen von Kretsch¬
mer (1921) herausgestellten Habitustypen verschiedenen Rassenformen
entsprechen, so wächst sich damit die wechselnde Disposition der ver¬
schiedenen konstitutionellen Körperbauformen zu einzelnen geistigen
Erkrankungen allgemein zu einer Rassendisposition heraus.
Wesentlich wird das Verhältnis von Konstitution und Rasse davon
abhängen, welche Vorstellung man sich von beiden macht.
Was ist Rasse ? Fischer (1923) gibt nach Grosse folgende Begriffs¬
bestimmung: „Unter einer Rasse versteht die Anthropologie eine
größere Gruppe von Menschen, welche durch den hereditären Grund¬
besitz eines bestimmten angeborenen körperlichen und geistigen
Habitus untereinander verbunden und von anderen derartigen Grup¬
pen getrennt sind.“ Fischer fügt hinzu: „Es ist dabei zu betonen, daß
es sich um erbliche Merkmale handelt und nur um solche, das ist das
am meisten, beinahe allseitig anerkannt Wesentliche des vielumstrittenen
Begriffes Rasse.“
Während demnach sich die Rassenzugehörigkeit ausschließlich auf
den Besitz ererbter Merkmale gründet, wird die Konstitution eines Men-
*) Vgl. Körperbaustudien an Geisteskranken, I u. II. Diese Zeitschr. 8$, 82;
*2, 614.
28
K. 0. Henckel:
sehen jetzt wohl fast durchgehends aufgefaßt als seine auf der Gesamt¬
heit der körperlichen und psychischen Merkmale und Reaktionsweisen
beruhende, ihm eigentümliche allgemeine Körperverfassung. Es ist
daher zunächst gleichgültig, ob diese Eigenschaften geradezu aus der
keimplasmatischen Anlage oder erst im Laufe der Entwicklung ent¬
standen sind; eines ist von dem andern nicht zu trennen. Für den Arzt
besitzt nur der Phänotypus unmittelbare Gegenwart und Wirklichkeit;
nur er ist der ärztlichen Anschauung gewiß. Gerade für unsere Be¬
strebungen gilt, was Pfaundler (1919) sagt: „Wenn die Konstitution
ein klinisch verwertbarer Begriff bleiben soll, dann muß sie nach all¬
seitigem Verlangen am Objekte selbst und unmittelbar prüfbar, in
ihren vielfältigen Kundgebungen meßbar, überhaupt ziffernmäßig
faßbar sein und das kann sie ausschließlich dann, wenn sie am Phäno¬
typus haftend und diesen eigentümlich erkannt wird.“
Die Summe der äußeren Merkmale eines Menschen bezeichnen wir
als seinen Habitus ; in ihm tritt die Konstitution morphologisch in die
Erscheinung. Allerdings ist dabei die Körperform auch noch äußeren
Beeinflussungen, wie beruflicher Tätigkeit, Lebensweise und körper¬
licher Ausbildung, unterworfen; aber immerhin gibt uns die genaue
Beobachtung der äußeren Erscheinung eine Einblicksmöglichkeit in die
innere konstitutionelle Gliederung, die füglich nicht länger vernach¬
lässigt werden darf. „Die morphologische Analyse der Konstitution
liegt noch in ihren Anfängen.“ Es „fehlt das Interesse und die Schu¬
lung für die Beobachtung der cxterieuristischen Eigenschaften“ [ Tand -
ler (1913)].
Innerhalb einer Definition des Konstitutionsbegriffs findet sich im
Schrifttum die Rassenzugehörigkeit nur einmal berücksichtigt. Tandler
(1913) faßt sie nämlich auf als die Summe der „individuell Varianten,
nach Abzug der Art- und Rassequalitäten übrigbleibenden morpho¬
logischen und funktionellen Eigenschaften“. Fraglos ist das zu eng
gefaßt. Konstitutionelle und rassliche Merkmale lassen sich nicht ohne
weiteres auseinanderhalten; es handelt sich hier um außerordentlich
komplexe Verhältnisse.
Fischer (1923) führt als wichtigste Rasseneigenschaften an: Haar¬
form, Pigmentverhältnisse, Schädelform, Physiognomie, Körpergröße
und Proportionen von Rumpf und Gliedern. Demgegenüber sind u. a.
Ernährungszustand, Beschaffenheit der Körperoberfläche nach Haut¬
turgor und Muskeltonus, Volumverhältnisse der Körperhöhlen als im
eigentlichen Sinne konstitutionelle Merkmale aufzufassen. Aber man¬
ches der angeführten Rassenmerkmale kann Abänderungen zeigen,
die es zu einem konstitutionellen machen: sogar die sonst im Erbgang
zäh festgehaltene Kopfform läßt sich, wie Fischer (1923) an Tier¬
versuchen dargelegt hat, durch verschiedene Ernährung konstitutionell
Körperbaustudien an Geisteskranken III.
29
ändern. Ja, wie für die sekundäre Knospenwust vor kurzem [Henckel
(1924)] gezeigt wurde, kann dasselbe Merkmal einmal rassliche, dann
im Einzelfall wiederum konstitutionelle Bedeutung besitzen. Beide
Merkmalarten beruhen letzten Endes, worauf für die Rasseneigenschaften
vor allem Keith (1919) hingewiesen hat, auf der wechselnden Einstel¬
lung des endokrinen Systems. Es kommt wesentlich auf den Standpunkt
an, von dem aus man die Dinge betrachtet. Der Konstitutionsforscher
tritt an dasselbe Objekt, den lebenden Menschen, mit anderer Frage¬
stellung heran, nämlich der nach der inneren funktionellen Bedeutung
des Merkmals für den Gesamtaufbau, als der Rasseforscher, dem es
mehr darum zu tun ist, rückwärtsschauend das Zustandekommen der
Physis der heutigen Bevölkerungen aus den einzelnen, untereinander
verschiedenen Elementen mit gegebenen Merkmalkomplexen zu er¬
klären (vgl. Kretschmer , 1923). Beide Richtungen beobachten den
gleichen Gegenstand, aber beide gleichsam in verschiedenen Ebenen, die
sich zu einem Teil allerdings überschneiden. Der Rasseforschung, die
bisher vorwiegend beschreibend auftrat, geht die im ärztlichen Sinn
ätiologische Einstellung ab; insofern kann ihr in der Konstitutions-
Wissenschaft eine wesentliche Ergänzung erwachsen.
Entscheidend sind im gegebenen Falle nicht die einzelnen Merkmale
an sich, sondern die Merlcmallcombinationen. Die Diagnose der Rasse-
sowohl wie die der Konstitutionstypen gründet sich auf das Vorhanden¬
sein bestimmter eigenartiger und zusammen vorkommender Verbin¬
dungen von Eigenschaften [ Merkmalkomplexe , Martin (1914)]. Die
konstitutionelle Betrachtungsweise unterscheidet — abgesehen von den
dysplastischen Sondertypen — 3 verschiedene, auf solchen Eigen¬
schaftswirkungen beruhende Wuchsformen: Den leptosomen, den
muskulären und den pyknischen Habitus, die mehr oder minder rein
anzutreffen sind und fließend ineinander übergehen können. Ebenso
setzt sich, wie von der Anthropologie mit hinreichender Sicherheit
angenommen wird, die mitteleuropäische Bevölkerung aus 3 Elementen
zusammen, der nordischen, der alpinen und der dinarischen Rasse,
die sich nirgends rein finden lassen, sondern allenthalben mehr oder
weniger gemischt Vorkommen.
Die nordische Rasse ist — wenn wir uns an die Beschreibung Fischers (1923)
halten dürfen — groß (im Mittel 173 cm), schlank und langbeinig. Der Kopf ist
lang und schmal, bei einem Längen-Breitenindex von 76—79. Das Gesicht ist
länglich und wenig breit, die Nase dünn, gerade, stark vorspringend, mit dünner
Nasenwurzel. Die Lippen sind dünn, die Stirn etwas fliehend. Das Hinterhaupt
ist kräftig ausgebildet und wölbt sich gerundet vor. Das Haar ist hell, oft rötlich,
die Augen hell, oft blau. Diese Rasse kommt besonders in Nord- und Mittel¬
europa vor.
Im Süden, Südwesten und Osten überwiegt eine andere, die alpine Rasse.
Sie ist kleiner (Körpergröße im Mittel 163—164 cm). Der Kopf ist ausgesprochen
30
K. (). HenckeJ:
breit, fast kugelig, rund, mit einem mittleren Längen-Breitenindex von 85—87.
Die Stirn steigt gleichmäßig an, das Hinterhaupt ist gewölbt. Das Gesicht ist
breit, rundlich, die Nase breit, plump, die Lippen sind dick. Die Haut ist dunkler,
sie bräunt sich leicht. Die Augen sind braun.
Von Südosten her läßt sich ein drittes, das dinarische Rassenelement, nach-
weisen. Die Körpergröße ist erheblich, im Mittel 168 —172 cm. Der Kopf ist
kurz, nicht allzu breit, der Längen-Breitenindex beträgt meist 81—86. Vor allem
fällt am Kopf seine beträchtliche Höhe auf, das Hinterhaupt ist merkwürdig
flach. Das Gesicht ist sehr lang, mittelbreit. Die Nase ragt stark hervor, sie ist
leicht konvex. Die Haare sind schwarzbraun, die Augen dunkel, auch die Haut
ist dunkler als bei den anderen Gruppen.
Daß die Rasse die Entstehung und den Verlauf der Geisteskrank¬
heiten maßgebend beeinflußt, vermutet man seit langem (vgl. Sioli ,
Kraepelin (1904)]. Trotzdem ist wenig Sicheres, soweit sich die Rassen¬
disposition auf die Zugehörigkeit zu einer der europäischen Elemente
stützt, überhaupt nichts bekannt. Jedoch liegen seit langem Meinungen
vor, daß die konstitutionellen Habitusbilder, die man unterschieden
hat, Rasseformen entsprechen.
Chaiüou und Mac Auliffe (1912) haben darauf hingewiesen, daß der respi¬
ratorische Typus Sigauds sich häufig bei Nomaden (besonders Semiten) und
Gebirgsbewohnern, der digestive bei Eskimos und prähistorischen Formen finde;
eine entsprechende Angabe für den muskulären und den cerebralen Typus fehlt.
Bean (1923,1924) unterscheidet zwei Konstitutionstypen, den Epitheliopathen
und den Mesodermopathen, die sich hinsichtlich ihrer Morbidität weitgehend
voneinander unterscheiden. Beide werden aufgefaßt als die äußersten Formen
normaler Bevölkerungsbestandteile, des hyper-ontomorphen (nordisch-mittel¬
ländischen) und des meso-ontomorphen (kelto-alpinen) Elements, die dieser Autor
in der Lage ist, bis in die Steinzeit zurückverfolgen zu können. Die Epithelio¬
pathen (hyperontomorpher, nordisch-mittelländischer Typus), die schätzungsweise
(in Amerika) 60% der Irrenanstaltsinsassen ausmachen, entsprechen von weitem
— ohne daß wir eine Gewähr für die Wesensgleichheit übernehmen könnten —
etwa der leptosomen, vielleicht auch der muskulären, die Mesodermopathen
(meso-ontomorpher, kelto-alpiner Typus) der pyknischen Gruppe.
Nach der Ansicht Sofers (1909) und Paulsens (1920, 1921) bestehen nahe Be¬
ziehungen einerseits zwischen dem apoplektischen (Pykniker Kretschmers) und dem
alpinen, andererseits zwischen dem asthenischen und dem nordischen Typus.
Bezüglich des Longitypus (T. microsplanchnicus) und des Brachytypus
(T. macrosplanchnicus), die Viola (vgl. Perule, 1922) in der venetianischen Be¬
völkerung fand, macht Pfuhl (1923) darauf aufmerksam, daß die Bewohner Ober¬
italiens als ein vielfältig zusammengesetztes Rassengemisch aus mittelländischen,
alpinen, dinarischen und — in geringerem Maße — auch nordischen Elementen
aufzufassen ist, und daß diese rassenmäßigen Verschiedenheiten genügten, um
Violas Konstitutionsformen zu erklären.
Auf Grund kraniologischer und osteometrischer Beobachtungen hat in letzter
Zeit Finkheiner (1923) die Behauptung aufgestellt, daß die Kretinen als Nach¬
kommen einer neolithischen Bevölkerung aufzufassen seien.
Der letzte Versuch, eine Parallelität und teilweise Übereinstimmung
zwischen Konstitutions- und Rasseformen herzustellen, stammt von
Stern-Piper (1923). Dieser Forscher hat den Eindruck gewonnen, daß
Körperbaustudien an Geisteskranken III.
31
Kretschmer mit seinen psycho-physischen Typen nur die in Mitteleuropa
normalerweise vorkommenden Rassenformen beschrieben hat. So liege
dem leptosomen Typus die nordische, dem muskulären die dinarische,
dem pyknischen die alpine Rasse zugrunde. Auch Pfuhl (1923) kam —
unabhängig davon — zu dem Ergebnis, daß eine Parallelität zwischen
muskulärem und dinarischem, pyknischem und alpinem Typus bestehe;
bezüglich des Asthenikers macht er darauf aufmerksam, daß seine
degenerative Wuchsform niemals einer normalen Rasse entsprechen
könne, vergißt dabei aber, daß das, was Kretschmer (1921) früher
„asthenisch“, jetzt (1923) besser „leptosom“ nennt, nur in seinen
äußersten Varianten an die Asthenie (Morbus asthenicus) Stillers (1907)
anklingt, die allerdings wesentlich degenerativer Art ist. Was unter
der Bezeichnung „leptosom“ („asthenisch“ Kretschmer) geht, entspricht
durchgehends dem „homme respiratoire“ Sigauds und stellt einen echten,
überwiegend ins Bereich des Gesunden fallenden Menschheitstypus dar.
Stern-Piper sowohl wie Pfuhl , die im wesentlichen über die Bedeutung
der Konstitutionstypen als Rasseformen die gleiche, übrigens schon
ziemlich verbreitete Ansicht vertreten, stützen ihre Behauptung haupt¬
sächlich auf die Ähnlichkeit im äußeren Eindrucksbild (photographische
Aufnahmen ausgewählter Fälle) und auch in der seelischen Wesensart.
Auf letztere einzugehen verbietet uns der Mangel an sicheren Grund¬
lagen; unsere Kenntnis der psychischen Grundcharaktefe der euro¬
päischen Rassen liegt noch in den Anfängen. Dagegen wollen wir vom
somatologischen Standpunkt aus versuchen, an Tatsachen beizubringen,
was zur Lösung der Frage beitragen kann.
Freilich lassen auch hier die Grundlagen zu wünschen übrig. Ge¬
naue somatologische Angaben über eine Bevölkerung, die nach unserem
Wissen die dinarische Rasse am wenigsten gemischt aufweist, fehlen
ganz. Bezüglich der nordischen stützen wir uns auf die Erhebungen
von Retzius und Fürst (1902) an Schweden; bei dem Mangel genügender
Kopfmaße am Lebenden ziehen wir die Schädelmaße einer frühgeschicht¬
lichen, allerdings z. T. auch schon mit dem alpinen Element gemischten
Bevölkerung aus dem Reihengräberfeld von Oiesing heran, die wir
untersucht, aber noch nicht veröffentlicht haben. Dazu mußten zu den
Mittelwerten der Schädelmaße die von Czekanowski (1907) [vgl. auch
Martin (1914), S. 413] gefundenen durchschnittlichen Weichteildicken
hinzugefügt werden. Es leuchtet ein, daß dieses Verfahren auf absolute
Zuverlässigkeit keinen Anspruch erheben kann. Als Vertreter der alpinen
Rasse verfügen wir über Angaben von Frizzi (1909), die sich auf eine
Reihe von 80 Männern im durchschnittlichen Alter von 35 Jahren aus
der rezenten Tiroler Bevölkerung stützen.
Die Kopfform weist unter den einzelnen Rassen weitgehende, auch
im Erbgang zäh festgehaltene Verschiedenheiten auf, so daß sie von
32
K. 0. Henckel:
jeher als eines der vornehmsten Rassenmerkmale angesehen worden ist.
Hier lassen sich für unsere Frage Aufschlüsse erwarten. Abb. 1 bringt
eine graphische Darstellung der relativen Abweichungen unserer Kon¬
stitutions- und Rassetypen von einer Vergleichsbasis (Münchener
Militärschüler) für die Hauptmaße am Kopf. Das Verfahren ist genau
das gleiche wie das früher (vgl. Körperbaustudien II) angewandte und
braucht deshalb wohl nicht näher erläutert zu werden. Wie an Rumpf
und Gliedmaßen (vgl. Körperbaustudien II) finden wir für die beiden
Krankheitsgruppen auch hier ein verschiedenes Verhalten: Die Kurve
für die Schizophrenen verläuft zu ihrem größten Teil auf der —Seite
der Basis, während die für die Zirkularen sich zumeist auf der + -Seite
Abb. 1. Graphische Darstellung der relativen Abweichungen der Konstitutions- und Rassetypen.
- Schizophrene,-Zirkuläre, . Leptosomer Typus, - . - . - Muskulärer Typus,
-Pyknischer Typus, Nordischer Rassentypus, + ++++ Alpiner Rassentypus.
hält, ein weiterer Beweis für die körperbauliche Verschiedenheit der
beiden Gruppen. Ebenso laufen die Kurven für die Pykniker und
die Zirkulären einander wieder annähernd parallel: der von uns im
engsten Sinne gefaßte pyknische Typus ist eben nur der äußerste Ver¬
treter der Körperbauform der Manisch-depressiven überhaupt.
Was nun die Rasseformen anlangt, so erhellt auf den ersten Blick
die starke Abweichung des nordischen Typus, dessen Kurve sich keiner
der anderen Formen anpassen will. Insbesondere fallen ganz außerhalb
des Bereichs der Konstitutionsformen seine Kopflänge, Kopfbreite und
sein Längen-Breitenindex. Gerade die stattliche Kopflänge ist ja ein
Hauptmerkmal der nordischen Rasse; demgegenüber weist für dieses
Maß unter allen Formen der leptosome Typus den geringsten Wert auf!
Die Annäherung, die hinsichtlich der Kopfbreite zwischen den beiden
Körperbaustudien an Geisteskranken III.
33
Typen besteht, fällt demgegenüber wenig ins Gewicht: Wir sahen ja
(vgl. Körperbaustudien I), daß gerade das Unvermögen zu ausgiebigem
Breitenwachstum den leptosomen Habitus allgemein kennzeichnet.
Dies tritt auch an der Unterkieferwinkelbreite zutage: die schwache,
oft hypoplastische Bildung des Unterkiefers beim Leptosomen läßt sich
mit den Verhältnissen bei der vorwiegend nordischen Gruppe nicht
vergleichen.
Anders verläuft die Kurve der alpinen Bevölkerung. Sie zeigt bei
weitem nicht die starke Gegensätzlichkeit zu den Kurven der Kon¬
stitutionsformen, wie sie die des nordischen Typus aufzuweisen hat.
Das kann weiter kein Erstaunen erregen; gehören doch die von uns
bearbeiteten konstitutionellen Habitusformen überwiegend der ober¬
bayerischen Bevölkerung an, in der der alpine Anteil vorherrscht. Aber
darüber hinaus beobachten wir eine Annäherung der Kurve des alpinen
vorzüglich an die des pyknischen Typus, hinsichtlich eines entscheiden¬
den Merkmals, der Kopfbreite, besteht sogar Übereinstimmung, die
aber wiederum in bezug auf die gleichfalls bedeutungsvolle Kopflänge
fehlt. Wenn die Gleichheit beider Typen der Wirklichkeit entspricht,
sollten wir eine geringere Kopflänge der Pykniker erwarten. Immerhin
läßt sich bezüglich der geprüften Kopfmerkmale die Gleichheit nicht
ausschließen, wenn dafür auch erst der bindende Beweis erbracht wer¬
den muß.
Suchen wir nach anderen Fingerzeigen, von denen wir Aufschluß
erwarten könnten. Die Körpergröße (vgl. Tab. I) fällt für die pyknische
und die alpine Gruppe fast zusammen.
Tabelle /.
Körpergröße
Kumpflänge
Beinlänge in Prozenten
der Rumpflänge
Leptosomer Typus .
. . . 169,5 cm
51,1 cm
177,5
Muskulärer Typus .
. . . 166,3 „
50,2
179,5
Pyknischer Typus .
. . . 167,9 „
53,2 „
168,0
Alpiner Typus . . .
Schweden.
. . . 167,3 „
. . . 170,9 „
50,2 „
178,7
Dagegen weisen die Werte für Leptosome und Schweden noch einen
erheblichen Unterschied auf. Zumal wenn man bedenkt, daß es sich
bei den Schweden um Rekruten handelt, bei denen die Körpergröße
später noch um ungefähr 1 cm zunimmt. Wir wiesen darauf hin (vgl.
Körperbaustudien II), daß eine bedeutende Rumpflänge und vergleichs¬
weise geringere Beinlänge den pyknischen Typus gegenüber allen
anderen kennzeichnet. Dieses eigentümliche Verhalten läßt sich bei
der alpinen Gruppe nicht wieder finden; die Zahlen Frizzis (1909) be¬
stätigen es nicht, obwohl sich oft die Angabe findet, die Alpinen seien
verhältnismäßig kurzbeinig; Angaben für eine nordische Gruppe fehlen.
Die Pigmentierung, dieses wichtige Rassenme*rkmal (vgl. Tab. 24 in
Z. f. d. g. Neur. u. Psyeh. XCIII. 3
34
K. 0. Henckel:
Körperbaustudien II), zeigt keine Verschiedenheiten, die, außerhalb
des mittleren Fehlers liegend, beanspruchen könnten, als wesentlich
betrachtet zu werden.
Wir sehen somit, daß die Behauptung der Wesensgleichheit von
konstitutionellem und Rassenhabitus in bezug auf den leptosomen
Typus recht unwahrscheinlich ist, während hingegen der Pykniker in
einigen Merkmalen mit der alpinen Gruppe eine Übereinstimmung
auf weist, die in anderen wieder fehlt; hier läßt sich also die allenfallsige
Gleichheit nicht ausschließen. Hinsichtlich des muskulären Typus
können wir aus Mangel an Angaben über die in Betracht kommende
dinarische Rasse zu einer Feststellung überhaupt nicht gelangen.
Die Ergebnisse, zu denen wir auf diesem Wege gekommen sind,
sind recht unzureichend. Es hat dies seinen Grund darin, daß die Ver¬
hältnisse in Mitteleuropa eben außerordentlich verwickelt liegen.
Seine Bevölkerung setzt sich aus mehreren Rassen zusammen, die unter¬
einander im Laufe der Jahrhunderte die mannigfaltigsten Mischungen
eingegangen haben, ohne daß wir über die Art des Erbgangs der Rassen¬
merkmale und -merkmalkomplexe Sicheres wüßten. Untersuchungen
in Mitteleuropa eignen sich am wenigsten dazu, die Frage des Ver¬
hältnisses von Konstitution und Rasse befriedigend zu lösen; es bedarf
dazu vor allem Erhebungen an einer Bevölkerung, die aus Angehörigen
einer einzigen und vorwiegend unvermischten Rasse besteht, wie das
z. B. in Skandinavien und den westlichen Mittelmeerländem der Fall
ist 1 ). Hier ist die Lage der Dinge einfacher und übersichtlicher; die
Ergebnisse erlauben eindeutige Beurteilung und die hier zu gewinnen¬
den Erfahrungen werden die endgültige Lösung auch für die Verhält¬
nisse in Mitteleuropa ermöglichen. Soll die Forschung zur Erkenntnis
der Konstitution der Menschheit gelangen, so darf sie sich nicht auf
eine einzige Bevölkerung beschränken, sondern muß — bei den mannig¬
fachen Wechselbeziehungen zwischen Konstitution und Rasse — sich
auch auf die Bewohner anderer Länder erstrecken.
Vorstehende Untersuchungen stellen eine Fortsetzung der „Körperbau¬
studien I und II‘ dar, deren Durchführungsinöglichkeit ich der Rockefeller-
stiftung verdanke.
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Rechnung. Für die dortige Bevölkerung gilt das, was oben (S. 30) über Ober¬
italien gesagt wurde.
K örperbaustudien an Geisteskranken UI.
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Klinischer und anatomischer Befund eines Falles
von CO-Vergiftung.
[Ein Beitrag zur Frage der psychomotorischen Apraxie und verwandter
Bewegungsstörungen >).]
Von
Dr. Hermann Pineas.
(Aus der Nervenabteilung des städt. Friedrich-Wilhelm-Hospitals, Berlin. —
Leitender Arzt: Prof. Dr. Schuster.)
Mit 1 Textabbildung.
(Eingegangen am 28. Mai 1924.)
I.
Über die Wirkungen des Kohlenoxyds auf den menschlichen Organis¬
mus, insonderheit auf das Nervensystem, ist im Laufe der Zeit eine
umfangreiche Literatur entstanden, ein Beweis dafür, daß die Viel¬
gestaltigkeit der akut und in der Folge sich einstellenden Symptome der
Vergiftung zu allen Zeiten das Interesse der Autoren erweckt hat.
Die vorliegende Vermehrung der Kasuistik um einen weiteren Fall
kann nur dadurch gerechtfertigt werden, daß, dank der Fortschritte
in der Analyse der Motilitätsstörungen, deren Förderung sich vor allem
an die Namen Kleist und Foerster knüpft, eine weit schärfere klinische
Erfassung der wesentlichen Symptome möglich gewesen ist.
Die 62jährige Frau Sp. soll nach Angaben ihrer Schwester schon seit etwa
10 Jahren über Schmerzen im Kreuz geklagt haben, soll gebückt gegangen und
mit den Beinen nicht mehr recht vorwärts gekommen sein. Zu diesen Beschwerden
gesellten sich seit etwa 2 Jahren Klagen über Schlaflosigkeit. Pat. soll häufig
von dem sie behandelnden Kassenarzt Schlafmittel verlangt haben, von denen
sie, ihren wiederholten Äußerungen nach, alles auf einmal nehmen wollte, um
ein Ende zu machen.
Anfang Oktober 1923 waren die Schwestern in große wirtschaftliche Not
geraten und hatten beschlossen, sich gemeinsam das Leben zu nehmen. Am frühen
Morgen des 3. Oktober zog sich die Pat. völlig an und setzte sich angekleidet
ins Bett, die Schwester öffnete im Einverständnis mit ihr den Gashahn. Nach
V 4 Stunde kam der Mann dazu, schloß den Hahn und öffnete das Fenster. Die
Pat. hat deshalb mit lauter Stimme ihrem Schwager heftige Vorwürfe gemacht,
ist aber im Bett sitzengeblieben und scheint dann besinnungslos geworden zu
*) Nach einem Vortrag in der Berliner Gesellschaft f. Psychiatrie u. Nerven¬
krankheiten am 10. 111. 1924.
H. Pineas: Klinischer u. anatomischer Befand eines Falles von CO-Vergiftung. 37
sein, während die Schwester nur leicht betäubt war. Jedenfalls ist Pat. den ganzen
Tag über regungslos im Bett geblieben, ist erst in der Nacht zu sich gekommen,
habe laut und deutlich gesagt: „Jetzt ist mir was passiert, mir ist ganz anders.“
Darauf habe sie angefangen zu röcheln und die ganze Nacht fortgeröchelt. Am
andern Morgen (4. X.) ist die Schwester zur Rettungsstelle gegangen, die die
Überführung in ein städtisches Krankenhaus veranlaßte.
Laut Krankenblatt des Krankenhauses wurde die Pat. bewußtlos eingeliefert;
in dem sofort untersuchten Aderlaßblut war CO in Spuren vorhanden. Am Auf¬
nahmetag soll Pat. (Angabe der Schwester) zu dieser geäußert haben: „Wo bin
ich hier, wie bin ich hierher gekommen?“
4 Tage später (8. X.) ist im Krankenblatt notiert: „Pat. zeigt eigenartiges
stumpfes Wesen, zeigt kein Interesse, ißt nicht von selbst, antwortet nur zögernd
mit leiser Stimme. Starke Depression.“
Immerhin ist die Schwester der Meinung, daß Pat. während der ersten 14 Tage
des Krankenhausaufenthalts noch „richtig“ gesprochen habe, dann wäre es so
geworden wie hier auf der Nervenabteilung.
Am 2. XI. (30 Tage nach der Vergiftung) wurde Pat. auf unsere Abteilung
verlegt.
Es wnirde folgender Befund erhoben: Mittelgroße Frau in leidlichem Er¬
nährungszustand, die apathisch in passiver Rückenlage im Bett liegt. Leicht
cyanotische Gesichtsfarbe, stärkere Cyanose der Lippen. Lidschlag selten, beider¬
seits synchron. Bulbi meist konjugiert nach links gewandt; ab und zu werden,
anscheinend spontan, geringe Einstellbewegungen nach r. ausgeführt. Die r. Lid¬
spalte Spur weiter als 1. Pupillen r. = 1., reagieren prompt und genügend aus¬
giebig auf Licht und Konvergenz. Augenbewegungen allseitig frei, kein Nystagmus,
(ornealreflex r. = 1., Fundus beiderseits normal, Vorhandensein von Hemi¬
anopsie nicht prüfbar. In der Ruhe scheint die r. Nasolabialfalte stärker aus¬
geprägt als die 1.; innervatorisch kein Unterschied im Facialis. Die Zunge ward
auf Aufforderung nur für einen Moment mit der Spitze vor die Zahnreihe gebracht
und sofort wieder zurückgezogen. Dabei keine Parese. Gaumen- und Rachen¬
reflex zunächst wegen krampfhaften Geschlossenhaltens des Mundes nicht zu
prüfen, bei späterer Untersuchung vorhanden.
Die wenigen sprachlichen Äußerungen der Pat. werden sinngemäß gemacht
and artikulatorisch einwandfrei, aber mit Flüsterstimme produziert. Bei passiven
Bewegungen der Arme bds. gleichmäßiger Rigor in allen Gelenken, 1. vielleicht
Kwas stärker als r. Aktiv sind alle Bewegungen möglich, doch bds. mit nur
^ringer Kraft. Armreflex r. — 1., lebhaft. Bauchreflex nicht erhalten. Bei pas¬
siven Bewegungen der Beine keine sicheren Muskelsteifigkeiten. Aktive Be¬
weglichkeit schwer zu beurteilen, da Aufforderungen nicht befolgt werden. Spontan
werden beide Beine bewegt. Patellar- und Achillessehnenreflex bds. normal vor¬
handen. Normale Sohlenreflexe. Keine pathologischen Reflexe.
Sensibilität den Äußerungen und Reaktionen der Pat. zufolge für Nadel¬
stiche bds. gleich. Genauere Prüfung jetzt und später wegen des im folgenden
näher beschriebenen Verhaltens unmöglich.
Es besteht Blasen- und Mastdarminkontinenz.
Innere Oreane: Herz leicht nach 1. verbreitert, Töne rein, Aktion dauernd
unregelmäßig. Puls unregelmäßig. Pulmones, Abdomen o. B. Urin frei von Ei¬
weiß und Zucker.
Oberflächlicher fünfmarkstückgroßer Decubitus sacralis.
Verhalten der Motilität: Bis auf die weiter oben bereits erwähnten geringen
Einstellbewegungen der Augen erscheint Pat. zunächst völlig akinetisch. Beim
Herantreten des Arztes an das Bett sagt Pat. spontan: Guten Tag, verharrt dann
38
II. Pineas:
allen Anfragen gegenüber in Schweigen, führt nur dauernd Kau- und Schmatz¬
bewegungen mit der Lippen- und Mundmuskulatur aus. Andere Spontanbewegun¬
gen zunächst nicht festzustellen. Als der Arzt an der r. Hand den Puls fühlen will,
versucht Pat. den Arm wegzuziehen; der Arm gerät für einen Moment in moto¬
rische Unruhe, unmittelbar darauf führt Pat. ihn an den Mund und wischt etwas
von der Zunge ab. Bewegung vollzieht sich durchaus geordnet. Die Aufforderung,
beide Arme rasch hochzuheben, wird zunächst gar nicht befolgt. Nach Vormachen
fährt Pat. erst mit der L, dann mit der r. Hand an die Stirn und fängt an, sich zu
kratzen. Der r. Arm sinkt dann aufs Bett zurück, während der 1. in der Kratz¬
stellung verharrt. Die Aufforderung, die r. Hand des Arztes mit der eigenen r. zu
drücken, wird befolgt; Händedruck anfänglich schwach, verstärkt sich allmählich.
Die 1. Hand dagegen bleibt bei derselben Aufforderung unbeweglich an der Stirn,
während die r. gleichzeitig rhythmisch kreisende Bewegungen auf der Bettdecke
ausführt. Die Frage, ob die Aufforderung verstanden, wird bejaht; es erfolgt
aber keine Änderung der Reaktion. Kurz darauf folgendes Bild: beide Arme sind
in den Schultern derart erhoben, daß die Hände auf dem Kopfhaar liegen. Pat.
macht leichte Kratzbew r egungen. „Legen Sie die Hände auf die Bettdecke.“
Keine Reaktion. „Wissen Sie nicht, wie es gemacht wrird?“ — „Natürlich weiß
ich das.“ — „Dann tun Sie’s doch.“ — Ohne daß man den Eindruck hat, daß
Pat. die Aufforderung befolgen will, geht r. Hand ins Gesicht, wischt einige Male
darüber weg, dann legt Pat. den r. Arm auf die Bettdecke. „Nun legen Sie auch
den linken Arm auf die Decke!“ — Pat. hebt den r. Arm hoch und scheint ihn
erstaunt anzusehen. „Wissen Sie, wo der linke Arm ist?“ „Ja!“ — Als einzige
Reaktion: Kreisbewegungen r. auf der Bettdecke. Beim F.-N.-V. spontan nichts.
Nach Vormachen: Pat. sieht ihre r. Hand an. Nach Hand- und Fingerführung
durch den Arzt: statt den Zeigefinger an die Nasenspitze zu legen, wischt Pat.
sich die Nase. Mit der 1. Hand erfolgt ähnliche Reaktion.
6. XI. Bei der heutigen Augenspiegeluntersuchung im Dunkelzimmer ergreift
Pat., die auf einem Sessel sitzt, mit der 1. Hand einen Knopf des Arztmantels,
dreht daran. Nachher nestelt sie mit der r. Hand an der Bettdecke, hält die 1. ans
Geeicht, wischt sich die Augen, bohrt in der Nase. Der r. Arm ist fast dauernd
in motorischer Unruhe. Während der ganzen Zeit bleibt der Kopf steif hintenüber
gebeugt, die Lider niedergeschlagen.
7. XI. Pat. wird im Stuhl an ein Tischchen gebracht, auf dem die Gegen¬
stände zur Stereognoseprüfung stehen. Sie ergreift spontan mit der r. Hand
einen Gegenstand nach dem andern, mit dem sie Kritzelbewegungen auf der
Tischplatte ausführt.
Es wird eine Haselnuß vorgelegt. — „Was ist das?“ — Schweigen. — „Kann
man das essen?“ — „Ich denke doch!“ — „Ist das ein Apfel?“ — „Nein!“ —
„Eine Haselnuß?“ — Kaubewegung, keine Antwort. Dann ergreift Pat. die Nuß
und vollführt wieder ihre Kritzelbewegungen. Es wird ein Schlüssel vorgelegt. —
„Nehmen Sie dieses in die rechte Hand.“ — Pat. hält mit den Kritzelbewegungen
inne. — „Lassen Sie die Nuß los!“ — Gelingt nicht. Untersuchender nimmt ihr
die Nuß aus der Hand. Die Hand wird weiter geöffnet gehalten. „Nun nehmen
Sie den Schlüssel.“ Die Finger schließen sich zur Faust. Nach etwa einer Minute,
während deren Referent schreibt, nähert sich die r. Hand langsam dem Schlüssel,
der r. Zeigefinger wird tastend ausgestreckt und berührt den Schlüssel. Pat.
tippt dann wiederholt darauf. Ein Wiirfeibecher wird gezeigt. Auf die Aufforde¬
rung, damit zu w’ürfeln, nimmt Pat. ihn in die 1. Hand, fingert einige Male mit der
r. daran herum. „Stellen Sie den Becher auf den Tisch.“ — Pat. nimmt ihn mit
der r. aus der 1. Hand heraus, die ihn nur mühsam losläßt, macht dann Schüttel-
bew'egungen mit dem Becher, so daß der Würfel zur Erde rollt. „Warum haben
Klinischer und anatomischer Befand eines Falles von CO-Vergiftung. 39
Sie den Würfel hingeworfen?“ — „Habe ich nicht!“ — „Er liegt aber an der Erde.“
- „An der Erde liegt er nicht.“ — „Haben Sie das mit Absicht getan?“ — „Nein.“
— Auf alle weiteren Fragen, darunter Beschuldigungen der Pat. und Drohungen,
Schweigen.
9. XI. Pat. bleibt dauernd in der Lage im Bett, die man ihr beim Umbetten
gegeben hat. Keinerlei Spontan- oder Initiativbewegungen des Kopfes oder Körpers,
nur Einstellbewegungen der Augen. Das Bild ändert sich erst, wenn man die
Arme der Pat. unter der Bettdecke hervorholt. Ref. reicht den Reflexhammer.
„Nehmen Sie das.“ — Keine sichtbare Reaktion. Ref. steckt den Hammer in
die zur Faust geschlossene r. Hand der Pat. Der Hammer wird festgehalten und
Pat. beginnt sofort daran herumzufingern, setzt dies eine Weile fort. Bei der
Aufforderung, den Hammer herzugeben, ebenso beim Versuch ihn fortzunehmen,
wird er nur noch fester umklammert und ist nur mit Gewalt zu entfernen. Darauf
fährt die r. Hand zum Gesicht und macht dauernd Wisch- und Kratzbewegungen.
Nach einer Weile bleibt sie ruhig und unbewegt im Gesicht liegen, der r. Arm
wird entsprechend eine Zeitlang gebeugt gehalten. Beim Füttern öffnet Pat.
richtig und spontan den Mund, schluckt gehörig, gibt durch Zukneifen der Lippen
zu erkennen, daß sie gesättigt ist.
15. XI. Gestern abend Temperaturanstieg. Beim Versuch, Pat. zu füttern,
krampft sie die Kiefer fest aufeinander. Die geschlossenen Augen werden erst
allmählich auf Aufforderung geöffnet. Heute bei passiver Bewegung in den Armen
wesentlich geringerer Rigor als bei den ersten Untersuchungen. Pat. ist nachher
nicht mehr ablehnend, öffnet den Mund.
19. XI. Pat. liegt in Agonie, oberflächliche jagende Atmung. Puls fast un-
fühlbar. Temperatur 7 Uhr 40,7° . Um 11 Uhr 15 Min. vormittags Exitus.
Nachtrag: In den ersten Tagen der Beobachtung sehr starke, profuse Schwei߬
ausbrüche, unabhängig von den Mahlzeiten und ohne erkennbare äußere Ursache.
Sie haben etwa gegen den 19. XI. an Intensität und Häufigkeit abgenommen,
doch wurde häufig bei der Visite bzw. den Untersuchungen Schwitzen an den
Nasenflügeln bzw. im Gesicht festgestellt. Seit Beginn des Temperaturanstiegs
(15. XI.) bis zum Exitus dauerndes Schwitzen am ganzen Körper. Am 15. XI.
fand man am r. Handrücken mehrere bläschenförmige Efflorescenzen, wie von
Verbrennung herrührend; letztere Möglichkeit war aber auszuschließen. Sie
trockneten in den nächsten Tagen ein und heilten reaktionslos ab.
Es handelt sich also um eine Patientin, die 30 Tage nach einer
CO-Vergiftung einen Zustand erkennen läßt, der sich objektiv durch
das Fehlen eigentlicher Paresen , Sprach- oder Sensibilitätsstörungen
und durch das Hervortreten einer allgemeinen Akinese auszeichnet.
Während der 18 tägigen Beobachtung wurden daneben Muskelspan-
nungen in der beiderseitigen Arm-, Lippen- und Mundmuskulatur,
kataleptisches Verhalten der Glieder sowie Para- und Hyperkinesen
mit Iterationen vor allem im rechten Arm bemerkt; von seiten der
Persönlichkeit dagegen ein Verhalten, das, ohne damit etwas präjudi-
neren zu wollen, zunächst als „unzugänglich' 4 bezeichnet werden kann.
Mit Hilfe dieser Zusammenfassung sind wir imstande, dem Er¬
scheinungskomplex, bevor wir an die Analyse gehen, klinisch seinen
ihm gebührenden Ort anzuweisen. Wir haben nämlich damit die fast
lückenlose Symptomatologie einer 'psychomotorischen Störung , der von
40
II. Pineas:
Kleist sog. „psychomotorischen Apraxie “ gegeben, deren Stellung unter
den Motilitätsstörungen eine auch heute noch ungefestigte ist.
Inwiefern stimmen die Symptome unseres Falles mit den einzelnen
Charakteristica der psychomotorischen Apraxie überein?
Zunächst haben wir es offenbar mit einer Störung des Handelns
zu tun, denn die Patientin versteht die Aufforderungen, wie sie mehr¬
fach angibt. Eine eigentliche Parese, z. B. der Arme, besteht nicht
(die Arme werden, wie wir gesehen haben, gelegentlich in der ver¬
schiedensten Weise ausgiebig bewegt); von Nichtwollen kann auch
kaum die Rede sein, denn öfter erfolgte ja eine Reaktion, wenn auch
häufig eine gänzlich verkehrte.
In der Hauptsache finden wir aber bei unserem Falle eine Apraxie
im eigentlichen Wortsinne: ein Nicht handeln im Gegensatz zum Ver¬
kehrthandeln, gekennzeichnet durch eine ausgedehnte Akinese, von
der, wie bei Kleist , nur die Einstellbewegungen der Augen ausgenom¬
men sind.
Was den von Kleist angeführten Unterschied zwischen reaktivem
und initiativem Verhalten der Motilität angeht — worin der Autor
den Einfluß der psychischen Komponente im Symptomenbild erblickt —,
so fällt er außerordentlich in die Augen. Während allerdings Kleists
Patienten in gewissen Stadien der Erkrankung spontan Handlungen
ausführen, zu denen sie auf Aufforderung anscheinend nicht imstande
sind, sehen wir in unserem Fall das umgekehrte Verhalten. Die Patien¬
tin, die bei der ersten Betrachtung einer leblosen Statue ähnelt, indem
sie mit Kopf, Rumpf oder Gliedern keinerlei Spontanbewegungen aus¬
führt, erwacht aus ihrer Lethargie, sobald ein äußerer Reiz gesetzt wird,
und zwar führen in der Regel nur Berührungsreize, seltener auch
sprachliche Aufforderungen, zu reaktiven Bewegungen. Es hat dabei
den Anschein, als ob der betr. Reiz gleichsam den Sperrhaken löst,
der sich bis dahin der Spontanbewegung entgegenstellte.
Ganz typisch ist weiter das schwere Betroffensein von Mimik und
Sprache. Während der ganzen Dauer der Beobachtung blieb der Ge¬
sichtsausdruck derselbe starre, selbst bei den wenigen sprachlichen
Äußerungen der Patientin.
Wie in der Krankengeschichte geschildert, sprach Patientin spontan
überhaupt nur beim ersten Anblick des Arztes (Guten Tag!), lag oder
saß sonst völlig mutazistisch da und gab das wenige, was sie daneben
an sprachlichen Äußerungen produzierte, so, daß man manchmal mit
einigem Grund auf einen intensiveren Affekt schließen konnte, der
der betr. Reaktion zum Durchbruch verholfen hatte. Zu andern Zeiten
jedoch brachte die Patientin trotz derselben Gesprächsthemen — wo
man also das Vorhandensein stärkerer Affekte erwarten konnte —,
nicht ein einziges Wort heraus. Als alleinige oder ausschlaggebende
Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 41
Ursache für die Sprachproduktion ist der Affekt also nicht sicher ver¬
antwortlich zu machen.
Daß die Rumpf- und Halsmuskeln mehr betroffen waren als die der
Extremitäten, war deutlich zu erkennen. Die Patientin änderte spon¬
tan die ihr passiv im Bett erteilte Lage überhaupt nicht, während
sie die Gliedmaßen, wenigstens die Arme (wenn auch in eigenartiger
Weise) spontan bewegte. Wie besonders gut beim Aufsitzen sichtbar
wurde, wurde der Kopf ständig steif hintenüber gebeugt gehalten.
Schließlich können wir in Übereinstimmung mit Kleist für unsern
Fall von allen Teilen des Organismus das symmetrische Befallensein
von der Motilitätsstörung feststellen. Es sei gleich hier bemerkt, daß
es sich trotzdem um eine anatomisch nachweisbare, organische Hirn¬
schädigung handelt.
Neben den geschildertem, der Unterabteilung „Psychomotorische
Apraxie“ zugehörigen Symptomen psychomotorischer Störungen finden
wir auch allgemeinere. Dazu gehören die von Wemicke sog. „Hyper-
metamorphotischen Bewegungen“, die wir heute gewöhnlich Pseudo¬
spontan- und Iterativbewegungen nennen, d. s. nach Wemicke „zwangs¬
mäßige primitive Bewegungen, indem die Kranken greifen, tasten,
deuten, an allen zufällig vorhandenen Objekten reißen“. Wie erinnerlich,
wurden derlei Bewegungen in ausgedehntem Maße bei unserer Patientin
angetroffen (bei der Augenspiegeluntersuchung, wo sie mit den Knöpfen
des Arztmantels spielte, im Bett, wo die rechte Hand rhythmisch
kreisende Bewegungen auf der Bettdecke ausführte, ein andermal, als
Patientin sich spontan mit den Objektendes Stereognosekastens abgab).
Neben diesen Hyperkinesen wurde auch die von Kleist erwähnte
Katalepsie beobachtet, ferner erhöhte Gefäßerregbarkeit und ebenfalls
eigenartige, anfallsweise auftretende Schweißausbrüche, auf die Kleist
hinweist.
Im ganzen betrachtet, bieten die Bewegungsreaktionen bei der
Patientin äußerlich sehr verschiedenartige Bilder: wir finden neben
Akinese auch Hyper- und Parakinesen. Wir betrachten zunächst die
Erscheinung, daß Patientin, als sie nach Vormachen durch den Arzt
die Arme hochheben soll, hierbei nicht stehenbleibt, sondern erst mit
der rechten, dann mit der linken Hand sich die Stirn kratzt. Dies
erinnert sehr an Beobachtungen, die bei echter oder organischer Apraxie
beschrieben werden, u. a. von Liepmann-Maas im Falle Ochs 1908,
wo „die motorische Reaktion die Bewegungsvorstellung besticht“
( Lieprnann). Ein ähnliches „Abgleiten der Bewegungsvorstellung“
scheint später vorzuliegen, als sich Patientin, statt den erhobenen rechten
Ami auf Aufforderung auf die Decke zu legen, mit der rechten Hand
übers Gesicht streicht, ebenso, als sie bei Ausführung des F. N.V.
sich jedesmal mit der betr. Hand die Nase wischt.
42
H. Pinöas:
Die von Kleist beschriebene „verspätete und verlangsamte Re¬
aktion“ (gewissermaßen das motorische Gegenstück zur Verspätung
der Schmerzempfindung beim Tabiker) treffen wir ebenfalls bei unserer
Patientin an. Als sie am 7. XI. einen vor ihr liegenden Schlüssel neh¬
men soll, geschieht zunächst gar nichts; erst als Patientin sich selbst
überlassen bleibt, erfolgt nach etwa 1 Minute ganz allmählich und
gleichsam zögernd die Reaktion, allerdings auch wieder nicht völlig
richtig, indem Patientin mit dem Zeigefinger auf den Schlüssel tippt,
anstatt ihn zu ergreifen. Noch ausgesprochener zeigt sich die Ver¬
spätung der Reaktion bei der Aufforderung, mit dem Würfelbecher zu
würfeln. Dies geschieht erst, als Patientin den Becher wieder weg¬
stellen soll, während sie vorher nur daran herumgefingert hat.
Als der Arzt bei der ersten Untersuchung den Puls fühlen will,
zeigt sich in dem ßemühen der Patientin, den Arm wegzuziehen, ein
Phänomen, das wir als „Pseudo-Negativismus“ bezeichnen möchten.
Etwas Ähnliches fanden wir bei der Aufforderung, den umklammerten
Reflexhammer loszulassen: er wurde nur noch festergehalten. Wir
kommen weiter unten noch darauf zurück.
Die Zugehörigkeit des geschilderten klinischen Bildes zum Sym-
ptomenkomplex der psychomotorischen Apraxie scheint nach den
vorhergehenden Erörterungen festzustehen.
Auf welches Hirngebiet sind nun nach Kleist solche Störungen zu
beziehen ?
Die Ansichten des genannten Autors haben sich diesbezüglich in
bemerkenswerter Weise gewandelt. Während Kleist in früheren Ar¬
beiten dem Striatum im Gegensatz zur Stirnhirnrinde eine relativ
untergeordnete Dignität beimißt, schreibt er ihm in seiner neuesten
Publikation eine ganz andere, ja unter Umständen ausschlaggebende
Rolle bei der Erzeugung psychomotorischer Phänomene zu. Er führt
dies in der genannten Arbeit zwar nur für die hy per kinetischen Erschei¬
nungen näher aus. Diese entstehen nach Kleist außer durch Schädi¬
gungen der Fronto-Cerebellarbahnen auch bei einer gewissen, im ein¬
zelnen noch nicht genau bekannten Intensität und Extensität von
pathologischen Veränderungen in den beiderseitigen Stammganglien
(Thalamus, Putamen und Pallidum) selbst. Zur Stützung dieser auch
theoretisch fundierten Ansicht bringt Kleist eine Reihe klinischer und
anatomischer Befunde.
Auf die Ähnlichkeit zwischen psychomotorisch apraktischen Er¬
scheinungen und solchen von seiten des Linsenkernsystems hat auch
Stauffenberg bei Besprechung eines einschlägigen Falles hingewiesen.
Auf Grund der damals bekannten Fälle — meist Stimhirntumoren
mit Balkenläsion — sieht er Schädigungen im linken Stirnhirn als Ur¬
sache psychomotorischer Störungen an.
Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 43
Während Kleist , wie erwähnt, seine Theorie von der Bedeutung des
Striatums auf der Beobachtung psychomotorischer Hyperkinesen auf¬
baut, handelt es sich im Falle Stauffenbergs um vorwiegend akinetische
Erscheinungen.
Bei der Autopsie fand sich eine Cyste im linken Putamen, ein Er¬
weichungsherd im linken Pallidum, daneben Lacunen und erweiterte
perivasculäre Räume im Putamen und Pallidum beiderseits.
Wie ersichtlich, ist die Kleist sehe Forderung der doppelseitigen
Stammganglienschädigung hier auch für akinetisch- psychomotorische
Erscheinungen erfüllt.
Dasselbe gilt von Kleists eigenem Fall 1 (Beyschl.) seiner letzten Publi¬
kation, der die klinische Diagnose „arteriosklerotische Muskelstarre mit
kataleptischer Akinese“ führt. Hier fand sich neben beiderseits kleinen
Erweichungsherden und Gewebslücken im Caudatum und Putamen im
linken Pallidum starker Gewebsschwund, im rechten eine größere Cyste.
An diese anatomischen Daten reiht sich jetzt der autoptische Befund un¬
seres Falles an. Wir finden neben zahlreichen Kriblüren in beiden Putamen
als einzige, schon makroskopisch sichtbare Himschädigung eine beider¬
seitige ausgedehnte symmetrische Erweichung im Pallidum: ein Befund,
der bekanntlich bei Leucht gas Vergiftungen recht häufig erhoben wird. 1 )
Auf einem Frontalschnitt in Höhe der vorderen Kommissur (s.
Abb.), der den oralsten Teil des Pallidums trifft, sieht man außer
zahlreichen Kriblüren in den beiderseitigen Putamen symmetrische
Erweichungsherde, die den der inneren Kapsel anliegenden Teil des
Pallidums einnehmen, ventral durch die vordere Kommissur begrenzt
werden und sich scharf gegen den lateralen Pallidumrest abheben. In
ihrer, auf dem Schnitt getroffenen größten Ausdehnung sind die Herde
1 cm lang, 1 / 2 cm breit und im Innern stark zerklüftet.
Bei der mikroskopischen Untersuchung wurde wegen der an sich
schon schwierigen Beurteilung der Nissl-Bilder bei älteren Leuten,
vor allem aber wegen des umfangreichen makroskopischen Befundes
von Zellfärbung Abstand genommen, ebenso von der Anfertigung von
Markscheidenpräparaten, da die anatomischen Untersuchungen im
Rahmen dieser überwiegend klinisch gehaltenen Arbeit zurücktraten.
Indessen verdient das Verhalten der Gefäße Erwähnung. Im Hämatoxy-
lin-Eosinpräparat, vor allem aber in van Gieson-Färbung erblickt man
mit schwacher Vergrößerung in einer unregelmäßig gestalteten Höhle
außer fetzigen Resten von Pallidumgewebe, in denen nirgends unver¬
änderte Pallidumzellen gefunden wurden, erheblich erweiterte Gefäße,
*) Anmerkung bei der Korrektur: Bei der Sektion eines Tabikergehirns w urden
knäuelig symmetrische Erweichungsherde derselben Lokalisation als Zufallsbefund
angetroffen; Pat. hatte intra vitam keine Starre, jedoch eine gewisse Akinesse
dargeboten. Der Fall wird noch genauer untersucht werden.
H, F’iiiiias,
z. T. mit niit.sLaiiv Wänden, 'irren Schichten
meist nicht. «oehr v<>n>itn«\wter abgr<*»fcli4r sind« auf vielen andern .Quor-
«Öhkittftn.ndier weniger VCfUstiindig von ihrer Cnter*
Schicht ahgehohe» j.uuf rag! vielfach (.’cfaUcH ui da* Cef« ßinnsen hinein.
Bei stärkerer V^r,LO o|jcririm cr\vci^t ^ich die t-cfldiivand un vielen .Stelie«
aia gltdcliKam gteprtingcii, .vt-igt üts*** ur«d häutig Lücken jn> Schariaefe-
priipamt sind diese ÜvdaUe von. >:na*8euhsift vorfiandciicn Fettkömefeen-
kugdn umlagert., die stuck den ^«-wckshvrtei'i ttud der Hdhkmtvan.1
anUegen; tritt rler Kji«tif<clHMi Bcr|i^^iBlanfirt'ini3i£r halten dic.Ct-faih
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den schon riiakr*>köpfer-h gefxmdencf! knUUircvt s ;Ud einzelnen Prapa-
T'M'-yi -Vf Orden aber auch iimürngn jeher r f o <* ‘o^vo djndendigeh gerunden.
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hn-EtvMO idclit f&rUten und mir ains^aihnft Bint|Ugnicnt cntJuelten.
1h\ Lvhnsrh i\:aa f ? villi/JvM*n nnca dn OH^ tiormty . ? in denen sich
di*- feinsten . und duiiiov;u'«i?'*g>H. : n> .^hdgclaüe’* lndnufen, so gewuod
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Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 45
Alle übrigen Oehimregionen sind trotz sorgfältiger , aus äußeren Grün¬
den jedoch nur makroskopisch durchgeführten Durchmusterung völlig intakt.
Betrachten wir jetzt, nachdem uns der anatomische Befund bekannt
ist, rückschauend das Symptomenbild unseres Falles, so ist zu fordern,
daß die gefundenen anatomischen Veränderungen restlos alle klinischen
Phänomene verständlich machen, daß also Akinese, Muskelspannungen,
Amimie, Katalepsie, Mutazismus, Para- und Hyperkinesen mit Iteratio¬
nen, Schweißausbrüche, Bläschenexanthem, um nur die wichtigsten zu
nennen, sich ungezwungen auf die beiderseits symmetrische Pallidum-
mveichung und die beiderseitigen Putamenlacunen zurückführen lassen.
In den 4 erstgenannten Phänomenen (Akinese, Muskelspannungen,
Aniimie, Katalepsie) erkennen wir ohne weiteres Komponenten des
„akinetisch-rigiden Pallidumsyndroms“ (C . und 0. Vogt , Foerster).
Anders steht es mit den folgenden pathologischen Erscheinungen
unseres Falles, die wir bei dem genannten Syndrom nicht einmal ange¬
deutet vorfinden. Höchstens könnte man die spontanen, wechselnd
häufigen Schweißausbrüche in Anlehnung an eine früher von uns ge¬
äußerte Hypothese auf eine Funktionsänderung vegetativer, im Zwi-
schenhim gelegener Zentren beziehen, die ihrerseits wieder durch die
gefundene striopallidäre Schädigung bedingt wäre. Entsprechend ließe
sich die Entstehung des als vasomotorische Störung aufzufassenden
Bläschenexanthems betrachten (nach Lewin sind derartige Bläschen¬
exantheme bei CO-Vergiftung ,,nicht ungewöhnliche Hautleiden“).
Auf Grund der neuen Kleistschen Theorie halten wir uns jetzt aber
auch für berechtigt, die Hyper- und Parakinesen nebst Iterationen
unseres Falles als Stammgangliensymptome anzusehen; sie wären dem¬
gemäß verursacht durch die beiderseitige Striatum- plus Pallidum-
schädigung. Man hätte sich also z. B. vorzustellen, daß gerade die Teile
des Striatums befallen sind, die „verwickeltere hyperkinetische Er¬
scheinungen hervorgehen lassen“, oder daß es sich um eine ,»leichte
Striatumschädigung“ im Sinne Kleists handelt.
Oh sich wirklich das eigenartige Verhalten der Motilität, der Wechsel
von Akinese, Bewegungsunruhe und komplizierteren Parakinesen, auf
eine streng lokalisierbare Stammganglienschädigung zurückführen
laßt — Kleists Anschauung ist bekanntlich nicht unwidersprochen ge¬
hliehen ( Farster , Jakob) — , bleibe zunächst dahingestellt.
Hat es hiernach noch einen Sinn, von psycAomotorischer Apraxie
m sprechen, wo sich anscheinend fast alle klinischen Symptome unseres
Falles auf Schädigungen subcorticaler Regionen zurückführen lassen,
und erscheint es nicht eher gerechtfertigt, einem Vorschläge Schusters
folgend, von «sfriomotorischen Phänomenen zu reden?
Es bleibt jedoch das eigenartige Verhalten der Sprache zu erörtern.
Wir haben gesehen, daß die Patientin in der Regel gar nicht spricht
46
H. Pineas:
und sich auch nicht zum Sprechen anschickt (im Gegensatz zum mo¬
torisch Aphatischen, der sichtliche Anstrengungen s*ur Überwindung
seines sprachlichen Gebrechens macht). Wenn die Patientin aber ein¬
mal spricht, so ist ihr von einer Behinderung nichts anzumerken. Es
sind allerdings immer nur wenige Worte, die verschie4entlich wohl auf
das Vorhandensein einer sich in anderer Weise äußerlich nicht bemerkbar
machenden stärkeren Affekterregung bezogen werden dürfen. So mag
der erste Anblick des Arztes, der Vorwurf, den Würfel an die Erde
geworfen zu haben, die Frage, ob der Ehemann trinke, ,,auslösend“
gewirkt haben. Unerklärt bleibt aber, warum die Patientin öfter im
selben Zusammenhang und für den Untersucher völlig unmotiviert
wieder in Schweigen verfällt, obwohl absichtlich Frageji gewählt wurden,
die Patientin kränken müssen und in stärkere Erregung versetzen
sollen.
Lassen sich hier vielleicht einschlägige Beobachtungen an anderen
Stammganglienkranken z. B. Patienten mit Paralysisagitans verwerten?
Vergegenwärtigt man sich das sprachliche Verhalten derartiger
Pallidumkranker, so unterscheidet es sich durchaus von dem sprach¬
lichen Verhalten, das unser Fall darbietet; das gilt für indifferente
Gesprächsgegenstände wie für affektiv betonte.
Hier, im Verhalten der Sprache also, scheint uns ein von der Sym¬
ptomatologie andersartiger Stammganglienerkrankungen prinzipiell
unterschiedenes Phänomen vorzuliegen. Es erinnert am ehesten an
Beobachtungen bei Schizophrenie, deren Symptome nach überein¬
stimmender Ansicht der meisten Autoren nicht durch bloße organische
oder funktionelle Stammganglienschädigung entstehen, sondern der
mehr oder minder weitgehenden (anatomisch nachweisbaren oder
dynamisch gedachten) Beteiligung der Rinde bedürfen.
Wir können jetzt die zu Anfang dieses Abschnitts gestellte Frage,
ob die Symptome unseres Falles als psycho - oder ^riomotorisch zu be¬
zeichnen sind, entscheiden. Bei der Analyse der Störungen haben wir
ein Symptom, den Mutazismus, gefunden, den wir mit Sicherheit
nicht auf Schädigungen im Subcortex allein beziehen zu dürfen glauben.
Damit erhebt sich ein gewichtiger Einwand gegen die Berechtigung,
für die nun mit Grund psychomotorische Apraxie genannten Störungen
unseres Falles ausschließlich die makroskopisch sichtbare Stamm-
gangliencntschädigung verantwortlich zu machen, und es wird die
(aus äußeren Gründen leider nicht nachprüfbare) Vermutung laut, daß
eben doch mehr oder minder umfangreiche Schädigungen der Hirnrinde
mikroskopischer Natur Vorgelegen haben, ähnlich denen, wie sie die
neuere Forschung bei Schizophrenie nachgewiesen hat.
Hat nicht überhaupt vielleicht eine schizophrene Psychose Vorge¬
legen? Oder handelt es sich möglicherweise um eine Mischung zweier
Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 47
verschiedener Krankheitsbilder? Kann man nicht das eingangs als
unzugänglich bezeichnte Verhalten der Persönlichkeit unter Wür-
digung der anamnestisciien Daten eines etwa 2 Jahre währenden depres¬
siven Zustandes, der zum Suizidversuch führt, als Ausdruck einer Melan¬
cholie werten, zu der sich infolge Pallidumschädigung Rigor und Kata¬
lepsie hinzugesellt haben?
Schon L. Lewin sagt in seinem Handbuch: ,,Die Kohlenoxyd¬
vergiftung“, daß für die Nachkrankheiten und besonders die psy¬
chischen Störungen „eine Verwechslung mit anderen Krankheiten un¬
bedingt und in weiterem Umfang möglich sei“. Es soll nicht bestritten
werden, daß auch das klinische Bild unseres Falles dem einer Psychose
auffallend ähnelte. Stutzig machen mußte nur die Art der Entstehung
dieser Phänomene. Nach den mit aller Bestimmtheit gemachten An¬
gaben der gerade hierüber besonders eingehend vernommenen Schwester
der Patientin hat sich diese während der beiden ersten Wochen des
Krankenhausaufenthaltes noch wie sonst unterhalten, dann erst sind
Unbeweglichkeit und Stummheit aufgetreten. Es liegt auf der anderen
Seite also wiederum sehr nahe, den Symptomenwandel mit der inzwischen
umfangreicher gewordenen lokalen Stammganglienschädigung in Par¬
allele zu setzen.
Wie schwierig sich diese Verhältnisse im Einzelfall beurteilen
lassen, zeigt die kurz vorher abgeschlossene Beobachtung einer Patien¬
tin, bei der sich das einen Endzustand ausmachende klinische Bild des
vorliegenden Falles erst allmählich unter unsern Augen entwickelte.
Anna M. F., 66 Jahre. Seit vielen Jahren Klagen über Gehbeschwerden.
Deswegen 1920 im Krankenhaus, wo Arthritis deformans festgestellt wurde.
Schon damals soll Pat. starr geblickt, wenig und langsam gesprochen haben,
gedächtnisschwach gewesen sein. Seit Weihnachten 1921 wiederholt mehrstündige
Anfälle von Bewußtlosigkeit ohne deutliche Lähmung oder Sprachstörung. Auf¬
nahme 1. VII. 1922. Aufnahmebefund: Groß, kräftig gebaut, starke Adipositas.
Gesichtsausdruck starr und unbelebt. Bds. träge Pupillenreaktion auf Licht,
sonst Himnerven o. B. Im r. Arm und Bein passiv Rigor, in den 1. Gliedern außer
Rigor noch Beuge- und Streckspasmen. Aktive Parese der 1. Glieder, normale
Sehnenreflexe. R. inkonstant Babinski, sonst keine pathologischen Reflexe.
Pat. kann weder stehen noch gehen, noch sich selbst im Bett aufrichten. Stuhl-
und Urininkontinenz. Sprache ohne Besonderheiten. Psychisch stumpf, affektlos.
In der Folgezeit nehmen die hier angedeuteten Symptome erheblich an Umfang
zu. 23. XII. 1922: Pat. spricht ungefragt nie ein Wort, antwortet meist gar
nicht oder sehr zögernd. Befund vom 17. IV. 1923: Pat. liegt ständig im Bett,
ohne den Vorgängen in ihrer Umgebung anscheinend die geringste Aufmerksamkeit
zuzuwenden. Ausgesprochenes Salbengesicht. Wangen lebhaft gerötet. Auf
energischen Anruf wird der Kopf langsam, als ob es Pat. ungeheure Mühe kostet,
nach der Seite des Ref. gedreht, ebenso die Augen; eine Veränderung dieser Stellung
des Kopfes findet zunächst nicht statt, während die Augen ab und zu leichte
horizontale Einstellbewegungen spontan ausführen. Außer dieser Bewegung und
häufigen schmatzenden und saugenden Lippenbewegungen ist das Gesicht völlig
48
H. Pineas:
starr; es gelingt auch nicht durch entsprechende Fragen, eine affektive Änderung
des Gesichtsausdrucks zu erzielen. Deutlicher Saugreflex: bei Berührung der
Lippen verziehen sich diese rüsselförmig nach der jeweils berührten Stelle hin;
die Zungenspitze bewegt sich entsprechend. Die Unterlippe ist dauernd so weit
nach außen umgestülpt, daß nahezu das ganze Lippenrot sichtbar ist. Hält Pat.
die Augen geschlossen, so werden sie auf Nadelstiche in Wangen, Lippen, Nasen¬
flügel nicht geöffnet; auf Aufforderung dagegen prompt. Bei passiven Bewegungen
der Arme bda. in allen Gelenken schwerer Rigor, r. mehr als 1., vor allem in Schulter
und Ellbogen. Der passiv erhobene Arm sinkt bds. ganz langsam, beinahe ruck¬
weise, in seine Ausgangsstellung zurück. Bei der Aufforderung, mit dem 1. Zeige¬
finger an die Nase zu fassen, bleibt Pat. mit dem Arm auf halbem Wege stehen.
Von sonstigen aktiven Bewegungen führt Pat. lediglich Faustschluß und -Öffnung
aus, dabei zeigt sich bds., r. mehr als 1., deutliches Zuxingsgreifert (Schuster), das
auch im Schlaf nicht ganz verschwindet. Bei Berührung der Innenfläche von
Daumen und Zeigefingern macht die betr. Hand Greifbewegungen; das Spiel
kann 5 —6 mal wiederholt werden, ehe die Bewegungen naclilassen. An der r. Hand
ist die Intensität des Greifens deutlich stärker als an der linken.
Pat. spricht in der Regel überhaupt nicht spontan und antwortet auf Fragen
nur höchst selten. Gewöhnlich werden nur die erwähnten rhythmischen Kau-
und Schmatzbewegungen frequenter. Gelingt aber einmal das Aussprachen einer
Antwort aus irgendwelchen nicht einfühlbaren Gründen, so wird die Phrase völlig
einwandfrei in bezug auf Aussprache und Betonung produziert. Gleich danach
versinkt Pat. wieder in ihr Schweigen. 2. V. Exitus an septischem Decubitus.
Sektionsbefund: Erhebliche Atrophie beider Stirnhirnhemisphären. Kolossaler
Hydrocephalus int. mit starker Abplattung des Caudatum bds. Zahlreiche I^acunen
in den beiderseitigen Stammganglien.
Wie aus vorstehender Schilderung hervorgehen dürfte, ähnelt der
Status vom 17. IV. 1923 außerordentlich dem Aufnahmebefund unseres
Falles Sp. Bei beiden Patienten finden wir, das Bild beherrschend
eine enorme Akinese, von der nur die Augenbewegungen frei sind und
die ganz besonders die Sprach- und mimische Muskulatur befallen hat,
ohne daß echt aphasische oder artikulatorische Störungen vorliegen
Außerdem finden wir Muskelspannungen, die vor allem die Muskulatur
der Arme betreffen.
Neben diesem akinetisch-rigiden Syndrom treffen wir auch auf
Hyperkinesen in Form rhythmischer Kau- und Schmatzbewegungen
und auf Parakinesen: bei Sp. „endogene“: Pseudospontanbewegungen
verschiedenen Ausmaßes (Kreis-, Greif-, Reibe-, Nestel- und Kritzel¬
bewegungen), bei M.-F. „exogene“: Saugreflex und Zwangsgreifen
(Schuster).
Aus der Fülle der gemeinsamen Symptome sei hier (unbeschadet
einer demnächst aus unserer Abteilung hervorgehenden ausführlichen
Bearbeitung dieses Gegenstandes) das letztgenannte Phänomen hervor¬
gehoben, das Kleist bei seinem Fall Beyschl. als „umschriebene nega-
tivistische Erscheinung ohne ablehnendes Gesamtverhalten“ bezeichnet.
Dieser Pseudonegativismus , wie wir ihn in diesem Zusammenhang
nennen möchten, findet sich angedeutet auch in unserin Falle Sp.
Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 49
„Als der Arzt an der rechten Hand den Puls fühlen will, versucht
Patientin, den Arm wegzuziehen. Beim Versuch, den von der Patientin
umklammerten Reflexhammer fortzunehmen, wird er nur noch fester
umklammert und ist nur mit Gewalt zu entfernen.“ Kleist ist der An¬
sicht, daß es sich in diesen Fällen „um triebhafte, in unteren Stationen
des psychischen Lebens sich abspielende Automatismen“ handelt, eine
Anschauung, die M . Loewy in seiner Monographie weiter ausführt,
die aber sonst in der Literatur bekämpft wird ( Förster , Bonhoeffer,
Schilder , Jakob , Josephy , Rabiner).
Gegen die u. a. von Berze, Fränkel , Küppers vertretene Anschauung,
daß die Stammganglien etwas mit dem psychisch-seelischen Geschehen
zu tun haben, werden bekanntlich vor allem die Befunde bei Ence¬
phalitis epidemica ins Feld geführt, die neben der Schädigung des Extra-
pyramidiums häufig ausgedehnte Rinden Veränderungen auf weisen.
Auch im Falle Beyschl. von Kleist ist die rechte Hemisphäre, vor allem
das rechte Stimhim „kleiner“, in unserem Fall M -F. sind beide Stim-
himhälften erheblich atrophisch, im Falle Sp. mikroskopische Verände¬
rungen im Stimhim nicht auszuschließen. Selbst sorgfältigst ange¬
fertigte Serienschnitte könnten in derartigen Fällen jedoch nur dann
eine endgültige Entscheidung treffen lassen, wenn sie regelmäßige,
ausgedehnte, gleichartige Befunde ergeben; z. Z. wissen wir nie, ob
etwa da und dort gefundene Veränderungen nun wirklich von Belang
sind, ganz abgesehen von der zweifellos in jedem Falle wechselnden
Zahl und Ausdehnung solcher Veränderungen!
Der „Prioritätsstreit“ zwischen Cortex, vor allem Stimhimrinde
und subcorticalen Stammganglien, der z. Z. auf Grund des mikro¬
skopischen Präparates nicht zu schlichten ist, dürfte sich vielleicht
dahin beilegen lassen, daß beide Instanzen bei den Äußerungen auch
des psychisch-seelischen Geschehens notwendig funktionieren müssen ,
and „Cortex und extrapyramidales System sich gegenseitig beein¬
flussen“ (Jakob). Auf die näheren Beziehungen, hie hierbei walten
mögen, kommen u. a. 1Bostroem, Hauptmann , Feuchtwavger ausführlich
zu sprechen.
II.
Die Zahl klinischer Beschreibungen des Verlaufes von CO-Ver-
pftungen ist relativ gering, da die CO-Vergiftung in der Regel zum
Tode führt, bevor sich die Erscheinungen voll ausgebildet haben.
Immerhin erwähnt L. Lewin in seinem oben angeführten Werke (S. 271)
einen vor etwa 100 Jahren mitgeteilten Fall, „wo die Muskeln der
linken Seite tetanisch kontrahiert waren, während sich der rechte Arm
ständig bewegte. Ein anderer Patient führte in der Bewußtlosigkeit
fortwährend Beuge- und Streckbewegungen mit dem rechten Arm aus.
L f. d. g. Keur. n. Psych. XCIII.
4
50
H. Pin^as:
Während bei diesem Patienten in den nächsten 3 Tagen die geistigen
Fähigkeiten wiederkehrten, bestanden die Armbewegungen, aber nur
während des wachen Zustandes, noch fort. Bei einem andern Kranken
wurde jeder Flexionsbewegung durch Extensionsbewegung entgegen¬
gewirkt. Wiederum eine andere Patientin warf bisweilen den Körper
nach vom, darauf nach hinten, und fiel dann hin. Ihre Finger beugten
und streckten sich krampfartig, und ihre Beine verwickelten sich.
Auch drehende Bewegungen des Körpers kommen vor.“
Ohne daß Lewin in dieser Aufzählung anatomische Befunde bringt,
können wir heute mit aller Sicherheit sagen, daß hier Stammganglien¬
schädigungen vorhanden gewesen sein müssen. Haben wir doch hier
durchweg Symptome des choreatischen, athetotischen und dystonischen
Krankheitsbildes vor uns.
Aus der sonstigen Literatur sei zunächst die vorwiegend anatomische
Interessen verfolgende Publikation von Buge, Dresden, erwähnt. Bei
12 mit kurzen klinischen Notizen versehenen, anatomisch bearbeiteten
Fällen von CO-Vergiftung macht der Autor nur im letzten, allerdings
am längsten (95 Tage lang) beobachteten Fall Angaben, die an den
Befund unseres Falles erinnern. „In den Armen fand sich wechselnder,
öfter als spastisch bezeichneter Widerstand bei passiven Bewegungen
mit Neigung zu Katalepsie, während die Beine aktiv fast ganz gelähmt,
passiv weder spastisch noch atrophisch waren. Anatomisch alte Er¬
weichungsherde in beiden Linsenkernen.“
Aus der nur summarisch wiedergegebenen Krankengeschichte dürfte
sich mit einiger Sicherheit ein dem unseres Falles sehr ähnlicher Verlauf
ergeben.
Weit eingehender beschrieben und klinisch wrie anatomisch unserem
Falle außerordentlich ähnlich sind die beiden Fälle von CO-Vergiftung,
die Richter 1922/23 als „Beiträge zur Klinik und pathologischen Ana¬
tomie der extrapyramidalen Bewegungsstörungen“ liefert. Es handelt
sich um Patienten, die 8 bzw. 4 Tage vor der Aufnahme eine Kohlen-
gasvergiftung durchgemacht hatten, im selben Alter standen wie unser
Fall und die nach über 2monatiger, bzw. 3 wöchiger Beobachtung
zum Exitus kamen. Die Sektion ergab in beiden Fällen bilateral sym¬
metrische Erweichungsherde im medialen Teile des Pallidum, sonst
keinerlei auffällige Veränderungen. Die mikroskopischen Bilder der
Herdregionen zeigten mit unserem Fall genau übereinstimmende Be¬
funde, vor allem was die Gefäßveränderungen angeht. Klinisch fand
sich in beiden Fällen eine hochgradige Versteifung der Körpermuskula¬
tur, begleitet von mimischer Gesichtsstarre, Bewegungsarmut und Be¬
wegungsverlangsamung, Neigung zum Beibehalten abnormer Stellungen
und Ausfall der gewöhnlichen Orientierungs-, Schutz- und Abwehr-
bewegungen, Fehlen der extrapyramidalen Hyperkinesen (choreatisch-
Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 51
athetotische Bewegungen), Sprachstörungen vom corticalen Typ (Para¬
phasien, Perseverationen) im 1. Fall, vom subcorticalen im 2. (Dys¬
arthrie), daneben mehr oder weniger starke Trübungen des Sensoriums.
Richter zieht aus seinen Befunden den Schluß, daß die streng auf
das Pallidumgebiet beschränkten Erweichungen die Entstehungsursache
der akinetisch-rigiden Symptome seiner Fälle darstellen.
So sehr diese Symptome auch in unserm Fall im Vordergrund der
Erscheinungen stehen, so zeigen sich beim Vergleich der 3 Fälle doch
einige Unterschiede, die eine nähere Besprechung verdienen. Während
der Fall 1 Richters eine Sprachstörung vom Rindencharakter mit
Paraphasien und Perseverationen aufweist, bietet der 2. Fall offenbar
subcorticale, nämlich dysarthrische Veränderungen der Sprache und
auch Dysphagie, die Richter im Sinne der Vogtschen Theorie auf die
beiderseitige Pallidumschädigung bezieht. Im Gegensatz hierzu besteht
in unserem Falle, wie vorher des näheren beschrieben, überhaupt keine
eigentliche sensorische oder motorische Aphasie, ebensowenig eine
Dysarthrie, sondern wenn die Patientin überhaupt auf Fragen ant¬
wortet, so erfolgen ihre Antworten stets sinngemäß und auch sonst
einwandfrei.
Einen weiteren Unterschied, wenigstens zum 2. Falle Richters ,
bildet das ungestörte Erhaltenbleiben der Funktionen des Kauens und
Schluckens in unserem Falle. Dies ist um so auffälliger, als C. und
0. Vogt diese Funktionen in den von der Erweichung befallenen oralsten
Teilen des Pallidums lokalisiert denken und nach Richters Abbildungen
die Erweichungsherde seiner Fälle genau da lokalisiert sind, wo wir sie
bei unserer Patientin gefunden haben.
Noch interessanter erscheinen die Unterschiede im Verhalten der
Motilität. Richter hebt für seine Fälle das völlige Fehlen extrapyra-
raidaler Hyperkinesen, d. h. choreatisch-athetotischer Bewegungen her¬
vor und setzt dies in Parallele zu der ausschließlich das Pallidum be¬
treffenden, das Putamen intakt lassenden pathologischen Veränderung.
Wenn auch unser Fall weder choreatische noch athetotische Bewegungen
aufwies, so konnte doch von einer reinen Akinese keine Rede sein.
Im Gegenteil zeigte die auf den ersten Blick so regungslos erscheinende
Patientin eine Reihe der verschiedenartigsten Para- und Hyperkinesen
mit Iterationen, sobald es gelang, durch intensive Aufforderungen,
Berührungen oder passive Bewegungsreize den „toten Punkt“ ihrer
Motilität zu überwinden. Die Disposition zu diesen abgeänderten
Bewegungsformen mußte also vorhanden sein. Erinnern wir uns nun,
daß wir in unserm Fall, abgesehen von den ausgedehnten Pallidum-
veränderungen, schon makroskopisch sichtbare, beiderseitige Striatum¬
schädigungen gefunden haben, so halten wir uns für berechtigt, in
Übereinstimmung mit den Ansichten von C. und 0. Vogt , Foerster ,
4*
52
H. Pineas:
Kleist , Jakob und anderen diesen Befund als Ursache der para- und
hyperkinetischen Komponente der Motilitätsstörung unserer Patienten
zu betrachten. In diesem Falle wie jedesmal sonst werden Art, Aus¬
maß und Tempo der resultierenden Bewegung von Lage und Zahl der
mehr oder minder geschädigten Striatumelemente einerseits, der etwa
pathologisch veränderten Pallidumzellen andererseits abhängen. Diese
Faktoren dürften es im Einzelfalle auch bewirken, daß Bewegungs¬
mechanismen von der Beschaffenheit der „primären und sekundären
Automatismen“ ( C . und 0. Vogt , 0erstmann) unterschwellig bleiben und
erst durch geeignete, ad hoc gesetzte Reize geweckt werden müssen
oder daß, wie bei den choreatischen und athetotischen Bewegungen, die
gewöhnlichen Reize der Außenwelt zu ihrer Hervorbringung genügen.
Jedenfalls vermag die Fülle der möglichen Kombinationen die Zahl der
hier gemeinten BewegungsVarietäten hinlänglich verständlich machen.
Welche Folgerungen theoretischer Natur lassen sich nun aus der
mitgeteilten Beobachtung ableiten ? Sie würde, die (aus äußeren Grün¬
den nicht nachweisbare) Intaktheit der Hirnrinde vorausgesetzt, die
von Kleist neuerdings vertretene Anschauung weiter stützen, daß nicht
zuletzt Herde in den Stammganglien selbst die Erzeuger psychomotorischer
oder, wie Förster konzediert sei, „psychomotorisch aussehender“ Er¬
scheinungen sind.
Bei der Diskussion über die Genese psychomotorischer Störungen
spielt bekanntlich die Frage eine Rolle, ob die Symptome bei Motilitäts¬
psychosen und Stammganglienerkrankungen einander gleich oder nur
ähnlich sein können. Für die erste Ansicht tritt vor allem Kleist , für
die letztere u. a. Förster ein, während Jakob eine mehr vermittelnde
Stellung einnimmt. Ohne hier für die eine oder andere Meinung Partei
ergreifen zu wollen, erscheint uns zunächst die Frage lösenswert, wie
Erkrankungen, die von vornherein nichts miteinander zu tun zu haben
scheinen, u. U. zum Verwechseln ähnliche Symptome aufw r eisen können.
Vielleicht ist der folgende Gedankengang hierbei brauchbar. Läßt man
in Weiterentwicklung Kleist scher Ideen den „Exekutivapparat der
Psychomotilität“ in den Stammganglien seinen Anfang nehmen, so
können wir auf Grund der Ä'ZetXschen Lehre von der Unterstellung
jeder Körperhälfte unter die beiderseitigen Stammganglien letztere einem
stets gemeinsam arbeitenden Doppelmotor vergleichen, der in der Regel
durch Zündung von der Rinde her in Gang gesetzt wird, und so z. B.
exakte Spontan- oder Ausdrucksbewegungen produziert. Lassen wir
jetzt die Möglichkeit zu, den Doppelmotor unmittelbar — unter Aus¬
schaltung der Zündung — „anzulassen“, so ist es klar, daß der Exe¬
kutivapparat, der in beiden Fällen derselbe ist, im Prinzip denselben
Bewegungseffekt hervorbringen muß . Ob ein solches direktes „Anlassen
des Motors“ in der Norm vorkommt, bleibe dahingestellt. Fest steht.
Klinischer und anatomischer Befund eines Falles von CO-Vergiftung. 53
daß Störungen im Motor selbst so gut auftreten, wie im Mechanismus
der Zündung, seien diese grob anatomisch-mechanischer oder funktionell¬
dynamischer Natur. Es erhellt ohne Schwierigkeit, daß in gewissen
Fällen der für Zündung wie Doppelmotor eine „letzte gemeinsame
Strecke“ bildende „Exekutivapparat der Psychomotilität“ in äußerlich
durchaus nicht verschiedener Weise auf diese Schädigung reagieren wird.
Wie aus der Arbeit von Rabiner hervorgeht, befinden wir uns hier in
prinzipieller Übereinstimmung mit den Anschauungen, die Jakob in
seiner jüngst erschienenen Bearbeitung des Gegenstandes äußert.
Zur Lösung des Problems der Beziehungen zwischen Psyche und
Stammganglien ist unser Fall kaum geeignet. Über das Innenleben
der Patientin haben wir von ihr nichts erfahren können, auch die
wenigen sprachlichen Äußerungen lassen uns darüber im unklaren.
Wir sehen also von einer Erörterung dieses Problems im vorliegenden
Falle ab und beschränken uns zusammenfassend auf folgende Fest¬
stellungen :
1. Bei einer Patientin, die 30 Tage nach einer CO-Vergiftung mit
den klinischen Symptomen der Kleistschen „psychomotorischen Apraxie“
eingeliefert wurde, ergibt die Autopsie außer Lacunen in den beider¬
seitigen Putamina die bei CO-Vergiftung schon häufig beschriebene
doppelseitige symmetrische Pallidumerweichung, Eine mikroskopische
Untersuchung der Hirnrinde hat nicht stattfinden können.
2. Die neuerdings von Kleist für die Entstehung psychomotorischer
Hyperkinesen verantwortlich gemachte doppelseitige Stammganglien¬
schädigung gilt beim Fehlen von Rindenveränderungen auch für psycho¬
motorische Akinesen und damit auch für gemischte Zustandsbilder.
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54 H. Pineas: Klinischer u. anatomischer Befund eines Falles von CO- Vergiftung*.
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u. Psychiatrie 30. — Vogt , C. undO., Journ. f. Psychol. u. Neurol. 25, 3. Erg.-H. —
Wemicke. Grundriß der Psychiatrie. 2. Aufl.
Beitrag zur Analyse schizophrener Denkstörungen 1 ).
Von
Dr. Kurt Beringer.
(Aus der Psychiatrischen Klinik Heidelberg. — Prof. Wilmanns.)
(Eingegangen am 15. Juni 1924.)
Im folgenden soll ein kleiner Beitrag zur Frage der schizophrenen
Denkstörungen gegeben werden, und zwar im wesentlichen in Gestalt der
instruktiven Gegenüberstellung von subjektiver Erlebnis weise der for¬
malen Gegebenheit des veränderten Gedankenganges und den entspre¬
chenden Resultaten der an den Patienten angestellten objektiven Lei¬
stungsprüfungen. Das Material unserer Beobachtungen entstammt
einer bestimmten kleinen Gruppe von Schizophrenen, nämlich solchen,
die in ihrem Gesamtbild das charakteristische Merkmal der Zerfahrenheit
zeigen, bei denen sich aber trotz eindringlicher Untersuchung keine An¬
haltspunkte für das Bestehen der üblichen faßbaren Schizophreniesymp¬
tome, wie Wahnideen, Sinnestäuschungen, abnorme Gefühlszuständlich-
keiten und dergl. mehr nachweisen ließen. Grade diese Symptomenar-
mut und Unproduktivität bezüglich des Inhaltlichen, das Bild der Ver¬
sandenden leeren Hebephrenie bietend scheint uns mancherlei Vorzüge
zur Erfassung der Denkstörungen bezüglich des Formalen zu haben. Es
fehlt alles Aufbaumäßige, Fassadenhafte. Die Frage, wie weit irgend¬
eine Kundgabe auf Auswirkung von Wahnkomplexen oder Sinnestäu¬
schungen beruht, also sekundärer Herkunft ist, fällt weitgehend weg.
Der mehr oder minder von der subjektiven psychologischen Evidenz des
Untersuchers und seiner „Schule“ abhängige determinative Auflösungs¬
und Rückbeziehungsversuch des Inhaltlichen auf Persönlichkeitsstruk¬
tur, Konstellation, Erlebnisse usw. findet hier kaum Angriffspunkte.
Entsprechend dieser langweiligen und öden Monotonie des Prozesses
in seiner äußeren Erscheinungsweise beschränken sich auch die Angaben
derartiger Kranken auf einige wenige Allgemeinsymptome. Es wird
vor allem über Gedächtnisschwäche, Ermüdung, Konzentrations¬
mangel, und vor allem Absinken intellektueller Leistungen geklagt,
Angaben, denen wir zwar etwa beim Verdacht auf ein organisches
*) Nach einem auf der süd-westdeutschen Wanderversammlung in Baden-
Baden 1924 gehaltenen Votrag.
56
K. Beringen
Hirnleiden stets ein erhöhtes pathognostisehes Gewicht zumessen, die
wir aber bei Schizophrenen meist nur registrieren, eben in der still¬
schweigenden Annahme, es mit sekundären Auswirkungen von anders¬
artigem, uns nur nicht bekanntem primären psychotischem Geschehen
zu tun zu haben. Dazu kommt, daß gerade Kranke dieser Art, bei denen
sich die Störung an alltäglichen Inhalten nur als Veränderungen der for¬
malen Gegebenheitsweise abspielt, selten imstande sind, verwertbare
Angaben zu machen. Einmal ist dies bedingt durch die Schwierigkeit
überhaupt, die in derartigen, auf das Formale gerichteten introspektiven
Betrachtungsweisen liegt, andererseits aber natürlich auch durch eben
die, den hierzu erforderlichen gedanklichen Leistungen entgegenstehende
Denkstörung als solche.
Hat man indes Gelegenheit eine Anzahl solcher Fälle zu untersuchen,
bei denen die Denkstörung nicht so groß ist, daß subtilere Angaben und
Selbstbeobachtung unmöglich wären, die Kranken noch das erforder¬
liche Maß von Besonnenheit, Auskunftsbereitschaft sowie willige Zu¬
gänglichkeit haben, so finden sich immer wieder zwei Beobachtungen.
Einmal die Gleichgerichtetheit der Prozeßentwicklung , im Sinne eines zu¬
nehmenden Versagens gegenüber den an sie gestellten Anforderungen.
Die Leistungen lassen nach, sprunghafte Unbeständigkeit setzt ein, neue
Anläufe enden als Versager. Bemerkenswert ist ferner, daß von allen
zur Selbstbeobachtung geeigneten Kranken dieser Art über die formale
Veränderung des Gedankenablaufs berichtet wird, wenn auch je nach
Bildungsniveau und sprachlicher Ausdrucksfähigkeit anders formuliert.
Die Gedanken sind so flüchtig, wie abgeschnitten, sie hängen nicht mehr
zusammen, sie sind so überstürzt. Dies ganz besonders dann, wenn die
Patienten ohne äußere Anregung sich selbst überlassen sind, sie reden
direkt von einem Vorsichhindämmern, von einem Versinken in einen
halbschlafähnlichen Zustand.
Ich bringe hier einige Angaben, die geeignet sind, die subjektive Er-
lebnisw'eise derartiger Zustände zu verdeutlichen. Sie stammen von einem
gebildeten Kranken, bei dem sich die subjektiven Klagen in der Kon¬
statierung der Vergeßlichkeit, Zerstreutheit, und Unfähigkeit zu in¬
tellektuellen Leistungen erschöpften, der sich aber durch seine Zuver¬
lässigkeit und Selbstbeobachtungsgabe besonders geeignet erwies, ver¬
wertbare Angaben über die Störung des formalen Ablaufs zu geben. Er
äußerte:
,,Ich vergesse die Gedanken so rasch, wenn ich etwas auf schreiben
wdll, einen Moment nachher w r eiß ich es nicht mehr. Ich müßte alles fort¬
laufend schreiben, w r as mir einkommt. Aber wie ich es versucht habe,
habe ich keine Gedanken mehr. Das eben gehörte Wort weiß ich wohl
noch, aber der Zusammenhang, da muß ich mich vergebens drauf be¬
sinnen.
Beitrag zur Analyse schizophrener Denkstörungen.
57
Die Gedanken überstürzen sich gewissermaßen, sie sind nicht mehr
klar ausgedacht; es fährt mir blitzschnell durch den Kopf, aber es kommt
schon ein anderer und er ist im Moment da, obwohl ich im Bruchteil
einer Sekunde vorher noch nicht daran gedacht hatte.
Ich habe das Gefühl einer ins Extreme gezogenen Zerfahrenheit.
Wenn ich z. B. gedacht habe, jetzt ist es drei Uhr nachts, dann kam
schon, ehe ich damit fertig war, ein anderer Gedanke, ich habe meinen
Gedankenablauf gar nicht mehr in der Hand.
Die Gedanken sind oft nicht klar. Gedanken, die man nicht deutlich
hat, die einen nur irgendwie streifen, von denen man aber doch weiß, es
war etwas vorhanden. Neben den Hauptgedanken laufen immer noch
Nebengedanken. Sie verwirren die Gedanken, so kommt man zu keinem
Ziel im Denken, es wird immer stärker, alles geht kreuz und quer.
Ich denke an etwas scharf, nebenher denke ich an etwas das mit-
läuft, ich weiß wohl, der Gedanke läuft mit, aber nur in der Feme
sehe ich ihn.
Es kommt plötzlich vor, daß ein Gedankengang sich ins Sinnlose
wendet, unlogisch verknüpft wird, so daß ein Durcheinander entsteht,
das gar keinen Sinn hat. Ich kann die Gedanken gar nicht mehr diri¬
gieren, sie springen, sind konfus, ich muß selbst darüber lachen von Rechts
wegen, wie das möglich ist.
Ich habe das Gefühl der Gedankenverarmung, es erscheint mir alles,
was ich sehe und denke farbloser, schaler, so wenig vielseitig, so ist mein
Begriff der Hochschule zusammengeschrumpft auf meinen Schrank, aus
dem ich den Mantel herausnehme. Wenn ich mich auf etwas besinnen
will, so komme ich mit dem besten Willen nicht über die einfachsten
Sachen heraus. So habe ich mir z. B. vorgenommen, etwas klarzumachen
— es war die Wärmelehre — aber vergebens.“
Fassen wir das Gemeinsame, das in derartigen Selbstschilderungen
immer wiederkehrt, zusammen, so findet sich, besonders in der Selbst-
überlassenheit eindrucksvoll, und die Störung offenbar potenzierend,
ein Absinken der aktiven Eigenbetätigung an den Vorstellungsakten,
verbunden mit einem Gefühl der Passivität. Die Gegebenheitsweise der
einzelnen Glieder der Vorstellungsketten, ganz abtrahiert vom Inhalt¬
lichen nur von der formalen Seite aus gesehen, ist flüchtig, ohne Präg¬
nanz, oft undeutlich, verschwommen und rasch aufeinander folgend. Die
Eindringlichkeit und Nachhaltigkeit ist so gering, daß oft noch, fast im
Moment des Habens nicht mehr reproduziert werden kann. Die Vor-
■rtellungsvcrbindung als sinnvolle, zielfeste, durchgeführte Einheit löst
sich. Anfänglich noch vorhandene determinierende Tendenzen verlieren
ihren auswählenden und ordnenden Einfluß auf das auftauchende
Material. Selbst gegen den Willen löst sich der Gedankengang in ein mehr
oder minder unabhängiges sinnentbehrendes Durcheinander auf. So
58
K. Beringer:
fehlt das normale Abschluß- und Erfüllungserlebnis, das sonst dem
normalen Gedankengang eignet, eine Ratlosigkeit bleibt zurück. Gelingt
es aber unter Aufbietung erheblicher Energie zielstrebig zu denken, so
zeigt sich eine Erschwerung des Ablaufs in einer eigentümlichen Schwer¬
beweglichkeit und Gedankenarmut.
Es ist einleuchtend und naheliegend, daß in einer derartigen Störung,
die gerade diejenigen Faktoren betrifft, die zu den formalen Kriterien
des normalen Gedankenablaufs gehören, die Voraussetzung zur Ent¬
stehung einer Reihe von Symptomen wie etwa des Gedankenmachens,
des Gedankenabziehens, der fremden Gedanken, aber auch zum Auf¬
tauchen von paronoiden Verwertungen liegen können. Es bedarf nur
des einmaligen Schlusses, einer meist nicht klar bewußten, aber doch
aktiven, stellungnehmenden Verarbeitung des primären Denkerlebnisses.
Wir konnten auch in der Tat das Entstehen solcher Symptome verfolgen,
die ohne Kenntnis der Entwicklung einen durchaus primären Eindruck
machten und deren Genese vom Kranken selbst, wenn überhaupt er¬
kannt, dann sehr rasch vergessen wurde. Das Symptom verselbständigte
sich gleichsam und wurde mit allem Anspruch eines Primärsymptoms
vorgebracht .
Wir haben nun derartige Patienten auch regelmäßig einer objektiven
Leistungsprüfung unterzogen, und zw^ar mit gleichlautenden Ergebnissen.
Dabei hoben wir vor allem auf die Merkfähigkeit, Auffassungsgabe, so¬
wie freie produktive Eigenleistung ab. Schon das Nachsprechen sechs¬
stelliger Zahlen ergab z. T. Versager trotz Fixierbarkeit und guten
Willen von seiten des Kranken. Beim Nacherzählen kleiner Geschichten
wurde auch nach mehrmaliger Wiederholung ein großer Teil der Einzel¬
fakta vergessen. Die Sinnerfassung von Erzählungen, deren immanente
logische Gliederung offensichtlich war, war noch schlechter. Es zeigte
sich ein ausgesprochenes Verwerten von belanglosen Äußerlichkeiten,
die dann in paradoxer Schiefheit als essentieller Gehalt des Gelesenen
oder Gehörten vorgebracht wurden. Sinn Widrigkeiten klotziger Art und
Pointen blieben meist unerfaßt.
Die vom Gesunden immer unbewußt eingenommene Einstellung
aufs Ganze, das intuitive Wissen von dem, worauf die Sache hinauswill,
fehlte. Dies zeigte sich besonders eklatant bei der Lückenprobe, wo
häufig die Ergänzung des Zunächstliegendsten die größten Schwierig¬
keiten bereitete.
Besonders charakteristisch aber war das Unvermögen, in aktiver
Eigenproduktion den Beziehungsreichtum irgendeines Inhaltes zu aktu¬
alisieren. So brachte ein Ingenieurstudent, obwohl ihm an verschiedenen
Beispielen der Sinn der Aufgabe klargemacht worden war, auf das Wort
Stein in langen Pausen
Beitrag zur Analyse schizophrener Denkstörungen.
59
Steinsammlung,
Stein als Hauptbestandteil, womit das Haus gebaut wird,
Stein als für den Menschen unentbehrlicher Stoff,
Stein als Baumaterial
heraus, um dann nach langem Besinnen zu erklären, daß man den Stein
in mehr Beziehungen sich wohl nicht denken könne, und nun mit seinen
Ausführungen die Materie erschöpfend behandelt worden sei.
Diese InhaUsverarmung und oft geradezu perseveratorisch anmutende
Klebrigkeit und Schwerfälligkeit machte sich besonders dann geltend,
wenn eine Aufgabe gestellt wurde, die planvolles, abstrahierendes, syste¬
matisches Vorgehen, einen Lösungsentwurf unter gleichzeitiger Beach¬
tung verschiedener Voraussetzungen erforderte. Hier kam es oft zu grade-
zu grotesken Kurzschlüssen. Der Kranke, von dem die Selbstschilderung
stammt, wollte sich in einer einfachen Angelegenheit an einen Bekannten
wenden. Nachdem er in vierzehn Tagen einen ganzen Brief block zu
Konzepten verbraucht hatte, gab er endlich einen 14 Seiten langen Brief
ab, in dem er immer wieder einige Gedankengänge wälzte, immer wieder
von vom anfing, ohne aber je zum Ziele zu kommen, obwohl sich das
Gewollte mit Leichtigkeit in wenigen Sätzen auf einer Seite hätte, aus-
drücken lassen können. Das Material und dessen gedankliche Bewälti¬
gung schien gleich einer zähen Masse, die mit größter Anstrengung hin
und her gezerrt wurde ohne doch jemals brauchbare Form zu bekommen.
Als besonders charakteristisches Beispiel für das Versagen der pro¬
duktiven Eigenleistung, den Verlust der geistigen Spannweite sowohl
bezüglich der gleichzeitigen Erfassung aller konstellativer Bedingtheiten
einer fiktiv gegebenen Situation wie auch deren Beziehung untereinander
sei hier eine gestellte Aufgabe und deren Lösungsversuch genauer wieder¬
gegeben. Es kommt bei solchen Aufgaben ja weniger auf die Richtig¬
keit der Lösung, als vielmehr auf die Art der Erfassung, Gliederung und
den Fortgang der Bearbeitung des Materials, aus dem sich die Aufgabe
zusammensetzt, an. Die Aufgabestellung lautete: Wie bekommen Sie
aus einem 50 m tiefen und 1 / A m breiten Rohr, das im Erdboden steckt,
ein Streichholz, das auf dem Grund liegt, heraus ?
„Ich krabble oben rein — ich kann das Streichholz doch nicht ohne
weiteres herausholen — das Streichholz kann ich, indem ich — das
Streichholz kann ich herausholen, indem ich einfach hineingreife, dann
habe ich es wieder (das geht doch nicht so einfach) — ja, ich kann es ein¬
fach wieder herausholen, indem ich einfach heruntersteige mit der Leiter.
Ich steige mit der Leiter runter, und dann lasse ich mich runter mit dem
Seil oder an der Leiter und hole es. (Geht das denn, wenn das Rohr nur
1 ,m Weite hat?) Das weiß ich nicht, wie ich das mache. Mit einem
Draht oder einer Kordel kann ich das machen. (Sie sehen aber doch
gar nicht soweit runter?) Ein Streichholz mit einer Kordel, ja — wie
60
K. Beringer:
soll ich das denn eigentlich herausholen — das hole ich wieder, indem
ich — indem ich —. (Wie lautet die Aufgabe?) Ich soll in einer Röhre,
die 1 / 4 m breit und 50 m tief ist, und ich soll das Streichholz herausholen,
das unten liegt, auf irgendeine Art. Wie mache ich das am besten ? Ich
nehme eine Kordel und nehme und hole das Streichholz herauf. Ja, da
hole ich das Streichholz mit der Kordel herauf. (Wie fassen Sie denn
das Streichholz mit der Kordel ?) Bitte ? (Wie Sie das Streichholz mit der
Kordel dann ergreifen können ?) Wie ich das Streichholz mit der Kordel
fasse — an einem Stein lasse ich die Kordel herunter und befestige das
Streichholz daran, und ziehe so das Streichholz herauf. (Warum denn
einen Stein?) Ich kann doch die Kordel allein nicht herunterlassen, ich
muß einen Stein haben, an dem ich den Stein herunterlasse. An einem
Haken fasse ich das Streichholz und hole es herauf. Ja, mit einem
Haken. (Wie faßt denn der Haken das Streichholz ?) Das kann ich mir
nicht recht vorstellen. 50 m tief und ein Streichholz heraufholen, das
kann ich mir nicht gut denken. Ich steige eben einfach herunter und
hole es herauf. 2 / 4 m (mißt einen solchen mit den Händen etwa ab)
da kann ich grade herunter und rauf. (Ersticken Sie da nicht?) Ach
nein, ich bin doch gleich wieder oben, ich steige an einer Leiter runter,
oder an einer Stange lasse ich mich runter — das geht auch nicht, das
ist zu eng, oder doch — das ist das einzige Mittel — und dann hole ich
auf diese Art und Weise das Streichholz herauf. (Gibt es denn keine andere
Lösung?) Es gibt nur einen Weg eigentlich, das ist runtersteigen und
das Streichholz holen. (Denken Sie doch einmal nach einen anderen
Weg.) Nun, das Streichholz werde ich herausholen, indem ich an einer
Kordel mich runterlasse, indem ich runtersteige und das Streichholz
heraufhole, usw.“ Der Patient ist Ingenieurstudent, zeichnete sich in
seiner gesunden Zeit durch besondere Begabung aus.
Vergleicht man derartige Beispiele einer Denkstörung mit den sub¬
jektiven phänomenologischen Angaben des Denkerlebnisses, so ist der
psychologische Erkenntniswert solcher Fälle unverkennbar. Durch die
Vergegenwärtigung der formalen Veränderung in der Gegebenheits¬
weise und Verarbeitungsweise des Materials ermöglicht sich eine wei¬
tergehende verständliche Erfassung und Rückführung gedanklicher Fehl¬
oder Andersleistungen, in unserem Falle bestimmter schizophrener
Denkstörungen. Die weitere, sich notwendigerweise aus dem Vorher¬
gehenden ergebende Frage wäre die nach den funktionalen, Verände¬
rungen, aus denen heraus, gleichsam als ihre Außenseite, die formalen
Veränderungen erwachsen, also die Frage nach einem theoretischen Er¬
klärungsprinzip. Uns kam es auf dieser Stelle aber nur auf die instruk¬
tive Wiederspiegelung von subjektiver Erlebnisseite und objektiver
Leistungsfähigkeit an. Ob die hier geschilderte Störung in Verbindung
mit anderen bei jeder Schizophrenie vorhanden ist, oder ob sie nur eine
Beitrag zur Analyse schizophrener Denkstörungen.
()1
individuelle biologische Reaktionsweise auf das hypothetische, toxische
Agens darstellt, etwa im Sinne der psychischen Systemerkrankung nach
Kleist, ist eine Frage für sich.
Schließlich sei auf die zahlreichen Analogien in der psychologischen
Struktur mit Erschöpfungszuständen, mit der Rekonvaleszenz nach
schweren Infektionskrankheiten, mit Intoxikationen — ich konnte ge¬
legentlich in der Meskalinpsychose ähnliches beobachten — sowie dem
Halbschlaf hingewiesen. Letzteren zogen vor allem Bumke und neuer¬
dings sein Schüler Karl Schneider als Vergleichsmaterial heran. Die Ähn¬
lichkeiten werden besonders dann groß, wenn die Kranken sich selbst
überlassen sind, „versinken“. Dagegen fehlen alle objektiven äußeren
Verhaltungskennzeichen derartiger Zustände bei Fixation von außen, die
Gesamteinstellung, was Aufmerksamkeit und willentliche Zielstrebigkeit
auch auf längere Zeitstrecken hin betrifft, kann vorhanden sein, trotz¬
dem ergibt sich eine verständliche Deckung zwischen Leistung und
Selbstschilderung.
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom.
(Zugleich ein Beitrag zur Klinik der infundibulären Prozesse.)
Von
Dr. Herrn. Josephy.
(Aus dem anatomischen Laboratorium [Prof. Dr. A. Jakob] der Psychiatri¬
schen Universitätsklinik und Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg [Dir.
Prof. Dr. Weygandt].)
Mit 3 Textabbildungen.
(Eingegangen am 2. März 1924,)
Im Jahre 1912 beschrieb Troegele in den Jahrbüchern der Ham-
burgischen Staatskrankenanstalten ausführlich einen Fall von Dys¬
trophia adiposogenitalis. Die Kranke Emma W., die den Gegenstand
seiner Arbeit bildete, ist nun 1915 in Friedrichsberg gestorben; sie hat
im Verlaufe der Erkrankung noch einiges geboten, das einer Mitteilung
wert ist, und vor allem hat sich bei der Obduktion ein so interessanter
Befund erheben lassen, daß eine eingehende Bearbeitung nötig erscheint.
Ich bringe zunächst kurz — unter Hinweis auf Troegeles Arbeit —
die Krankengeschichte 1 ).
Nach der von der Mutter erhobenen Anamnese war die am 9. IV. 1893 ge¬
borene Emma W. von Geburt an leicht schwachsinnig. Sie lahmte seit jeher auf
dem linken Bein. Keine Krämpfe. In der Schule bis zur 3. Klasse gekommen.
Mit 15 Jahren menstruierte sie zum erstenmal; die Periode blieb von da an regel¬
mäßig bis zum Beginn der jetzigen Erkrankung. 1910, als Emma W. 16 l / 2 Jahre
alt war, zeigten sich bei ihr die ersten Zeichen einer ernstlichen Erkrankung. Sie
starrte viel vor sich hin und war oft ganz geistesabwesend und verwirrt. Ge¬
legentlich traten Schwindelanfälle auf, sie fiel hin, konnte dann nicht wieder auf¬
stehen und wurde dabei auch besinnungslos. Es entwickelte sich eine Lähmung
der linken Seite, vor allem des linken Beins, und gleichzeitig nahm das Sehver¬
mögen mehr und mehr ab. Mit Beginn dieser Erkrankung zessierten auch die Menses.
Im Februar 1910 kam Emma W. in Friedrichsberg zur Aufnahme. Hier wurde
folgender Befund erhoben. Die 153 cm große Kranke wog 40 kg. Sie sah jünger
aus, als ihrem Alter entsprach. Auf der Brust und den Armen fanden sich einige
hellbräunliche Pigmentflecke („Leberflecken“), die sich nicht über das Niveau
der Umgebung heraushoben. Die linke Pupille war weiter als die rechte; beide
waren lichtstarr. Die Konvergenzreaktion war erhalten. Beiderseits bestand Stau-
1 ) Der Fall ist auch mehrfach von Herrn Prof. Weygandt demonstriert worden
(vgl. die Ref. dieser Zeitschr.: Ref. 5, 929. 1912 u. Ref. 3, 1916).
H. Josephy : Ein Fall von Porobnlbi© und solitärem, zentralem Neurinom. 63
ungspapille. Augenbewegungen frei. Facialisparese links. Sehnenreflexe links
lebhafter als rechts. Die Muskelkraft war links geringer als rechts. Beim Gehen
wurde das linke Bein nachgeschleift, und die Kranke taumelte nach links. Es
bestand eine Blasenstörung.
Psychisch war mäßiger Schwachsinn nachzuweisen. Die Stimmung war meist
albern-heiter. Auffällig war ein gelegentlicher schneller Wechsel der Stimmungs-
lage.
Die Wassermannsche Reaktion im Blut und Liquor war negativ. Der Druck
der Spinalflüssigkeit war erhöht.
Bald nach der Aufnahme verfiel die Patientin in einen Zustand starker Be¬
nommenheit. Sie war dauernd schläfrig, völlig apathisch, mußte gefüttert werden
und ließ unter sich. Die Sehkraft nahm mehr und mehr ab, die Symptome der
Halbseitenlähmung wurden noch deutlicher. Ende April 1910 war der Babinskische
Reflex links deutlich; ferner bestand auf dieser Seite ausgesprochener Fußklonus.
Die Papillenschwellung, die anfangs bestanden hatte, ging allmählich zurück,
und die Sehnervenscheibe wurde atrophisch. Die Kranke war völlig amaurotisch
geworden.
Dieser Zustand von Somnolenz blieb zunächst stationär. Anfang September
1910 ist notiert: Liegt, ohne sich zu rühren, im Bett; spricht spontan nicht, gibt
aber meist auf wiederholte Fragen Antwort. Muß dauernd gefüttert werden.
Behält die Speisen lange Zeit im Munde; Flüssiges fließt aus den Mundwinkeln
ab. Verschluckt sich häufig. Fängt oft, ohne ersichtlichen Grund, jämmerlich
an zu weinen, beruhigt sich aber bald wieder. Ist unsauber.
Am 21. XI. 1910 trat ein epileptiformer Anfall auf.
Etwa 8 Tage später setzte dann eine ganz auffällige Besserung des Zustandes
ein. Die Kranke umrde lebhafter , sprach spontan den Arzt an , war heiter , lachte ,
sang, machte Witze , ließ sich Märchen vorlesen usw. Diese gute Zeit hielt bis Dezember
1911, also fast ein ganzes Jahr , an. Gleichzeitig setzte die Menstruation wieder ein ,
und das Körpergewicht begann sich stetig und recht erheblich zu heben . Während die
Kranke am 1. I. 1911 noch 37,5 kg gewogen hatte, war sie am 1. VI. schon auf 50
und am 1. XII. auf 66 kg gekommen. Auch die Reflexstörungen gingen zurück;
doch blieb eine leichte Steigerung der Sehnenzeichen links von Bestand, ebenso
eine mäßige Rigidität des linken Armes.
Ende Dezember 1911 umrde die Patientin ziemlich plötzlich wieder somnolent,
sie erbrach häufig, ließ unter sich, und ab und zu traten auch epileptiforme An¬
fälle auf. Das Körpergewicht ging auf 58 kg zurück; die Menstruation blieb regel-
mäßig.
Im April 1912 setzte abermals eine plötzliche Besserung des Befindens ein, die
Benommenheit schwand, und die Kranke wurde heiter und zugänglich. Im Mai
1912 wurde im Krankenhaus St. Georg eine Punktion des rechten Seitenventrikels
vorgenommen, die keinerlei Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Tumors
ergab. Das gute Befinden der Kranken hielt weiterhin an; auch das Körper¬
gewicht begann wieder anzusteigen und betrug Ende 1912 75 kg. Die Menstruation
trat weiterhin regelmäßig auf. Es bestand weder Polyurie noch alimentäre Glyko-
surie. Neurologisch bestanden zu dieser Zeit keine Reflexdifferenzen; die Muskel¬
kraft war beiderseits gleich. Keine Sensibilitatsstörung, keine krankhaften Reflexe.
Ende 1913 erreichte die Kranke ihr Höchstgewicht von 79 kg. Mammae
und Abdomen waren besonders fettreich. Versuche, die Adiposität medikamentös
mit Pituglandol zu beeinflussen, hatten keinen wesentlichen Erfolg. Anfang 1914
fing eine zunächst geringe Gewichtsabnahme an; gleichzeitig machte sich eine
Polyurie (bis 2800 cm pro die) bemerkbar. Es traten wieder Schwindel- und
epileptiforme Anfälle auf. Psychisch wurde die Kranke stumpfer.
64
H. Josephy:
Von Juli 1914 an begann nun das Geuncht rapide abzusinken; im Dezember
wog Emma W. nur noch 50 kg; als sie am 15. XI. 1915 starb, war sie völlig
kachektisch und war bis auf 33 kg abgemagert. Die Scham- und Achselhaare
waren in dieser Zeit etwas spärlicher geworden. Die Menstruation zessierte seit
Ende 1914 all mählieh.
Mehrere Monate hindurch war die Kranke in dieser Zeit benommen,
zwischendurch traten ziemlich kurze freiere Intervalle auf. Die neurologischen
Symptome änderten sich nicht wesentlich. Der Exitus erfolgte plötzlich im Kollaps.
Die mitgeteilte Krankengeschichte läßt erkennen, daß sich bei der
schwachsinnigen, links lahmenden Emma W. im 17. Lebensjahr zwei
Reihen von Symptomen entwickelt haben, neurologische und ,,endo¬
krine“.
An neurologischen Zeichen treten zuerst die Erscheinungen einer
linksseitigen spastischen Lähmung auf; ferner entwickelt sich eine
Stauungspapille, die schnell zur Atrophie und völligen Amaurose führt.
Bald nach der Aufnahme wird die Kranke apathisch, benommen, das
Sensorium trübt sich, und die Reflexstörungen w r erden stärker. Nach
mehreren Monaten tritt ein plötzlicher und ganz überraschender Szenen-
wechsel ein : in wenig Tagen wird die Kranke frei, das Sensorium hellt
sich auf, und die Symptome der Halbseitenlähmung bilden sich weit¬
gehend zurück. Ein Jahr später ändert sich wueder das Bild. Die
Patientin wird abermals benommen, sie erbricht häufig und bekommt
mehrmals epileptiforme Anfälle. 3 Monate etwa dauert dieser Zustand,
um dann ebenso schnell und plötzlich abzuklingen wie das erstemal.
Erst D/ 2 Jahr später setzt abermals eine Verschlechterung ein, die mit
einigen kurzen Unterbrechungen bis zum Tode der Kranken anhält.
An „endokrinen* * Symptomen zeigt sich zu Beginn der Erkrankung
ein Zessieren der bis dahin regelmäßigen Menses. Als dann die erste
Periode von Somnolenz vorüber ist, tritt das Unwohlsein wieder auf
und bleibt jahrelang hindurch regelmäßig. Gleichzeitig entwickelt sich
eine Fettsucht, die mit einem Körpergewicht von 79 kg ihr Maximum
erreicht. Dabei entspricht die Verteilung des Fettes mit der Bevor¬
zugung der Mammae und des Abdomens ganz derjenigen bei der ,, hypo¬
physären “ Adipositas. Fast 2 Jahre vor dem Tode wird dann eine
Polyurie bemerkt, während die Hammenge bisher immer normal ge¬
wesen war, und bald darauf setzt eine geradezu rapide Abnahme des
Körpergewichts ein, so daß die Kranke bei ihrem Tode, der nach S 1 /,-
jähriger Krankheitsdauer erfolgt, nur noch 33 kg wiegt und das Bild
schwerer Kachexie bietet.
Die klinische Diagnose des Falles ist anfangs von Weygandi dahin
gestellt worden, daß es sich am ehesten um eine tumorartige Erschei¬
nung in der Gegend des rechten Pedunculus handeln dürfte; später
hat dann Troegele auf Grund des auffälligen Symptomen Wechsels an
eine Meningitis serosa gedacht.
Briihiü »lur^H den I^*nV rn&^lrr Oßtt in ii*r
Neben il^r Cyste difchl moti den Afl»t4£dlikU
Abb I
ÜuujW.
o«?J|}r m.f?tlia|S»rBrl.*j und ha» «km wobu* Thalamus in seinem vordemi
Abschnitt yfcitgtdiMid Kerstör{, imk^ri stark väpföhg*. f>ri dt>f
Hoho dt*.* Puiviimrs ist dtm Tujmr dann meid motu sicMhar.
Außer liio^or »h-viduviilHt stoiii-ti die Schnitte durrli das Oeilirn.nmt
»<• <ol»-2101*1 st hr f'igt iuirtbro Holden; ßs handelt stell um jo pflmitwn-
groUfc dte «rader tuiferiHitamikr noch irgendwie sieh t bar jflit
i.'H \ i-*itnkoin, noch mit dom Tumor in Vi-vtiiridung slohott , ihre
ist: völlig üh-M, ••i.o -md v..*n einer nmktoskopecli ganz nn -
j gp P^jietV 'Hirti^nlwV.-inr. i<«Oie erste dieser Hohlen liesumr
ne reell ton TtliitSuMi*,' seit iieh und oben. imh.m itnu Tumor.. und reicht
hiritoii Iris ins Pul vinar. 1 % zweite Pfv-t** kegjhniji gMeh rknu'iieh in {Ihr
KuhstantTf nigra; sie liegt vor allem in der roHueli "$<n<i der Brücken-
häufte rniii detmt sieh ruekwiiifs l>e ?,m:n Aüfong; des - 1 . Ventrikels am.,
•‘die von diesen Höhlen durchsoTzten T**»lo eis. hein.-M -t.u k •< oru-roliert;
Ot> U, .I>wphy:
,
ihrer grolireri Ausdehnung Die JNmshaulfes ist völlig austinRßder-
gedrängt wirf' irr. ihrem Umfang stark vx-rgvoUert. Neben der Oyst-
Uh4 durch eine dünne vmirkhaltbif: Lamelle von ihr getrennt liegt fler
üyifey •' /•'• ,* * ; '</ ; t ' " -jl ' y b;- ; . <y >;
?i ,rIie ytrhaltia^se noch
gyihiber. Ii\ eqür*D bhdmHt <iuri: ; h. fK^;:'der
Tumor eineu Teil des Tidiidtun* und ; ouehde/ inneren Kapsel zerstört.
i)ä$ Omdaium meluiAt recht schmal, die < Vpsula ir»ternä relativ luvit.
An ijfiT mM : '
Ih r in Ähh 2 «iargwielHe Schnitt geht durch Thalamus um! NneUms
ruber/ Der Hvdroccph^his, die Hatkenversebroälcnifjg, die vviYjimutn
;Por»%'*il trt!'.d!tn,»ilie.h.• zh erkeriäew hu recht eu Thulamu;*^ ej^cheine?v die
beiden t-’ysten.; sic* *ind durch e-ximi pkxtza'ehtimfciil
AM». | ^OiitlM tti iif-r !l»>t»r »in.« * * u jne.«j\ s«a'-k«-? Uyifru-
<** !>?%;»Ilus Livi -niws. U.»,!>."!) .mit Konux vcractitii&iörT. Bh •/ .< 00*
I.hi.Um» t'yatt*n. (»Hl T tlö/i im.U'rstr • , Ju{, -‘ »l « , 3 rsuiM;r j .
> . •-.. cmrli MftfK^'lieia^öeriitmrat
deutlich mifridtaitiye? Nidföterttt; An.der Basis sicht maii den hier schon
ijemlfoit UlWineu. Turn^ Er mt durch einen fc4ru*a Steifen mäkkiiÄliignr
Eisern v. !, .Ir r Lenach hurten l *ysie geschieden. Die erkrankte SfütL
dräng r .deutlich nach links heniher. Ein Vergleich LeiderSehhugel sw« je?.
oiah die Ly -itcii ‘‘Uicit wt>ent heben Ausbil!. m. der Markfa^enum nicht
horbmgefuhrf hüben.. -de yeHrungmi p,ü*h(\ ah sie xtusiOrcn. Die t
'Lfylnvnl«t.. sieh. unscharf geifvu das Mark' ab; Lei stärkerer \ . :
grbßerung Acht uuui sa 14 reiche .Jingo ümrUhäitu'cr Nerven in dmx TVme;
einst^ihl^ri und dtireii ihn f i$t$du rehzjeker*« Einige. AutT^lknigen m
He 11 i is] 7 hao*n;n.tck sind auvti luvr dcur.liefic'um! /.-v;u sowohl recht-
wie links; mV; sind offenbar *uiw\hmif^ig vbu der» f Arten und
Tumor
Auf Sohmttcii .durch die iNm-jia»lhc sieht; ü)an lasonders dcütl&|t :
dftH vlic in dgr 1 r;v.' Ihia StVe
diunt de? >1.ire.t'r,-.i >o» f c .o*tci «bis venv dc'utiicli
von
"VÖtP
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom. 67
Markscheidenpräparate aus dem verlängerten Mark und dem Rücken¬
mark bieten nichts Besonderes; nur scheint die rechte Pyramide oberhalb
der Kreuzung etwas auf gehellt zu sein.
Ich komme nun zur Beschreibung der histologischen Einzelheiten und
beginne mit der Schilderung des Baues der Wand der Höhlen. Schon das
Markscheidenbild läßt erkennen, daß hier größere Strukturverände¬
rungen nicht vorliegen können, denn die markhaltigen Fasern gehen
überall bis ganz dicht an den Rand der Hohlräume. Man sieht im
Weigertpräparat als Begrenzung der Höhlen nichts als einen ganz
feinen, schmalen, hellen Ge websstreifen. Bei entsprechend anderer
Färbung findet man, daß dieser Streifen sich zusammensetzt aus einer
Lage sehr kem- und faserarmer Glia. Von einer Auskleidung der
Höhlenwand durch Gliafasern kann aber gar keine Rede sein, wie auch
Astrocyten hier durchaus fehlen. In ganz geringer Menge finden sich
in diesem Saum Kömchenzellen, die mit Lipoiden oder auch mit Pig¬
ment beladen sind. Das Mesenchym beteiligt sich an der Wandbildung
überhaupt nicht; die Gefäße sind in dieser Gegend nicht vermehrt; die
vorhandenen erscheinen völlig normal, und vor allem sind nirgends auch
nur Andeutungen eines entzündlichen Vorgangs nachzuweisen.
Diesen eben geschilderten Bau weist die Wand der Höhlen an allen
Stellen auf; sie ist also überall in gleicher Weise äußerst einfach und
wenig differenziert gestaltet.
Ein wesentlich komplizierteres Bild bietet der Tumor . An den
meisten Stellen sieht man ein recht derbes Gewebe, das aus Zügen
einer fibrillären Grundsubstanz mit eingelagerten Kernen besteht. In
Hämotoxylin-Eosinpräparaten hat man zunächst den Eindruck eines
mäßig zellreichen Fibrosarkoms. Die Kerne sind durchweg von ziem¬
lich erheblicher Größe und von länglich ovaler Form. Sie besitzen ein
in feinem Netzwerk angeordnetes Chromatin; ein Kernkörperchen fehlt
meist. Vereinzelt findet man sehr große, rundliche oder unregelmäßig
geformte Exemplare. Die Grundsubstanz ist deutlich faserig. Im van
Gieson-Präparat nimmt sie einen hellbräunlichgelben Ton an. Bei stär¬
keren Vergrößerungen sieht man bei dieser Methode sehr deutlich ganz
feine zarte Fibrillen von gleichmäßiger Dicke. Sie sind in parallel¬
faserigen Zügen angeordnet und lassen Anfang und Ende nicht erkennen.
Diese Züge, die von verschiedener Breite sind, durchflechten sich viel¬
fach; sie sind im gleichen Präparat längs, schräg und quer geschnitten.
Verfolgt man sie genauer, so kann man öfter wirbelförmige Figuren
beobachten; man sieht auch ziemlich häufig, daß Längsbündel um¬
biegen und übergehen in solche, die quergetroffen sind. Es handelt
sich also offenbar nicht eigentlich um ein Durchflechten von verschie¬
denen Faserzügen, sondern man hat in den Präparaten Schnittbilder
durch ein regellos zusammengeknäueltes langes Band vor sich.
J f. Jgaepht
Die Kerne sind in diesen Fi!>riIIenzö.^i.tt gfcirdniyivÖig verteilt
Aix M\x Ul Ihre ISalii oft reichlicher ab in der Mitte. Gc-
legenllkd» lind-et - man kurze Strecken der Fiwrcüge überhaupt kemfrei,
uh a-ndem) StelU-i* liegen &ie nieder dichter beisammefü
t lefößo und Bimiege webtv die >delv durch Ihre lewehCond rote Färbe
im van Okvson-Fraparat Sö^ä^fev;sind iin Tmnö.c
spärlich. MM findet hier hik! da dünne Hiwiegewo!>slarndien zwischen
den Faserbümlein. In den Kandpartieri der Geschwulst öiiid häufiger
‘s ipp
mm
'-XMj.>?< >r halft *Jn»Tiiv*r. OlttG 4(i/Ut iMfes.- »ir»tl
LMuaM. Ilvl /Otfiäteii ri' l» tivriifritf« s»m:k‘eij. Vutä iiieftwv-*
tjfrUimv.. MiKxfi(‘tu’i ottta/uic .M'iitJkr»> Ver^oOeruafi.
■die* AciveHt.itialr^uare ;Vfer':ßeiTvik* erfüllt itnxl aü^eweitet durch Tumor-
rnassen. An diesen Shdlvn drängvm sieh 'zwischen die Faserbiindei, die
hi riehoffenbar; -cinm recht festen Zusammenhang feMeu, oft auch
Rnndzellei Lu grobe* Menge
Neinn« diesen soeben beschriebenen solideren Teilen der Gesrhwnbt
findoi inar» solche ^un einem Mehr löekeijeu Gefügte, Ko erscheinen hier
•.»ml. da die Fibrillen durch kleine Lücken •a(i^hmnder$2<drangt.• An
o udom* Ktelleu vctficrl ^ich die feerigr: ■$+ rufon** ührrha upG Man sieht
ein um kfcces i>!V)tO|dojs'cij.Bt:fe.che.s Ma.se iirmvcTlc und Kenten. SehlieBIich
cä Mch zur J3iMuug gi'bjjerce Hohlratxme,. in dkip&n. Wand oft
Bin Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom. 69
In allen Teilen des Tumors finden sich große Mengen von amorphen
Konkrementen, die sich intensiv mit Hämatoxylin färben. Sie bilden
längliche, wurst-, perlschnurförmige oder auch kolbige Gebilde.
Die weitere Untersuchung hat nun vor allem auf die färberische
Identifizierung der Fibrillen hingezielt. Es ist schon gesagt, daß sie
sich im van Gieson-Präparat bräunlichgelb gefärbt haben im Gegensatz
zu dem leuchtend roten Bindegewebe, und es ist auch auf keine Weise
gelungen, sie mit dem Fuchsin des Gemisches anzufärben. Auch alle
anderen spezifischen Bindegewebsmethoden, vor allem das Tannin¬
silber, haben versagt. Das gleiche gilt für die Gliafärbungen. Auch
hier sind, wie schon nach der Struktur der Fibrillen zu erwarten war,
alle Färbeversuche negativ ausgefallen, während die reaktive Glia¬
wucherung in der Umgebung des Tumors sich gut hat tingieren
lassen.
Recht schöne Bilder erhält man bei der Anwendung des Heiden-
hainschen Eisenhämatoxylins. Bei vorsichtiger Differenzierung färben
sich hier die Fibrillen als zarte, gleichmäßig dünne Gebilde grauschwarz
an. Um die Kerne herum erkennt man vielfach einen schmalen, leicht
gelblich gefärbten Plasmaleib. Entfärbt man noch weiter, so ver¬
schwinden die Fibrillen vollständig, und man sieht eine leicht angefärbte
Grundsubstanz, in der sie offenbar liegen. Sie besteht aus breiteren
oder schmäleren Bändern, in denen die Kerne verteilt sind. Es handelt
sich also um eine Art langgestreckter, syncytialer Verbände. Ähnliche
Bilder erhält man mit Fuchsin-Lichtgrün. Auch hier sieht man diese
verschieden breiten Plasmabänder, die gut voneinander isoliert er¬
scheinen. Zwischen den dünneren findet man vielfach spindelige Zellen
mit einem deutlichen lockeren Plasmaleib, während in den dickeren
die Kerne eingelagert sind. Das ganze Gewebe färbt sich mit dieser
Methode deutlich grün im Gegensatz zu den roten Gliafasern der re¬
aktiven Wucherung am Rande des Tumors.
Die Fuchsin-Lichtgrünpräparate lassen weiterhin noch Einzelheiten
an den vorhin erwähnten Konkrementen im Tumor erkennen. Sie
färben sich ebenfalls leuchtend rot und heben sich so sehr deutlich
heraus. Man sieht ihre Anfangsstadien in Form von kleinsten, reihen¬
förmig gelagerten Körnchen in den grün gefärbten Zellbändem liegen.
Durch Vergrößerung füllen sie diese fast in ihrer ganen Breite aus, sie
fließen zusammen, und so entstehen die oben beschriebenen länglichen,
wurst- und kolbenförmigen Gebilde.
Im Bielschowsky- Präparat lassen sich in der Geschwulst zahlreiche
Silberfibrillen erkennen, wie ja auch im Weigert-Schnitt ganze Züge
von Markscheidenbündeln zu sehen waren. Es handelt sich dabei sicher
in der Hauptsache um erhaltene Himsubstanz, in die der Tumor ein¬
gewuchert ist; ob auch eine Neubildung von Nervenfasern stattgefunden
70
H. Josephy:
hat, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Es kann aber eine solche
höchstens in ganz geringem Maße stattgefunden haben.
Bei der weiteren Untersuchung des Gehirns und des Rückenmarks
haben sich keine wesentlichen Veränderungen mehr gefunden, abgesehen
von einer mäßigen Zellverarmung mancher Rindenstellen (Folge des
Hydrocephalus?) und von frischeren Schädigungen der Nervenzellen,
die wohl auf die Kachexie bzw. die Agone zurückzuführen sind. Zu
erwähnen ist noch eine kleine Heterotopie: in der Centralis anterior
liegt eine Beiz sehe Pyramide in der zweiten Schicht.
Der Nervus opticus ist völlig marklos und degeneriert.
Vom peripheren Nervensystem haben mir leider nur ein paar mit
den Halsorganen zusammen herausgenommene Nerven zur Verfügung
gestanden. Weder an diesen noch an der ebenfalls konservierten Cauda
equina haben sich krankhafte Veränderungen, insbesondere Tumoren
oder dgl. finden lassen.
Von den endokrinen Drüsen ist vor allem die Hypophyse interessant.
Bei der Obduktion schien es so, als ob sie flachgedrückt und ziemlich
verkleinert in der Sella läge. Der Stiel war nicht zu finden. Die histo¬
logische Untersuchung, die z. T. auf Serienschnitten vorgenommen
wurde, hat ein etwas anderes Bild ergeben. Es hat sich gezeigt, daß der
Hypophysenstiel mit dem gerade in dieser Gegend stark cystischen
Tumor breit verwachsen ist. Die Neurohypophyse und der Zwischen¬
lappen sind komprimiert, sonst aber unverändert; der Vorderlappen
läßt außer einer mäßigen Hyperämie nichts Krankhaftes erkennen.
Die übrigen inneren Organe lassen keine nennenswerten Verände¬
rungen erkennen. In den — normal großen — Ovarien finden sich
einige Corpora albicantia. Die im Aufnahmebefund erwähnten Haut¬
flecken zeigen im Mikroskop eine starke Pigmentation der Zellen des
Stratum Malpighi, auch im Corium liegen einzelne Chromatophoren.
,,Naevus“zellen fehlen dagegen.
Die anatomische Untersuchung hat also ein recht kompliziertes Bild
gezeigt. Es haben sich erstens, von der Ponshaube bis in den rechten
Thalamus reichend, zwei Cysten gefunden, die dadurch charakterisiert
sind, daß sie weder untereinander noch mit dem Ventrikel in Zusammen¬
hang stehen, und daß ihre makroskopisch glatte Wand im Mikroskop
weder einen Ependymbelag noch irgendwelche wesentliche gliöse oder
mesenchymale reaktive Veränderungen zeigt. Zweitens hat sich, neben
diesen Höhlen gelegen, aber offenbar nicht mit ihnen zusammenhängend,
ein größerer Tumor mit deutlich infiltrierendem Wachstum gefunden.
Er besteht aus einer feinfaserigen Grundsubstanz, in die Kerne in
mäßiger Menge eingelagert sind. Ich halte diese Geschwulst für ein
Neurinom (Verocay). Diese Diagnose stützt sich
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom.
71
1. auf das färberische Verhalten der Grandsubstanz: bräunlichgelbe
Tinktion mit dem van Gieson-Gemisch, Versagen jeder spezifischen
Bindegewebs- und Gliafärbung.
2. auf die morphologische Struktur der Grundsubstanz: sehr feine,
endlose, parallel liegende Fibrillen, die in Bündeln angeordnet sind.
Diese bilden oft wirbelförmige Figuren.
3. auf die Anordnung der Kerne: die pallisadenartige Stellung ist
zwar nicht deutlich ausgesprochen, sie ist aber angedeutet in der un¬
gleichmäßigen Verteilung der Kerne, die einzelne Strecken der Fibrillen¬
bändel frei lassen.
Differentialdiagnostisch kommt das Gliom und das Fibrosarkom in
Frage. Als beides ist der Tumor bereits angesprochen (Weygandt 1916
und Verfasser 1922). Es lagen damals im wesentlichen nur Hämatoxylin-
Eosinpräparate vor, und zwar Serien aus der Gegend des Tumors, die
der Sella turcica anlag. Beide Diagnosen lassen sich bei genauerem
Studium der Grundsubstanz der Geschwulst nicht aufrecht erhalten.
Diese erscheint vielmehr als ein durchaus besonderes Gewebe, das
sich sowohl durch sein tinktorieUes Verhalten als auch durch seine morpho¬
logische Struktur auszeichnet und weder Glia noch reifes oder unaus -
gereiftes Bindegewebe ist . Es stimmt völlig mit dem überein, was für das
Neurinom als typisch beschrieben wird. Ich verweise hierfür vor allem
auf die Schilderung von Verocay und von Antoni und aus neuester
Zeit auf die Mitteilung von Kirch . Auf einige Einzelheiten unseres
Falles darf kurz hingewiesen werden. So scheint mir aus den mit Eisen-
hämotoxylin nach Heidenhain gefärbten Schnitten mit ziemlicher Sicher¬
heit hervorzugehen, daß die Fibrillen des Neurinoms in einer plasma¬
tischen Grundsubstanz liegen. Sie verhalten sich in diesem Punkte also
ähnlich wie die Gliafasern. Etwas auffällig ist ferner das infiltrative
Wachstum der Geschwulst, das in einem gewissen Gegensatz zu dem
nur mäßigen Kemreichtum steht. Bei den peripheren Neurinomen —■
oder vorsichtiger gesagt, bei den peripheren Tumoren der Reckling-
hausenschen Krankheit — sieht man ja häufiger eine „sarkomatöse“
Entartung, aber die Geschwülste sind dann sehr viel zellreicher und
gleichen in ihrem Aufbau einem Sarkom. Die oben beschriebenen
reichlichen Ablagerungen von Konkrementen möchte ich mit der ge¬
ringen Gefäß Versorgung des Tumors in Verbindung bringen; sie ent¬
spricht wohl den Verkalkungen, die sich in schlecht durchbluteten
Bezirken des Gehirns, z. B. in und neben Kavemomen, öfter finden.
Die Diagnose unseres Tumors stützt sich lediglich auf sein morpho¬
logisches Verhalten. Die typischen Neurinome sind bekanntlich Ge¬
schwülste des peripheren Nervensystems und finden sich meistens mul¬
tipel, oft in sehr großer Zahl (Recklinghausensche Neurofibromatose).
Es unterliegt aber keinem Zweifel mehr, daß typische Neurinome auch
72
H. Josephy:
im Zentralnervensystem Vorkommen. Antoni zählt 1919 37 Fälle von
Neurofibromatose mit zentralen Veränderungen auf; in 8 von ihnen
glaubt er, daß es sich um zentrale Neurinome handelt. Dazu kommt
neuerdings noch ein Fall von Molter 1 ) und einer von Kirch. Allerdings
fanden sich in . allen bisher beschriebenen Beobachtungen die Knoten
im Zentralnervensystem neben zahlreichen an den peripheren Nerven-
stämmen. Ein solitäres Neurinom des Gehirns ist bisher meines Wissens
nicht bekannt, und in dieser Beziehung stellt unser Faü ein Unikum dar .
Der Begriff des Neurinoms als eines spezifischen Tumors stammt von Verocay .
Es haben zwar vor ihm schon verschiedene Autoren die Geschwülste bei der Reck-
linghausenschen Krankheit auf die Schwannschen Zellen zurückgeführt, aber er
hat als erster unter Verwertung der damals neuen Ergebnisse der Entwicklungs¬
geschichte die ektodennale Natur der Neurinome erkannt und damit auch eine
Erklärung dafür gegeben, daß sich ihr Vorkommen auf das Gebiet des Nerven¬
systems beschränkt. Er hat auch eine Theorie gegeben, die die im Gehirn und
Rückenmark gefundenen Veränderungen mitumfaßt. Nach seiner Auffassung
liegt der „Systemerkrankung“ Neurofibromatose eine „Entwicklungsstörung der
spezifischen Elemente des Nervensystems zugrunde, welche Zellen betroffen haben
kann, die fähig sind, Ganglien-, Glia- und Nervenfaserzellen zu liefern (Neuro-
gliocyten Heids)“. Die Geschwülste, die er in Beinen beiden Fällen im Gehirn
bzw. im Rückenmark gefunden hat, spricht er als Gliome an. Die Neurinome
sind für ihn gebunden an die Stellen, wo Schwannsche Zellen Vorkommen, also
an die peripheren Nerven.
Der Theorie Verocay8 ist in der Literatur zunächst durchweg zugestimmt
worden. Einschränkungen verschiedener Art wurden allerdings gemacht. Sie be¬
zogen sich erstens auf die Beteiligung des Bindegewebes, dem u. a. Herxheimer
und Roth eine ^wesentlichere Rolle beilegen als Verocay , indem sie auch in ihm
einen Geschwulstbildner sehen. Ferner ist die Frage der Neubildung von Nerven¬
fasern in den Neurinomen von BielschowsJcy und Pick in einer bekannten Arbeit
dahin gelöst worden, daß als feststehend angenommen werden kann, daß es sich
hier um eine Regenerationserscheinung und nicht um ein tumoröses Wachstum
handelt. Eine große Schwierigkeit der Theorie Verocays, die er selbst auch keines¬
wegs übersieht, liegt darin, daß sich bei der Neurofibromatose recht oft auch
bindegewebige Tumoren der Dura (Endotheliome und Psammome) finden. Verocay
spricht davon, daß sich auch das dem Zentralnervensystem anhegende Mesoderm
abnorm entwickeln könne, ohne aber eine genauere Erklärung dieser Tatsache
zu geben.
Eine neue Theorie der Neurinome stammt von Antoni . Er läßt die Neuro-
gliocyten als Ureprongselement der Tumoren fallen und leitet sie von den fötalen
Vorstufen der Schwannschen Zellen, die er als Lemmoblasten bezeichnet, ab.
Das Material hierfür hegt ursprünglich in der Ganglienleiste. Um die Genese der
zentralen Neurinome zu erklären, greift er auf jenes frühe Stadium der Entwick¬
lung zurück, in dem die Ganglienleiste zu einem großen Teil intramedullär gelegen
ist. Er hat durch eigene embryologische Untersuchungen nachweisen können,
daß nicht alle Zellen der Ganglienleiste aus dem Medullarrohr auswandem. Ein
Teil bleibt vielmehr hegen und fällt im allgemeinen regressiven Veränderungen
anheim. Die zentralen Neurinome „stammen aus der intramedullären Periode
bzw. der dort (im Medullarrohr) zurückgebliebenen Portion der Ganglienleiste“.
x ) Zit. nach Wallner .
Ein Fall von Porobulbie and solitärem, zentralem Neurinom.
73
Diese Theorie Antonis ißt sicher sehr ansprechend. Sie beschränkt
die Geschwulstmatrix auf ein einzelnes, gut charkterisiertes Element
und macht so den einförmigen Bau der typischen Neurinome ebenso
verständlich wie die Tatsache, daß sich an den peripheren Nerven
fast nur reine Neurinome entwickeln. Auch für unseren Tumor
reicht sie aus. Er läßt sich ableiten aus dem vordersten Abschnitt
der Ganglienleiste; er erfüllt sogar eine von Antoni auf gestellte, bisher
aber nicht durch eine tatsächliche Beobachtung belegte Forderung , daß es
nämlich auch solitäre zentrale Neurinome geben müsse .
Es muß hier aber betont werden, was auch Antoni selbst zugibt,
daß diese Theorie in keiner Weise hinreicht, um das ganze Bild der
Neurofibromatose zu erklären. Alle die zahlreichen Befunde, die außer
den Neurinomen erhoben werden, bleiben von ihr ganz imberücksichtigt.
Sie sind aber zweifellos recht wesentliche Dinge und nicht nur akziden¬
telle Vorkommnisse. Hier sind zunächst die zahlreichen Mißbildungen
bei dqn Fällen von Recklinghausenscher Krankheit zu erwähnen
(Schwimmhautbildung, Spina bifida u. a.). Ihnen schließen sich die
häufigen abnormen Pigmentationen der Haut an. So hat u. a. Hoff-
mann 1 ) auf die engen Beziehungen mancher Naevi zur Neurofibro¬
matose hingewiesen. Heuer 1 ) rechnet die Fälle von schwimmhosen¬
förmigem Naevus direkt zum Morbus Recklinghausen. Auch das
Adenoma sebaceum wird beobachtet und leitet schon über zur tube¬
rösen Sklerose. Die engen Beziehungen, die hier bestehen, sind be¬
kannt; manche Fälle von Neurofibromatose zeigen in der Hirnrinde
kleine Herdchen mit denselben eigenartigen atypischen Zellen, die ein
Charakteristikiun der tuberösen Sklerose sind 2 ). Weitere Berührungs¬
punkte ergeben sich mit den echten Neuromen. Pick und Bielschowsky
haben in ihrem System der Neurome auch die Neurinome untergebracht;
daß dies richtig ist, zeigt evident eine neuere Beobachtung von Obern¬
dorfer . Dieser fand in der nächsten Blutsverwandschaft eines Mannes
mit „partiellem, primärem Riesenwuchs des Wurmfortsatzes, kom¬
biniert mit Ganghoneuromatose“, typische Fälle von Recklinghausen¬
scher Krankheit. Hier ist also die enge Beziehung neuromatöser Bil¬
dungen mit der Neurofibromatose durch die Erblichkeitsverhältnisse
belegt.
Es würde sich nun die ganze Mannigfaltigkeit der eben aufgezählten
Erscheinungen unter den Begriff der Entwicklungsstörungen des Ekto¬
derms subsumieren lassen. Aber auch das erscheint nicht ausreichend,
um das ganze Bild der Recklinghausenschen Krankheit zu umspannen.
x ) Referiert in dieser Zeitschr. Ref. 15 , 40 u. 303. 1918.
*) Vgl. dazu auch die interessante Arbeit von v. d, Hoeve , Augengeschwülste
bei der tuberösen Hirnsklerose und verwandten Krankheiten. Arch. f. vergl. Ophth.
III. 1923.
74
H. Josephy:
Denn die so häufige Beteiligung des Mesoderms, wie sie in den Dura-
tumoren und auch in der immer wieder hervorgehobenen geschwulst¬
mäßigen Wucherung des Bindegewebes in den peripheren Knoten zum
Ausdruck kommt, bleibt dabei unerklärt. Es ist m. E. nur möglich,
auf den recht vagen Begriff einer allgemein fehlerhaften Keimanlage
zurückzugreifen. In diesem Rahmen ist dann allerdings meistens das
Ektoderm stärker betroffen als das Mesoderm, vom Ektoderm die
Medullarplatte wieder mehr als das Hornblatt, von dieser wieder die
Ganglienleiste mehr als der übrige Anteil. Für die Fälle mit reiner
Neurinombildung ist mit der Differenzierung der Ganglienleiste auch
eine gut begrenzte blastogenetische Terminationsperiode gegeben.
Marburg, der an einem sehr schönen Fall Beziehungen der Neurinome
auch zu den neuroepithelialen Blastomen aufgezeigt hat, unterscheidet
drei Phasen, d. h. Terminationsperioden für das zeitliche Einsetzen
von Entwicklungsstörungen, die am Zentralnervensystem die Basis für
eine Geschwulstentwicklung abgeben können. Die erste Phase reicht
bis zu der Zeit, wo sich das Neuralrohr schließt, und liegt vor der Ab¬
schnürung der Ganglienleiste. Sie umfaßt die Zeit vor der Differen¬
zierung der Elemente; ihr entsprechen neuroepitheliale Tumoren. „Die
zweite — die Phase während der Differenzierung — muß bereits zentral
alle Elemente (Ganglienzellen, Gliazellen, Ependymzellen) enthalten
können oder, wenn sie von der Ganglienleiste ausgehen, Ganglienzellen
und Neurinomgewebe.“ Diese Phase reicht bis zum dritten Monat
einschließlich. Dann beginnt die dritte Phase; die Bildungen aus ihr
müßten bereits die Zeichen funktioneller Leistungen der Elemente an
sich tragen. Die Entwicklungsstörung, die der Geschwulst unseres
Falles zugrunde gelegt werden muß, wäre also in die zweite Phase
Marburgs zu verlegen, also in die Zeit vor dem vierten Monat.
Mit der Feststellung, daß unser Tumor auf einen Bildungsfehler
zurückzuführen ist, ist natürlich noch in keiner Weise erklärt, weshalb
sich aus dieser Entwicklungsstörung überhaupt eine Geschwulst ge¬
bildet und weshalb dies krankhafte Wachstum gerade in einem be¬
stimmten Lebensalter des Trägers eingesetzt hat. Mit Recht weist
Marburg darauf hin, daß bei den auf Bildungsfehlem beruhenden Neu¬
bildungen „man sich über die Frage des Bildungsfehlers vielfach klarer
ist als über die Frage, warum dieser gerade in einem bestimmten Augen¬
blick sich zur Neubildung entwickelt“. Für unseren Fall kann man als
kausalgenetisches Moment höchstens den Zeitpunkt des Beginns des
geschwulstmäßigen Wachstums in Anspruch nehmen. Klinische Er¬
wägungen, auf die bei der Epikrise noch eingegangen werden soll,
machen es wahrscheinlich, das hierfür die beginnende Pubertät an¬
zusetzen ist. Es liegt nahe, in der allgemeinen Umstellung des Körpers
in dieser Periode einen wichtigen auslösenden Faktor zu sehen.
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom. 75
Ich wende mich nun zur Besprechung der eigenartigen Höhlen¬
bildungen, die sich im Thalamus und Pons gefunden haben. Es ist
bereits hervorgehoben, daß sie zum Tumor keine weiteren Beziehungen
haben außer der, daß sie ihm direkt benachbart sind. Was an ihnen
vor allem auffällt, ist die sehr einfache Struktur ihrer Wand. Es sind
hier weder Abräumzellen noch reaktive Wucherungen bindegewebiger
oder gliöser Elemente zu finden. Daraus geht hervor, daß es sich nicht
um einfache Erweichungscysten handelt. Ebensowenig können die
Hohlen, wie ihre unsymmetrische Lage und das Fehlen jeder Beziehung
zum Ventrikel zeigt, auf eine Entwicklungsstörung zurückgeführt
werden. Um was handelt es sich also? Ich glaube, man geht nicht
fehl, wenn man diese Hohlräume mit einer fötalen , vor der Markreifung
sich abspielenden Erkrankung des Gehirns in Verbindung bringt . Ich
beziehe mich zur Begründung dieser Ansicht auf die schönen Experi¬
mentaluntersuchungen von Spatz. Dieser konnte zeigen, daß bei Lä¬
sionen des Rückenmarks neugeborener Tiere die Zerfallserscheinungen
sehr viel rascher und einfacher ablaufen als beim Erwachsenen und vor
allem, daß die Zerfallsprodukte hier sehr vollständig und ohne wesent¬
liche bindegewebige oder gliöse Residuen verschwinden. Es bildet sich
ein „Porus“ mit sehr einfach gebauter Wand, die im wesentlichen von
Gliazellen unter Bildung einer „Membrana gliae limitans accessoria“
geliefert wird. Spatz selbst hat auf die Wichtigkeit seiner Befunde für
die menschliche Pathologie schon hingewiesen und sich besonders mit
ihrer Bedeutung für das Verständnis der Porencephalie und gewisser
Formen der Syringomyelie befaßt. In unserem Fall, in dem man von
Syringobulbie oder unter Anlehnung an Spatz besser von Porobulbie
reden kann, dürfte eine ganz typische Porusbildung im Sinne von
Spatz vorliegen, das Residuum also eines Krankheitsprozesses, der sich
an dieser Stelle in dem noch nicht ausgereiften Organ abgespielt hat.
Als Terminationsperiode für die Porusbildung haben wir mit Spatz die
Zeit der Markreifung anzusetzen. Da ein Teil der Gegend, in der die
Höhlen liegen, schon bei jüngeren Föten viele myelinisierte Achsen¬
zylinder enthalt 1 ), so kann man den Termin, an dem der anzunehmende
Krankheitsprozeß sich spätestens abgespielt haben muß, sehr früh in
der fötalen Entwicklung ansetzen. In diesem Sinne ist vielleicht auch
der Umstand zu verwerten, daß die Pori eigentlich sehr wenig von der
Hirnmasse zerstört haben. Ich stelle mir vor, daß es sich ursprünglich
um einen oder zwei sehr kleine Herde gehandelt hat, und daß die ent¬
standenen Pori später eine passive Erweiterung — vielleicht im Zu¬
sammenhang mit dem Wachstum des ganzen Gehirns — erfahren haben.
l ) Präparate von einem 4monatigen Foetus zeigen mir in der Ponshaube
»cbon recht reichlich paraplastische Substanz. Herrn Dr. Hayashi verdanke ich
sehr schöne Schnitte von einem Foetua aus dem 5. Monat. Hier ist gerade die
Porwbaube schon weitgehend myelinisiert.
7G
H. Josephy:
Wir sehen also nebeneinander die Residuen eines weit in die Fötal¬
periode zurückzudatierenden Krankheitsprozesses und einen Tumor , der
auf eine Erdwicklungsstörung hinweist. Das führt auf die Frage, ob
diese beiden Befunde etwas miteinander zu tun haben. Es liegt auf
der Hand, daß hier mehr vorliegt als ein nur zufälliges Zusammen¬
treffen. Dafür sprechen schon die engen räumlichen Beziehungen der
Geschwulst und der Pori; auch die embryonale Entstehung der letzten
ist in gleichem Sinne zu verwerten. Man kann mm den zurückgeblie¬
benen bzw. nicht resorbierten Rest der Ganglienleiste kaum als die
Ursache der Einschmelzung benachbarten Himgewebes ansehen. Wohl
aber kann man sich unschwer vorstellen, daß der porusbildende Prozeß
seinerseits die Veranlassung zu einer fehlerhaften Entwicklung gegeben
hat. Man kann annehmen, daß irgendeine Noxe, sei sie traumatischer,
sei sie infektiöser oder toxischer Natur, eine circumscripte Stelle des
fötalen Gehirns getroffen hat — die Narbe davon sehen wir in den
Pori —, und daß infolgedessen die normale Entwicklung der in der
Nachbarschaft liegenden Ganglienleiste gestört ist. Es entspricht diese
Auffassung den Gedanken, die Spatz über die Entstehung der Mi߬
bildungen, vor allem der Mikrogyrie, als Begleiterscheinung der Poren-
cephalie äußert. Ein Einwand kann allerdings vor allem gegen diese
Deutung unserer Befunde gemacht werden, daß nämlich damit die
Initialläsion für die Pori zu frühzeitig angesetzt wird. Denn man muß
sie, wenn die Terminationsperiode der Neurinome, wie Marburg es
will, richtig mit dem Ende des dritten Fötalmonats gegeben ist, in
ungefähr die gleiche Zeit legen. Dem ist entgegenzuhalten, daß Jacoby
(zit. nach Spatz) bei einem Schweinsembryo von nur vier Zentimeter
Länge im Cervicalmark eine Höhle gefunden hat, die Spatz mit Recht
als einen durch Gewebszerfall entstandenen Porus ansieht. Die Mög¬
lichkeit einer außerordentlich frühen Entstehung solcher Pori darf
demnach als gesichert gelten.
Ich sehe also die dem Tumor zugrunde liegende Entwicklungsstörung
als eine peristatische an und setze sie in Abhängigkeit von einer in ihren
Residuen noch nachweisbaren exogenen Schädigung. Ich glaube hiermit
zu einer plausiblen, wenn auch letzten Endes nicht beweisbaren formal-
genetischen Erklärung des auffälligen Gesamtbefundes zu kommen;
man versteht vor allem, daß sich neben dem zentralen Neurinom
weitere, in den Rahmen der Recklinghausenschen Krankheit fallende
Veränderungen nicht finden 1 ).
*) Man könnte höchstens die im Aufnahmebefund erwähnten Hautpigmenta-
tionen hierher rechnen. Ich habe leider nicht eruieren können, ob sie angeboren
waren. Ihre histologische Struktur, ihre Unabhängigkeit vom Nervenverlauf und
letzten Endes auch das Fehlen peripherer Tumoren sprechen jedenfalls dagegen,
daß sie in den Bereich dessen fallen, was zum Morbus Recklinghausen gehört.
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom. 77
Ein© gleiche oder auch nur ähnliche Beobachtung wie die hier be¬
schriebene findet sich in der Literatur nicht. Gewisse Berührungspunkte
bestehen aber zu dem bekannten Fall von Syringomyelie, den W. Oerlach
mitgeteilt hat.
Es handelt sich um einen an einem 38 jährigen Mann erhobenen
Befund. Hier fand sich von der Medulla oblongata an abwärts bis ins
Dorsalmark eine Höhle; in ihr lag im Halsmark ein Tumor, der die
verschiedensten mesodermalen Bestandteile enthielt, und der deshalb
als Teratom angesprochen wurde. Spatz nimmt diesen Fall für seine
Theorie von der „Poromyelie“ in Anspruch; er hält die Höhlenbildung
für das Endstadium eines während der Entwicklungsperiode auf-
getretenen Destruktionsprozesses. Wir hätten also auch hier das
Nebeneinander eines „Porus“ und eines dysontogenetischen Tumors.
Das Teratom könnte nach Spatz darauf hindeuten, daß der hypo¬
thetische, zur Porusbildung führende Prozeß in einem sehr frühen
Stadium der Entwicklung eingetreten sei oder doch begonnen habe.
Der Gerlachsche Fall liegt allerdings nicht ganz so durchsichtig wie
der unsere. Spatz selbst findet in manchen histologischen Einzelheiten,
die hier nicht weiter zu besprechen sind, Schwierigkeiten, die seiner
Auffassung widerstreben. Es ist auch gerade diese Beobachtung von
BUlschowsky und Unger als ein Beweis angezogen für eine andere
Theorie der Syringomyelie, die dahin geht, daß diese sowie die ihr
wesensgleiche Gliose sich „nur auf dem Boden von frühembryonalen
Entwicklungsstörungen ausbilden können“. Diese Störungen sind endo¬
gener Natur und werden nicht durch die Einwirkung exogener Schäd¬
lichkeiten auf das embryonale Nervensystem hervorgerufen. Ich wage
nicht zu entscheiden, welche Ansicht in bezug auf den Oerlach sehen
Fall die richtige ist; ich habe ihn vor allem deshalb hier angeführt,
weil der Befund immerhin ähnlich liegt wie in unserem Fall und eine
ähnliche Deutung wenigstens zuläßt. Das Vorkommen einer dysonto¬
genetischen Oeschurulst spricht jedenfalls nicht immer dafür , daß daneben
bestehende andere Anomalien endogen und nicht exogen bedingt sein
müssen.
Ich komme nun auf die Klinik des Falles zurück und will versuchen,
auf Grund des anatomischen Befundes eine Epikrise zu geben.
Für den angeborenen Schwachsinn der Emma W. hat die histo-
pathologische Untersuchung keine Unterlage gezeigt. Wohl aber scheint
die anscheinend seit früher Kindheit bestehende Gehstörung — die
Kranke soll ,,s£it jeher“ gelahmt haben — erklärt; es ist nicht un¬
wahrscheinlich, daß sie auf die Pori zurückzuführen ist, sei es auf dem
Wege der Thalamusschädigung, sei es über den roten Kern. Etwas
Genaueres über die Art der Störung ist ja leider nicht bekannt; ich
lege auch vor allem Wert auf die Feststellung, daß bereits lange vor
78
H. Josephy:
dem Auftreten der schweren klinischen Erscheinungen Anzeichen dafür
nachweisbar sind , daß eine umschriebene Erkrankung des Zentralnerven¬
systeme bestanden hat ; dadurch wird die Annahme einer frühzeitigen
Entstehung der Pari jedenfalls unterstützt .
Die ersten schweren Krankheitssymptome nun haben sich etwa im
16. Lebensjahr der Patientin entwickelt, einige Monate nach der Me¬
narche. Man geht wohl nicht fehl, wenn man ihren Beginn gegen den
Termin, an dem die Emma W. in die Klinik kam, etwas zurückdatiert.
Die Beschwerden, die sich in dieser Zeit entwickeln, deuten ohne Zweifel
auf das Tumorwachstum hin. Es handelt sich um allgemeine Druck¬
erscheinungen von seiten der Geschwulst; außerdem haben sich Re¬
flexdifferenzen gezeigt, die sich lokalisatorisch aus dem anatomischen
Befund ohne Schwierigkeit erklären lassen. Es ist unnötig, hierauf
und auch auf die Opticusatrophie näher einzugehen.
Im Verlauf der Erkrankung ist vor allem eins auffällig: das ist der
mehrfache plötzliche Wechsel in der Schwere der Allgemeinsymptome.
Zweimal finden wir verzeichnet, daß die Kranke, die monate- oder
wochenlang benommen dalag, im Verlauf von wenigen Tagen erwachte;
die schweren Himdrucksymptome bildeten sich in kürzester Zeit zu¬
rück, das Sensorium wurde völlig frei, und sogar die Reflexanomalien
besserten sich. Troegele hat mit Recht diese Erscheinungen für äußerst
auffällig gehalten; er ist aber fehlgegangen, wenn er sie auf eine seröse
Meningitis bezogen hat. Es kommen ja Remissionen bei Tumoren des
Gehirns so häufig vor, daß sie, wie u. a. Pette ausführt, gegen die
seröse Meningitis differentialdiagnostisch nicht zu verwerten sind. Es
ist aber nicht zu verkennen, daß in unserem Fall der Rückgang
der Symptome zweimal so plötzlich und überraschend erfolgt ist,
daß auch nachträglich trotz nachgewiesener Geschwulst Schwierig¬
keiten in der Deutung bestehen bleiben. Ich möchte annehmen, daß
zwar der wachsende Tumor die allgemeinen Drucksymptome ver¬
ursacht hat, daß aber bei den plötzlichen Remissionen die Pori irgend¬
wie im Spiele gewesen sind. Ich denke daran, daß sich ihr flüssiger
Inhalt unter dem Einfluß des steigenden Druckes plötzlich in den
Ventrikel entleert hat und von hier aus zur Verteilung oder Resorp¬
tion gekommen ist.
Vor ein sehr viel schwierigeres Problem als die neurologischen Er¬
scheinungen unseres Falles stellen uns die „endokrinen “. Wir sehen
zunächst — zeitlich etwa zusammenfallend mit dem stärkeren Wachs¬
tum des Tumors — sich eine Fettsucht entwickeln, die in ihrer Verteilung
der des Fröhlich sehen Syndroms entspricht . Gleichzeitig aber und ent¬
gegen dem, was wir sonst bei der Dystrophia adiposogenitalis zu sehen
gewohnt sind, setzen die Menses, die bis dahin sistiert hatten, wieder
ein. Diese gegenseitige Unabhängigkeit der Fettsucht und des Dys-
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom.
79
genitalismus ist schon öfter beobachtet worden; sie gibt einen Hinweis
auf die Kompliziertheit der zugrunde liegenden Funktionsstörung . Das
Überraschende unseres Falles liegt aber in dem Zustandswechsel, der
16 Monate ante mortem eintritt. Es beginnt ein ganz rapider Absturz
des Körpergewichts ; in kurzer Zeit entwickelt sich das Bild einer schweren
Kachexie , die Menses cessieren und es tritt zeitweise eine Polyurie auf.
Das ist eine ganz ungewöhnliche und im Verlauf der Dystrophia adiposo-
genitalis bisher nicht bekannte Änderung des Bildes, deren Erklärung
um so schwieriger erscheint, als die Beteiligung der Hypophyse an dem
Fröhlich sehen Syndrom und überhaupt an den endocrinen Störungen
in den letzten Jahren einer immer stärkeren Kritik unterzogen wird.
Man braucht, um dies zu zeigen, nur einen Blick auf die beiden letzten
zusammenfassenden Referate über die Glandula pituitaria zu werfen,
die von Biedl einerseits, von Bailey andererseits stammen. Beide Au¬
toren kommen unter Berücksichtigung der Anatomie, der experimen¬
tellen Forschung und der Klinik zu entgegengesetzten Resultaten in
fast allen Punkten. Für Biedl ist ein Zusammenhang all der bekannten
Krankheitsbilder — der Akromegalie, des Zwergwuchses, der Kachexie,
der Dystrophia adiposogenitalis — mit der Hypophyse sicher, und
selbst, wo er die Beteiligung infundibulärer Zentren in Frage zieht,
wie bei der cerebralen Form der Fettsucht, denkt er an eine Ausschal¬
tung der Wirkung des Intermediasekrets auf diese Zentren. Genau das
Entgegengesetzte wie Biedl liest Bailey aus denselben Beobachtungen
heraus. Sagt Biedl , die Hypophyse ist ein absolut lebenswichtiges
Organ, dessen Entfernung den Tod des Versuchstieres zur Folge
hat, so konstatiert Bailey , daß Frösche, Hühner, Katzen, Hunde
und Affen diesen Eingriff unbestimmte Zeit überleben können und
führt den meisterfolgenden Tod der Tiere auf die Mitverletzung des
Hypothalamus zurück. Auf dieselbe Ursache wird die Simmondsche
Kachexie, die Polyurie und die Störung der Kohlenhydrattoleranz
bezogen. Sogar für die Akromegalie zieht Bailey die Schädigung
nervöser Zentren als Ursache in Frage. Das Fröhlichsche Syndrom
wurde nach ihm 11 malexperimentell erzeugt. Keiner der Versuche
an der Hypophyse scheint ihm eindeutig zu sein; wohl aber konnte
er selbst mit Bremer durch reine Hypothalamusverletzung ohne jede
Schädigung des Hirnanhangs beim Hund eine Dystrophia adiposogeni¬
talis hervorrufen.
Es genügen diese kurzen Hinweise, um zu zeigen, wie ungeklärt
die ganzen Verhältnisse hier noch liegen und wie unübersichtlich selbst
die Ergebnisse der Experimentaluntersuchungen sind. Noch unendlich
viel schwieriger ist naturgemäß die Beurteilung von Obduktions¬
befunden. Wirklich übersehbar scheint mir nur die Simmondsche
Krankheit zu liegen. Hier sehen wir, daß einem wohl charakterisierten
80
H. Josephy:
Symptomenkomplex ein ebenso typischer Sektionsbefund an der Hypo¬
physe zugehört, und zwar finden wir eine Veränderung, die durch
Narbenschrumpfung und Atrophie das Organ verkleinert. Das Wich¬
tige an diesen Fällen ist m. E., daß hier eine Schädigung der Regio
hypothalamica durch Druck nicht in Frage kommt. Die zweite, auch
durch die Beobachtung am Menschen als hypophysär sicher festlegbare
Krankheit ist die Akromegalie. Den Beweis dafür liefert der Erdheim -
sehe Fall mit dem Tumor in der Keilbeinhöhle, der aus Hypophysen¬
gangsresten entstanden ist. Auch hier ist die Beteiligung nervöser
Zentren auszuschließen. Bei allen anderen in Frage kommenden, hypo¬
physär bedingten Krankheiten bleibt die Rolle der Glandula pituitaria
unklar, denn hier ist immer das Zwischenhirn mitgeschädigt . Speziell für
die Fettsucht lassen sich Fälle auf zeigen, bei denen nur das Zwischen-
him erkrankt ist, die Hypophyse aber intakt erscheint. U Hermitte hat
eine sehr schöne derartige Beobachtung beigebraeht (ref. Zentralbl. f.
Neurol. u. Psych. 29, 435).
Auf der anderen Seite sieht man bei Sektionen sogar nicht ganz
selten ziemlich schwere Schädigungen der Hypophyse, die sich klinisch
offenbar gar nicht ausgewirkt haben. So konnte ich eine Epileptica
obduzieren, die bis zu ihrem im Status erfolgten Tode menstruiert hatte,
und die auch keineswegs als krankhaft adipös zu bezeichnen war. Hier
war die Hypophyse durch eine mit seröser Flüssigkeit angefüllte Pia-
cyste an die Rückw r and der Sella angedrückt, so stark, daß sie im Quer¬
schnitt halbmondförmig erschien. Man kann sich den in bezug auf
„hypophysäre“ Symptome negativen Befund eigentlich nur dadurch
erklären, daß das Zwüschenhirn ganz ungeschädigt war. Die Cyste hat
wohl nur innerhalb der Sella turcica ihren Druck ausgeübt, wenn über¬
haupt von einem solchen die Rede sein kann. Wahrscheinlicher ist es
fast, daß die histologisch intakte Hypophyse primär geschrumpft oder
überhaupt zu klein angelegt ist und die Cyste sich erst ex vacuo ge¬
bildet hat. Der springende Punkt ist jedenfalls der, daß bei zweifellos
nicht intakter Hypophyse , dagegen bei intaktem Zwischenhirn ,, endo -
er ine“ Symptome nicht auf getreten sind.
Was nun unseren Fall Emma W . l ) betrifft, so bleibt es bei der ganzen
Art des anatomischen Befundes unklar, ob man die zunächst einsetzende
Adiposität auf die Hypophyse oder auf das Zwischenhirn beziehen soll.
Es ist eine von den Beobachtungen, wo man je nach der Stellung, die
man überhaupt zu diesem Problem einnimmt, entweder die Erkran¬
kung des Hypothalamus und den durch sie hervorgerufenen Druck auf
*) Die Kranke hatte zwar in den letzten Monaten ihres Lebens an Gew’icht
zugenommen; ich glaube aber doch, daß dies nur auf die bessere Ernährung, die
von 1919 ab verabreicht werden konnte, zurückzuführen ist. Während des Krieges
hatte die Patientin sehr abgenommen.
Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom. 81
die Sella in den Vordergrund stellen wird. Das gleiche gilt übrigens
für die Beurteilung des psychischen Bildes. Weygandt hat gezeigt,
unter Heranziehung auch unseres Falles, daß sich bei der Dystrophia
adiposogenitalis häufig eine erethische Demenz mit heiterer Färbung
findet. Man kann diese Eigenart ansehen als eine Folge innersekreto¬
rischer Störungen, man kann sie aber auch mit ebensoviel Recht auf
die Miterkrankung des Zwischenhims beziehen, vor allem, wenn man
daran denkt, daß nach den Befunden bei der Metencephalitis mit
größter Wahrscheinlichkeit auch Erkrankungen des tieferen Him-
graus zu psychischen Veränderungen führen können.
An Interesse gewinnt der Fall Emma W. durch den plötzlichen
Wechsel, der nach mehrjährigem Bestehen der Adiposität einsetzt.
Die Kachexie, die sich sehr schnell entwickelt, ist ja sicher endogen
bedingt. Man denkt an das Bild der Simmondschen Krankheit, aber,
wie die anatomische Untersuchung zeigt, mit Unrecht, denn die Hypo¬
physe ist besonders in ihrem Vorderlappen in keiner Weise verändert.
Gerade in Anbetracht des typischen anatomischen Befundes bei den
Simmonds sehen Fällen, wie ihn kürzlich erst wieder Jakob dargestellt
hat, müssen wir hier die endocrine Genese ablehnen und zurückgreifen
auf die infundibulären Zentren. Ich möchte sogar gerade für unseren
Fall in Anspruch nehmen, daß er für die zentrale Genese kachektischer
Zustände einen Beweis erbringt. Zondek hat darauf hingewiesen, daß
Fettsucht und Kachexie nur die extremen Pole einer Stoffwechsel¬
störung sind, die einheitlich im gleichen Zentrum lokalisiert ist, nur
daß diese bei beiden Varianten eine konträr gerichtete Einstellung
zeigt. Für die Richtigkeit einer derartigen Anschauung dürfte der Fall
Emma W. durchaus sprechen, wenn er uns allerdings auch keinen
Anhaltspunkt dafür gibt, worauf die ganz überraschend einsetzende
gegenteilige Einstellung dieser Zentren zurückzuführen ist. Im all¬
gemeinen bleibt ja die Einstellung gleichgerichtet, d. h. eine Adipositas
schlägt nicht in Kachexie um. Das mag seinen Grund darin haben,
daß fortschreitende Erkrankungen dieser Gegend meist den Exitus des
Individuums herbeiführen, ehe es zu einer sichtbaren Auswirkung einer
eventuellen Umstellung kommt. Bei stationären Erkrankungen da¬
gegen dürfte im allgemeinen für eine solche Umstellung keine Ursache
gegeben sein. Unser Fall liegt insofern besonders, als bei dem offenbar
langsamen Fortschreiten des Prozesses die Kranke ziemlich lange ge¬
lebt hat. Es ist das wahrscheinlich, worauf schon Weygandt hingewiesen
hat, auch mit der entlastenden Wirkung der 1912 vorgenommenen
Trepanation in Verbindung zu bringen.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCI1I.
G
82 H. Josephy: Ein Fall von Porobulbie und solitärem, zentralem Neurinom.
Literatarve rzeiehnis.
Antoni, N. R . E ., Uber Rückemnarkstumeren und Neurofibrome. 1920
(Literatur!). — Bailey, P., Ergebn. d. Physiol. 20. 1922. — Biedl, Ref. geh. auf dem
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1922. — Kirch, E., Diese Zeitschr. 14. — Maas, 0., Monatsschr. f. Psychiatrie
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Jahrbücher d. Hamburgischen Staatskrankenanstalten 11 . 1912. — Verocay,
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Diese Zeitschr. (Ref.) 13 . 1917. — Weygandt, W., Münch, med. Wochenschr. 1921.
— Zondek, H., Dtsch. med. Wochenschr. 1923.
über das „Schlafzentrum“.
Von
Prof. Dr. Franz Lucksch.
(Aus dem pathol.-anatom. Institut der deutschen Universität in Prag. —
Vorstand: Prof. Dr. A. Ghon.)
Mit 5 Textabbildungen.
(Eingegangen am 5. April 1924.)
Die nachfolgenden Erörterungen knüpfen sich an einen Fall, der von
der ersten deutschen medizinischen Klinik Prof. Schmidt stammte.
Auszug aus der Krankengeschichte. A. A., 27jährige Private, aufgenommen
am 24. VIII. 1923.
Aus der Anamnese ist zu entnehmen, daß Pat. seit 2 Monaten unter stän¬
digem Fieber krank ist. Der Anlaß war eine Durchnässung, im Anschlüsse daran
entstand ein Gelenkrheumatismus.
Status praes. Pat. zeigte die Erscheinungen einer Endocarditis lenta. Es
bestehen Schmerzen in der Herzgegend, später auch noch solche in der linken
Schultergegend.
Am 22. IX. klagt Pat. beim Aufwachen über linksseitige Kopfschmerzen
und kann nur sehr schwer Worte finden.
Vom 2. X. an schläft Pat. ununterbrochen bei Tag und Nacht und ist zunächst
nicht zu erwecken. Die Augenlider sind krampfhaft geschlossen, die Augen
nehmen Schlafstellung ein, d. h. sie sind beide nach rechts oben abgelenkt. Die
Arme erscheinen nicht gelähmt. Bauchdeckenreflex, Pateilarsehnenreflex und
Achillessehnenreflex beiderseits vorhanden, kein Babinski.
Nach einiger Zeit richtet sich Pat. spontan wieder im Bette auf, läßt sich
auch etwas Milch einflößen, fällt aber immer wieder rasch in ihren Schlafzustand
zurück. Nackenstarre, Kernig und Laseguesches Phänomen fehlen. Nach einigen
weiteren Tagen antwortet Pat., allerdings immer nur auf die erste der ihr gestellten
Fragen, zeigt auf Verlangen die Zunge, ist aber immer noch kaum zu erwecken.
Babinski rechts angedeutet, Oppenheim beiderseits stark positiv. 11 Tage nach
Beginn des Schlafzustandes ist Pat. etwas leichter weckbar, wird gefüttert und
ißt ohne Widerstreben. Linksseitige eitrige Pleuritis.
Nach litägigem , nur durch gelegentliches Wecken unterbrochenem Schlafe erfolgt
am 16. X. der Exitus.
Die bakteriologische Untersuchung des Blute«, die am 3. und 9. X.
an der Klinik vorgenommen worden war, hatte jedesmal reichliche
Viridanskolonien ergeben.
Die klinische Diagnose lautete : Endocarditis lenta. Insuffizienz der
Aortenklappen. Empyema pleurae sin. Meningitis. Embolischer Herd
im Höhlengrau des 3. Ventrikels.
6 *
Fr. Luckach;
Die 9 m 17. X. I023 w« Hören Assistenten Dr,. 'fyrpbtn x*orge?iömmet\e
Obduktion betätigte diese klinische Diagnose Vollkommen.
Pathokigiscfi-amtorniticht fäaijnow.:. Rßfsuriereiude pdl} T pöse-Endo-
cairditis der Aortenklappen mit Zerstörung der linken KJajäpe ünd In-
suffizienz derselben
Mat Mob des 'Hukeri Ventrikels
Tb.r 0 rai)oendoteftrf.litis gei*.; Gr. au der Steliließttögalinie der Mitral.
Endnoardjtis parietali# am tSepltmi ventr. unterhalb <def Aortenklappen
scpvie a?t der hinteren FJäehe de$ A/utensegete der Mitral. i • < •,
Weicher Milsdniftor mit mehreren frischen anämischen Infarkten und
mit einem älteren gangränösen^ eubjdirenisehen Abteil am oberen Milz-
HÜ
£opi« der AbtriMuiur de* iJinj3t*ti>weti oda £ Viafycr,W%1ilpi : m>d >fciU*fcCfim»fk.. 4—7. Aufr
!«*?£. ' Itfflvm» vi* ßttppJtfMWiiy ;j9#j. Bitv Striche bei 7 uitäl■•2 itea*ieho< n.'eite dw»r den Bim
■ »Unirn l^oör^c 1 r(• ie*rtAli
pöl. (Das an, den .AhsedÜ MiDgen-ebf' erseheliVt erweicht,
Wie setjuo--trici t )
iNbrihÖK-ettrige JT'lenritiÄ an'der Baste des lti&en tTöttAtäpperu» mit
KV>n-<pressii'‘n«>st*-*l*>k-tiisi* *>r. ha.snlen 'Partien desselben.
Mehrter frische ■und. klirre Ipforkte in. beiden Vieren.
Degeoeiativo Verfettung <k-r Lefw.r.
. Dbererbäengrofkr cfüboliscbÄ Absoe 11 im H'üldcngrau lies 3. Ven,
trikete auf der iinkoiii Seite und iin angrenzenden Teile das Hypothala¬
mus und Thalarnüt>X : augenw-beinlisdi frische ErweVehuittg fttn Btxlen
des 3, Ventrikel* mal fm ventralen Grau desselben, auf der rechten
''■•;re und im Hypolbafatütik rechts Linsengrotkr Erwbiohungsherd
int ('..Thalamus und klmuerer solcher im tiefen Mark der 3. linken
Frontal Windung. Eine erbsengrbÜB, unregelmäßig geformte Narbe iu»
Marke des rechten .QccipitallAppenr...
Über «las ^cfciataootrwie
Odem der Lungen, Große Tonfüllen. Eitrige Ko
Adhäsive Perimetritis und Perioophoritis reehfe.
§ emaiva.
Das ganze Gehirn wurdenach der vSekf ion in Lorniiiiinlosung ge-
brächt.- JSaeh *inigj$ vm g^migentd- gehftfcteV .erschien,
«uede ** d&im weiter ymtersuoht. nie Verhältnisse au den» gehärteten'
Jfcqvtf«.te ieh mjri&er btm folgenden Ä^chröU^jb^' .ard^oiirie'
.fe/'ü. bi Ahb l liegt eine Kopie der von Villir/er gegebtsfttfii LaijUellung
:»te vor* La iliese Skizze m\d 2
dK Sehrdttrii htnng bei der Sektion t»zw ; bei der späteren Unter'
Anzeigen sollen, Ijrr S/rkh .1 :\.tjrij£prk.ht .äf«m Schiit! hei Äfrf
V^r cr.^KHirßi also mit der f röntfldelp *0#w. •.Winkel vpi\ Pn-
u' i J.r 45 : ein. Ersetzt an $ep Basis 2 Tuso?*en den f'urpör« rnamiitarjo
*if(d dem Austritte des N\ oculoaio- ,
t‘»mu rin. trifft dann den x*order*tea
Ariteii der SuWantia, nigra, durch-
'rlmcidet dio vordere Partie de:« y- ,h. ■'.
NVkw* ruber und sodann Leiter > ,
xv»b obet* das Pidvmar thahmri 1 J
Durch die%# ’ t^iuffc' treten • tfet ^ g U A)
VevitfUnivie im riwkwärtigen Am.ed •/ •
•>> \i Ventrikels zur Ansicht.- ge-
bracht Auf der euudaieu Schnitt-
fteebefände»Vieh likAArränderungen, j .
die in Abi«. 2 dargestellt riiid. Wir
.-;Vti utiien eipen Teil des Pons tffit. Abb.e Cou»iaic sdmittiiÄcJw ni<k tfeai
.' !• Art hadlaric sodauh die beiden , * ,,u,nu
e ji.»ue,t »rvi, die Anschnitte der Pedune*ilp dann die Anfänge der
>ui>d*mtia nigra lind weiter oben die I>teR^dVnitf ; e det rotejv Kerne;
ist der.,- gegen den' Äti’öäduk't'' r m steh verjüngende;
räcferarti^ 4 Teil des 3. -Ventrikels rieht fall*. dessen Vf atuiurfge?« .wtregel-
^ rbiJb u erscheinen,: die Hnbemibv und die Zirbeldrüse fehien;
ffe^^en siprl nuoh .Reste der Jniiiew^n Commi^sür Über
Jdj*t«stet* t^aHfütiwdf ■ tHt in der Mitte eilte Kluft v/ahr-
. i bmra, wehLe die beiden vorderen Virrhficel voneinander trennt,
;*jfc teüeli %uif dein* ^ sehen sein \vitfd Dte hier ge
%«d^hriv Veriim3‘ c tungrxt botndfen aJ^o ttur .die W4n<i <li?$ rückwürtig^t^n
-'.ffef; iX \Auitrikels;
;•,;•/• Km-jiUtk -auf die, durch den et^Ujn ^^clpiitr eptsttinded^ fr<»nfkjc
v - .kr ?Ai>b. 3) laßt, ui der Miti<* den >p:dt de-. :? Ventrikels erkennvn,
' ^ Partien des Thalaniu« dsipd dureh den, bei der S<ktiön ain
zdvgten/ ficru Sagcntrul des Schädels enthing geherKleii Seiuntt a.h-
•jefeappt. Seitlich sind die Änschuitte dos' Aminfmähunics u<uj desSeldnfo*
mm-
AWÜ.:' Cou.ljüfT nick
o .^kaktc*.
lappen^ sichtbar, unten beide iSei vi vrjvuci. Hier finden «ich die Ytr
änctmmgen in Fortsetiuiig' den früheren Bildes m der» (km Ventrikel:
unmittelbar benachbartem Teilen der medialen Thaiamuskern*y links et-
wü$ weiter n&ch. innen und üben dieunterhalb »diese* Kernes
gegen den. Butkn gelegenen Waudanteile deKscUuer
sind ffei von au oh aus den hktologiscberi
- ir v u_l- jt ». <: . v .. r\:- tt. _ !..... i.._
Präparaten von diesen St.idjen fwAyorgeht). I>i^ ; \>ra!idenjiigeri m
mediäletx ThaJamu^kerue reichere wi^später am der Zahl und de? Dicke
ttejr V0p dort geseh lomm vrerden kunüte
von dem hei der Sektion angojegtvn ;8ehmttr noch ungefähr. ‘2 mm nach
vorne und huren, daun alhnahlkh mrfv ' V; e^;.Vv
Der wi'f'iir noch H rtrtuMi jhjtffrhiriiij smfypfertitffi' Sejfvmtf wurde pnrallel
zum ersten etwas weiter nach hinten zu angelegt, wie dies aus Ahle 1
hervörgoht. Er .aohlledt mit einer senkivoht dgreb den Pons gelegten
Akt». 8. Fronti)Iw tirt.fi jjfOegeöe SchniUflÄch^ naoli 4«ta ti Sctittitttf.
Ebene ebenfalls vtüat - Winkel Vdn; tmgefahr: Ep Würde wogen
der hc-sse-reu \ nUTsttohungsrö«''.iglh.-hkeitvn m Ardehrumg an doe ersten
so ural iuvht s.enknvht. auf den iV»ns ausgetührf, Er gebt> wie au~
AM». 1 ersieh Mich. imtcn durch die‘Mitte des Pons «iurchseizt dieser»
und tritt. oheit ip der Miric des L Vierluig^ipaaros heraus.
in Ahn 4 sehen wir rhV frontale, aus dem i Schnitte rostütierr-otk
stv zeigt unten d;Orr Ppp^> pr dhP der;
SuMUMia ingn;, darüber .die’ zri störte Partie, in deren Mitte der Acjiia-
dekl tu denkmi Ware: links de'r «och halbwegs orhaitvnedinke v<<rdere
;di¥'.Vi» k Fhügi'l. der rc< hte ist wohlWenigstens i tty medialen Teil zendMt.
die Spalte -zwischen beiden wird von den», um Irin Ahb. it siehtbareii
Paicye liy/mest überbrüeld.
Aut der in Aide ö dargoteilten eamiafm? Schnittfläche sehen w ir
du* wedeif den Atpiädukt inngreifgn üntl Adiicrv näöfi
zu <»}jf)H‘]! Spalt. .Die Xidimkrung sa b eaudal bis zu dein nick*
WiirtigtMi Vkrhiigelphar*.; [om : ‘Me «-ehhekr -e i: die Decke de« Aquä¬
dukte- wieder, und du- iia- Virrnogelpaü v etsebeüU intakt
Ü brr ScXij^feeii tru ni l
Die hisiologischt: JJnterAtwhting« die au den IjaU/pteinddicb verändert* *u
Stellen vorgeiioEnmt?n wurde, testürigte * ijn • :ÄlJ^irr«eim s n den mnkt*i>
skopiscbexi Befund . Es fanden «ipih Kouglpmer,^? von dervn
Uiutfebung -.Auf eme Strecke weit envioclit wnr, jf»: der Mitte de*
Feaitftlf ^biiUtflÄcht* mich tlent
-ärtinitte.
88
Fr, Lucksch:
besonderer Wichtigkeit, daß in der Literatur die Beschreibung eines
sehr ähnlichen bereits vorliegt. Peile bringt eine solche in seinem Artikel
über Encephalitis. Bei ihm handelte es sich um einen 38 jährigen Ar¬
beiter, einen schweren Potator, der ganz akut mit heftigen Kopfschmerzen,
Schwindelanfällen und kurzem BewußtseinsVerlust erkrankte. Bei der
Aufnahme bestand totale Oculomotoriuslähmung rechts, inkomplette
links und eine leichte spastische Hemiparese rechts. Vom Tage der Auf¬
nahme an bestand durch 3 Monate bis zum Tode ein Schlafzustand, der,
wie Pette angibt ,,eine frappante Ähnlichkeit mit dem lethargischen
Zustand bei der Encephal. epidem. hat, so daß in der Tat die Möglichkeit
dieser Erkrankung sehr in Erwägung gezogen wird“. Bei diesem Kran¬
ken bestand allerdings außerdem noch Hyperhydrosis des ganzen Körpers,
Speichelfluß und abnormer Fettglanz des Gesichtes und der Kopfhaut.
(Es sei hier ausdrücklich hervorgehoben, daß von derartigen Erschei¬
nungen bei unserem Falle nichts beobachtet worden war.)
Durch die anatomische Untersuchung des Gehirnes, die in dem Falle
von Pette allein ausgeführt werden konnte, ergab sich: „In der Him-
schenkelhaube zwischen Substantia nigra und Aquädukt, den rechten
roten Kern freilassend, den linken mit einbegreifend, ein unregelmäßiger,
aber scharf gegen die Umgebung abgegrenzter, etwas eingesunkener,
graugelblicher Herd. Links setzt sich dieser Herd bis in die Thalamus¬
mitte fort, hier der medialen Partie näher gelegen.“ Mikroskopisch
setzte sich der Herd aus mehreren Einzelherden zusammen, die sehr
zellreich waren und aus gewucherten Glia-, Gefäßwand- und Fettkörn¬
chenzellen bestanden. „Eine Erweichung ist nur im Zentrum der größten
Herde vorhanden.“ Sonst nur geringgradige chronische Ganglienzellen¬
erkrankungen ( Wohhvill ).
Ich möchte an dieser Stelle nur noch den Schluß herausheben, den
Pette aus der ganzen Affektion zieht: „Bewiesen wird durch den Fall
so viel: Es gibt im Bodengrau des 3. Ventrikels eine Stelle, die sehr
weitgehende Beziehungen zur Funktion des Schlafes hat; wahrschein¬
lich ist sie das Schlafzentrum selbst.“
Vergleichen wir nun die beiden in Rede stehenden Fälle miteinander,
dann ergibt sich zunächst bezüglich des klinischen Verhaltens insofern
eine vollständige Übereinstimmung, als bei beiden durch längere Zeit
ein Schlafzustand beobachtet wurde, der erst im Tode sein Ende fand.
Dieser Zustand hatte eine „frappante Ähnlichkeit“ mit dem bei der
Encephalitis lethargica, wie Pette anführt, und wde die Herren Kliniker,
die den von mir beschriebenen Fall beobachteten, auf mein ausdrückliches
Befragen gleichfalls angaben. Anatomisch ist beiden Fällen gemeinschaft¬
lich die hauptsächliche Beteiligung der Haube der Pedunculi; dabei ist
besonders affiziert die Gegend des Oculomotoriuskernes, die Umgebung
des Aquäduktes überhaupt und die angrenzenden Teile des Thalamus
Über das n Sch 1 atzen t rum u .
89
(Pulvinars). Frei sind in meinem Falle beide rote Kerne. Es dürfte
also die Veränderung derselben im Falle Pette für die Schlafsucht nicht
in Betracht kommen, ebensowenig wie die in seinem Falle stärker aus¬
geprägte Affektion des Thalamus, was Pette ausdrücklich hervorhebt.
Dasselbe gilt wohl auch für die in meinem Falle gefundene Ver¬
änderung des einen der Vierhügel. In meinen Präparaten erwies sich
auch das am Boden des 3. Ventrikels befindliche Grau frei von Ver¬
änderungen, während Pette dasselbe in seinem Falle als verändert
bezeichnet, wenn ich auch in der anatomischen Beschreibung von
Wohlwill nichts davon finde.
Wenn wir also die in den beiden Fällen erhaltenen Bilder überein-
anderlegen und die sich deckenden Partien herausheben, ergibt sich,
daß Läsionen des Höhlengraus im rückwärtigen Teile des 3. Ventrikels
zusammen mit solchen im Anfänge des Aquäduktes und dessen Um¬
gebung zu dauernden Schlafzuständen führen.
Die Beziehung zur Encephalitis lethargica Economo ergibt sich von
selbst. Wir wissen, daß bei dieser Krankheit das Höhlengrau des
3. Ventrikels, das Grau des Aquäduktes und das am Boden des
4. Ventrikels gelegene die Prädilektionsstellen der entzündlichen Ver¬
änderungen darstellen, und wir werden von nun an die bei der ge¬
nannten Krankheit auftretetulen Schlafzustände auf die im Orau des
rückwärtigen Anteiles des 3. Ventrikels und die um den Aquädukt herum
gesetzten Veränderungen zu beziehen haben .
Diese Feststellung zeigt so recht, wie schon Pette hervorhebt, den
Wert solcher isolierter Veränderungen und der Veröffentlichung der¬
selben. Ich möchte diesen Befunden von Pette und mir, die sich so
wunderbar decken und gegenseitig bestätigen, für die Erklärung der
Pathogenese der Encephalitis lethargica dieselbe Bedeutung zumessen,
wie sie für die Erklärung des Parkinsonsyndroms der Befund bzw. die
Veröffentlichung Brissauds 1 ) hatte, der einen tuberkulösen Herd in
der Substantia nigra der einen Seite in einem Falle fand, bei dem während
des Lebens Parkinsonerscheinungen der Gegenseite bestanden hatten.
Damit wäre auch im Sinne von v. Economo selbst die Lösung des
Problems der Schlafzustände bei E. lethargica gegeben, insofern die
Läsionen in den Fällen von Pette und mir solchen in einem Tier¬
experiment gleichzusetzen sind, wie ein solches v. Economo zur Auf¬
klärung verlangt.
Die im Falle Pette gefundenen vegetativen Störungen, wie Hyper -
hydrose, Salivation und Seborrhöe fehlten in meinem. Sie könnten sehr
wohl in die am Boden des 3. Ventrikels angenommenen Zentren verlegt
werden. Diese waren in meinem Falle frei von Veränderungen. Aber
auch in der anatomischen Beschreibung, die Wohlwill von dem Falle
*) Zitiert nach Spatz.
90
Fr. Lucksch:
Pette gibt, finde ich nichts über Veränderungen dieser eben genannten
Stellen gesagt.
Waren die Beziehungen der in Rede stehenden Affektionen zur
Encephalitis lethargica ohne weiteres klar und einleuchtend, so sind
es die zum normalen Schlafe nicht in diesem Maße. Trotzdem hat es
nicht an Versuchen gefehlt, aus den genannten oder ähnlichen Ver¬
änderungen im Zusammenhänge mit dem klinischen Symptomen-
komplexe die Existenz eines Schlafzentrums abzuleiten (siehe zunächst
Pette!).
Über das Wesen des Schlafes wurde nachgedacht, seit Menschen
denken können. Es existiert über dieses Problem dementsprechend
eine ganze Reihe von Theorien. Die wichtigsten dieser bringt Trömner
in seiner Monographie, die allerdings schon aus dem Jahre 1912 stammt.
Derselbe führt die Ermüdungs-, die vasomotorische und die sog. bio¬
logischen Theorien an und fertigt sie der Reihe nach ab. Trotzdem er
dies auch bezüglich der Ermüdungstheorie getan hat, gibt er doch
später die Beseitigung der Ermüdung als Zweck und Effekt des Schlafes
an und bezeichnet diesen als eine Reaktion auf die erstere. Nach einer
eingehenden Besprechung der von ihm auf gestellten Begriffe der ,,Schlaf-
förderer“ und „Schlafursachen“ beschäftigt er sich auch mit der Frage,
ob es gestattet sei, ein eigenes Schlafzentrum anzunehmen. Nach Auf¬
zählung verschiedener anderer diesbezüglicher Theorien kommt er
auch auf die von Mauthner zu sprechen, die uns hier ganz besonders
interessiert.
Mauthner hat im Jahre 1890 in einem in der Gesellschaft der Ärzte
in Wien gehaltenen Vortrage aus Anlaß der Kunde vom Auftreten einer
rätselhaften tödlichen Schlafkrankheit, Nona genannt, eine Theorie
des Schlafes entwickelt. Trotzdem er nie einen solchen Nonakranken
gesehen hatte, gibt er an, daß man am Gehirn eines solchen makro¬
skopisch außer einer mehr oder weniger intensiven Rötung der Wan¬
dungen des 3. Ventrikels und des Aquäduktes nichts finden wird; er
wünscht, daß die betreffenden Ärzte die Gehirne solcher an Schlaf¬
krankheit Verstorbener zur histologischen Untersuchung einsenden
sollen und daß besonders darauf geachtet werden sollte, ob die Krank¬
heit mit Ptosis und Doppeltsehen beginnt bzw. in ihrem Verlaufe Augen¬
muskellähmungen auftreten. In Analogie mit den später zu nennenden
Krankheiten, der Polioencephalitis usw., verlegt M. den Sitz der Ver¬
änderungen bei der Nona in das zentrale Höhlengrau. Alles Dinge,
die uns jetzt nach unseren Erfahrungen an der Encephalitis ep. ge¬
läufig geworden sind. Im Hinblick auf alle diese Erkrankungen nimmt
dann Mauthner an, daß der normale Schlaf eine Ermüdungserscheinung
des zentralen Höhlengraus sei. In dem genannten Vortrage ist ein
dem hier abgehandelten ganz ähnlicher, nach Kesselexplosion ent-
Über das „Schlafeentrum“.
91
standener Fall als „Maladie de Gayet“ erwähnt, so wie das gehäufte
Auftreten ähnlicher Symptome bei der Bevölkerung einzelner Schweizer
Kantone („Maladie de Gertier“).
Trömner spricht sich gegen die Annahme Mauthners , den Sitz des
Schlaf Zentrums in die Gegend des zentralen Höhlengraus zu verlegen,
aus, aber die Gründe, die er gegen die Mauthner sehe Theorie anführt,
scheinen mir nicht genügend stichhaltig zu sein, um diese abzulehnen.
Trömner führt z. B. ins Treffen, daß bei Läsionen des Höhlengraus der
Weg für Gesichtseindrücke und Gerüche zur Rinde noch frei sein
müßte; das trifft aber für die Gesichtseindrücke bei Ausschaltung der
Oculomotoriuskeme kaum zu (Ptosis usw.).
Trömner selbst nimmt gleichfalls ein Schlafzentrum an, nur verlegt
er den Sitz desselben in den Thalamus opticus, die sensorische Vor¬
station der Rinde, das Vorgroßhirn Monakows.
Wenn ich meine Meinung, die ich mir aus früheren Vorstellungen
und den aus der Lektüre der genannten Artikel gewonnenen Eindrücken
gebildet habe, hier Vorbringen darf, möchte ich dieselbe etwa so formu¬
lieren: Der Schlaf ist eine Erscheinung, die durch die Ermüdung der
Großhirnrindenzellen ausgelöst wird, sei es, daß diese Ermüdung durch
das Auftreten von sog. Ermüdungstoxinen im Sinne von Weichardt
oder einfach durch Abnützung erklärt wird. Die betreffenden Zellen
werden bei dieser Gelegenheit in Inaktivität versetzt, bis sie wieder so
weit hergestellt sind, daß sie normal funktionieren können; mit dieser
Wiederherstellung fällt das Erwachen nach normalem Schlafe zusammen.
Mit dieser Verlegung des Schlafbeginnes in die Großhirnrinde befinde
ich mich, von anderen Autoren abgesehen, in vollständiger Überein¬
stimmung mit Pawlow , wie ich durch nachträgliche Lektüre seines ein¬
schlägigen Artikels mit großer Freude festgestellt habe. Pawlow gfcht
von seinen Versuchen über „innere Hemmung“ der bedingten Reflexe
aus; ich lasse ihn am besten selbst sprechen:
„Eine isolierte andauernde Reizung eines bestimmten Punktes der
Großhirnhemisphären führt unbedingt zur Schläfrigkeit und zum Schlaf.
Es ist am natürlichsten, den Mechanismus dieser Tatsache in Überein¬
stimmung damit, was wir von dem lebenden Gewebe wissen, als Er¬
schöpfungserscheinung zu verstehen, um somehr als der normale perio¬
dische Schlaf unstreitig ein Ergebnis der Erschöpfung ist. Es tritt also
dank der andauernden Reizung des gegebenen Punktes in ihm Er¬
schöpfung ein, und irgendwo im Zusammenhang mit der Erschöpfung
entwickelt sich ein Zustand der Untätigkeit, des Schlafes. Ich sage
,irgendwie*, denn es ist unmöglich, die ganze Erscheinung einfach zu
verstehen, ohne ein besonderes vermittelndes Glied in der Reihe che¬
mischer Veränderungen in der gegebenen Zelle. Dafür spricht ein er¬
sichtliches Detail der Erscheinung. Dieser Zustand der Untätigkeit
92
Fr. Lucksch:
in Form des Schlafes, welcher in einer gegebenen Zelle entstanden ist,
bleibt nicht nur in ihr, sondern verbreitet sich weiter und weiter und
umfaßt schließlich nicht nur die Hirnhemisphären, sondern verbreitet
sich auch auf die niedriger gelegenen Teile des Gehirnes; d. h. den Zustand,
welchen eine Zelle entwickelt, die gearbeitet, sich verausgabt hat,
erleben auch solche Zellen, welche absolut nicht gearbeitet, sich gar
nicht verausgabt haben. (Dieser letzte Satz bezieht sich hauptsächlich
auf Pawlows Versuch und wohl weniger auf den normalen Schlaf. An¬
merkung des Verfassers.) Dieses bildet vorläufig einen vollständig
dunklen Punkt in der Erscheinung. Man muß zugestehen, daß ein
spezieller Prozeß oder Stoff vorhanden sei, welcher durch die Erschöpfung
hervorgerufen wird und die weitere Tätigkeit der Zelle aufhebt, gleich¬
sam, um einer außergewöhnlichen, bedrohlichen vernichtenden Tätig¬
keit vorzubeugen. Und dieser eigenartige Prozeß oder Stoff kann auf
die umgebenden Zellen übertragen werden, welche an der Arbeit gar
nicht teilgenommen haben.“
In dieser Darstellung Pawlows fand ich zunächst das in anderen
Worten wiedergegeben, was ich bezüglich der Lokalisation des Schlaf-
beginnes in der Großhirnrinde bereits vorher formuliert hatte — ab¬
gesehen von einzelnen Details, die sich auf die Versuche Pawlows be¬
ziehen. Ich fand aber weiter hier den Versuch einer Erklärung des
Weiterfortschreitens des Schlafprozesses auf die niederen Zentren, welches
Weiterfortschreiten ich noch nicht so genau durchdacht und formuliert
hatte. Ich möchte also in weiterer Verfolgung des ganzen Themas und
in Anlehnung an die eben zitierte Erklärung Pawlows den von Mauthner
und Tr&mner angenommenen ,,Schlaf Zentren* 4 nicht die autonome Rolle
zugeteilt wissen, w elche ihnen die genannten Autoren zuschreiben, sondern
für diese Zentren bezüglich des Zustandekommens des physiologischen
Schlafes dasselbe Abhängigkeitsverhältnis von der Großhirnrinde an¬
nehmen, in dem sie auch sonst zu dieser stehen. Mit der Ausschaltung
dieser Zentren beim Einsetzen des normalen Schlafes — dadurch, daß
eben der Schlafzustand von der Großhirnrinde ,,irgendwie“ auf sie
übergeht — würde das Großhirn jene Absperrung von äußeren Reizen
erlangen, deren es zum Zustandekommen und zur Erhaltung des Schlafes
bedarf. Der Ausdruck ,,Schlaf Zentrum“ erscheint mir danach für diese
Gehirnteile nicht angebracht und wäre derselbe eben nur unter An¬
führungszeichen zu verwenden.
Andererseits ist ja eben durch unsere Fälle demonstriert, daß Aus¬
schaltung (bzw. Zerstörung) gewisser Gehirnpartien zu pathologischen,
dauernden Schlafzuständen führen kann. Wenn ich auch zunächst,
ebenso wrie Pette , der Ausschaltung sowohl des Thalamus als des zen¬
tralen Höhlengraus denselben Effekt zuschreiben wollte, möchte ich
doch der Zerstörung des Höhlengraus in erster Linie eine solche Folge-
Über das „SchJafzentrum“.
93
erscheinung zugeschrieben wissen. Die Haube der Pedunculi und ihre
Umgebung wäre von allen der Ort, den sich der Experimentator — um
mit Tscher mak-Seysenejgg zu sprechen (siehe auch oben das Postulat
v. Economos) — aussuchen würde, wenn er durch Läsion auf kleinstem
Raume die Großhirnrinde von der Außenwelt abschließen wollte. Viel¬
leicht spielt auch für das Zustandekommen eines Schlafzustandes die
Zerstörung des Oculomotoriuskernes — bzw. der Augenmuskelkerne
überhaupt — eine ganz besondere Rolle, wie dies neben anderen ins¬
besondere Mauthner und auch v. Economo annehmen. Eine weitere
Besonderheit scheint mir bei der Läsion der genannten Gegend auch
die Tatsache darzustellen, daß der Einfluß des Großhirnes auf den
Körper in ähnlicher Weise herabgesetzt zu sein scheint, wie dies im
Schlafe der Fall ist. Dieser Umstand scheint mir insbesondere dadurch
zum Ausdruck zu kommen, daß die Kranken sowohl in unseren
Fällen als auch bei der Encephalitis lethargica nicht imstande sind,
eine angefangene Handlung zu Ende zu führen, so daß es den Anschein
hat, als ob der von der Großhirnrinde herabgelangte Impuls zwar
noch stark genug ist, eine Handlung zu beginnen, dann aber durch
irgendwelche Widerstände so schnell abgeschwächt wird, daß er nicht
mehr hinreicht, diese Handlung auch zu vollenden. Auch diese Seite
der Frage hat Mauthner in seinem seinerzeitigen Vortrage berück¬
sichtigt, insofern er annahm, daß „durch die temporäre Einstellung
der Funktion des zentralen Höhlengraus sowohl die zentripetale Nerven¬
leitung zur als auch die zentrifugale Leitung von der Hirnrinde unter¬
brochen wird“.
Ob dies bei Läsionen des Thalamus auch in dieser Weise der Fall
wäre?
Der Beweis dafür, daß tatsächlich auch Läsionen des Thalamus
Schlafzustände auslösen, steht noch aus. Trömner hat seine Theorie
augenscheinlich nur auf Grund theoretischer Erwägungen aufgestellt.
Isolierte Zerstörungen des Thalamus dürften,wenn überhaupt beobachtet,
sehr selten sein. Sie sind aber selbst, wenn sie vorhanden sind, nicht
immer eindeutig. Dies geht am besten aus einem Falle hervor, den Hirsch
auf Veranlassung Pötzls im Anschluß an meinen Vortrag im Verein
deutscher Ärzte in Prag demonstrierte. Es handelte sich um einen
taubeneigroßen Absceß des einen Thalamus; der Kranke hatte in der
letzten Zeit seines Lebens auch Schlafsucht gezeigt. In der Diskussion
hob Pötzl selbst hervor, daß gerade der Umstand, daß die Schlafsucht
erst in der letzten Zeit aufgetreten war, während der Absceß doch schon
längere Zeit bestanden haben mußte, daran denken läßt, daß die Er¬
scheinungen der Schlafsucht erst durch den Druck, den der wachsende
Absceß in der letzten Zeit auf das Höhlengrau ausübte, hervorgerufen
sein könnten.
94
Fr. Lueksch: Über da9 „Schlafzentrum“.
Danach dürfen wir also zur Zeit nur den vielgenannten Stellen im
zentralen Höhlengrau die Fähigkeit, Schlafzustände hervorzurufen,
zuschreiben.
Ich bin am Ende meiner Ausführungen und möchte meine Meinung
über die in Rede stehende Affektion dahin zusammenfassen, daß ich
sage:
Die früher von Gaiet , jetzt von Petto und mir beschriebenen Läsionen des
Höhlengraus im Aquädukt und seiner Umgebung sind zusammen mit den
durch sie hervorgerufenen Erscheinungen der Schlafsucht von allergrößter
Bedeutung für die Erklärung der Pathogenese der Encephalitis lethargica
v. Economo. Vor allzu weitgehenden , aus solchen Befunden abgeleiteten
Schlüssen aber für physiologische Vorgänge — in unserem Falle für den
physiologischen Schlaf — im Sinne der Aufstellung eigener „Schlaf -
Zentren “ möchte ich warnen.
Literaturverzeichnis.
Econamo, C. v ., Neue Beiträge zur E. leth. Neurol. Zentralbl. 1917. Der¬
selbe: Die Enceph. leth. Jahrb. f. Psych. u. Neurol. 1917. — Mauthner , L.
Die Pathologie und Physiologie des Schlafes. Protokoll der k. k. Gesellschaft
der Ärzte in Wien vom 30. V. 1890. Wien. klin. Wochenschr. 1890, S. 445. —
Pawloiüy /., „Innere Hemmung“ der bedingten Reflexe und der Schlaf — ein
und derselbe Prozeß. Skandinav. Arch. f. Physiol. 44, H. 1/2. 1923. — Pette , //.,
Die epidemische Encephalitis in ihren Folgezuständen. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven-
heilk. 16. 1923. — Spatz , //., Die Substantia nigra und das extrapyram.-motorische
System. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 11. 1923. — Trömner , E„ Das Pro¬
blem des Schlafes. Wiesbaden, I. F. Bergmann, 1912.
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
Von
Dr. G. Herrmann.
(Aus der Deutschen psych. Univ.-Klinik Prof. O. Pötzl , Prag.)
Mit 2 Textabbildungen.
(Eingegangen am 17. April 1924.)
Bei der Besprechung der motorischen Amusie ist es vor allem not¬
wendig, sich über die Fragestellung klar zu werden. Wir suchen selbst¬
verständlich kein Musiezentrum im engen Sinne des Wortes, sondern
wir denken bei einer derart komplizierten Erscheinung, wie es musi¬
kalische Leistungen sind, von vornherein daran, daß wir es mit verwickel¬
ten Verhältnissen zu tun haben; wir dürfen auch nicht erwarten, daß
iigendein Schema uns zum Ziele führen wird, wie das ja auch der heutige
Stand der Aphasielehre zeigt.
Wir halten uns zunächst an die allgemeine Einteilung, die 2 Haupt¬
komponenten der Musie unterscheidet: Jede Melodie besteht der Haupt¬
sache nach aus dem Rhythmus und den Intervallen, die zusammen
die Tongestalt im Sinne von Ehrenfels ergeben. Nun scheint von beiden
Teilen, wie aus folgender Überlegung hervorgeht, der Rhythmus ein
besonders ursprüngliches Moment zu sein: 1. Es gibt primitive Völker,
deren Lieder nur aus Rhythmen ohne Intervalle bestehen (Wundt).
2. Jede auch nur ganz geringe Veränderung des Rhythmus erzeugt einen
anderen Charakter eines aufgeführten Musikstückes. Wie große Ände¬
rungen im Klanglichen vor sich gehen können, ohne den Charakter des
Musikstückes zu ändern, zeigt schon die Möglichkeit des Transponierens
in alle Tonarten und bis zu einem gewissen Grad der Umstand, daß
jedes symphonische Stück individuell das Gleiche bleibt, ob es auf einem
Instrument oder mit vollem Orchester gespielt wird. 3. Es gibt einen
sog. Sprachgesang, bei dem die Intervalle entweder ganz fehlen oder nur
angedeutet sind.
Umgekehrt ergibt sich folgendes: Ist in himpathologischen Fällen
in irgendeiner Weise der Rhythmus gestört, so kann es bei der Repro¬
duktion einer Melodie nicht mehr zum Finden der richtigen Tonhöhen
(und Intervalle) kommen. Ich glaube, daß schon bei einer alleinigen
Störung des Rhythmus Amusie eintreten muß. Ein mir befreundeter
96
G. Herrmann:
Kapellmeister z. B. erzählte mir, daß er wiederholt bei Proben von
Musikstücken (besonders z. B. Beethoven) den Eindruck hatte, daß
falsche Töne gegriffen werden, wenn ein Stück nicht im richtigen Tempo
und Takt herauskam, und daß er diesen Eindruck auch hatte, wenn die
Töne sicher richtig waren, z. B. bei den Blasinstrumenten. Erst wenn der
Rhythmus richtig war, verschwand dieser Eindruck. Ich glaube nun,
daß sich ganz dasselbe in den Gehimvorgängen bei der Zentrierung der
Musie wiederfindet. Der Rhythmus ist gleichsam das Raumgitter, in
das sich die Töne einordnen und gruppieren. Tritt eine Störung im
Rhythmus ein, so kann durch kein Mittel mehr, selbst bei erhaltenem
Verständnis für Tonhöhen und trotz der Fähigkeit, solche wiederzugeben,
die Gesamtgestalt einer Melodie produziert werden, ähnlich wie z. B.
der Gesamteindruck einer roten Kreisfläche durch keinerlei Farbänderung
und Belichtungsverhältnisse wiedererzeugt werden kann, wenn man als
Umrißfigur statt des Kreises z. B. ein Quadrat nimmt. Jeder Versuch,
ohne den zugehörigen Rhythmus ein derartiges Ziel zu erreichen, muß
nur zur weiteren Abweichung und Verwirrung führen; er kann im musi¬
kalischen Sinne vielleicht sogar allein schon die Wiedergabe der richtigen
Tonhöhe verhindern.
Unter Rhythmus im musikalischen Sinne haben wir etwas ganz
Bestimmtes zu verstehen. Es sind nicht die Rhythmen, wie sie der
Herzschlag oder andere vegetative Erscheinungen zeigen, sondern im
Gegenteil freiere, „willkürliche“ Bewegungsfolgen. Vielleicht ist es erst
die Befreiung von den vegetativen, gebundenen Formen des Rhythmus,
die die Möglichkeit schafft, einen affektbetonten Rhythmus frei und
spielend zu erzeugen und ihm Ausdruck zu verleihen.
Ich denke hier an Verhältnisse, wie sie sich auf dem Gebiet der
Bewegungen und ihrer Gestaltung, z. B. in einem Befund Potzls 1 * 2 )
vorfinden. Es handelt sich dort um eine halbgekreuzte paradoxe Kon¬
traktion bei passiver Beugung der Hüftgelenke als Symptom von Stirn -
'polerkrankung (in einem Falle zystischer Tumor, in einem 2. Falle
Absceß im rechtshimigen Stimpol). „Zu den wesentlichen Eigenschaften
des Stimpolsyndroms gehört es, daß Erkrankungen dieses Bezirkes sich
zuweilen nur in eigenartigen Störungen der Bewegungsformel des Gehens,
nicht aber in Störungen der Statik beim Stehen geltend machen.“
Die Kranke mit Stimpolabsceß hatte doppelseitige Jacksonanfälle bei
vollem Bewußtsein; sie sah und hörte alles; nur konnte sie zuweilen
während des Anfalles nicht sprechen. Die Unfähigkeit des Sprechens
empfindet sie als ein Hindernis „wie im Kehlkopf“. Die motorische
Aphasie setzte, soweit das ermittelt werden konnte, immer gerade in
dem Moment ein, wenn die Kontraktion während des Jacksonanfalles
vom rechten Arm auf die linke Seite übersprang. „Daß es sich um eine
vorübergehende motorische Aphasie im Anfall gehandelt hat, unterliegt
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
97
kaum einem Zweifel, da das Sensorium während der Anfälle klar war und
die Bewegungen der Zunge, der Gesichtsmuskulatur, die Atmung usw.
frei waren“. „Man kann also aus dem Bild dieser Anfälle zugunsten der
Ansicht, daß der abgezogene überschüssige Tonus im Antrieb wieder zum
Vorschein komme, noch das eine anführen, daß der Antrieb zum Sprechen
im Verlauf der Ausbreitung dieser epileptischen Erregung episodisch
unterbrochen war“. Auf diese Weise wird die Bewegungsmelodie der
Sprache durch Storungen der Statik im Stimhim betroffen. Wenn diese
Statik ein Vorgang ist, „der den oberen Extremitäten das entzieht,
was sie zum Vorderbein macht, so ist es vielleicht derselbe Verschie¬
bungsvorgang, der das Säugetiergeschrei in die Sprache umwandelt.“
Nicht nur in diesem Fall Pötzls, sondern wohl in allen Fällen motori¬
scher Aphasie betrifft die Störung zunächst jene Leistungen, die das
Aufeinanderfolgen von Bewegungsimpulsen regeln. Vielleicht läßt sich
auch im allgemeinen vermuten, daß diese Regelung vor sich geht, indem
die in Betracht kommenden Organe (d. i. vor allem der Kehlkopf) von
phylogenetisch früheren Bewegungsfolgen freigemacht werden und
daß auf diese Art erst variable Bewegungsmelodien entstehen können.
Bei einer derartigen Störung wird nach dieser Auffassung dem Kehlkopf
gerade das entzogen, was ihn zur Sprache befähigt, wenn in ihn
wieder Innervationen einströmen, durch die er für andere phylogenetisch
ältere Bewegungseinstellungen ein Erfolgsorgan bleibt. Die überschüs¬
sige (im Sinne Pöizls nicht mehr abgesogene) Energie führt dann zu
zwangsläufigen Innervationen. Wenn ein Kranker z. B. als Antwort
auf jede gestellte Frage nur ein to-to-to in verschiedener Modulation,
aber ohne Sprachformulierung bringt, so hat man ganz den Eindruck,
daß hier nur eine Sperre besteht, nicht aber ein Verlust von sog. „mo¬
torischen Sprachbildem“. Es handelt sich eben nicht nur um den
Mechanismus, der das Sprechen in Gang bringt, sondern auch um den
Mechanismus, der die Innervation wieder rückgängig macht, um eine
- Innervation, zu ermöglichen. Und eben dieser Mechanismus, der die
Energie wieder auf nimmt und anderer Verwendung zuführt, ist beim
Motorisch-Aphasischen vielleicht der Hauptgegenstand der Störung.
Die gleiche Auffassung ist auch für die Amusie anwendbar. Tritt
eine Störung des Rhythmus, d. h. eine Störung der Bewegungsfolge
verschiedener, evtl, auch gleicher Tonhöhen ein, so ist das analog einer
Storung der Innervationsgestaltung beim Motorisch-Aphasischen. Der
Kranke ist zuweilen imstande, jeden einzelnen Ton zu produzieren,
aber die Aufeinanderfolge, die Gesamtheit der Tongestalt der Melodie
eines Liedes z. B. ist nicht zu reproduzieren, ebenso wenig wie die Pro¬
duktion einer Wortgestalt dem Motorisch-Aphasischen gelingen kann.
Vielleicht würde also etwas Prinzipielles an der Stimhimamusie darin
liegen, daß sie eine Störung des Ablaufs der geordnet aufeinander fol-
L t. d. g. Xeur. u. Paych. XCIII. 7
98
G. Hermann:
genden Innervationsimpulse ist und erst sekundär mit der Storung
der Tongestalt die Tonhöhen und Intervalle in Mitleidenschaft zieht*).
Unterziehen wir nun die in der Literatur bekannt gewordenen Fälle
von motorischer Amusie bei Stimhimläsion im Sinne der vorhergehenden
Ausführungen einer näheren Betrachtung, so finden wir in dem einen
Falle von M . Mann*) ausdrücklich betont, was wir erwarten würden.
In diesem Fall erscheint gerade die Übertragung des Rhythmus auf die
Tonbildung wie elektiv gestört.
Es handelt sich um eine rechtsseitige Granatverletzung über dem
Scheitelbein mit Nystagmus, sonst ohne Störungen, besonders ohne
Apraxie und ohne Astereognose. Er war früher gut musikalisch ver¬
anlagt; nach der Verletzung wollte er von der Musik nichts mehr wissen.
„Fordert man ihn auf, zu pfeifen oder zu singen, so erkennt man zwar die
Melodie; auch der Rhythmus ist nahezu richtig aber er singt und pfeift falsch,
wie ein ganz Unmusikalischer. Er merkt aber seine Fehler — dadurch unterscheidet
er sich nach Ansicht des Autors von letzterem — und das verstimmt ihn so, daß
er eben von Musik nichts mehr wissen will. Läßt er sich aber Zeit , so daß er jeden
Ton einzeln einstimmen kann , dann singt und pfeift er richtig. Dabei geht natürlich
der Rhythmus verloren . . . Gestört ist das durch Übung erworbene rasche und
richtige Ineinandergreifen der einzelnen Bewegungskomponenten und Komplexe
beim Singen und Pfeifen, wodurch allein Rhythmus und Melodie zu einer Einheit
verschmelzen.“
Das rasche und richtige Ineinandergreifen der einzelnen Bewegungs¬
komponenten ist aber nur dann möglich, wenn die entsprechende
Freiheitsgrade für die Bewegung vorhanden sind; diese Freiheitsgrade
aber können wir als eine spezifische Leistung des Stimhims auffassen.
Auch in den übrigen Fällen läßt sich das Verhältnis zwischen Rhyth¬
mus und Tonbildung mit unserer Auffassung in Einklang bringen.
Fall L. Mann **): „Vorgesungene bekannte Lieder erkannte er mit derselben
Sicherheit wie früher wieder; sollte er sie jedoch selbst singen, so gab er sie im
Rhythmus zwar annähernd richtig, in der Melodie aber vollständig entstellt, mit
einer rauhen, tonlosen Stimme wieder und produzierte dabei Laute, welche zum
Teil gar nicht als musikalische Laute bezeichnet werden konnten, jedenfalls aber,
soweit sie den Charakter von Gesangstönen hatten, nicht eine Spur der richtigen
Intervallenfolge Wiedergaben“. (Cyste, welche in der Hauptsache die zweite
rechte Frontal Windung und außerdem ein kleines Stück der vorderen Zentral¬
windung, und zwar den unteren Teil ihres mittleren Drittels zerstörte.)
*) Vgl. Pick , Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 18,89, wo er Änderungen
in der Höhe der Stimme bei Cerebralaffektion auf pathologische Veränderungen
der den Sprachzentren topisch anliegenden Larynxzentren bezieht; „hier mehr
pro memoria anzumerken wäre der von Griffen (New' York med. Joum. 1893) nach
Ireland berichtete Fall eines Mädchens, das bei negativem Larynxbefund nur in
tiefer Stimme (,husky voice‘) sprach und mit voller, klarer Stimme singen konnte.
Vielleicht gehört hierher auch die von A . Meyer (Americ. Joum. Ins. €0, 412)
mitgeteilte Beobachtung von schwerer Hirnverletzung, in welcher der Kranke,
der keine Aphasie zeigte, längere Zeit nicht singen konnte und dann fand, daß sich
sein Bariton in eine Tenorstimme umgewandelt hatte.“
**) Zitiert nach M. Mann, 1. c.
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
99
Auch in diesem Falle ist es dem Kranken unmöglich, Rhythmus und
Tonbildung gleichzeitig zu produzieren; doch scheint die Störung eine
noch tiefer greifende zu sein, indem deutliche Interferenzwirkungen
auftreten: Nicht nur falsche Töne erscheinen dort, wo der Rhythmus
eine bestimmte Tonbildung verlangt, sondern die Bildung der Stimme
selbst sinkt häufig auf eine Stufe der Leistung herab, wie wir sie bei der
einseitigen Recurrenslähmung zu finden gewohnt sind; oder sie entfernt
sich wenigstens vom Gebiet der musikalischen Tonbildung in das Gebiet
der außermusikalischen Stimmbildung. Wenn lähmungsartige Erschei¬
nungen episodisch gerade dort erscheinen, wo der Rhythmus eine be¬
stimmte Tonbildung verlangt, so erinnert dies vielleicht an die Greif¬
lähmung der Apraktiker. Versucht man das Wesen dieser Störung im
Sinne der früher ausgesprochenen Anschauungen zu bezeichnen, so
würde man sagen, daß die freie Übertragung des Rhythmus auf die
Tonbildung hier soweit behindert ist, daß das Dazutreten der Tonus¬
verteilung des Rhythmus sogar die Stimmbildung hemmt.
In dem Falle von Mendel 4 ) handelt es sich um einen 22jähr. rechts¬
händigen musikalisch begabten Mann mit Schußverletzung in der Ge¬
gend des rechten Scheitelbeines vorn. Seit der Verletzung konnte er
keine Melodie mehr richtig singen oder pfeifen. Musikverständnis war
erhalten, Pfeifen geht an sich gut, aber mit ganz falscher Melodie.
Mendel schreibt weiter: „Vielleicht ist auf diese Weise die Tatsache zu er¬
klären (er meint, daß die Amusie rechts zu lokalisieren sei, während die Broca-
region links liege), daß so häufig bei Motorisch-Aphasischen das Melodiesingen
mit Text gelingt, während das Sprechen noch fast völlig gestört ist. Die rechte
Hemisphäre beherbergt eben die motorischen musikalischen Bilder; von ihr aus
können selbst bei Zerstörung des linksseitigen Sprachzentrums die Melodien mit
ihrem Wortlaute geweckt werden. Erst kürzlich beschrieb Ltepmann 5 ) einen Fall
von motorischer Aphasie, in welchem der Patient außer: „Hier. .. hier.. .“
kein Wort sprechen, hingegen ein Lied mit fast fehlerlosem Text singen konnte.
Liepmann schreibt : Wenn Melodie und Rhythmus zu Hilfe kommen — meines
Erachtens von der unverletzten rechten Hemisphäre her — gelängen die Worte,
die sonst nicht herausgebracht werden können.“
Dieser Liepmann sehe Befund zeigt eben nur, daß die Worte eines
Liedes, überhaupt die musikalischen Texte untergeordnete Teile einer
Gesamtsituation sind, in der das Musikalische dominiert. So finden sich
die Worte zur völligen Wiederherstellung der früher erlebten Situation
um so leichter herbei, als sie in dieser an bestimmte Stellen der Melodie
gleichsam spezifisch gebunden sind, w r ährend sie in derselben Zusammen¬
fügung nicht oder viel weniger an die völlig anders geartete Bewegungs¬
melodie der Rede verankert sind. Dies stimmt gut zu der hier früher
geäußerten Auffassung, die dem Brocaschen Zentrum gerade die Frei¬
machung der Bewegungsmelodie in der Rede zugeschrieben hat. Vi-
kariiert z. B. wie es im Liepmannschen Falle zutrifft, die rechte dritte
Stirn Windung für die Brocasche Region, so ist ein Stadium leicht ver-
100
G. Herrmann:
ständlich, in dem die früher dominierende Eigenleistung dieser Region
die neu übertragene Leistung gewissermaßen erst aktivieren muß.
Der Fall von Mendel bringt zusammen mit dem Fall von Mann
(wie Mendel selbst betont) ein starkes Argument für die Annahme,
daß die rechtshimige Stimleistung bei der Produktion musikalischer
Gestaltungen überwiegt. Der erwähnte Befund Liepmanns zeigt, daß
auch der sprachliche Text nur eine den Klangwirkungen zugeordnete
Teilwirkung bedeutet, die sich mit den Klangwirkungen zusammen in
das Raumgitter des Rhythmus einordnet.
Der Fall Försters 6 ) zeigt die gleichen rechtshimigen Beziehungen
wie die beiden besprochenen Fälle. Es bestand gut erhaltenes Verständ¬
nis für alle Elemente der Musik; der Kranke war aber nicht imstande,
eine bekannte Melodie richtig zu singen.
Beim Nachsingen der einzelnen Töne der Tonleiter trifft Patient in
der Mittellage die Töne richtig, in der Höhe und Tiefe neigt er in perse-
veratorischer Weise dazu, auf dem vorhergehenden Ton zu verbleiben.
Gerade die hier vorhandene Perseveration ist der gleiche Vorgang wie bei
der motorischen Aphasie das Wiederholen von Wortresten, von denen der
Patient erst befreit werden muß, wenn er im Sprachunterricht Fort¬
schritte machen soll. Die Perseveration zeigt uns die mangelnde Freiheit
in der Bewegungsfolge; sie wirkt durch zwangsläufige Wiederholung
von Innervationsfolgen immer der gleichen Bewegungsimpulse.
Im Falle Rohardt 1 ) handelt es sich um einen musikalisch gut be¬
gabten rechtshändigen Menschen, der durch einen Kopfschuß rechts
im Bereiche des Stirn- und Scheitelbeins unfähig wurde, eine Melodie
richtig zu singen und zu pfeifen bei ungestörtem Musik Verständnis.
Im Anfang war die Unfähigkeit zum musikalischen Ausdruck kompli¬
ziert durch eine Apraxie der Mundbewegungen. Bei dem Patienten ge¬
lang es, die motorische Amusie, als sie sich schon teilweise zurückge¬
bildet hatte, experimentell wieder in größerer Stärke hervorzurufen.
Bei Vereisung der Narbenfläche mit Chloräthyl trat eine deutliche
Verschlechterung der musikalischen Leistungen hervor. Während
Patient vorher z. B. eine Tonleiter ziemlich richtig zu singen im¬
stande war, überspringt er jetzt einzelne Töne und verliert den Rhyth¬
mus. So kommt es zur Verstümmelung von vorher gut gesungenen
Melodien.
Zu betonen ist in diesem Fall vor allem, daß er bei der Vereisung der
Narbe den Rhythmus verliert, was ganz mit unserer Auffassung zusam¬
menstimmt.
An dem Falle scheint mir weiter wichtig, daß ein in der Jugend be¬
standenes Stottern nach der Verwundung wieder auf trat, nach 8 Wochen
aber sich wieder verlor; wie das aphasische Stottern durch Haftenbleiben
oder unzeitgemäßes Einschießen von Innervationen den Rhythmus
Zur Lehr© von der motorischen Amusie.
101
der Rede stört, so steht hier das Stottern vieleicht in Beziehung zu den
Störungen des musikalischen Rhythmus.
Eine etwas eingehendere Betrachtung muß den zuletzt von H. Brun¬
ner*) mitgeteilten 2 Fällen von motorischer Amusie gewidmet werden,
weil sie wertvolle Beobachtungen enthalten, die zur theoretischen
Erörterung der Frage wichtig sind, wenn ich auch die Auffassung des
Autors über die Fälle nicht durchaus teilen kann. In Brunners 2. Falle
handelt es sich um eine Verletzung auf der linken Stirnseite, ziemlich
weit nach vom. Seit der Verwundung klagt er über Schwindel, der
darin besteht, daß er plötzlich das Gefühl habe, als ob es ihn nach der
linken Seite zöge, so daß er in Gefahr ist, umzufallen. Dieser Schwindel
tritt besonders dann auf, wenn er sich irgendwie anstrengt. Drehschwin¬
del hat er dabei nie. Nach der Verwundung Nachlassen der musikalischen
Fähigkeiten. Er bemerkt selbst, daß er falsch singe; auch hat er keine
Freude mehr am Geigenspiel und könne sie selbst nicht mehr stimmen.
Außerdem konnte er nach der Verwundung hie und da Worte nicht ver¬
stehen. Wenn 2 oder mehrere Menschen auf ihn einsprechen, so versteht
er auch jetzt nicht, was man zu ihm spricht. Ein Lied beginnt er zu¬
nächst richtig, nach einigen Tönen singt er es aber ganz falsch weiter.
Auch das weiß er. Er sagt, daß er im Halse etwas verspüre, ,,das ihn den
Ton nicht fassen“ lasse.
Wie aus der von Brunner beigegebenen Abbildung ersichtlich ist,
reicht die Verletzung sehr weit nach vorne, so daß eine Verletzung des
Stimpols sehr wahrscheinlich ist. Der Zug nach der linken Seite ohne
Drehschwindel ist homolateral ; er geht nach der Seite der Verletzung;
im Syndrom bei Absceß des rechten Stimpols (Pötzl) fanden sich homo¬
lateral beginnende doppelseitige Jacksonanfälle; im Falle Brunners
erscheint dieser homolaterale Zug einer Aura oder Mahnung sehr ähnlich;
so läßt er sich dann auch hier als Lokalsymptom der Stimhimverletzung
auffassen.
Die scheinbare Störung des Sprachverständnisses, die gerade dann
kommt, wenn mehrere Reden miteinander konkurrieren, läßt sich als
eine Störung in der freien Verteilbarkeit der Aufmerksamkeit auffassen
und wäre dann ebenfalls den Stimhimsymptomen zuzuzählen (Gold¬
stern) 9 ).
Neu und unbekannt ist die Tatsache, daß die Verletzung des linken
Stirahims motorische Amusie erzeugt. Es ist aber von vornherein nicht
ausgeschlossen, daß nicht nur wie in den bisher bekannt gewordenen Fällen
im rechten, sondern auch im linken Stimhim die von uns geforderte
Fähigkeit lokalisiert ist. Es ist zu beachten, daß die Stimhimläsion
im Brunner sehen Fall nach dem Ort der Verletzung mit den Verletzungen
der rechtshimigen Fälle nicht spiegelbildlich symmetrisch zu sein scheint,
sondern daß die Verletzung zum Teil mindestens dem triangulären
102
G. Hemnann:
und orbitalen Teil der linken F s , also der Stelle vor der Brocaschen
Region zu entsprechen scheint. Man könnte also vermuten, daß der
frontale Bezirk vor der Brocaschen Region ähnliche Beziehungen zu
expressiven musikalischen Leistungen hat, wie sie die frontale Hälfte
der ersten Schläfewindung, also die Region frontal von der Wemicke-
schen Stelle für die rezeptiven musikalischen Leistungen erwiesener¬
maßen besitzt ( Edgren , Henschen , Pötzl). Gerade diese Symmetrie in
der vermuteten Anordnung scheint mir beachtenswert; es scheint mir
die Möglichkeit, daß auch das linke Stimhim mit musikalischen Fähig¬
keiten in Verbindung steht, in diesem Falle Brunners zumindesten
nicht von vornherein ausschließbar zu sein.
Auf diese Art scheint mir die Auffassung des Autors, der seine beiden
Fälle funktionell aufzulösen trachtet, zwar teilweise richtig, doch un¬
vollständig; es ist eben jetzt bereits möglich, aus dem bekannt geworde¬
nen Eigenschaften der Eigenleistungen des Stimhims über die Art
dieser funktionellen Bedingungen zu genaueren Vorstellungen zu gelangen.
Wir sehen die Funktion der rechten 2. Frontalwindung nicht darin,
daß sie ein Kehlkopfzentrum im engeren Sinn darstellt, sondern daß sie
dem Kehlkopf von zwangsläufigen primitiveren Innervationen befreit
und ihm jene Freiheitsgrade gibt, die ihn befähigen, den Anforderungen
des Gesanges gerecht zu werden. Wir nähern uns auf diese Weise den
Auffassungen Henschens , wie er sie aus der Zusammenstellung aller
älteren Beobachtungen gewonnen hat. Auch Henschen nimmt ja neben
dem fokalen Kehlkopfzentrum und außerhalb von diesem eine Region
an, deren Eigenleistungen für das musikalische Ausdrucksvermögen
spezifisch in Betracht kommt. Nur machen wir uns über die Art dieser
Eigenleistungen jene Vorstellung, die sich auch bei der Betrachtung
der Eigenleistung anderer Stimhimzentren uns bereits ergeben hat:
Wir sehen in ihr hauptsächlich eine Befreiung von zwangsläufigen Ein¬
stellungen, eine Loslösung von automatischen Rhythmen, wodurch erst
frei gewollte Rhythmen zustande kommen können. Verletzungen der
2. Frontalwindung rechts bewirken vielleicht zuweilen überhaupt eine
Störung der Fähigkeit, frei Rhythmen zu bilden*), wobei schon durch die
Störung des Rhythmus die Intervalle gestört werden, wenn sie sich an
ihn anlagem sollen. Jedenfalls aber ist in allen in Betracht kommenden
Fällen diese Anlagerung der Klangfüllung an den Rhythmus gestört;
wenn sie sich vollziehen soll, leidet die Klangfüllung am schwersten,
aber auch der Rhythmus. Ein einfaches Beispiel für das, was hier ge¬
meint ist, bietet etwa der Marschrhythmus. Man kann sich vorstellen,
daß er sich gleichsam vom motorischen automatischen Akt des Marsches
loslösen muß, um eine Mannigfaltigkeit von Klangwirkungen an sich
anlagem zu können, und daß diese Befreiung des Marschrhythmus
*) Vgl. den oben besprochenen Fall von M. Mann .
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
103
vom motorischen Akt und damit seine Anziehungskraft für die Klang¬
welt ganz oder teilweise verloren geht, wenn die Eigenleistung dieser
Stimhimgebiete ausfällt.
Möglicherweise können indessen die Intervalle und Tonhöhen auch
primär vom Stimhim aus gestört sein, wenn nicht so sehr der zeitlichen
Aufeinanderfolge, sondern den einzelnen Innervationsakten beim
Singen, z. B. dem Singen eines Tons, die Freiheit in der Kehlkopfbe¬
wegung infolge einer zentralen Störung mangelt*).
Mit der im Vorstehenden gegebenen Auffassung wollen wir nun
an die Betrachtung einer eigenen Beobachtung gehen, bei der es sich
ebenfalls um eine motorische Amusie handelt, aber um andere, zunächst
scheinbar ganz unverständliche Verhältnisse der Lokalisation.
Der im folgenden beschriebene Fall hat allerdings sehr viel Lücken
in der Beobachtung, die eine Folge äußerer Umstände sind. Nichts¬
destoweniger erscheint es uns infolge seiner Symptomatologie und seines
anatomischen Befundes notwendig, ihn zu veröffentlichen und ihn
wenigstens versuchsweise in Zusammenhang mit den neueren Anschau¬
ungen über diese Frage zu bringen. Der Fall ist folgender:
Ungefähr 14jähriges Mädchen. Der Fall lag in einem Landkrankenhaus
iXeuhaus in Böhmen; ich verdanke der Liebenswürdigkeit des dortigen Chef¬
arztes, Dr. Rychlik , sowohl die Möglichkeit der Untersuchung als auch das Material).
Bei der ersten Untersuchung am 27. IV. liegt sie in einem eigenartig stuporösen
Zustand zu Bett, gibt auf Fragen keine Antwort, reagiert nicht auf Anruf und
befolgt erteilte Aufträge nicht. Der diensthabende Arzt gibt an, daß sie diesen
Zustand heute zum erstenmal habe, sonst habe sie immer, manchmal sogar witzig
gesprochen. Als zu Beginn der Untersuchung die Extremitäten gehoben werden,
zeitft sich im rechten Arm eine stärkere Spannung als in den übrigen Extremitäten.
Während der Prüfung steigert sich diese Spannung zunächst immer mehr, bis
zur vollständigen Steifigkeit; gleich darauf wird das rechte Bein steif. Erst jetzt
tritt eine Drehung der Augen und des Kopfes nach rechts hin dazu. Der ganze
Körper wird halb gehoben und nach rechts verdreht. Gleichzeitig Schaum vor
dem Munde und Benässen; keine klonischen Zuckungen.
Die somatische Untersuchung gleich nach dem Anfalle ergibt: Linke Pupille
mittelweit; Lichtreaktion sehr träge, rechte Pupille atropinisiert. Im Augen¬
hintergrund beiderseits mäßige Stauungspapille. Abducensparese links; Armreflex
rechts lebhafter als links, beiderseits Babinski; Oppenheim (und Gordon) positiv;
kein Patellarklonus, kein Fußklonus. Bauchreflex fehlt rechts; links ist nur der
mittlere schwach auslösbar. Nach einer Weile beginnt sie etwas schwer besinnlich
Auskunft zu geben. Die Erkrankung habe vor 5 Wochen mit Kopfschmerzen
begonnen, die ständig andauerten und immer heftiger wurden. Die Kopfschmerzen
lokalisiert sie über der linken Stirn, wo auch eine ganz bestimmte, scharf um¬
schriebene Stelle als klopfempfindlich bezeichnet wird. Auf die Frage, ob sie gut
höre, gibt sie präzise an: Ja, fügt aber ganz spontan hinzu, seit sie krank sei , könne
*ie nicht mehr singen , während sie früher gut gesungen habe. Aufgefordert, be¬
kannte Lieder („O Tannenbaum“, „Gott erhalte“) zu singen, singt sie diese ganz
falsch, wobei deutlich zu merken ist, daß der Tonansatz falsch erfolgt; sie setzt
•) Siehe die früher zitierten Befunde A. Picks.
104
G. Herrmann:
schon falsch ein; auch nachzusingen ist sie diese Lieder nicht imstande; doch ist
sie sich ihrer Fehler bewußt.
Beim Gehen und Stehen Fallen nach rechts hinten. Statische und kinetische
Ataxie des rechten Armes. Der Zeigeversuch ist wegen Unaufmerksamkeit der Pat.
nicht ausführbar. Geschmack ungestört; Geruch nicht exakt prüfbar; keine
Hemianopsie.
Bei einer zweiten Untersuchung war Pat. sehr hinfällig; der somatische Befund
war ungefähr gleich. Der Arzt gab an, daß die Gangstorungen (Fallen nach rechts
rückwärts) sehr wechselnd waren, so daß sie oft stundenlang ganz unauffällig im
Zimmer sich bewegen konnte. Dazu gekommen war eine Andeutung einer am¬
nestischen Aphasie; so fand sie z. B. das Wort Glas nicht (es wurde ihr ein Trink¬
glas gezeigt) und eine Andeutung von Paraphasie, z. B. bezeichnet sie Bett als
„blej\ wobei sie sichtlich nicht das Gefühl hatte, ein falsches Wort gesagt zu
haben. Wenige Tage nach dieser Untersuchung Exitus.
Es handelt sieh also im vorliegenden Falle um eine motorische
Amusie, die als erstes Lokalsymptom bei allgemeinen Himdruck-
erscheinungen auf trat. Die übrigen organischen Symptome sind erst im
Verlaufe der Entwickelung der Krankheit hinzugekommen. Wie schon
erwähnt, konnte der Fall aus äußeren Gründen nicht näher untersucht
werden, besonders nicht in Bezug auf die uns hier interessierende Frage
der Amusie; es war nicht möglich, den vorstehenden Befund zu erweitern.
Eine zweimalige, nur halbstündige Untersuchung war natürlich nicht
ausreichend, um alles notwendige Material zu erheben; überdies bildete
der eingetretene epileptische Anfall ein Hindernis für eine genauere
Amusieuntersuchung. Nichtsdestoweniger bietet der Fall in Bezug
auf die hier gestellte Frage ein genügend klares Bild und hat durch
seinen anatomischen Befund eine, wenn auch vorläufig nur kasuistische
Wichtigkeit für die Frage der Amusie. Die beiden beigefügten Abbil¬
dungen lassen folgende Einzelheiten erkennen:
Abb. 1 zeigt einen Frontalschnitt, 1 cm vom hinteren Balkenende. Rechts
ist der hintere Rand des Pulvinar thalami angeschnitten, medial davon der nach
rechts verdrängte Himschenkelfuß. Links ist das vergrößerte Pulvinar thalami
zu sehen; der dunkel gefärbte Teil entspricht ungefähr der Ausdehnung des Tumors.
Der laterale Rand des Pulvinar bis einschließlich des Corp. genicul. 1., dessen
Formation makroskopisch noch deutlich zu sehen ist, ist frei. Vom C. g. med. ist
links nichts zu sehen. Das Mark des hier befindlichen hinteren Anteües der linken
Schläfenwindung erscheint gedehnt. Auch das übrige Mark der 1. H. erscheint
etwas gequollen; die linke Schläfen Windung sieht wie zusammengepreßt aus;
man erhält den Eindruck, daß die Wirkung des Druckes in der Richtung der
linken ersten Schläfenwindung am intensivsten sich geltend gemacht hat.
Abb. 2 zeigt einen Schnitt, 1 1 j 2 cm nach vorn von dem vorhergehenden; er
zeigt eine Verdrängung des rechten Balkenteiles und des rechten Thalamus nach
rechts. Auch hier entspricht die dunklere Partie ungefähr der Ausdehnung des
Tumors, der hier seine letzten Ausläufer nach vorn hin hat. Man sieht deutlich
die Formation des mittleren Teiles des C. g. 1. Medialwärts davon ist Tumor.
Die faseranatomische Untersuchung (Weiger fache Färbung) bestätigt vollauf
diesen makroskopischen Befund. Nirgends finden sich umschriebene Faserausfälle;
auch die Eigenfaserung der Temporalwindungen zeigt keine abnormen Verhältnisse.
36ur Lehre von der motorischen Armrsdo 10H
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Iru Zdl praparat aieht .(Bsn das- C\ L deutlich erhalten; mediahvarr- davon
ist ein zellreielmi Tiuiiur. Hi dent/Ü^/C. g* .nmd* auLe^aueeu sein 7a von
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Mit •Hu.ehmudd auf die. nphier fuLrnde Bespei ftuni/ soll de? it\ dm^o |t|
’bUduß^en ^. ,1 ?tl'.jiicAv^»I ru • • v^ih?hen><irfihn* :
(.ln der Tumor des Pnivinai thaLmi im Fahr von U oikUy (Pdtiu Vmnndö,.!. iUM,
P 7Mb T.aCFI b Ml Fi) ergeben hat -• 'Weser' TmiipV/-c'-r.«u»‘'ht seine jibiiu Avis-
)ieirriüetu£ in» selben jfrouhden Quemcdüntt \vk der hier be.xchriehnn* Fall
i tVinkkr, Tat. XU, Abb. 7 o.md S). Fr vuvhsl alten den ganzem Ventrikel aus-
füDrodi' rioeli weil klier tfm' itolkpn*phuuum hinaus
seine^HftHptdrnelaiAdtrunLV^vhr nu den neeipifal/M» Favrioti ^.v/en \\ m«i Gymä
foa(i?r>rn)js hin, tCa omi eimdt du Strato. zwisrhen.'fVi.-iinia'l^t und
;2wit*elu»nhim maximal -i> *h hm Dave Drliimin- der »Simm xirjüttalia ist in unserem
Fat}^ •.überhaupt- pipFii Avahr/aukhuretir i^uki'nV ixt fm iTtujt/rraehen Falle r>ine
ZüöÄWfiieupie^unv*. <h*r 17 Auf der :**m ih- ltu>t^jrv uhrrhaupt tuebl \^rl)ondeu
G. Herrmann:
10(3
zum Unterschied von unserem Fall, wo gerade diese besonders in Erscheinung
tritt. Nach vom zu reicht der Winklerache Tumor ebenfalls eher noch weiter als
der unsere; seine Hauptdruckrichtung ( Winkler , Abb. 6 und 7) geht aber gegen
den Balken und gegen die zentrale Partie der Hemisphäre, während ein Druck
gegen den Schläfelappen hin nicht zu bemerken ist. In unserem Falle ist das
Unterhorn und Hinterhom spaltförmig. Im Falle Winklers ist das Unterhorn
hydrocephal erweitert.
Auch im Winklerschen Fall ist das C. g. 1. strukturell erhalten, das C. g. m.
im Tumor aufgegangen. Auf den letzteren Befund bezieht Winkler eine gering¬
gradige Schwerhörigkeit, die in seinem Falle vorhanden war; über die musikalischen
Fähigkeiten des Kranken finden sich keine Angaben.
Abgesehen von der Störung des optischen Formensehens bestand
auch im Winklerschen Falle höchstens eine hemianopische Einschrän¬
kung des Gesichtsfeldes nach rechts, keine volle Hemianopsie.
Zusammengefaßt besteht also im Falle Winklers eine Hauptdruck¬
wirkung des Tumors auf die parieto-occipitalen Systeme, in unserem
Falle auf das System der T r Daß im Falle Winklers die Störung des
optischen Formensinnes, in unserem Falle aber Störung des musikali¬
schen Gestaltungsvermögens in den Vordergrund treten, ist damit in
guter Übereinstimmung.
Streng genommen läßt sich im Winkler sehen Falle die Störung des
Formensinnes nicht mit absoluter Sicherheit auf die Läsion des Pulvinar
thalami allein beziehen, da auch die Strata sagittalia des Parietoocci-
pitallappens stark gedehnt sind.
Der hier beschriebene Fall würde also die Auslösung einer moto¬
rischen Amusie durch einen Tumor des Pulvinar thalami zu bedeuten
haben, dessen Hauptwirkung auf das linke C. g. med. und auf die Faser¬
systeme dieses Zwischenhimganglions samt 1. Temporalwindung sich
erstreckten, jedoch so, daß der Hauptanteil dieser Schädigung das
Zwischenhimganglion selbst betrifft, nicht die Rinde.
In der bisherigen Literatur existiert bisher keine einzige sichere
Beobachtung von motorischer Amusie bei Läsion des Schläfenlappens.
Allerdings kann der 1. Fall von Hans Brunner — freilich in einer Auf¬
fassung, die von der Meinung des Autors selbst abweicht — vielleicht als
eine motorische Amusie bezeichnet werden.
Es handelt sich um einen 35 Jahre alten Geschäftsdiener mit rechts¬
seitiger Mittelohreiterung. Befund am 31. XII. 1917: Links Babinski,
Parese des linken Arms. Operation: Absceß im rechten Schläfelappen,
Entfernung von 1 / 4 Liter Eiter. Nach der Operation linksseitige Hemi¬
anopsie. Ungefähr 1 Jahr nach der Operation erster epileptischer Anfall
mit Zungenbiß. Die Anfälle meist nächtlich, wiederholen sich in längeren
Zeiträumen. Schwächerwerden auf der linken Körperhälfte, Ungeschick¬
lichkeit der linken Hand ; obwohl er Rechtshänder ist, empfindet er diese
Ungeschicklichkeit mit der linken Hand doch sehr deutlich. Schmerz
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
107
wird links schwächer empfunden als rechts, gelegentlich kommt es vor,
daß ihm Worte nicht einfallen. Vor seiner Erkrankung habe er gern und
oft gesungen. Jetzt könne er nicht mehr singen. Aufgefordert, das
„Gott erhalte“ zu singen, beginnt er zunächst in einer höheren Tonlage
zu sprechen, und zwar vollkommen ohne Modulation der Stimme und ohne
Akzentuierung. Er gibt spontan an, daß er ganz falsch gesungen, daß
er mehr gesprochen als gesungen habe. Ebenso ist das Nachsingen falsch,
wobei er sich seines Fehlers bewußt ist. Aufgefordert, den Rhythmus
eines Walzers oder einer Polka durch Händeklatschen nachzuahmen,
vermag er das nicht. Wenn es ihm vorgemacht wird, erkennt er sofort
den Walzer- bzw. den Polkarhythmus. Er wird aufgefordert: „Kommt
ein Vogel“ ... zu pfeifen. Er pfeift wohl im richtigen Rhythmus , aber
vollkommen falsche Melodie. Melodien werden richtig erkannt. Es
wird ihm der Anfang des Kaiserliedes vorgesungen; er singt den vor¬
gesungenen Teil im richtigen Rhythmus, singt auch kleine Bruchstücke
daraus mit richtiger Melodie, dazwischen aber eine ganz falsche Melodie.
Als man ihn auffordert, die Fortsetzung der Melodie, die ihm nicht
vorgesungen war, weiter zu singen, produziert er eine vollkommen
melodielose Tonfolge. Hingegen wird das Feuerwehrsignal spontan
richtig gesungen.
Wir haben hier also kurz zusammengefaßt eine motorische Amusie bei
Läsion des rechten Schläfelappens, charakterisiert dadurch, daß in
der Hauptsache das Singen und Nachsingen von Melodien nicht gelingt,
während die Auffassung von Tönen sowohl wie von Rhythmen erhalten
ist. Auch einfache Rhythmen bzw. Klangbilder, wie das Feuerwehr¬
signal, werden spontan richtig produziert.
Von sonstigen neurologischen Erscheinungen, die die Lokalisation
ermöglichen helfen, bestehen folgende: Parese und Ungeschicklichkeit
der linken Hand, linksseitige Hemianopsie, Herabsetzung der Schmerz¬
empfindung auf der linken Körperhälfte.
Dieser Fall Brunners betrifft einen rechtshimigen Schläfelappenherd;
da ( Bonvicini) vielleicht latente Linkshändigkeit im Spiele ist, fällt im
Vergleich mit meinem Fall diese Seitendifferenz weniger ins Gewicht.
Brunner vermutet, daß in seinem Fall die Hörstrahlung geschädigt
ist; in unserem Fall handelt es sich mit Sicherheit um eine Zerstörung
des C. g. m., des Zwischenhimganglions der Hörstrahlung; beachtet
man das, so wird unser Befund dem 1. Fall Brunners auffallend ähnlich .
Indessen erscheint uns auch hier die Bedeutung der epileptischen
Anfälle für die Entstehung der Amusie sehr beachtenswert; einerseits
ist ja die Amusie erst einige Jahre nach der Operation konstatiert worden,
andererseits ist in dem bekannten Falle Edingers*) der ganze rechte
*) Dtsch. Arch. f. klin. Med. 73 , 304: Es heißt dort: „Das Gehör ist voll¬
kommen normal, erkennt vorgepfiffene Volkslieder mit dem linken Ohr“ (rechts
108
G. Herrmann:
Schläfelappen entfernt worden, ohne daß es zu Störungen der musi¬
kalischen Ausdrucksfähigkeit oder des Nachsingens gekommen wäre.
Auf die Art, wie diese epileptischen Anfälle hier zu wirken scheinen,
soll etwas näher eingegangen werden. Bekanntlich sind bei basalen
Schläfenlappenherden allgemein epileptische Anfälle überhaupt sehr
häufig. Man darf sich wohl vorstellen, daß gerade der Mechanismus dieser
Anfälle zunächst und besonders schwer auf diejenigen Bezirke der linken
Hemisphäre übergreift, die mit der epileptogenen Zone spiegelbildlich
symmetrisch sind. Diese Annahme rechtfertigt sich schon aus der
bekannten Tatsache, daß bei Anfällen mit ausgeprägter Deviations¬
tendenz im Verlaufe der Epilepsie überaus häufig spiegelbildlich ab¬
laufende Anfälle dazu kommen; sie wird indessen auch gestützt aus den
spezielleren Erfahrungen über doppelseitige Jacksonanfälle, die Lömy
und Pötzl 10 ) an einem operierten Scheitellappenendotheliom (rechts),
Pötzl an dem mehrfach zitierten rechtshimigen Stimpolabsceß gewonnen
haben. Nach diesen Erfahrungen geht eine spezifisch gerichtete Wirkung
beim rechtshimig ausgelösten epileptischen Anfall über die Balken¬
kommissur hinweg zu entsprechenden Territorien der linken Hemi¬
sphäre. Man darf sich diese Wirkung aber nicht als eine Leitung von
innervatorischer Erregung vorstellen, sondern als den Wegfall einer
hemmenden Wirkung, die durch den Balken von der rechten Hemi¬
sphäre auf die linke übertragen wird, und die {Pötzl) die Zentren in ihrer
Schutzwirkung gegen das periphere Abstürzen der zentrifugalen Er¬
regungen unterstützt. Der Wegfall dieser Wirkung betrifft sicher auch
die Eigenleistung der betreffenden Zentren überhaupt; sofern diese
Eigenleistung etwa Beziehungen zum musikalischen Ausdrucksvermögen
hat, wird sie auch durch die Störung geschädigt werden, deren Ausdruck
die epileptischen Anfälle sind. Diese Erwägung macht den Gegensatz
zwischen der Rechtshimigkeit des Brunner sehen und der Linkshimigkeit
unseres Falles noch geringer, als er durch die Annahme einer latenten
Linkshändigkeit in Brunners Fall (Bonvicini) ohnehin schon ist ; wahr¬
scheinlich wirken beide Momente zusammen und so dürfen wir vielleicht
die Seitendifferenz in der Betrachtung der beiden Fälle vollkommen
vernachlässigen.
Damit ist aber auch schon angedeutet, daß die amusischen Erschei¬
nungen auf der Störung einer Querfunktion mehr oder weniger genau
bestimmbarer Großhimrindenpartien beruhen.
Wenn wir nun zur Betrachtung unseres eigenen Falles übergehen,
so müssen wir vor allem nach der Bedeutung des Pulvinar thalami
eine periphere Störung am Trommelfell), singt selbst richtig und rein. „Er ver¬
stand vieles von dem, was gefragt wurde, nicht. An der Sprache fiel nur die Lang¬
samkeit auf. Es fehlten keine Worte.“ Allerdings kommt die Linkshändigkeit
im Fall Brunners hier als wichtiger Unterschied in Betracht.
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
109
im allgemeinen fragen. Nach A. Kappers 11 ) erfährt beim Menschen
und schon bei den Primaten das dorsolaterale Thalamusgebiet — das
Pulvinar thalami — gegenüber den anderen Säugetieren eine starke
Vergrößerung. Die Bedeutung dieser Vergrößerung leitet Kappers
von der Tatsache ab, daß der obere Abschnitt des lateralen Kernes an
das Gebiet grenzt, in dem die thalamocorticalen Fasern für die Arm-
und Beinregion der Rinde entstehen; die Vergrößerung dieses Gebiets
bedeutet also, „daß Hand und Finger Explorationsorgane werden und
die starke Ausbildung dieses thalamischen Korrelationsgebietes mit der
Freiwerdung der vorderen Extremität und der Bildung des aufrechten
Ganges zusammenhängt“. Beim Menschen strebt ein Teil der Opticus-
fasem dem Pulvinar zu; darunter befinden sich auch ungekreuzte Ele¬
mente; weil dort nach Clarke und Horsley auch Fasern des vorderen
Kleinhimbindearms sind, gehen diese somit bereits im Thalamus stereo-
gnostische Korrelationen ein. „Das Aufsteigen sekundär sensibler
Bahnen zu dieser Gregend beruht in erster Instanz auf Korrelationen,
welche diese Bahnen dort finden. Darauf folgt erst die höhere Korre¬
lation in der Rinde. Ich bin denn auch davon überzeugt, daß keine einzige
Rindenprojektion, welche von den Thalamuskemen ausgeht, rein ist in
dem Sinne, daß sie nur eine Sinnesqualität eines Teiles repräsentiert,
wenn auch eine Sinnesqualität in jedem System überwiegen dürfte.“
Wir haben hier eine anatomische Anschauung vor uns, die klinisch
bereits durch einen eindeutig klaren Fall belegt ist. C. Winkler 12 ) hat in
seinem Falle von Tumor des Pulvinar thalami (Befund s. o.) nachge¬
wiesen, daß bei erhaltener Lichtempfindung die Erkennung von Figuren,
und zwar in hemianopischer Anordnung, nicht möglich war. Obgleich
genügend optische Impulse erhalten waren, wurden doch die im gekreuz¬
ten Gesichtsfeld dargebotenen Formen nicht erkannt. Winkler erklärt
das derart (p. 175), daß hier das Ergebnis der Verbindung der optischen
Impulse mit anderen Impulsen, die im Thalamus hätten verwertet
werden sollen, ausfällt*). Das optische Raumbild sei ein analoges Er¬
gebnis wie das taktile, das durch das Zusammentreffen verschiedener
sensibler Bahnen in den ventralen Kernen des Thalamus und einer
weiteren Tätigkeit der Rinde entstehe.
Soweit es sich nur um die Anwendung des Gestaltenproblems auf die
Struktur der himpathologischen, im Falle Winklers und in unserem Falle
gegebenen Störungen handelt, ist es leicht, den Vergleich der Wirkungen
beider Fälle durchzuführen. Wir brauchen nur den Schritt, den Winkler
*) And this being so, it must be conceded further, that the lightimpulses in
themselves are insufficient for the recognizing of shapes, that it is only in their
connection with other impulses a connection prepared within the thalamus, that
they become able to communicate to definite portions of the cortex the data,
enabling this latter to recognize shapes.
110
G. Hemnann:
von der Astereognose zum Mangel des optischen Formenerkennens
gemacht hat, für unseren Fall von der optischen Sphäre auf die aku¬
stische zu übertragen. Der Vergleich der beiden Fälle enthält aber noch
eine andere, dem ersten Anschein nach sogar sehr große Schwierigkeit:
In Winkler8 Fall handelt es sich ja um eine „sensorische“ Störung, um
eine Störung der Wahrnehmung, in unserm Fall handelt es sich um eine
Störung des musikalischen Ausdrucksvermögens, also um eine Störung
von motorischem Typus.
Wir wollen uns zunächst darauf beschränken, das Gestaltpröblem
auf die Struktur der beiden Störungen anzuwenden und dann erst ver¬
suchen, die eben angedeutete Schwierigkeit zu beheben. Optisch handelt
es sich bei der Unfähigkeit der Erfassung der Formen gewiß um den Ab¬
bau einer Leistung, in dem sich ein Zerfall von Gestaltqualitäten kund¬
gibt. Man kann sich diesen Zerfall soweit getrieben denken, daß sich
schließlich das ganze gestaltende Sehen in einem flimmernden oder
homogenen Lichtnebel auf löst, wie dies in einer gewissen Phase der
Rindenblindheit tatsächlich der Fall ist. Daß die Melodie, wenn man si
sagen darf, das erste Urbild aller Gestaltqualität ist und war, hat schon
Ehrenfels l3 ) in klassischer Weise ausgeführt. Ehrenfels hat auf die
Ähnlichkeit von Melodien und Figuren trotz der durchgängigen Ver¬
schiedenheit ihrer tonalen und örtlichen Grundlagen hingewiesen. Es
ergibt sich damit von selbst die Auffassung, daß im Zerfall musikalischer
Fähigkeiten durch zentrale Störungen ein analoger Zerfall von Gestalt¬
qualitäten liegt, wie beim Zerfall des räumlichen Formensehens; ein
genügend weit getriebener Zerfall im Aufbau der akustischen Gestalt-
qualität würde schließlich bis zu den elementaren Geräuschempfindungen
mancher epileptischen Aura hinführen, die sich dem Nebel bei der
Rindenblindheit leicht analogisieren lassen. Damit ergibt sich eigentlich
schon, daß es sich beim Abbau akustischer Gestaltungen durch Herd¬
erkrankung der ihnen zugeordneten Anteile des Zwischenhims um
prinzipiell denselben Vorgang handelt, den Winkler als eine Folge der
gleichen Läsion für den optischen Formensinn annimmt; es ist ein Vor¬
gang in einem anderen Sinnesgebiet, aber ein Vorgang von gleicher
Wertigkeit, vielleicht von einer analogen Struktur. Es wäre nur weiter
zu versuchen, die von Winkler postulierte Rindentätigkeit („after
further activity of the cortex“) noch genauer zu bestimmen.
Für die Raumanschauung, die in der Welt der optischen Formen
gütig ist, wäre das auf Grund der vorliegenden Befunde und Tatsachen
nicht so schwierig. Es hat sich ja gezeigt (Pötzl u , 15 ), Herrmann 1 *)),
daß sehr viel von der Raumanschauung auf optisch-haptischem Gebiet
sich exakt auf einen Vorgang zurückführen ließ, der die Keime von
Bewegungsimpulsen in Aktivatoren der Wahrnehmung um wand eit.
Es hat sich weiter gezeigt, daß dieser Umwandlungsvorgang eine der
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
111
Hauptleitungen der (zentroparietalen und parieto-occipitalen) Hirn¬
rinde ist und sich dadurch veranschaulichen läßt, daß die Hirnrinde
Energie gleichsam an sich zieht, ablenkt und an verändertem Orte
wieder bindet.
Bei der viel schwierigeren Frage, ob und wieweit räumliche Qualitäten
in den Zustandsraum der musikalischen Gestaltungen eingehen, ist eine
auf alle Einzelheiten hin gerichtete Anwendung des gleichen Prinzipes
vorläufig noch recht schwierig. Immerhin aber kann man sich vorstellen,
daß die T 2 der linken Seite in unserem Falle wegen der Zerstörung bzw.
schweren Schädigung des ihr zugehörigen Zwischenhimgebietes nicht
mehr imstande war, auf diese Anteile des Zwischenhims jene Wirkung
auszuüben, durch die sich motorische Einstellungen in akustische Ge¬
staltungen um wandeln. So wäre wenigstens erklärbar, daß in unserem
Falle die direkt anscheinend nicht geschädigte, nur komprimierte T 2
trotz der Intaktheit der zu ihr leitenden und von ihr wegleitenden
Fasersysteme doch die Störung einer spezifischen Eigenleistung erlitten
hat, und daß die Störung dieser spezifischen Eigenleistung akustische
Gestaltungen betrifft.
Nicht erklärt wäre damit aber, daß diese Störung der Wechselbe¬
ziehung zwischen T\ und Zwischenhim sich geäußert hat 1. gerade in
einer Störung der musikalischen Gestaltung, 2. gerade in einer expressiven ,
also ihrem Typus nach motorischen Störung. Wir kommen damit auch
wieder zurück zu dem zweiten der früher aufgestellten Probleme.
Was den Umstand betrifft, daß diese Störung spezifisch auf das Ge¬
biet der Musik beschränkt zu sein schien, so läßt sich zunächst verstehen,
daß hier nicht eine allgemeine Hörstörung auftreten mußte. Bekanntlich
bewirken einseitige Läsionen des zentralsten Bezirkes der T 1 -Rinde
selbst, der Heschl sehen Querwindungen, in einer ganzen Reihe von
Fällen keine allgemeine Hörstörung, so z. B. nicht die rein linkshimige
Läsion des Heschl in dem Falle von Leitungsaphasie von Liepmann
und Pappenheim . Es ist leicht denkbar, daß das, was für die Heschl sehen
Querwindungen gilt, auch für die Läsion der ihr zugehörigen Zwischen¬
hirnanteile richtig ist. Es wäre dies bis zu einem gewissen Grade eine
Analogie dazu, daß auch die Läsion des Pulvinar thalami für sich allein
keine Hemianopsie macht. So wäre es schließlich verständlich, daß die
einseitige linkshimige Läsion der akustischen Anteile des Zwischenhims
unter Umständen keine allgemeine Hörstörung zu machen braucht. Es
wäre auch dieses vielleicht noch als eine Folge der Halbkreuzung der
akustischen Bahnen zu verstehen.
Schwieriger zu erklären ist, daß die Störung sich ausschließlich auf
die Sphäre der Musie zu beschränken schien, vor allem, daß sie aus¬
schließlich mit einer solchen begonnen hat; später kam ja ohnehin
Aphasie mit Paraphasien dazu. Indessen drängt sich hier die Analogie
112
G. Herrmann:
mit dem C. g. 1. auf; das C. g. 1. (samt Pulvinar thalami) ist ja der Haupt-
träger für die Projektion des Gesichtsfeldes auf die Occipitalrinde;
bestimmten Anteilen des C. g. 1. entsprechen bestimmte Anteile des
Sehraums. Nimmt man mit Munk eine Projektion der Schnecke auf die
corticale Hörsphäre an, stellt man sich diese nach Munk als eine Pro¬
jektion der hohen und tiefen Töne auf die Hörsphäre vor, dann wäre das
C. g. m. (zusammen vielleicht mit Teilen des Pulvinar thalami) wahr¬
scheinlich der Hauptträger dieser Projektion. Daß die rezeptive Amusie
in einzelnen Fällen die Verhältnisse einzelner Tonlagen gesondert be¬
trifft, beweist ein Fall von Quensel und Pfeifer 11 ).
Es wäre also nur die Anwendung einer naheliegenden strukturellen
Analogie mit den Verhältnissen der Sehsphäre, wenn man das C. g. m.
(evtl, mit Anteilen des Pulvinar thalami) ebenfalls als einen Haupt¬
träger einer Projektion der Schnecke betrachten würde; dann aber
würde eine Läsion des C. g. m. auch geeignet sein, diese Projektion und
damit gerade die musikalische Gestaltung zu stören.
Allein das ließ noch immer erst eine rezeptive Störung des musi¬
kalischen Gestaltungsvermögens, evtl, dazu noch die aus ihr folgende
emissive erwarten. Die Frage bleibt, warum in unserem Fall anscheinend
nur die expressive Störung in Erscheinung treten konnte. Die Betrach¬
tung der Störungen des Thalamus hat aber ergeben, daß zuweilen
durch seine Läsion motorische Einstellungen gewissermaßen frei werden,
die, sonst gebunden, zentral verarbeitet werden und zur Aktivierung der
Wahrnehmung dienen (Pötzl-Fischer). Diese Analogie zusammen mit
den früheren Erwägungen über das Ausbleiben einer allgemeinen Hör¬
störung bei einseitigen Läsionen des zentralen akustischen Apparates
würde schließlich auch das verstehen lassen, daß in diesem Fall nur
störende motorische Einstellungen zum Vorschein kamen, die zum Falsch¬
singen führten und die Freiheit der Tongebung beim Singen behinderten,
ohne das Gehör zu beirren.
Sollte dies zutreffen, dann wäre der eigenartige Befund dieses Falles
im ganzen erklärt ; es würde sich zugleich ergeben, daß die Bildung der
Tonqualität für die bewußte Wahrnehmung eine ähnliche Struktur auf-
w r ei8t, wie sie für die Lokalisation von Tasteindrücken und Bewegungs¬
empfindungen innerhalb der haptischen Sphäre bereits auf Grund vieler
Tatsachen angenommen werden darf. Es wären also in erster Linie
auch hier zentrale einstellende Wirkungen , die die Projektion in der
Hörsphäre und die ungestörte Tätigkeit des C. g. m. gewährleisten.
Für den Anteil der linken Heschl sehen Querwindungen an der Leitungs-
aphasie ist bereits ein solcher Erklärungsversuch gemacht worden.
Der eigenartige Befund des hier beschriebenen Falles scheint meines
Erachtens diese Erklärung auf die projektiven Beziehungen zwischen
C. g. in. und Hörsphäre überhaupt auszudehnen. Es bleibt aber noch
Zur Lehre von der motorischen Amusie. 113
immer die Frage, welche motorische Einstellungen es sind, die hier als
Aktivatoren der Klangbildung zu betrachten sind.
Hier liegt es im Sinne der eingangs gegebenen Erörterungen nahe,
jene Beziehungen zwischen Rhythmus und Klangbildung heranzuziehen,
die anläßlich der Besprechung der frontalen Fälle von expressiver
Amosie hier im früheren erwähnt worden sind. Auch dies wäre nur eine
Analogie mit den bereits klargestellten Verhältnissen in der engeren
und weiteren Sehsphäre. Während die Projektion des Gesichtsfeldes
»ich auf den verhältnismäßig engen Umkreis der Aria striata beschränkt,
reicht der Umkreis des zentralen projizierenden Vorganges weit über
diese hinaus und scheint von parietalen Rindenpartien (Gyrus angularis,
occipitale Konvexität usw.) auszugehen. Diese Analogie macht es
verständlich, wenn man annimmt, daß die Projektion der Töne in den
verhältnismäßig engen Gebiet einer eigentlichen Klangsphäre und in
Wechselwirkung mit den C. g. m. vor sich geht, während der eigentlich
projizierende Vorgang weit über die Hörsphäre hinausreicht und vom
Stimhim aus seine Direktiven zu erhalten scheint. Das Stimhim würde
dann jenen freien Hintergrund für die Gestaltung der Klänge schaffen,
der sich nach der Seite der Leistung hin in der Freiheit des musikalischen
Ausdrucksvermögens, nach der morphologischen Seite hin in den pro¬
jektiven Verhältnissen der Klangsphäre des Großhirns ausdrückt;
vom Stimhim aus würde gewissermaßen die Klangsphäre obgestimmt.
Das C. g. m. wäre dann samt dem Pulvinar thalami nur der Endpunkt
jener Gesamt Wirkungen, deren Anfangspunkt in den Stimzentren der
expressiven Musie gegeben zu sein scheint. Eine Stütze für diese auf den
ersten Blick vielleicht recht ungewöhnlich erscheinende Anschauung
liegt in der von A . Kappers gegebenen, im vorigen erwähnten Beziehung,
nach der gerade die Vergrößerung des Pulvinar thalami und seiner
Nachbarbezirke im Zwischenhim mit dem Freiwerden der Arme und mit
der Ausbildung des aufrechten Ganges parallel geht. Für das C. g. 1.
wt dieser Parallelismus längst bekannt; der Anteil des Stimhims an der
Differenzierung der Arme und des aufrechten Ganges hat sich in den
früher zitierten Fällen erkennen lassen. So wäre diese Stimhimwirkung
über die Brocasche Region und über die engere Hörsphäre hinweg, über
deren Thalamusstiele hin an das C. g. m. gewissermaßen angekoppelt
und würde ein Beispiel jener tonusabsaugenden Wirkungen darstellen,
die den Hintergrund der Gestaltungen auf dem Gebiete der Bewegung
und Wahrnehmung schafft und deren einfachste Beispiele die früher
zitierten Stirnhimbefunde sind. Auch diese Vermutung findet eine ge¬
wisse Stütze darin, daß die Rindenstruktur der Brocastelle und die der
Heschlschen Windungen Späterwerbungen sind, während gerade die
tyraehsphäre und die mit der sensorischen Musie in Verbindung gebrach¬
ten Zentren in T, nicht oder höchstens zum Teil eine solche Neu-
Z. r. <L g. Neu T. u. Psych. XCIII.
8
114
G. Herrmann:
erwerbung darstellen. Es wäre also in der Tat eine zentrale Trans¬
formation der Rhythmen von Bewegungsgestalten auf die Klangsphäre,
die eine musikalische Klangbildung erst ermöglicht. Sie stimmt das
C. g. m. ab und wirkt über dieses hinweg organbildend nach der Richtung
der Schnecke hin. Die Struktur dieses Organs und die Tatsachen, die
Helmholtz in seiner Resonanztheorie vereinigt, wären in einem gewissen
Sinne erst die Ergebnisse der ontogenetisch abstimmenden, phylo¬
genetisch formativen Tätigkeit jenes zentralen Transformations Vor¬
gangs. Dadurch wird auch verständlich, daß das optische Formensehen
hauptsächlich die Raumqualität, die Melodiengestaltung hauptsächlich
die Zeitqualität in sich enthält.
Ich möchte vermeiden, daß die hier angedeuteten Anschauungen
mißverstanden werden. Prinzipiell enthalten sie eigentlich nichts
anderes, als daß die Trophik und die Differenzierung der Organe vom
zentralen Nervensystem mindestens ebenso sehr abhängt, als die Zentren
in ihrer Ausgestaltnng von den Organen abhängen. Mit den hier ange¬
deuteten Anschauungen ist es selbstverständlich auch in Einklang zu
bringen, daß z. B. der Hund ein viel feineres klangunterscheidendes
Empfinden l>esitzt als der Mensch; Kalischer hat hervorgehoben, daß
man den Hund mit Unrecht unmusikalisch nennt. Wir meinen aber,
daß das doch mit Recht geschieht; denn diese klangdifferenzierende
Tätigkeit muß erst von jenen Einflüssen überbaut werden, die wir im
vorigen betrachtet haben, damit die musikalische Welt des Menschen
entstehe. Beim Menschen ist ja absolutes Tongehör für den musi¬
kalischen Sinn nicht eine unbedingt nötige Voraussetzung. Ebenso soll
hier nicht etwa gesagt werden, daß die Ausbildung der cerebralen Struk¬
turen, von denen hier gesprochen wird, der morphologischen Gestaltung
der Schnecke phylogenetisch vorausgehe. Wir nehmen an, daß jedes
Säugetier, überhaupt jeder Organismus, der seine Klangwelt besitzt,
analoge zentrale Apparate hat, die ihm seine Klangwelt in individueller
Weise abstimmen; sie zu ermitteln, bedeutet eine große Anzahl von
Sonderfällen für die Untersuchung. Hier haben wir uns naturgemäß
auf den Sonderfall der eigenartigen Verhältnisse beim Menschen be¬
schränkt und zu zeigen versucht, daß seine Klangwelt von der Freiheit
der Hand und vom aufrechten Gang ebenso abhängig ist wie sein bino¬
kulares Gesichtsfeld und wie seine Sprache ; ebenso lag uns daran, darauf
hinzuweisen, daß im physiologischen Vorgang der Projektion ein zen
trifugaler Faktor enthalten ist, der die zentripetalen Faktoren erst
leitet, gestaltet und ordnet.
Im Übrigen wird die hier vorgetragene Anschauung über diesen
atypischen Fall meines Erachtens noch dadurch unterstützt, daß er
im Befund und Vorgeschichte einem Stirnhirntumor sehr ähnlich schien;
die Palliativtrepanation ist an der linken Stirnseite gemacht worden,
Zur Lehre von der motorischen Amusie.
115
nicht ohne Hoffnung, daß der Tumor dort gefunden werde. Die vor¬
her durch Rychlik durchgeführte Dauerbeobachtung hatte ja sogar
eine Witzelsucht ergeben. So ließ der Fall nicht nur in bezug auf seine
Amusie, sondern auch in bezug auf sein Gesamtbild eigentlich auch einen
Stimhimtumor erwarten. Dies erscheint wie ein Einzelfall, der die
Verhältnisse illustriert, die im vorigen besonders berührt worden sind:
die parallele Entwicklung des Pulvinar thalami und der beiden C. g.
einerseits, der Stimhimmechanismus mit dem Freiwerden der Hand
und mit der Ausbildung des aufrechten Ganges andererseits (Kappers).
Selbstverständlich soll nicht übersehen werden, daß der hier gebrachte
Fall zunächst nur eine kasuistische Beobachtung ist, die überdies der
Ungunst der Verhältnisse halber nur sehr dürftig und mangelhaft
durchgeführt werden konnte. Ich glaube aber, daß die Veröffentlichung
dieses Falles trotzdem geboten war, da der Fortschritt in einer hirn-
pathologischen Frage dadurch gehemmt werden muß, wenn man nur die
Fälle zu veröffentlichen wagt, die mit dem bisherigen Stande der Frage
stimmen, einen Fall aber unterschlägt, weil er atypisch ist und dabei
zwar im Hauptpunkt klargestellt, aber nicht durch einzelne Befunde
genügend ausgearbeitet werden konnte. Es wäre mir auch unbefriedigend
erschienen, den Fall zu besprechen, ohne wenigstens zu einer Möglichkeit
seines Verständnisses zu gelangen. Die letztere ist in den vorstehenden
Erörterungen gegeben, deren hypothetischen Charakter ich mir nicht
verhehle, soweit sie Anwendungen allgemeiner hirnphysiologischer
Mechanismen gerade auf das Gebiet der Musie enthalten. Die allgemeine
Grundlage dieser Besprechung allerdings halten wir für andere Gebiete
(Stimhim, Scheitelhirn, Sehsphäre) für erwiesen. Die weitere Kasuistik
wird zeigen, ob der hier beschriebene Fall ein einzelner atypischer Befund
bleibt oder ob sich ihm in der Folge noch Einschlägiges angliedem wird.
Vorläufig erscheint der Fall wenigstens insofern als beachtenswert,
als er einerseits einen Anschluß an allgemeinere tonpsychologische
Betrachtungen bieten kann, andererseits aber Beziehungen und Ana¬
logien auf dem Gebiete der Aphasie (Leitungsaphasie) hat ; er ist schon
jetzt nicht ganz vereinzelt, da der eine oben angeführte Fall von Brunner ,
der allerdings ohne Obduktion geblieben ist, weitgehende Ähnlichkeit
mit ihm aufweist.
Zusammenfassung .
Bericht über eine expressive Amusie bei Tumor (infiltrierendes
Gliom) des 1. Pulvinar thalami mit Zerstörung des linken Corpus geni-
culatum mediale. Es wird versucht, durch Vergleich mit den bisher
bekannten frontalen Fällen von expressiver Amusie die Struktur der hier
vorliegenden zentralen Störung genauer zu bestimmen und diesen
scheinbar atypischen Befund in die bisher bekannten Verhältnisse ein¬
zuordnen.
8*
116
G. Herrmann: Zur Lehre von der motorischen Arausie
Literaturverzeichnis.
l ) Pötzl , Wien. med. Wochenschr. 1924, S. 226. — 2 ) Pötzl , Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psychiatrie 1924. — 3 ) Mann , M., Neurol. Centralbl. 1917, S. 149. —
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1916, S. 170. — fl ) Förster, Neurol. Centralbl. 1918, S. 432. — 7 ) Rohardt, Neurol.
Centralbl. 1919, S. 6. — 8 ) Brunner , //., Arch. f. Ohren-, Nasen- u. Kehlkopf-
krankh. 109 , 47. — e ) Goldstein , Med. Klinik 1923, Nr. 28 und 29. — l0 ) Löwy und
Pötzl 9 Med. Klinik 1923, Nr. 41. — n ) Kappers , Die vergleichende Anatomie des
Nervensystems der Wirbeltiere und des Menschen. Bd. II, S. 916. — 12 ) Wink -
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schaftl. Philosophie 14 , 3. 1890. — 14 ) Pötzl , Med. Klinik 1923, S. 7. — 15 ) Herr¬
mann, Med. Klinik 1924, S. 9. — lfl ) Pötzl, Med. Klinik 1924, S. 10. — 17 ) Quensel
und Pfeiffer, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 30 , 363.
(Aus der Prager deutschen psychiatrischen Klinik.)
Über Störungen
der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie.
Von
Prof. Dr. 0. Pötzl,
Vorstand der Klinik.
Mit 7 Textabbildungen.
(Eingegangen am 17, April 19’24.)
1 .
In der Pathologie des menschlichen Großhirns ist es noch immer
nicht zu einer einheitlichen Auffassung jener Erscheinung gekommen,
deren erste Beachtung und vorbildliche Diskussion wir Anton ver¬
danken. Es ist noch nicht klar, welcher Mechanismus es eigentlich
bewirkt, daß bei gewissen Herderkrankungen die Blindheit, die Taub¬
heit oder die Hemiplegie vom Kranken selbst nicht wahrgenommen
oder nicht beachtet werden, während bei anderen Herderkrankungen
von Anfang an die schärfste Selbstwahmehmung für die Ausfallserschei¬
nungen besteht.
Anton hat bekanntlich die Störung der Selbstwahmehmung auf die
Herderkrankung selbst bezogen, indem er sie mit ausgedehnten Mit-
verletzungen der Assoziationssysteme erklärte. In weiterer Folge ha¬
ben Redlich und Bonvicini sich gegen eine solche topographische Deu¬
tung ausgesprochen; sie nahmen für die Erscheinung eine allgemeine
psychische Störung als Ursache an, hielten aber daran fest, daß hier ein
ganz eigenartiger Faktor von psychischer Störung beteiligt sein müsse,
da sich das Symptom von einer allgemeinen Geistesschwäche oder von
Störungen des Gedächtnisses scharf differenzieren läßt. Später hat
sich wieder Albrecht für die Anton sehe Deutung eingesetzt; da sein an
sich sehr interessantes Krankenmaterial Hirntumoren betrifft, ist es
aber nicht ganz geeignet, Einwände zu entkräften, die im Sinne der Auf¬
fassung Redlichs und Bonvicinis auch gegen seine Befunde gemacht
werden könnten. In jüngster Zeit hat sich auch Schilder mehr für die
AnUmsche Deutung ausgesprochen; und so haben sich gerade in letzter
Zeit die Stimmen wieder gemehrt, die in der Nichtwahrnehmung der
Ausfallserscheinungen bei Herderkrankungen des menschlichen Groß-
118
0. Pötzl:
hirns eine Wirkung der Himherde selbst erkennen wollen. Welches
aber die Besonderheit ist, die bestimmte Herde dazu befähigt, die
Selbstwahrnehmung aufzuheben, ist eigentlich noch unklar geblieben.
Ich möchte auf die allgemeine Diskussion des Symptoms nicht
weiter eingehen, bevor ich nicht den eigenen Befund dargestellt habe,
der im folgenden mitgeteilt werden soll. Dieser Befund beschränkt sich
auf einen Sonderfall des Anfcwschen Symptoms: Es handelte sich in
meinen beiden Fällen um die Nichtwahrnehmung einer linksseitigen
Hemiplegie; in beiden Fällen fanden sich Erweichungsherde , die im
wesentlichen nur die rechte Hemisphäre betrafen . Dieser Sonderfall ist
ein neuer 1 ); in den bisher beobachteten Fällen hatte es sich ja entweder
um große Herde in beiden Hemisphären gehandelt (z. B. die Fälle von
Anton selbst und ein Teil der Fälle von Redlich und Bonvicini) oder um
die Wirkung von Hirntumoren (z. B. die Fälle von Albrecht und die
restlichen Fälle von Redlich und Bonvicini). Ich glaube daher, daß
meine beiden Fälle besonders geeignet sind, die etwaigen topographischen
Beziehungen des Anton sehen Symptoms erkennen zu lassen, bemerke
aber, daß alles, was aus ihnen gefolgert werden kann, selbstverständlich
zunächst nur für den Sonderfall gilt, den die beiden Fälle verkörpern.
Der Versuch, diese Ergebnisse auf den allgemeinen Fall des A nfcm sehen
Symptoms auszudehnen, bedarf einer gesonderten Diskussion.
Die erste meiner Beobachtungen stammt noch aus dem Jahre 1917;
sie betraf einen 56jährigen intelligenten und gebildeten Kranken, einen
Arteriosklerotiker, den ich damals durch etwa 3 Monate auf der Klinik
Wagner-Jauregg beobachten konnte (Abb. 1—4).
Bei diesem Kranken war apoplektiform eine volle linksseitige Hemiplegie mit
Pyramidenzeichen entstanden; sie war von Anfang bis zum Ende der Beobachtung
dauernd verbunden mit einer anscheinend vollen linksseitigen Hemianästheeie
für alle Gefühlsqualitäten.
Orientierung, Sprache, Gedächtnis und Merkfähigkeit waren ungestört. In
der Nacht kamen anfangs häufig Delirien; bei Tag w r ar überhaupt keine psychische
Störung nachzuweisen. Trotzdem benahm sich der Kranke durch die ganzen
3 Monate der Beobachtung hindurch stets so, als ob er von seiner Hemiplegie
nichts wüßte oder als ob er sie immer wieder vergessen hätte.
Er versuchte immer wieder aufzustehen, gab dann zu, daß er es nicht könne,
um es eine Viertelstunde später wieder zu versuchen. Er hatte, ganz analog wie
ein Amputierter beim sog. Weir-Mitchellischen Phänomen, die lebhafteste Empfin¬
dung, daß sich die Glieder der gelähmten Seite ordnungsmäßig bewegten; zahl¬
reiche Versuche ergaben den Eindruck, daß unter der Schwelle des Bewußtseins
aufgenommene passive Bewegungen der Glieder, auch Tastreize in späterer Folge
J ) Nach Abschluß der Arbeit fand ich, daß Babinski, der das ^Intoasche
Symptom bekanntlich als Anosognosie bezeichnet, eine Anzahl von Fällen be¬
schrieben hat, in denen die Erscheinung gerade bei linksseitiger Hemiplegie auftrat;
diese und der hier bereits verwertete Kramersche Fall scheinen mir darauf hin¬
zudeuten, daß dem hier dargestellten neuen Befund über die cerebralen Mechanis¬
men dieses Sonderfallcs eine allgemeinere Bedeutung zukommt.
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 119
für das Auftreten dieser halluzinierten Bewegungsempfindungen mit maßgebend
waren; bewußt wahrgenommen 'wurde niemals eine Empfindungsqualität, auch
in der Weise nicht, daß sie etwa in ihrer Lokalisation sich auf die rechte empfindende
Körperhälfte verschoben hätte; ebensowenig kamen je symmetrische Mitempfin¬
dungen der linken Körperseite bei Sensibilitätsuntersuchungen, die die empfindende
rechte Körperhälfte betrafen.
Hemianopsie bestand bei diesem Kranken niemals, wenigstens nicht für
Gegenstände, die der Außenwelt angehörten. Dagegen war der Kranke nie dazu
zu bringen, die gelähmten linksseitigen Gliedmaßen zu betrachten oder ihnen
sonstwie Beachtung zu schenken. Versuchte man das zu erzwingen, indem man
die gelähmte rechte Hand ihm vor die Augen führte, so bemerkte man regelmäßig
eine wie reflektorisch erfolgende deutliche, aber nicht maximale Rechtswendung
der Augen, in der Regel begleitet von der entsprechenden Rechtswendung des
Kopfes. Forderte man ihn auf, nach der Seite der Hand hin zu sehen, so erklärte
er regelmäßig, daß es eine fremde Hand sei, die er sehe: wahrscheinlich von einem
Patienten nebenan oder „Ich weiß nicht, wie sie herkommt“, oder „sie erscheint
so lang, so leblos, so tot wie eine Schlange“. Gleichzeitig fühlte Pat., wie er
regelmäßig angab, seinen eigenen rechten Arm bald in der symmetrischen Stellung
zu der nichtgelähmten rechten Extremität, bald im Sinne irgendeiner der ab¬
laufenden Bewegungshalluzinationen. Pseudospontanbewegungen traten niemals
auf.
In der Nacht und gegen Morgen war der Kranke häufig in deliranter Unruhe;
er wollte immer wieder vom Bett steigen und sank dabei zusammen. Am Morgen
erklärte er dann zuweilen, nunmehr mit dem Ausdruck des starren Entsetzens
auf die hemiplegische Hand schauend , daß hier eine lange, dicke Schlange sei, die
von irgendwoher zu ihm hei ankrieche. Immer sagte er, die Schlange sei: „ganz
weit“ [links 1 )]. Während der nächtlichen Delirien, die übrigens nach dem 1. Monat
der Beobachtung sich verloren, äußert er oft, daß [links 1 )] eine fremde Person im
Bett neben ihm liege, die ihn verdrängen wolle (ähnlich wie viele Paralytiker in
den Delirien nach Anfällen). Befahl man ihm während des Deliriums, die linke
Körperseite zu bewegen, so führte er die geforderten Bewegungen und Handlungen
zuweilen gar nicht, sehr häufig aber mit den rechten Extremitäten aus und be¬
hauptete dann, die linke Seite bewegt zu haben.
Bis zum Ende der Beobachtung blieb dieses Bild unverändert; es war zum
Schlüsse auch von Delirien ganz frei; nur fehlte jedes Zeichen einer geistigen
Veränderung, soweit nicht seine Einstellung zu seiner linken Körperhälfte und
zu seiner Hemiplegie betroffen war. Er starb im Koma nach einem apoplektischen
Insult (Hirnblutung).
Die Obduktion ergab: Frische Hirnblutung, die in das Gebiet eines neben der
Hirnblutung noch kenntlichen alten cystischen Herdes erfolgt war. Blutung und
Herd entsprechen genau der Gegend des unteren Scheitellappens der rechten Hemi¬
sphäre, die an die Inter parietalfurche grenzt; der alte Heid unterminiert den Boden
der Interparietalfurche und reicht am Grund dieser Furche noch etwas in den
oberen Scheitellappen hinein. Die Rinde ist nur an einer kleinen Partie, das Mark
tiefer zerstört; doch ist die untere Grenze des Herdes weit vom Hinterhorn. Fron-
talwärts verschmälert sich der Herd in zwei Ausläufer; in seiner Hauptausdehnung
reicht er nicht ganz bis an die hintere Zentralwandung heran. Occipitalwärts
reicht er in das Grenzgebiet zwischen Gyrus supramarginalis und Gyrus angularis
hinein, bis auf etwa 2 cm Breite hinter dem Balkensplenium. Die Strata sagittalia
sind intakt, der Balken außerhalb der direkten Herdläsion nicht durchbrochen
(Abb, 1).
l ) Die Richtung wurde hierbei pantomimisch bezeichnet.
<i Bolz):
Xh*v vorderen Aushoif't dieser Efweivliiiiit aus einem mehr üoml
^i<!"•* sieh niobr direkt *xin Wa'rfcWw der hinteren Zentral* intlmu diotns
Mark« kioim- Ktsvei<K\ uu .} h>r\ s* U t, weiter vorne 'ds seh»n«lor Streifen auch nodi
*i H* Mink <U'i vorderen ZrntmiM in.Juh^, daa fän^ittMun^einet der Pyramidere
baim und *h- /\*uti>uu\,ri#*?ab>ii Tluiian.ijssik ls ted weine dunhluubf (A(>0. 2 und 3;
I>er untere .\:?skiüiW der Knvei«'huMi? btoil-i bit' Mark des unteren Scheitel-
.te'ppw)»'.V^ er: • fli<f» atrata s^ittaiid äu verJetieju auf die he£uinwidrn
{fctfrä'hnifjto yW/.i^rv^iikerri^ über, set^fdrteineiu großen Teil, zerstört
Äucir Capsula ■v'Xt.i&p*, klaräfruip um) Capsula berührt steifonwfce
den Crurnt der fieehmde. Dieser Trii der K; w*»( bun^ endw Fehr •weit, vorne,
nahe jem Ffn^»l^hnvtt liftrrdi Öfejn Sohltdebjk»h iiiit eihj?M s{>itifförtb?^r» Defekt
Futanten; ‘(iaiiebv'n ist kkk ; 1). riri ktciaer .%altr itii Alätk der InscU5egen<l
Üht*r S?ör lUt ^ fM i il.^r SeU^hNalmrdinuiiiL' hei niiksaHtiger Hemiplegie. 121
; f ..
Vorderer t&fkftji]$4 : Ü^-^tiWrn Kapsel um! Nuejgpß c4MdMu&>rccheineci' an verletzt
i.\ui 2,';k und M
4 T...I /•••'•• .
5 ivb«n dir*’-Ul w>u : :u Und hiM.1‘1 Sjf.b noch tf/ia 7, * tritt, vi»m ersten Herd
Abb. 3.
vollkommen äeparMrte iilU'iv Kr>v<*khun;r im Thalatnu.* «»ptieus, .!u* T etwa« frontal-.
y&rts von def posterior i^irim-nd, iibtr die i’onnTvis^uTä molLi«
hinva 5 *!/ noch etwa* \tri**T fmuTaJ reicht und xi«* »on • pj^refcsMItcr Sfinlt das Orcriz*
de# Merliankemcs ihnd d»^ latcjt ätep Kettiv^ in Vier ßstfeen Breite
den Tbaiamu» amtört; In de* tltibe der iilyftüiti AiWltfamtia, diast* Herdes. ist
..Vv./C'
122
0. Pötzl:
auch der Hirnschenkelfuß der rechten Hemisphäre erweicht; Himschenkelhaube
und Substantia nigra sind intakt (Abb. 3).
Die occipitalen Bahnen sind unverletzt; die linke Hemisphäre ist tadellos intakt.
Bei diesem Kranken ist also eine totale Nichtwahmehmung einer
linksseitigen Hemiplegie mit einer Zerspaltung der Einheit des Körpers
in zwei Hälften einhergegangen, zugleich aber auch, wenn man so sagen
darf, mit einer Regeneration der abgespaltenen Körperhälfte durch eine
Phantombildung im Bewußtsein. Es fanden sich, abgesehen von Zer¬
störungen in der Kapsel, die sowohl eine Hemiplegie als auch die Hemi-
anästhesie für sich allein erklären würden, noch Herdzerstörungen im
rechten Gyrus supramarginalis, einem Himteil, der als Zentrum des
Muskelsinns und zugleich als ein ,,Assoziationszentrum“ angesehen
wird (Schaffer), sowie eine Durchbrechung gerade jener Partie des
Sehhügels, die von allen Autoren mit der Ein- und Ausstrahlung der
zentroparietalen Thalamusstiele in Verbindung gebracht wird; jener
Anteil der Wechselwirkung zwischen Hirnrinde und Thalamus, der
zum Sensomotorium der beiden Zentralwindungen gehört, ist damit
besonders schwer und in einer ganz eigenartigen Weise getroffen.
• Ich habe schon damals dieser Kombination einer Zerstörung be¬
stimmter Teile des Thalamus (zusammen mit anderen Bestandteilen des
extrapyramidalen motorischen Systems) und eines Herdes im Scheitel¬
lappen eine ausschlaggebende Wichtigkeit für das Erscheinen des .4 wün¬
schen Symptoms (der Nichtwahrnehmung des Defekts bei dieser links¬
seitigen Hemiplegie) beigemessen. Der Kernpunkt des ganzen Sympto-
menkomplexes schien mir die Nichtbeachtung der realen linken Körper¬
hälfte im wachen Zustand, das Erscheinen dieser Körperhälfte als
körperfremde Halluzination im deliranten Zustand zu sein; das Be¬
wußtsein der intakten Körperlichkeit in diesem Fall erschien mir wie
ein zentrales Weir-Mitchell-Phänomen. Head hat von dem Falle eines
Amputierten berichtet, dessen Phantomglied (die halluzinierte Extremi¬
tät) nach Auftreten eines Hirnherdes verschwand ; der hier mitgeteilte
Fall bringt das Gegenbild zu diesem Head sehen Befund: das Phantom
einer Körperhälfte, die unter dem Einfluß kombinierter Herde der gegen¬
seitigen Großhimhälfte erscheint.
Ich habe trotzdem diese Beobachtung bisher unveröffentlicht ge¬
lassen, weil ich abwarten w r ollte, ob die vermutete Gesetzmäßigkeit der
Kombination gerade dieser Herde im Großhirn und Zwischenhim sich
durch weitere Beispiele bestätigt. Ein zweiter , in allen wesentlichen
Zügen dem ersten Fall durchaus gleicher Befund hat sich mir erst in
jüngster Zeit (Oktober 1923) an einem Kranken der Prager deutschen
psychiatrischen Klinik dargeboten.
Es handelte eich um einen 64 jährigen Alkoholiker, der in früheren Jahren
wiederholt mit Halluzinose auf der deutschen psychiatrischen Klinik war (1900
Über Störungen der Selbstwahrnehraung bei linksseitiger Hemiplegie. 123
die erste Halluzinose, 1902 zwei Alkoholdelirien, 1920 abermals eine Alkohol-
halluzinose). Niemals aber waren bei den früheren Aufnahmen Herderscheinungen
auf getreten.
1. X. 1923 wurde er wieder aufgenommen, da er in letzter Zeit vergeßlich
war, schlecht sah und über starke Kopfschmerzen klagte. Bei der Aufnahme
bestand eine gewisse Schwerfälligkeit, sonst aber keine psychische Störung; die
Sprache war frei. Von Herderscheinungen bestand eine linksseitige homonyme
Hemianopsie; der Kopf wurde nach rechts geneigt gehalten; der linke Arm war
in leichter Beugestellung ; seine Haltung entsprach der gewöhnlichen Armstellung
bei der J/anwschen Hemiplegie; es bestand aber nur diese Zwangshaltung , keine
eigentliche Parese des Armes. Alle Sehnenreflexe waren sehr lebhaft, links stärker
als rechts, links war Fußklonus und Andeutung von Fächerphänomen.
4. X. wurde Pat. über Nacht schwer benommen. Auf Fragen kam keine
Antwort; Augendruck stellte eine linksseitige Parese des Mundfacialis fest, als
Teilerscheinung einer linksseitigen Hemiplegie , die sofort spastisch war.
Nadelstiche lösten auf der rechten Körperseite Abwehrbewegungen und
richtig lokalisiertes Greifen der rechten Hand im ganzen dem Greifen zugänglichen
Bereich der rechten Körperhälfte aus; Nadelstiche auf der linken Körperseite
provozierten ruckförmige und schüttelnde Bewegungen der ganzen rechten Körperseite ,
mit Rumpf, Arm und Bein zugleich, ohne daß es jemals zu einem Greifen auf die
betroffene Stelle kam.
An diesem und am folgenden Tag waren die Pupillen sehr eng (stecknadelkopf¬
groß); von links her blieb die Lichtreaktion beider Pupillen aus; von rechts her
war sie spurweise vorhanden. Nach rechts hin ließen sich ziemlich prompt freie
Blickbewegungen auslösen; nach links hin schien der Blick eingeschränkt und
schwerer provozierbar; links fehlte der Cornealreflex , rechts war er vorhanden;
ebenso schien links eine geringe Ptosis zu bestehen.
5. X. streckte er schon über Aufforderung die Zunge ein wenig vor; sie wich
deutlich nach links ab; noch immer sanken die emporgehobenen linken Extremi¬
täten herab; in allen Gelenken der linken Extremitäten waren noch immer starke
Spasmen. Nur der linke Periostreflex des Armes ist deutlich stärker als der rechte;
links ist deutlich Babinski; alle übrigen Sehnenreflexe sind symmetrisch sehr
stark auslösbar; die Bauchdeckenreflexe fehlen.
Gegen Abend wird er noch freier, gibt einige korrekte Antworten auf einzelne
Fragen.
6. X. ist er wieder freier, kann schon sitzend untersucht werden. Auf Anruf
von links her reagiert er erst suchend; er dreht zögernd den Kopf und blickt den
Untersuchenden an. Anrufe usw. von rechts her beantwortet er durch prompte
Kopfwendung.
Wenn er von rechts gegen links hin einem Gegenstand nachblickt, weichen
die Augen nach rechts zurück, bevor sie die Endstellung erreicht haben; alle
Gegenstände erkennt und benennt er richtig.
Die linksseitige Hemianopsie ist unverändert; die Anästhesie der linken
Körperhälfte erscheint nun vollständiger.
Die erste Aufforderung, die linke Hand zu bewegen, löst keine Reaktion aus.
Die rechte Hand zeigt er schon auf die erste Frage prompt. Als man nochmals
fragt, wo er die linke Hand hat, weist er mit der rechten Hand in den Raum hinaus
in eine Richtung, die stark nach rechts hin abweicht, indem sie nur wenig weit von
der in den Raum verlängerten Medianebene des Körpers nach links hin geht. Diese
Teilbewegung traf ungefähr die Höhe des Armes, berührte aber den Körper nicht.
Er gibt die rechte Hand wieder richtig, drückt mit ihr prompt die rechte Hand
des Arztes. Wieder befragt, wo er die linke Hand hat, zeigt er erst, wie früher.
124
0. Pötzl:
in den Raum hinaus; dann greift er am Körper gegen links hin; das linke Auge,
das linke Ohr werden daraufhin prompt gezeigt; als nun wieder nach der linken
Hand gefragt wird, greift er am Körper nach links hin und findet sie diesmal;
er hebt sie mit der rechten Hand auf, und als man ihn fragt, ob er sie bewegen
kann, bejaht er. Als er sie nun bewegen soll, bewegt er die rechte Hand, nachdem
er unterdessen längst die linke Hand losgelassen hatte.
Sein Sensorium ist verhältnismäßig klar. Er weiß sich in der Irrenanstalt,
nennt den Untersuchenden Doktor, klagt über Kopfschmerzen, besonders in der
rechten Stirnhälfte.
Er wird nun links auf die Stimgegend gestochen und reagiert wieder zunächst
mit ungeordneten ruckförmigen Massenbewegungen des Rumpfes; darauf aber,
einige Sekunden später, kratzt er die gestochene Stelle; er erklärt trotzdem auf
Befragen, er habe nichts gespürt. Mehrfach wiederholt löst der gleiche Reiz ge¬
legentlich ein Zusammenzucken aus, aber er negiert immer wieder, etwas wahr¬
genommen zu haben.
Bei Stichen auf die linke Thoraxseite negiert er wieder, etwas zu fühlen,
kratzt aber dann die getroffene Stelle und sagt auf Frage: „es juckt“. Bei wieder¬
holten Stichen zuckt er zusammen, antwortet aber konstant auf die Frage, was er
spüre: „Nichts“. Auch langdauemde Stiche scheinen nach seinen Aussagen
keine bewußte Wahrnehmung hervorzurufen.
Eine Weile später greift er spontan nach links hin, nimmt seine linke Hand
mit der rechten und sagt spontan: „Das ist eine fremde Hand “ Auf die Frage,
wem sie gehöre, erwidert er: „Einem Patienten vielleicht.“ Befragt, wo er seine
Hand habe, zeigt er seine rechte Hand; auf die Frage, wo die linke sei, zeigt er
wieder links neben die Körpermitte in den Raum hinaus.
Man macht nun mit seinem linken Fuß passive Bewegungen und fragt ihn,
was das sei. Er antwortet nach kurzem Zögern: „Der linke Fuß.“ Als er nach
ihm greifen soll, greift er in die Luft hinaus, wieder nahe der verlängerten Median¬
ebene des Körpers.
Man bringt den linken Fuß in Beugestellung. Der rechte Fuß begibt sich
spontan in die gleiche Haltung. Klopfen auf das Knie erkennt er am rechten wie
am linken Bein prompt. Als er aufgefordert wird, seine Zehen zu suchen, findet
er sie rechts prompt; links sucht er sie im Außenraum an der Stelle, die der Lage
der rechten Zehen symmetrisch ist, obwohl sich der linke Fuß in einer ganz anderen
Stellung befindet. Man bringt nun den linken Fuß in die sehende rechte Hälfte
seines Gesichtsfeldes; er fixiert ihn sofort und erkennt ihn auf Frage prompt als
den seinigen an. Bringt man aber die linke Hand in sein sehendes Gesichtsfeld, so
fixiert er anfangs nicht, ohne sich indessen abzuwenden. Erst nach einer Weile
fixiert er; bei den folgenden Versuchen wird die Fixation immer prompter; nie¬
mals aber erkennt er die linke Hand als die seinige an. Da er einmal behauptet,
es sei die Hand des Arztes, wird ihm der linke Arm mit einem Lineal gehalten
und alles, was den Irrtum veranlassen könnte, aus dem Gesichtsfeld entfernt.
Er schaut die eigene linke Hand an und behauptet wieder, es sei die Hand des Arztes.
Analog verhält er sich bei einigen folgenden Untersuchungen.
7. X. ist das Bein noch etwas spastischer als der Arm; die Bauchdeckenreflexe
fehlen noch immer; links ist deutlicher Babinski. Auf der linken Körperseite
empfindet er heute die Nadelstiche schließlich bewußt, aber erst, nachdem mehrere
Stiche auf denselben Punkt gegeben wwden sind. Er reagiert dann mit geringer,
aber geordneterer Abwehrbew r egung mit rechtem Arm und rechtem Bein zugleich.
Heute lokalisiert er den linken Arm und das linke Bein nicht ganz prompt, aber
richtig in allen Stellungen, die gegeben werden.
b«»r. Stder SelM-walirfiehniUim Hi ljfnkss»dlijni£ JJexmi»)egte.
S.> bleibt da* Bild bis 13. X. Au diesem Tace zuck? er auch mit dem Jkkten
Hem Ai^siwiü^n tziiiiteieh, mit tivo Ext?>mitUjtenk wcuit m ml <it*r lipken
Körpmeit^ ** jrd. Hill njünbbm du* finte Hand und /orflt-tk Hm uub
p#l etütf ife^n, so'.fokkftötfri et rjicbuj^r wenn sie n&frc tle^ ;Kd^p
Wcöü ihr »bt?r ’ jandcr? ^t^Üun^ferr Kilben mVict^y^Üo strpify wr
«itf
viird
immer Anixlei auf die .Stelle nahe der Ktfrjiei mediane hin, in der er sie anust fiiiitef
pi* k t&Q lokalisiert. %t : tiaM linke ;•• v k . A !.A, ’ .•
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tt^lteiV Woll .Kan- ivrid SönjM^vecmn*:f*ü titi. 2.>ie rech Ur Hand . re ich t er mich jetzt
rw j.sj; |>Jw vr die linke Handei* mit der r^ditr.n zuerst UT»jjei»hi
m dW. '{«Jwcmb' \Vo ";ÄhVwch wirfaish fc*fm4rt, • im aber iian» jii .d*e.f> 4 ?.e.öd .dei
linken Schulter ab mit greifender Bewegung der rechten Rand.
Uies»;** Bild mt unterHiideil bn 22« X‘i An diesem Ta^e verfielt er neuer
ü'-ii Hl K>-nia. ^ tv\ii(i'i.
»tmphie: . |. Kua& Jt'icht' ?m*br f r \ •
n.v U*) die. Hindr. dann 9 Hf :<TB
»Uch das Merk d-r iw-^^ nn:!:-!; d. ;•• . ' A^ V. ^
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Samt dm HMudmtt an dm w- ^ijg'
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nurkt uaefc iwrtr hin bk tev da* l^)i«4|W tbaJoin* und ,'iu. die
>fenu ;iir »?\nu J&^rrdc. Jm Fr»taU<d• nitT durch /kf fA»Jvin.<»r tj 4 ftl6itd ist aM»3<-r<b-ni
cmklriner H**r«i *m zentralen Mark rn ht^ vom BnJvimvr ?.n heinerken < Abb.n <m»l Ü).
2, Eifie nie bl s»dir ati^eetb.dmk' ni^tlhr^hhchc En.**iiMn{} iw r+chtiH Vori/f*{L
die Kixide xetriidc jen»^ tvrcnriielüci«*H >.wisvfien iwdVtrm itmi qbercio
orfi4 : fi»h)int . da- dbf n*jijtt# p&jjjfr dt r F'wun ' iidfnn* t\ toi f <- bibi« r .
hruvtfh ‘-'JUi . ■ ijruiVtifiMrh \V'*in.n d?f f\i . d t > *t,% Fnlh> J
'rvy.*<iit Sie ist *n*r viel weniger a»i^‘*ib'lint und \efScfuoil ilüs Mark ilh^'/r
S: Findet’ siVJi (anft/duiineud -als ■ djftokt« \pprt<fu. s> tir.uiiö..'dei’ Erweichung in!
FüJnnar thaiami) elb *aemUcU^o/.kr, /'elUj^iüdi«rhei\. hw weit nach v'&tiu reichender
'■ &T?täichH<tg$htrd im recfcferf ‘Th#bm.n4 s jkr mede.r<j*wan tf*w t*miz{/pi<ki zin^cJiert
M&Iiftn- thld faiieYntkvrn zerstört, irk der fhnhmusftwl irn Fall 1 (&hb. 7).
.jL . Sitid fttttehtre i^nceifihid^fierd^ mi rechten H irischerikelfuÜ* \vnhrend
icnnnd h un erä der rör hter» H^alisphfw'tf m (Üesern Fall m&krö-
frei iu -sein '.srhdmni ifetnr l7ni>rc*£hkiJ von Fall ij (vgl Ahb. 7 c-'
In der linken Heirospkare ist eine liHere (Jyate nach Kr Weichling im &ehw4ifi<fc8
de» Nüdftus oaudutüs £4hh.* 7); im librigon itft die Linke ttcohsph/ire wötkrc^ktipi^'h
Von j^etfdeu im. ‘ ' / \
;. • föieHikeki .miut äSt&m z*dilvn Fall, so liemerkt man, daü er nm
dein ersten Fall genau hx Jenen Punkten ütanwftetnniut, die vorhin ul>*
wichtig ht^vnrgcrhoViv nordm mxl; Nettem <k<r Störung der BtHisihdi-
tai. äiv äer g&tizm Unfein fand ctardk .einig* Zeit hih~
Eiiidrndk
dtr r&hten Körförhälfte von <fer
■ üfyrnhffait ffi Körjar-
geftihl*) Diese Al>sj»u 1 -
Lang hett&f hier vor-
wiegend (faMaus*e hlle Ü -
lieh) die linke Hand ;
sie \Yxni ah frejhd ernp~
jjfi l ' yaigWch tk%utu>
| ( ' •. \j. : ' Hi ' d<'d Aaßtnnmm
W • ■:;, : himm pmifeitirh in eine
\ Mittelstellung zwischen
ihrer
Figrtv Lage und der in
Ihrem EhifluÜ au&eheU
n*?nd doinmiercmlevi La ge de? rechten Kbrperhiilfte. Mau konnte
auch wiiKl^rh?;dl '; todutdiseth. daß die Bewegurtgen« die der linken
liÄtKi.^ugedaeht'- waren, in die Ktihd iihergingeiji Und mit Be-
fiftirkt^n Hand.' ^{griiaebt wären, «rhwechselten, ohne
«ich- ä‘ü. vcninV/lrer«, es wachte den. Eindruck. d«U hier lieht bloß Be -
wegnxigÄhaÜuzihati onün dfcr lit/Jkw Ex.treinlt>iteiiseite liestaatlen* so«-
dem dilft die Impulse ziit B : e}v^;atig der linke« finite^wiä'iiacf'h rechts
verdreht. i*-»hv gänzlich ‘ziellos, 'teils gegen, den Auljenraüm hin, teils
ahf j auf die reetde Körpersein> ah^elenkt fehlgingen.
I« Fafte; imbxnd HepHavK^^ie Um m
merkeii^wertere^ daß dieser Km;nke iiri Oegensö»l ^mm erntwi Ivran*
kon die.Vignu» linke'Himd. die man ihm in die sefienvie Bähte des Ue
siehtsfeldes führt ; oime jede neaklmn der Abwehr rtting in det Flvatinn
behalt ufi.d jmy •irud : : id f ^feMiv g;iiiz kov^^iHVrt, da ft
das ^ine fremde Händ s.»d. ;3^c4r |^.öf%?:*'•
Bedingungen die HiOej: tt herh a. upt nur schwer in die ’ Fj^ati^n bekom-
%%\A der Fiktion verloren; xuweileh die-
durch eine Ai>xßiJUrng
Wüii, down \viedot A^bnld
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 127
merkte man eine Wendung der Augen und des Kopfes nach rechts, wie
wenn er hätte wegblicken wollen. So hatte der zweite Kranke gegen
das optische Bild seiner gelähmten Hand eine, man möchte sagen,
unbefangene Einstellung, wie zu allen anderen Objekten des Außen¬
raums, die ihrem Inhalt nach gleichgültig sind. Er hatte zugleich die
Gewißheit, daß dieses Bild der linken Hand dem Außenraum angehörte.
Freilich spricht gerade der Umstand, daß er diese Gewißheit aussprach ,
dafür, daß sie ihm denn doch nicht ganz selbstverständlich gewesen ist;
man spricht ja ein derartiges Urteil über Eigen und Fremd, Innen und
Außen im allgemeinen nur dann aus, wenn man damit einen Irrtum
beseitigen will, der wenigstens denkbar ist.
Der erste Kranke hat dagegen die deutlichsten Abwehrreaktionen
gegen das optische Bild seines linken Armes gehabt; er hat überhaupt
nur dann konstatiert, daß es fremd ist und dem Außenraum angehört,
wenn er dazu gezwungen war; auch dann kamen immer noch dazu
Bemerkungen, die das Widrige, Abscheuliche des Anblicks glossierten
oder auch (während der Delirien) in ein Schreckbild umwandelten.
Er benahm sich also nicht wie jemand, der etwas Gleichgültiges kon¬
statiert, sondern wie einer, der sich gegen etwas Unangenehmes wehrt.
So erinnerte er beinahe an das Verhalten eines Hysterischen gegen ver¬
drängte seelische Komplexe. Es war schon zur Zeit der Beobachtung
die Frage aufgeworfen worden, ob und wieweit an dieser Abwehr¬
reaktion nicht doch die Spur einer linksseitigen Hemianopsie beteiligt
sei. Ich konnte das auf Grund meiner sehr genauen Untersuchungen
des Gesichtsfelds verneinen und blieb bei der Auffassung, daß es sich
um eine Abwehrreaktion handle. Der Vergleich der beiden Fälle be¬
stätigt dies noch im Nachhinein; es Ist sogar, wie wenn die vorhandene
linksseitige Hemianopsie im 2. Fall eher noch etwas von der Abwehr¬
reaktion weggeräumt hätte.
Das Verhalten der beiden Kranken in diesem Punkt erinnert an ein
sehr bekanntes Phänomen im Tierexperiment, das gewissermaßen
zwischen den beiden geschilderten Reaktionen in der Mitte steht; so¬
wohl nach der Ausräumung der motorischen Region, wie während ihrer
Abkühlung nach Trendelenburg verhalten sich ja die höheren Säuger
ganz gewöhnlich so, wie wenn sie die Extremität, die den alterierten
Zentren entspricht, nicht hätten ; sie bewegen sie nicht mit, lassen sic
kataleptiseh in die verschiedensten unbequemen Stellungen bringen usw.
Besonders Kalischer hat darauf hingewiesen, daß der Effekt derartiger
experimenteller Einwirkungen auf das Motorium der Säuger nicht so
sehr einer Lähmung gleicht, als gewissen Reaktionen bei der Dyspraxie
und sympathischen Apraxie des Menschen. Diese Reaktion der Tiere
enthält, wie die hier mitgeteilten Reaktionen der 2 Kranken, gleich¬
mäßig das Nichtbemerken der ausgeschalteten Körperteile.
128
0. Pötzl:
Die Reaktion der Tiere ist, wenn man will, im Sinne der Anton sehen
Definition sogar ein reinerer Sonderfall des Antonachen Symptom?,
als die eben besprochenen Reaktionen der 2 Kranken, deren eine man
als Nkhibemerkenwollen, deren andere man als Urteil über eine Nicht -
Zugehörigkeit bezeichnen kann.
Mit Rücksicht auf die in beiden Fällen übereinstimmend gegebene
Kombination von Herden im rechten Scheitellappen und rechten Thala¬
mus erscheint es mir auch nicht unwichtig, daß die von Probat am Thala¬
mus operierten Tiere dieselben Reaktionen aufwiesen, wie sie der Ein¬
griff am Motorium provoziert; nimmt man noch hinzu, daß in Fällen
von Apraxie bei linkshirnigen Parietalherden zwar nicht diese Fremd¬
heitsreaktion, aber das Ignorieren des rechten Armes zugleich mit
kataleptischen Zwangshaltungen desselben nicht so selten zu beobach¬
ten ist, so kann man, wenn auch mit einer gewissen Reserve, etw T a Nach¬
stehendes folgern: Erscheinungen, die bei höherem Säuger durch Eingriffe
erzielt werden können, die enttveder den Thalamus oder das Motorium
ausschalten, führen zu ähnlichen Erscheinungen, wie sie beim Men¬
schen durch Herdläsionen der Scheitellappen provozierbar sind, in
einem besonderen exzessiven Grade aber bei der Kombination einer
Ausschaltung umschriebener Regionen von Scheitellappen und Tha¬
lamus.
Die ganze Gruppe dieser Erscheinungen läßt sich unter den gemein¬
samen Begriff einer Ausschaltung objektiv gegebener Körperteile aus der
(subjektiv oder aktiönsgemäß) gegebenen Körpersphäre vereinigen;
der exzessive Fall, der hier beschrieben worden ist, besteht in einer
Abtvehrreaktion gegen die Zugehörigkeit des optischen Bildes der linken
Körperhäljte zur subjektiv gegebenen Gesamtheit des Körpers.
Von den beiden Herden, deren Lage in meinen Fällen so getreu
übereinstimmt, Ist der Einfluß des Rindenherdes im Gebiet des rechten
Gyrus supramarginalis verhältnismäßig leicht verständlich. Eine von
R. Klem aus der Prager deutschen psychiatrischen Klinik raitgeteilte
Zusammenstellung eigener und fremder Fälle von parietaler Apraxie hat
eine besondere Wichtigkeit des unmittelbar um die Interparietalfurche
orientierten Anteiles der linken Scheitellappen für das Zustandekommen
apraktischer Phänomene ergeben; mit Rücksicht darauf ist auch die
genauere Topographie der in den hier beschriebenen Fällen vorliegenden
Scheitellappenherde bedeutsam: Diese rechtshimigen Herde beschrän¬
ken sich auf Gebiete in der unmittelbaren Nachbarschaft der Inter-
parietalfurche. Wiewohl das Bild der Fälle nichts von Apraxie ent¬
halten hat, so sind doch im 2. Fall während mancher Stadien „amorphe 1 '
Bewegungen der linken Extremitäten als Reaktion auf Schmerzreize
der linken Körperhälfte beobachtet worden; diese amorphen Bewe¬
gungen könnten doch an einen sehr weit gefaßten Begriff der Apraxie
Über Störungen der Sei bst Wahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 129
(etwa im Sinne von Hartmann oder von Kleist) erinnern; ich selbst
möchte allerdings eine Beziehung zur Apraxie deshalb ablehnen, weil
die amorphen Bewegungen nur nach einer spezifischen Auslösung (durch
Schmerzreize der linken Körperhälfte) erschienen sind; sie sind also
spezifisch mit einer Störung der Lokalisation von Gefühlsqualitäten
verbunden. Wollte man auch dergleichen zur Apraxie rechnen, so
müßte man auch die imgeschickten motorischen Einstellungen und
Zwangshaltungen der Hand bei taktilen Agnosien zur Apraxie rechnen,
was gewiß nicht angeht. Meiner Ansicht nach lassen sich die amorphen
Bewegungen in dem zweiten hier geschilderten Fall viel eher den spezi¬
fischen Greiflähmungen anschließen 1 ), soweit sie nicht ohnedies in diesem
Fall durch die Parese bedingt waren.
Von Beziehungen zur Apraxie soll daher für die Besprechung dieses
Bildes vorläufig abgesehen werden. Um so enger sind die Beziehungen
des Bildes zu den in beiden Fällen maximal vorliegenden Störungen des
Muskelsinns und der Lokalisation der Gefühlsqualitäten auf der Haut¬
oberfläche. Die Störung dieser Leistungen aber ist das seit Schaffer
bekannte Eigensyndrom einer Herdläsion des Gyrus supramarginalis .
Das Maximalbild dieser elektiven Störung bringt der bekannte Schaffer -
sehe Fall von doppelseitigen Erweichungen im ganzen Gebiet der beiden
Gyri supramarginalis; schon in ihm zeigt sich, daß diese Störung, die
den ganzen Körper betraf, ihrer Vorgeschichte nach sich additiv aus
2 Hälften zusammengesetzt hat, wie etwa eine doppelseitige Hemianop¬
sie; die eine Hälfte des Befundes beim Schaff er sehen Herd, die Störung
von Muskelsinn und Lokalisation in der linken Körperhälfte bei rechts-
himigem Scheitellappenherd ist es, die die beiden hier besprochenen
Fälle deutlich und typisch aufweisen.
Dies trifft zu, obzwar in meinen beiden Fällen die Scheitellappen¬
läsion ungleich weniger ausgedehnt war als der rechtshimige Herd im
Falle von Schaffer. Dieser Umstand ist aber nicht weiter verwunderlich,
da in meinen Fällen ja die ausgedehnte Thalamusläsion dazu kommt,
die das ergänzt haben kann, was der Scheitellappenherd für sich allein
etwa nicht ausgeschaltet hätte. Wichtiger ist mir, daß die Schaffersche
Kranke trotz der doppelseitigen Totalzerstörung des Supramarginalis
das A nton sc he Symptom nicht hatte, und daß sie, wie Schaffer ausdrück¬
lich hervorhebt, die Unempfindlichkeit der linken Hand nach dem
2. Anfall selbst bemerkte, nachdem der erste, die rechte Körperseite
ihres Gefühls beraubende Anfall schon 1 / 2 Jahr früher vorausgegangen
war. Ferner ist hervorzuheben, daß sie unter der Leitung des Auges
ohne jede Apraxie und ohne jedes Fremdheitsgefühl für ihr Körperbild
manipulierte.
2 ) Vgl. Pötzly Med. Klinik 1923, Nr. 1 und 1924, Nr. 1; Herrmann y Med. Klinik
1924, Nr. 1.
Z. 1 . d. g. Neur. u. Psych. XCIII.
9
130
0. Pötzl:
Der doppelseitige Herdfall hat also gerade die Störung der Verein¬
heitlichung des Körperbildes nicht , die in meinen Fällen besonders her¬
vortrat. Dies ist um so auffälliger, als bekanntlich die Anfcraschen
Fälle von Nichtwahmehmung einer Blindheit oder Taubheit, ebenso
wie der erste Fall Redlich-Bonvicini, doppelseitige symmetrische Er¬
weichungsherde betrafen. Gerade in dieser Beziehung also unterscheiden
sich meine beiden Fälle von den gewöhnlichen Anton&chen Befunden,
sowie vom Schaffer sehen Befund. Die reine Rechtshimigkeit meiner
beiden Befunde ist ja auch der Grund, warum ich sie als einen neuartigen
Sonderfall betrachten darf.
Soweit mir sorgfältig beschriebene Fälle aus der Literatur bekannt
sind, gleicht meinen beiden Fällen nur ein Fall von Kramer , der, soviel
ich weiß, ohne Autopsiebefund geblieben ist. Linksseitige Hemiplegie,
Sensibilitätsstörung und linksseitige Hemianopsie im Kramer sehen Fall
entsprechen dem Befund meines 2. Falles, ebenso die Tendenz, die
Empfindungen nach der Mittellinie hin in entsprechende Höhe zu
verlegen. Ebenso hatte der Kramer sehe Kranke keine Ahnung, daß er
links gelähmt sei; er kümmerte sich um seine linke Körperhälfte über¬
haupt nicht; er lag dauernd mit dem Kopf nach rechts gewendet, und
die Augen blickten dauernd nach rechts; psychisch bestand auffallende
Euphorie mit Neigung zu Wortwitzen, aber keine Verwirrtheit, keine
gröbere Störung der Merkfähigkeit, kein Gedächtnisausfall. Angesichts
einer so weit gehenden Übereinstimmung aller Einzelheiten des kli¬
nischen Bildes halte ich die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um die Wir¬
kung der gleichen Herdkombihation handelt, wie in meinem 2. Fall,
für eine sehr große; als besonders auffällig muß bezeichnet werden, daß
3 so weitgehend übereinstimmende Fälle, wie der Fall Kramers und die
beiden hier besprochenen, allesamt rechtshirnige Wirkungen ausschließlich
oder doch der Hauptsache nach enthalten 1 ).
Auch dies scheint mir die Berechtigung dafür zu erhöhen, daß ich
die in meinen Fällen gegebene Herdkombination für die Quelle einer
bestimmten eigenartigen Wirkung halte und daß ich es nun versuchen
will, die Art dieser Wirksamkeit einer besonderen Betrachtung zu
unterziehen.
2 .
Wie ich glaube, geht eine besondere Behandlung der theoretisch
wichtigen Einzelheiten meiner Fälle am besten von dem Vergleich mit
dem Schaffer sehen Fall aus; dieser hat den symmetrischen Herd in der
1. H., der in meinem Falle fehlt; dafür fehlt ihm jede direkte Zerstörung
im Bereich der Sehhügel.
Im Schaffer sehen Fall fehlt jede Spaltung des Körperbildes; dafür
ist eine maximale Störung des Muskelsinns und der Lokalisation vorhan-
*) Uber die AUästhesie im Kramerschen Fall siehe später!
Über Störungen der Selbstwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 131
den, die die ganze Hautoberfläche bzw. jedes einzelne Gelenk und jede
Muskelgruppe bei jeder Einzelreaktion betrifft. In den hier beschrie¬
benen Fällen ist diese differentielle Störung für die linke Körperhälfte
gleichfalls vorhanden; dazu aber ist eine Integralfunklion , das Gesamt¬
bild der linken Körperhälfte und seine Fusion mit dem Bilde des ganzen
Körpers gestört; es ist also das Vorhandensein bzw. Fehlen dieser Inte¬
gralfunktion, die den Schaffer sehen Fall und meine Fälle voneinander
unterscheidet. Der rechtshimige Schafferache Herd hat auch die an der
Interparietalfurche gelegenen Partien mit zerstört, die in meinen beiden
Fällen für sich allein lädiert sind. Dies spricht nicht gerade dafür, daß
eine Differenz der rechtshimigen Scheit ett appenherde allein den wesent¬
lichen Unterschied im klinischen Bild bedingt; dieser Unterschied wird
also entweder auf dem Thalamusherd allein zu beziehen sein, oder, wie
ich selbst meine, auf die besondere Art einer Wechselwirkung zwischen
dem Herd im rechten Scheitellappen und dem Herd im rechten Tha¬
lamus.
Die Art dieser Wechselwirkung kann ebenfalls erschlossen werden,
wenn man den Schafferachen Befund zum Vergleich heranzieht. Der
große rechtshimige, bis unter die h. C. W. reichende Herd im Schaffer -
sehen Falle hat, wie dieser Autor besonders hervorhebt, eine ausgiebige
Degeneration der Hauptmasse jener zentrifugalen Projektionsfasem
zur Folge gehabt, die im zentroparietalen Thalamusstiel (in der sog.
Haubenstrahlung) verlaufen. Diese im Schaffer sehen Fall degenerierten
Fasern strahlen genau in demselben Gebiet des Thalamus ein, das in
meinen beiden Fällen durch die Erweichung zerstört ist; das zeigen die
Lichtungen im Thalamus an den Bildern Schaffers im Vergleich zu
meinen Bildern; nur ist der zerstörte Bezirk im Thalamus in meinen
Fällen sehr weit ausgedehnt, so daß er nicht nur das Einstrahlungsgebiet
der Schaffer sehen Fasemsysteme, sondern auch die Einstrahlungsgebiete
vieler homologer corticofugaler (und selbstverständlich auch cortico-
petaler) Systeme umfaßt, die den vorderen, unteren und hinteren Tha¬
lamusstiel bilden helfen.
Ich habe nun gelegentlich der Besprechung von Herderkrankungen
der Scheitelhinterhauptslappen den Nachweis versucht, daß ein wich¬
tiger Teil in der Wechselwirkung zwischen Großhirnzentren und Thala¬
mus in folgendem zu finden ist: Eine schützende Gegenwirkung der
Großhimzentren saugt gleichsam die zentrifugalen, auf dem Wege der
Thalamusstiele (z. B. beim epileptischen Anfall) abstürzenden Erre¬
gungen ab und verwandelt sie in eine Querfunktion mit neuen Angriffs¬
punkten innerhalb der Großhirnrinde selbst. Wendet man diese Auf¬
fassung nunmehr auch auf den hier besprochenen Sonderfall an, so
würde der Befund der Schaffer sehen Kranken zu bedeuten haben, daß
nur das Absaugen einer geringeren Anzahl derartige Erregungsquanten
9*
132
0. Pötzl:
durch die Heilwirkung ausgefallen ist und daß der Ausfall gerade
jene Erregungsquanten betrifft, die zur Aktivierung des Lagegefühls
und der Lokalisation der Gefühlsqualitäten der Hautoberfläche bei der
Wahrnehmung spezifisch verarbeitet werden. Der Befund in meinen
beiden Fällen hingegen würde bedeuten, daß nicht nur dieser spezifische
Anteil von Erregungsquanten unterbrochen und seiner Umwandlung
entzogen ist (ihm entspricht die linksseitige Hemianästhesie), sondern
daß beinahe die ganze Masse dieser sonst durch die Schutzwirkung der
Großhimzentren umgewandelten Erregungsmenge von der Großhim-
wirkung abgesperrt ist; ja noch mehr, diese Erregungsmenge ist nicht
nur abgesperrt, sondern durch die Zerstörung des Thalamus selbst über¬
dies noch in einer unbekannten, aber gewiß wesenswichtigen Weise modi¬
fiziert; man kann sagen, daß durch die Unterbrechung der Hauben¬
strahlung im Schaffer sehen Fall gleichsam das Pumpwerk geschädigt ist,
das aus einem tiefer gelegenen Reservoir Wasser abzusaugen und nach
oben zu befördern hat, während in meinen Fällen das Reservoir selbst
und die Erregungsmenge, die es enthält, einem zerstörenden Prozeß
unterworfen worden sind.
Daß die Aktivierung des Lagegefühls, der Bewegungsempfindungen
und der Lokalisation der Oberflächeneindrücke auf der Haut durch die
Wirkung abgelenkter, ihrer ursprünglichen Richtung nach spezifisch
in die entsprechenden Muskelgruppen zielender Quanten motorischer
Erregung vor sich geht, konnte ich vor kurzem durch das Beispiel be¬
legen, das in einer gemeinsam mit Bruno Fischer gemachten Beobach¬
tung enthalten w r ar; hier erschien bei passiven Bewegungen an Stelle
des gänzlich aufgehobenen Lagegefühls ein Schmerzsignal; der Schmerz
entsprach einer plötzlich einschießenden tonischen Spannung gerade
in jenen Muskelgruppen, die bei aktiver Innervation die jeweils erteilte
Gliedlage herbeigeführt hätten; ich habe dieses Phänomen einer para¬
doxen Kontraktion an Stelle des Lagegefühls auf jene Wechselwirkung
zwischen Scheitelhim (samt h. C. W.) und Thalamus bezogen, von der
früher die Rede war. Der damals beschriebene Fall ist bisher ohne Ob¬
duktion geblieben; ich kann ihn daher vorläufig nur als Beweis dafür
ansprechen, daß beim Abbau der bewußten Empfindung einer Glied¬
lage spezifische motorische Erregungen in den Muskelgruppen erscheinen
können, die diesen Gliedlagen entsprechen; ich glaube indessen, daß
die Vermutung, die ich daraus abgeleitet habe, sehr naheliegend ist:
beim Aufbau der bewußten Lageempfindung würden diese spezifischen
motorischen Erregungen aus den Muskelgruppen gleichsam verschwin¬
den und in ihrer Eigenart unverändert bei der aktivierenden Funktion
der Wahrnehmung wieder erscheinen. Dies ist aber die Erklärung des
Schaffer sehen Befundes, die ich im vorigen bereits gegeben habe.
Wenn ich es mm versuche, diese Erklärung auf den Befund in den
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 133
beiden hier veröffentlichten Fällen auszudehnen, so besagt das zunächst,
daß auch die hier gestörte Integralfunktion, die Aktivierung des kin-
ästhetischen Oesamtbildes der linken Körperhälfte , durch die gleiche
Dämpfung zustande kommt, wie die Aktivierung der differentiellen
taktilen Wahrnehmungen im erwähnten eigenen Fall und im Schaffer -
sehen Falle; dann entspricht der gestörten Integralfunktion die Be¬
seitigung einer integralen Erregungsmenge aus den Reservoiren des
rechten Thalamus; man könnte sich sogar vorstellen, daß die Unter¬
brechung der zentrifugalen corticothalamischen Fasern allein vorwiegend
oder ausschließlich nur jenen Anteil des Gesamtvorganges unterbindet,
der, im individuellen Leben fortwirkend, die Statik des phylogenetisch
schon angelegten Vorgangs aufrechterhält, während die Zerstörung
des Reservoirs im Thalamus selbst etwa auch auf jene Anteile des Vor¬
gangs wirkt, die in phylogenetischen Zeiträumen und Wirkungsberei¬
chen, in der Gruppierung und Abstimmung einzelner Zellgruppen der
Thalamuskeme bereits gestaltlich niedergelegt und fixiert worden
sind. So ist es begreiflich, daß der Herd im Thalamus selbst eine andere
und tiefgreifendere Wirkung auf die differentiellen Funktionen sowohl,
wie auf die Integralfunktion üben muß, als die bloße Unterbrechung der
corticothalamischen Fasern im Schaffer sehen Fall. Damit ist, wie ic\\
glaube, die Hauptrolle des Thalamusherdes in meinen beiden Fällen
einigermaßen definiert; er unterbricht ausgiebig den zentripetalen
Schenkel jenes Vorgangs, der nicht nur für die Aktivierung der taktilen
Wahrnehmungen, sondern auch für die Aktivierung des kinästhetischen
Gesamtbildes der linken Körperhälfte notwendig ist.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, betone ich nochmals, daß nach
der hier festgehaltenen Anschauung dieser zentripetale Schenkel des
aktivierenden Vorganges nicht den Wegen der zentripetalen sensorischen
Leitung von Thalamus in die Großhirnrinde entspricht, sondern den
zentrifugalen Anteilen der Großhirnthalamusverbindung. Es ist ein
zentripetaler Vorgang in zentrifugalen Systemen, der nicht Erregungen
leitet, sondern der vor motorischen Erregungen schützt, indem er sie
aufsaugt und umkehrt. Der Wegfall dieser Schutzwirkung muß, wenn
die Annahme richtig ist, sich im klinischen Bild offenbaren als ein Ab¬
fließen der sonst zurückgehaltenen motorischen Erregung in die Peri¬
pherie ; im ersten beschriebenen Fall ließ sich das deshalb nicht ablesen,
weil diese Wirkungen in der spastischen Contractur der paretischen
linken Extremitäten vielleicht schon untergegangen waren, als der
Fall zur Beobachtung kam; im 2. Fall aber, an dem ich vom ersten bis
zum letzten Tag der Beobachtung die Entwicklung der Spasmen der
linksseitigen Hemiplegie genau verfolgen konnte, zeigte sich schon un¬
mittelbar nach dem Insult ein hochgradiger Spasmus im linken Arm ,
etwas weniger, doch ebenfalls deutlich auch Spasmus im linken Bein,
134
0. Pötzl:
und diese Spasmen nahmen im Laufe der Rückbildung ab. Ich kann also
dem früher erwähnten Fall von paradoxer Kontraktion an Stelle des
Lagegefühls den Fall eines paradoxen Verlaufes der Spastizität bei einer
Hemiplegie an die Seite stellen und glaube, daß ich diesen paradoxen
Verlauf der Spasmen, die übrigens den Arm vorzeitig in der gewöhnlichen
Mann sehen Hemiplegiestellung fixierten, als ein Argument für die hier
vorgetragene Anschauung betrachten darf. Wenn es sich hier auch nur
um das längst bekannte Phänomen eiijer hemiplegischen Frühcontractur
handelt, so glaube ich doch, daß diese Erscheinung gerade in dem hier
vorliegenden Zusammenhang wichtig ist.
Damit ist die mutmaßliche Wirkung des Thalamusherdes besprochen
und es handelt sich nun um die Wirkung des Scheitellappenherdes.
Auch in bezug auf diesen leitet der Vergleich mit dem Schafferachen
Falle weiter. Bei der Kranken Schaffers war der linkshimige Herd
etwas weniger ausgedehnt; er reichte nicht oder kaum über die Grenze
zwischen Gyrus supramarginalis und h. C. W. frontalwärts hinaus.
Dementsprechend fehlte auch im linken Thalamus jene Aufhellung, die
Schaffer auf den Ausfall zentrifugaler Systeme der Haubenstrahlung
bezieht; Schaffer zieht daraus den Schluß, daß der Gyrus supramargi¬
nalis eben keine zentrifugalen Projektionsfasem entsende und bezeich¬
net diesen Himteil mit Flechsig als den Typus eines Assoziationszen-
trums. Schaffer nennt auch die Gefühlsstörung seines Falles eine assozia¬
tive ; nicht diesem Ausdruck, aber seinem tatsächlichen Sinn muß wohl
beigepflichtet werden; die Störung entspricht nicht einer Unterbrechung
der zentripetalen Leitung sensibler Erregungsanteile in die Großhirn¬
rinde, sondern einer die Wahrnehmungen aktivierenden Leistung der
Zentren. Ob nun nach v. Monakow , Probst usw. der Gyrus supramargina¬
lis nicht doch auch in geringerer Anzahl zentrifugale Projektionsfasem
entsendet, oder ob er nach Flechsig und Schaffer der Extremfall eines
von zentrifugalen Projektionsfasem gänzlich freien Rindengebietes ist,
sicher ist doch jedenfalls das eine: er ist nicht das Haupteinstrahlungs¬
gebiet der zentripetalen Erregungsleitung für die Qualitäten des Tast¬
sinnes; dieses ist in der h. C. W. zu suchen; er hat aber trotzdem eine
unentbehrliche aktivierende Rolle für die Umwandlung der taktilen
Erregungen in die bewußte taktile Wahrnehmung; dies geht, nachdem
Redlich zuerst an seinen Fällen dies angenommen und wahrscheinlich
gemacht hat, aus dem Befund des Schaffer sehen Falles tatsächlich her¬
vor. In meinen beiden Fällen nun ist die h. C. W. und ein ziemlich
breiter Grenzstreifen zwischen ihr und dem Supramarginalisherd auch
in der rechten Hemisphäre vollkommen intakt; die Wirkung der Scheitel¬
lappenherde für sich allein ist also gewiß nicht in einer projektiven
Störung der linksseitigen Körpersensibilität (etwa vom Typus der
Valkenburg sehen Befunde) zu suohen, wohl aber konform den Redlich -
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 135
sehen und Schaffer sehen Befunden in dem Wegfall einer aktivierenden
Komponente für die taktile Wahrnehmung.
Da es sich aber in meinen Fällen nicht bloß um das Fehlen einer
differentiellen Aktivierung für die einzelnen taktilen Wahrnehmungen
handelt, sondern auch um die Integralfunktion einer Aktivierung des
Gesamtbildes der linken Körperhälfte, so knüpft sich daran die Ver¬
mutung, daß auch die Aktivierung dieses kinästhetischen Gesamtbildes
durch den Scheitellappenherd beeinträchtigt ist. Wir kommen so dazu,
für die Einzelwirkung des Scheitellappenherdes genau dieselbe Wir¬
kungskomponente annehmen zu müssen, wie sie sich uns für den rechts¬
seitigen Thalamusherd ergeben hat; wir verstehen damit sofort, daß die
Wirkungen gerade dieser beiden Herde sich gegenseitig maximal ver¬
stärken können.
Diese Verstärkung ist im Sinne der früher vorgetragenen Anschauung
ein selbstverständliches Ergebnis; die Aktivierung der Wahrnehmung
sollte ja in der Umwandlung der ursprünglich zentrifugalen motorischen
Erregung in eine Querfunktion mit neuen Angriffspunkten innerhalb
der Großhirnrinde bestehen. Wenn nun der Gyrus supramarginalis
nicht das Hauptausstrahlungsgebiet jener zentrifugalen Haubenfasem
ist, sondern hauptsächlich der Träger von Assoziationssystemen, wenn
er aber andererseits das spezifische Gebiet für die Aktivierung der Tast-
wahmehmung darstellt, dann erscheint er als der Endpunkt des in die
Quere abgelenkten Schenkels jener früher besprochenen Umwandlung
zentrifugaler Erregungen durch die Schutzwirkung der Großhimzentren;
sein Gebiet enthält dann einen Teil der neuen Angriffspunkte; es ist
selbst unter dem Einfluß dieser Schutzwirkung der Großhimzentren
in phylogenetischen Zeiträumen aufgebaut worden.
Durch das Zusammenwirken der beiden Herde ist also der Anfangs¬
punkt des zentripetalen Schenkels der Gegenreaktion der Zentren und der
Endpunkt des queren Schenkels dieser Wirkungen schwer lädiert; nicht
lädiert aber ist die hintere Zentralwirkung selbst, die, schematisch be¬
trachtet, gewissermaßen an der Grenze zwischen dem corticalen End¬
gebiet des zentripetalen und dem Anfangsgebiet des quergerichteten
Anteils der Gegenreaktion der Zentren sich befindet. Man kann die
Intaktheit der hinteren Zentralwindung in ihren Wirkungen analog auf¬
fassen, wie Schaffer dies für seinen Fall getan hat; die elementaren zentri¬
petalen Erregungen, die der Leitung der Gefühlsqualitäten entsprechen,
sind also direkt nicht geschädigt, sondern nur gleichsam inaktiviert ; sie
liegen bereit, wie in einem hämolytischen System mit inaktivem Serum
der spezifische hämolytische Vorgang bereit liegt, der aber erst in Gang
kommen kann, wenn Komplement zugesetzt wird. So ist es, wie die zum
Vergleich herangezogenen Fähe zeigen, für die differenziellen Wahr¬
nehmungen der taktilen Sphäre tatsächlich; wir können nun annehmen,
136
0. Pötzl:
daß dasselbe auch für die Integralfunktion gilt, die ein Gesamtbild der
linken Körperhälfte erstehen läßt; dann würde auch diese Gesamt¬
funktion in unseren beiden Fällen gewissermaßen inaktiv bereit liegen,
weil die hintere Zentralwindung selbst nicht zerstört ist. Dagegen
ist einzuwenden, daß mit den Ausläufern der Erweichung und mit den
Thalamusherden wahrscheinlich auch beträchtliche Anteile der sen¬
siblen zentripetalen Projektion zerstört oder unterbrochen sind; wenn
dies der Fall ist, so wird damit von der Rinde aber nur alles das ab¬
gesperrt, was zur Weiterentwicklung des kinästhetischen Gesamtbildes
der linken Körperhälfte an Eindrücken im weiteren Verlauf des Lebens
noch hinzukommen muß, um dieses Gesamtbild im Gleichgewicht zu
halten; wie viel oder wie wenig das ist, zeigt sich nirgends so gut, wie
in Weir-Mitchellschen Phänomen des Amputierten: Man kann ein Bein
abschneiden, und das kinästhetische Gesamtbild des Körpers regene¬
riert sich. Es ist darum mit den Tatsachen übereinstimmend, wenn man
annimmt, daß die Intaktheit des inaktiven Vorganges, der das Körperbild
nur bereit häU, hauptsächlich von jenen Anteilen des sensibilisieren¬
den Gesamtvorgangs gewährleistet wird, die in phylogenetischen Zeit¬
räumen das fokale Mosaik der hinteren Zentral Windung auf gebaut
haben und die in dieser fokalen Architektur gestaltet und festgebannt
sind. Damit ergibt sich die Anschauung, daß der inaktive, zur Erweckung
des kinästhetischen Bildes der linken Körperhälfte bereitliegende Vor¬
gang an die Intaktheit der hinteren Zentralwindung selbst gebannt ist,
etwa so, wie die Intaktheit des Gesichtsfeldes an die Area striata. Direkt
bestätigt wird diese Anschauung durch den schon erwähnten Fall von
Head, in dem das Phantomglied eines Amputierten zugleich mit dem
Auftreten eines zentroparietalen Herdes verschwand. In meinen beiden
Fällen ist das Phantom einer intakten und beweglichen linken Körper¬
hälfte aufgetreten. Im Sinne des Vorigen kann daraus zunächst der
Schluß gezogen werden, daß jener inaktive, die Erweckbarkeit des
kinästhetischen Bildes der linken Körperhälfte garantierende Vorgang
unversehrt geblieben war, wie die hintere Zentralwindung in diesen
beiden Fällen. Berücksichtigt man das alles, so läßt sich die Regene¬
ration des gesamten Körperbildes durch ein Phantom, die hier statt¬
gefunden hat, auf die Intaktheit der hinteren Zentralwindung be¬
ziehen.
Kürzer ausgedrückt, könnte man sagen: das Bild der linken Körper¬
hälfte entspreche einer Eigenleistung der rechten hinteren Zentral¬
windung und diese sei eben hier unversehrt. Das würde daran erinnern,
daß bekanntlich nach Liepmann eine Gruppe von Handlungen ohne
Objekt „Eigenleistungen des Sensomotoriums“ sind; wieder würde
ein gewisser Parallelismus zwischen der Struktur der hier betrachteten
Störung und der Struktur der Apraxie darin zum Ausdruck kommen.
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 137
Doch erscheint mir diese kurze Formulierung ohne den im Früheren
gegebenen Kommentar irreleitend zu sein; sie verführt, wie viele ana¬
loge hirnpathologische Definitionen, zu sehr zu der Vorstellung, daß
Bilder und Erinnerungen Fabrikate von Teilzentren seien; ich glaube,
daß man statt dessen bestrebt sein muß, die Struktur der Vorgänge
soweit als möglich klarzulegen, ohne daß man Ausdrücke, die der Psycho¬
logie entlehnt sind, mit himphysiologischen Elementen ohne Not ver¬
mengt. Vor allem käme durch diese Kürzung nicht zum Ausdruck, daß
der Anteil, den die Eigenleistung der hinteren Zentralwindung am Zu¬
standekommen des Bildes einer intakten und beweglichen linken Kör¬
perhälfte hat, überall dort, wo er sich isoliert beobachten läßt, nur
als etwas Latentes, bloß Bereitliegendes erscheint, das durch beson¬
dere Aktivatoren erst von Fall zu Fall in Gang gebracht oder in Gang
erhalten werden muß; diese Aktivatoren aber entstammen nicht der
Eigenleistung der hinteren Zentralwindung, oder nicht dieser allein.
Auch in den beiden hier betrachteten Fällen ist dieser inaktiv bereit-
liegende spezifische Anteil der rechten h. C. W. selbstverständlich nur
aus der Integrität des gefühlten Körperbildes zu erschließen . Wenn er
von den Kranken wirklich bewußt empfunden und wahrgenommen
worden ist, so muß er durch irgendwelche Aktivatoren in Gang gebracht
worden sein; er muß auch in diesen beiden Fällen aktiviert worden sein.
Nun war in beiden Fällen ebenso wie in dem zitierten Kramer sehen
Fall das kinästhetische Bild der linken Körperhälfte als intakt und be¬
weglich dauernd in der Wahrnehmung vorhanden; es war aber samt
allen Impulsen, die ihm galten, konstant in der Richtung nach rechts
gegen die Mittellinie verdreht . In meinem ersten Fall bestand überdies
unter den oben erwähnten Umständen eine objektiv wahrnehmbare
Tendenz, die Augen und den Kopf nach rechts hin gedreht zu halten;
im Ärarncr sehen Fall waren Augen, Kopf und Körper dauernd nach
rechts gedreht; der objektiv gegebene Körper unterlag also dem Ein¬
fluß einer Drehung von derselben spezifischen Richtung wie das bloß
subjektiv gefühlte Phantom der linken Körperhälfte. Hier drängt sich
mir wieder der Vergleich mit meinen Befunden bei reiner Herdläsion
der Gyn angulares auf; dieselbe Erregungsmenge, die im epileptischen
Anfall bei Reizung des Gyrus angularis die Deviation des Körpers
nach der Gegenseite bewirkt, hält unter dem Einfluß einer Zer¬
teilung, Umwandlung und Ablenkung in die Quere, die sie durch die
Zentrenleistung erfährt, den Körper gegen jene Hälfte des Außenraums,
nach der er im Anfall verdreht werden würde, im Gleichgewicht; damit
aber scheint zugleich schon die Orientierung gegen diese Hälfte des
Außenraums garantiert zu sein, und ihr subjektives Bild erscheint.
Wendet man die gleiche Anschauung auf das Gleichgewicht zwischen
den beiden Körperhaften und auf die Orientierung über diese Körper-
138
0. Pötzl:
hälften einzeln und im Verhältnis zueinander an, dann ergibt sich, daß
die tatsächliche Einstellung des Körpers selbst und die subjektive Ver¬
drehung des Phantoms der linken Körperhälfte einer Wirkung von Im¬
pulsen entsprechen, die die Tendenz haben, nach rechts zu drehen ; das
entspricht den Deviationsimpulsen, die von der linken Hemisphäre, ins¬
besondere von deren (Stirn- und) Scheitellappen herstammen; diese
können sich hier in einer abnormen objektiven und subjektiven Wirkung
geltend machen, weil infolge der Zerstörung des rechten Thalamus und
Gyrus supramarginalis die entgegengesetzt drehende Gegenkraft fehlt , die
sonst diese Impulse neutralisiert und scheinbar verschwinden läßt,
indem sie sie in der Statik eines stets fortwirkenden Gleichgewichts
zwischen beiden Körperhälften und in der Fusion dieser Hälften zu
einem von Zwangsdrehungen freien kinästhetischen Gesamtbild des
Körpers, sowie in dessen Deckung mit den optischen Anteilen des
Körperbildes fest verankert.
Als Hebelpunkt für die Wirkung dieser Deviationsimpulse kann man
jene Himpartien betrachten, die in der linken Großhirnhemisphäre den
zerstörten rechtshimigen Partien spiegelbildlich symmetrisch ent¬
sprechen, also die entsprechenden Stellen im linken Thalamus und die
linkshimigen, der Interparietalfurche benachbarten Partien des Gyrus
supramarginalis. Die Übertragung der Wirkung dieser Himteile auf
die rechte Hemisphäre läßt sich am einfachsten im Sinne des Liep-
mannscYien Mechanismus als Leistung der von links her intakten For¬
mationen des Balkens verstehen. Beteiligt sind an dieser Leistung dann
auch solche Balkenformationen, deren Ausfall bei linkshimiger Läsion
ein regelmäßiger Teilbefund der Herdverhältnisse bei der Apraxie ist.
Nur würde hier eine weit elementarere Eigenleistung dieser Überträger
zum Vorschein kommen, die zugleich ihre ursprüngliche Herkunft
aus zentrifugalen motorischen Deviationsimpulsen ersichtlich machen
würde: Derivate von solchen Dreh-Impulsen aktivieren das kinästhe-
tische Körperbild und geben ihm zugleich eine polarisierende Drehung
nach rechts. Dadurch hört das Bild der linken Körperhälfte auf, mit
dem optischen Bild derselben Körperhälfte kongruent zu sein oder viel¬
mehr, sich mit ihm geometrisch zu decken; das optische Bild der linken
Körperhälfte erscheint wegen der Intaktheit der beiden Gyri angulares
und ihrer normalen Wechselwirkung mit der occipitalen Sehsphäre in
der gewohnten normalen Weise im Außenraum; es ist im Außenraum
nicht anders lokalisiert, als beim Gesunden; es ist aber durch die so
geschaffene Inkongruenz von den kinästhetischen Wirkungen abgespal¬
ten; diese sind es, die das optische Körperbild mit den Eigenschaften
der Körpereigenheit durchdringen ; so erscheint es einerseits in dieser Ab¬
spaltung starr und leblos; andererseits folgt es dem Gesetz der Projek¬
tion, unter deren Wirkung es noch steht: der Projektion in den Außen-
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 139
raum. So kommt es zu einer cerebral bedingten Autotomie des optischen
Bildes der linken Körperhälfte.
Es ergibt sich also die Anschauung, daß der rechte und der linke
Parietalteil der Gyri supramarginalis samt den zugehörigen Systemen
des Thalamus und der Thalamusstiele miteinander in der Norm in
einem ähnlichen Gleichgewicht stehen, wie es Barany für seine Tonus¬
zentren in der linken und rechten Kleinhimsphäre (Lobus biventer) an¬
genommen hat. In der Norm treten durch die Leistung dieser beiden
Zentren die abgelenkten Deviationsimpulse in neue Komplexe ein und
schaffen in ihnen die Stabilität der beiden Körperhälften gegeneinander
und das subjektive Gefühl der Körpereigenheit im Gegensatz zu den Ein¬
drücken des Außenraums . Es sind 2 von den 3 Hauptsphären Wer -
nickes , die Körperlichkeit und die Außenwelt, zwischen denen die hier
betrachtete zentrale Tätigkeit gewissermaßen eine Hülle schafft, die
in ihrer relativen Undurchlässigkeit den Eigenschaften intakter Zell¬
membranen vergleichbar ist. Eine Verschiebung dieser Membran¬
wirkung durch eine rechtshimige Läsion des ganzen, dieses Gleich¬
gewicht aufrecht erhaltenden Systems ist es, die den Symptomenkom-
plex der beiden hier dargestellten Fälle in den Hauptzügen verständlich
macht.
In diesem Sinn kann man die hier dargestellte Störung, die einerseits
nur ein Sonderfall der Anton sehen Nichtwahmehmung eines Defektes
zu sein schien, andererseits als eine Störung der Fusion der beiden Kör¬
perhälften betrachten, analog wie Herrmann einen Befund mit Autopsie
gebracht hat, der eine Störung der Fusion der beiden Hälften des Außen¬
raums samt der dazu gehörigen spezifischen Greiflähmung enthielt.
Auch für die hier beschriebene Störung der Fusion der beiden Körper¬
hälften gilt die Analogie mit der Bildung eines binokularen Gesichts¬
feldes aus den Gesichtsfeldern jedes der beiden Augen, die sich bei der
Störung im Herrmann sehen Falle gezeigt hatte. Was bei der Fusion
der Gesichtsfelder der binokulare Anteil des Gesichtsfeldes ist, das ist
bei der Fusion der beiden Hälften des Außenraums und bei der hier be¬
schriebenen Störung der Fusion der beiden Körperhälften der Wegfall
von trennenden Wirkungen der Körpermedianebene . Im Herrmann sehen
Fall sind es trennende Wirkungen der in den Außenraum verlängerten
Körpermediane; bei der hier besprochenen Fusionsstörung im Bereich
der subjektiven Körpersphäre sind es trennende Wirkungen der Körper-
mediane selbst, die von einer spezifischen zentralen Leistung weggeräumt
werden müssen, wenn sie nicht störend zum Vorschein kommen sollen.
Wie man sieht, ist es die (ungefähre) Richtung der Wirkungssphäre der
beiden sagittalen Bogengänge der Labyrinthe, innerhalb deren in beiden
Fällen trennende und abspaltende Störungskomponenten zum Vorschein
kommen.
140
0. Pötzl:
Man kann also sagen, daß die Wechselwirkung zwischen den links -
himigen und rechtshimigen Systemen von Thalamus-, h. C. W.-Gyrus
supramarginalis, deren Bilanz hier zu ungunsten der rechtshimigen
Komponente gestört ist, in der Norm die sagittale Richtungsebene der
Körpermediane zugleich wegräumt und neuschafft: Sie räumt sie weg
in ihren Eigenschaften als Trennungsebene innerhalb des Bereiches der
aufeinander wirkenden Komponenten des Körperbildes; sie schafft sie
neu als eine bloße Bezugsebene, die der sagittalen Richtungsebene eines
dreidimensionalen kartesischen Koordinatensystems analog ist; diese
Bezugsebene ist in gewisser Beziehung vergleichbar mit dem über¬
schüssigen Gesichtsfeld cerebraler Hemianopsien. In dieser Eigenschaft
als bloße Bezugsebene ist die Körpermediane nunmehr auf die Lokali¬
sation jeder differentiellen Oberflächenempfindung oder Lageempfin¬
dung wirksam; auch jede solche differentielle Empfindung ist für sich
allein der gleichen Rechtsverdrehung bzw. Linksverdrehung fähig,
wie das Gesamtbild der Körperhälfte in den hier beschriebeneil Fällen;
dies zeigt sich in der Tatsache, daß bei parietalen Herderkrankungen
eine Allästhesie auftreten kann. Der hier mitbesprochene, in seinem
Gesamtbild meinem 2. Fall gleichartige Kramer sehe Fall hatte eine
entsprechende Allästhesie neben der Rechtsverdrehung des kinästhe-
tischen Bildes der linken Körperhälfte; das Zusammentreffen beider
Symptome spricht dafür, daß die parietal bedingte Allästhesie der hier
beschriebenen Störung verwandt ist und sich zu ihr etwa so ver¬
hält, wie die differentiellen Störungen der Lageempfindung und Lokali¬
sation im Schaffer sehen Fall zu der Störung der Integralfunktion, die
die Gesamtbilder der Körperhälfte lokalisierend ins Gleichgewicht bringt,
und die in meinen Fällen bestanden hat.
Schilder hat sich in jüngster Zeit besonders mit dieser Allästhesie be¬
schäftigt und aus ihr die Notwendigkeit abgeleitet, daß ein cerebrales
„Körperschema“ (im Head sehen Sinne) anzunehmen ist. Ich glaube,
daß die hier beschriebene zentrale Störung für den Begriff eines sog.
Körperschemas Konkreteres in zweierlei Richtung bringt: 1. stellt sich
das real und objektiv in den vorhandenen fokalen Strukturen der hin¬
teren Zentralwindung gegebene Schema von Bausteinen des Mosaiks der
Körperoberfläche als eine Parallele mit dem fortwirkenden Vorgang
einer stetigen, aber der Aldivierung bedürftigen Bereitschaft zur Ent -
Wicklung eines Körperbildes dar. 2. Geschieht die Aktivierung dieses
bereitliegenden spezifischen Vorganges durch die Wirkung umgewandel¬
ter Deviationsimpulse, deren Umwandlung eine Eigenleistung der
unteren Scheitellappen ist und deren Hauptübertragung auf die Eigen¬
leistungen der hinteren Zentralwindungen durch die Gyri supramarginales
bewerkstelligt wird. Die normale ungestörte Leistung dieser Aktivatoren
besteht in der Schaffung eines kartesischen Bezugssystems, der 3 Ko-
Über Störungen der Seibstwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 141
ordinatenebenen des Raumes; der einzelne aktivierende Vorgang ent¬
hält die Augenblickswirkung beider bezeichneten zentralen Kompo¬
nenten aufeinander; er bewirkt die Lokalisation und mit ihr die Wahr¬
nehmung mit ihren Klarheitsgraden 1 ).
Die Qualität des Raumes und seiner 3 Dimensionen erscheint damit
in einem gewissen Sinn als eine Eigenleistung der Parietallappen, die
als spezifische Qualität nach den verschiedenen Territorien der Sinnes¬
sphären übertragen und an ihnen verankert werden kann. Auf die
Eigenleistung der Sehsphäre verankert, schafft sie den Außenraum
und die Lokalisation der Sehdinge, auf die hintere Zentralwindung
übertragen die Körpersphäre und die Lokalisation der Körpereindrücke.
Eine Wechselwirkung dieser einzelnen Gruppenreaktionen schafft das
Gleichgewicht zwischen Körperlichkeit und Außenraum. Es ist in
diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, daß im Kramer sehen Fall
sowohl, wie in meinen beiden Fällen zwar die Rechts Verdrehung der
linken Hälfte des Körperbildes erfolgt ist, daß aber die linksseitigen
Extremitäten ungefähr in der richtigen Körperhöhe hinausprojiziert
worden sind. Ebenso ist es wichtig, daß in meinem 2. Fall das Fremd¬
heitsgefühl vor allem und eine Zeitlang wie elektiv den linken Arm allein
betraf, und daß es in meinem 1. Fall immer nur die Erscheinung des
linken Armes im Gesichtsfeld war, die das Ab wenden oder die sprachlichen
Reaktionen eines Abscheus ausgelöst hat. Man kann sagen, daß in
meinen beiden Fällen das optische Bild des linken Armes weit mehr
entkörperlicht war, als etwa das Bild des linken Beines. Beide Einzeln-
heiten zusammen scheinen mir eine gewisse weitere Gliederung des
zentralen Vorgangs zu verraten, der die Körpersphäre aktiviert ; schon
Redlich hatte entsprechend der Lage des Gyrus supramarginalis in der
Verlängerungsrichtung der Armzentren eine besondere Beziehung der
Sensibilitätsleistungen des Gyrus supramarginalis gerade zum Arm
angenommen; Schaffer ist ihm darin zum Teil gefolgt; auch in meinen
beiden Fällen ist es das Gebiet ventral von der Interparietalfurche, das
zerstört ist; dieser Umstand könnte vielleicht eine gewisse differen¬
zierende lokale Beziehung enthalten; daß der richtige Höhenabstand
der Extremitäten am Körper für das wahrgenommene Phantom so
ziemlich erhalten zu sein schien, könnte man dahin deuten, daß man die
Wahrung dieser Distanzen als eine Art von lokalisierender Eigenleistung
der hinteren Zentral Windung selbst auffassen würde; eine solche An¬
nahme ist wieder analog mit dem Liepmannschen Nachweis, daß eine
gewisse Gruppe von Handlungen Eigenleistungen des Sensomotoriums
sind. Tatsächlich ist ja gerade in der fokalen Struktur der Zentral-
x ) Von mir ausgeführt und mit Beispielen belegt in einer Diskussionsbemerkung
zum Vortrag Schilders: „Das Körperschema“. Verein f. Psyck. u. Neur. Wien,
April 1923.
142
0. Pötzl:
Windungen die Gliederung der Extremitäten und ihrer einzelnen Ab¬
schnitte gestaltlich besonders differenziert; wieder zeigt sich darin
vielleicht, daß der latente, zur Aktivierung bereitliegende Anteil des
Vorgangs gerade jene Eigenschaften gewissermaßen abbildet, die sich
in der Architektur der Zentren der hinteren Zentralwindung abbilden.
Diese Parallelen machen es mir wahrscheinlich, daß derselbe Prozeß,
der hier in seiner Fortwirkung im individuellen Leben des Menschen
durch eine zentrale Störung ablesbar geworden ist, auch einen
wichtigen richtenden Anteil an den phylogenetischen Prozessen hat,
die über eine Reihe von Entwicklungsstufen hinweg zu der gegenwärtigen
Lage und Gliederung der Teilzentren in den h. C. W. und in den Zentral¬
windungen überhaupt geführt haben; zu erkennen wäre hier also ein
Einfluß des Parietalhims auf die Regio centralis .
Was dieser Einfluß schon gestaltlich geschaffen und dadurch kodi¬
fiziert hat, kann anscheinend nicht zerstört werden, solange diese Ge¬
staltungen selbst erhalten bleiben; nur der fortwirkende Teil dieses
Einflusses kann in einer besonderen, mehr allgemeinen Weise unter¬
brochen oder modifiziert werden. Was erst gestaltlich im Werden ist,
kann schon mit den Wechselbeziehungen der reagierenden Himteile
zugleich geschädigt werden; so würden die Eigenleistungen des Senso-
motorium im Liepmann sehen Sinn zum Teil in einer Weise verständlich
sein, die die Betrachtung von den am Individuum gegebenen Verhältnissen
auch auf die Verhältnisse des Werdens und der Entwicklung ausdehnt.
Mit der Annahme eines Einflusses des Parietalhims auf die Eigen¬
vorgänge in der Regio centralis stimmen auch andere Einzelbefunde bei
parietalen Herderkrankungen überein; so konnten wir z. B. in dem vom
M. Löimy und mir beobachteten Fall eines operativ geheilten Endo-
thelioms über dem rechten Scheitellappen eine hierher gehörige Erschei¬
nung finden. Im Bild dieses Falles hatten sich niemals Pyramiden¬
zeichen gefunden; es bestand nie eine wirkliche Hemiplegie, wohl aber
die früher charakterisierten parietalen Störungen der Lokalisation und
Tiefensensibilität; um so häufiger war zu bemerken, daß der (am meisten
gestörte) linke Arm in leichter tonischer Starre sich in die Zwangshaltung
der Mann sehen Hemiplegie einstellte; diese Einstellung dauerte oft
Stunden und Tage; die Kranke konnte aus dieser Einstellung heraus
den Arm frei bewegen; sie tat es aber widerwillig und der Arm kehrte
von selbst immer wieder zu der Mannschen Haltung, wie in die Ruhe¬
lage zurück. Ich gewann den Eindruck, daß hier ein corticaler Störungs¬
vorgang bestand, der der Ruhehaltung des Armes Freiheitsgrade ent¬
zieht und gewissermaßen die Tonus Verteilung der Mann sehen Position
herausmodelliert; dieselbe Hypertonie, die subcortical durch Unter¬
brechung der Pyramidenbahn bewirkt wird, zeigt sich, nur leichter und
noch immer durch den Willen überwindbar, durch die Beeinträchtigung
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 143
eines Einflusses des Parietalhims auf die Zentralwindungen; derselbe
Einfluß hilft offenbar in der Norm, der Eigenleistung der C. W. gerade
jene Tonusverteilung zu entziehen, die auch die intakte Pyramiden¬
bahn den spinalen Reflexbogen usw. entzieht; er setzt die statischen
Leistungen der Pyramidenbahnsysteme transcortical in einem Schenkel
von Querfunktion fort.
Dieser Befund bringt ein weiteres Beispiel jener tonusabsaugenden
Querwirkung des Parietalhims auf die Zentralwindungen, die den
Hintergrund für die freien Bewegungsgestaltungen klärt ; man kann
auch hier annehmen, daß der Einfluß, der ontogenetisch in dieser Stö¬
rung zum Vorschein kam, seinem Wesen nach derselbe Faktor ist, der
in den phylogenetischen infinitesimalen Verschiebungen der Großhim-
rindenarchitekturen tätig ist, der organbildend die fokalen Zentren
gestaltet und ihnen zugleich den Hintergrund schafft, von dem sie sich
frei abheben. Dann würde aber dieser selbe Faktor in letzter Linie
auch die Verteilung des Ausstrahlungsgebietes der Pyramidenbahn be¬
stimmen und regulieren helfen.
Alle diese Beziehungen kommen auch in Betracht bei den Befunden
einer durch Großhimherderkrankung bedingten Allästhesie oder Allo-
chirie. Doch ist, wie ich glaube, in bezug auf dieses Symptom noch ein
anderes Moment heranzuziehen, dessen Wirksamkeit beim Menschen
sich mir schon einmal an dem Bild doppelseitiger Jacksonanfälle im
Fall eines Abscesses des rechten Stimpols aufgedrängt hat, ohne daß ich
damals den mit meinem Befund korrespondierenden experimentellen
Befund an der Katze kannte. Durch Ausnutzung der spezifischen
Affinitäten des Strychnins hat Dusser de Barrenne Zonen homolateraler
Gefühlsstörungen festgestellt, die bei der Katze median-parietal ge¬
legen sind; dieser Befund, der eine direkte Anwendung auf die von mir
beschriebene frontale Störung zuläßt, scheint mir wenigstens die Mög¬
lichkeit einer Beziehung zur parietalen Allästhesie in sich zu enthalten;
vielleicht klingt bei der Wahrnehmung und Lokalisation taktiler Quali¬
täten auch beim Menschen noch die homolaterale Gefühlskomponente
gewissermaßen mit; vielleicht muß sie erst durch einen besonderen
dämpfenden Vorgang beseitigt werden. Die zugehörige Dämpfung kann
vielleicht in einer ähnlichen Weise isoliert gestört werden, wie die hier
beschriebene integrale Entwicklung des Körperbildes aus seinen beiden
Hälften. Damit würden die Schilder sehen Befunde auch strukturell
in das hier gegebene Schema eingereiht werden können; es wäre sogar
der hysterische Transfert den organisch cerebralen Störungen insofern
etwas nähergebracht, als man einen organischen Keim in ihm vermuten
könnte, der auf eine phylogenetisch tieferstehende homolaterale Emp¬
findungskomponente und ihre Wiedererweckbarkeit durch psychische
Vorgänge bezogen werden könnte.
144
0. Pötzl:
Das isolierte Befallensein des Armes von der Körperfremdheit in
meinen beiden Fällen bringt mir übrigens noch einen anderen Befund
in Erinnerung, dessen Pathogenese am Fall unklar geblieben ist. Es
handelte sich um eine Arteriosklerotica, die anfallsweise zugleich mit
Konvergenzkrämpfen eine Macropsie bekam, die aber wie elektiv
nur die Gesichter der umgebenden Personen betraf. Diese erschienen
groß, zugleich wie unnatürlich leblos und leichenhaft, ganz so, wie dem
ersten meiner Kranken sein linker Arm optisch erschienen war. Im
Sinne des vorigen wäre der Mechanismus einer solchen elektiven Sto¬
rung verständlich; es können die in ihrer Spezifizität eigenartigen,
aktivierenden und gestaltenden Komponenten von der eigenen Körper¬
sphäre auf die sich mit ihnen gestaltlich deckenden Bilder des Außen¬
raums transformiert werden und vice versa; diese Transformation kann
isoliert in ihren Strukturen gestört sein ; es würde sich darin zeigen, wie
elektiv diese Vorgänge sind und daß die Arnold Pick sehe Störung der
Orientierung am eigenen Körper und die Störung der Orientierung im
Außenraum gewissermaßen Punkt für Punkt ineinander verwandelbar
sind. Damit zugleich ergibt sich ein Übergang zu jenen Störungen bei
Psychosen und Neurosen, die dem Begriff des Transitivismus (Wernicke),
zum Teil dem Begriff der „Projektion“ und „Übertragung“ (Freud)
angehören. Besonders schöne, gerade die Exoprojektion körperlichen
Defektes in die Halluzinationen erweisende Beispiele der letzteren Art
verdanken wir bekanntlich Schilder .
Es zeigt sich durch diese Beziehungen indessen nur, daß im Rahmen
der hier besprochenen zentralen Vorgänge auch Platz ist für sehr viele
eigenartige Reaktionen der Psychosen und Neurosen; ich würde aber
den Rahmen dieser Arbeit verlassen, wenn ich mich vom klaren, him-
pathologischen Beispiel weg in die Schwierigkeiten und Komplikationen
der Befunde aus der Psychiatrie und aus der Neurosenlehre allzuweit
einlassen wollte. Doch konnten diese Beziehungen hier nicht ganz un¬
erwähnt bleiben, da es sich hier ja um die Besprechung eines Sonder¬
falls des Awtonschen Symptoms handelt. Anton selbst war es, der in
seiner grundlegenden Arbeit über die Selbstwahmehmung der Herd¬
erkrankungen „eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den bei hysteri¬
schen Zuständen beobachteten Halbseiten- und Gefühlslähmungen“ her¬
vorgehoben hat. Für Anton besteht diese Ähnlichkeit vor allem darin,
daß auch die Hysterischen ihre sensorischen Defekte auffallend gering
veranschlagen, oft gar nicht bemerken. Daß eine weitere Ähnlichkeit
mit der Hysterie in der Abwehreinstellung eines solchen Kranken gegen
das optische Bild der laedierten Körperhälfte gegeben sein kann, zeigt
die Krankheitsgeschichte meines ersten Falles; sie zeigt zugleich auch
in Verbindung mit dem Kramer sehen Fall, daß sich diese Abwehrreak¬
tion nicht nur psychogen, sondern auch himpathologisch auflösen läßt,
Über Störungen der Selbstwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 145
derart, daß beide Auflösungen etwas Gemeinsames zu enthalten scheinen:
die Beziehung zur biologischen Erscheinung der Autotomie.
Anton findet als wesentlichste Ähnlichkeit der Störung der Selbst¬
wahmehmung mit den hysterischen Empfindungsstörungen, „daß jener
zentralste Apparat versagt, welcher die bewußte Wahrnehmung, die
Apperzeption des zugeleiteten Empfindungsreizes zu leisten hat“.
Meine im früheren gegebenen Auseinandersetzungen über die Mechanik
der hier vorliegenden zentralen Störung leisten nur eine Erweiterung
und Konkretisierung dieser Antonschen Auffassung; der Befund scheint
mir hier die Natur dieses von Anton bezeichneten zentralen Apparates
klarer zu bestimmen und in seine Elemente aufzulösen. Jedenfalls aber
ist der hier gebrachte Sonderfall durch keine der herrschenden Auf¬
fassungen über das Antonache Symptom so zwanglos erklärbar, als
durch die ursprüngliche Auffassung Antons selbst, der vor allem darauf
hingewiesen hat, daß Rindenstellen, die von der Peripherie abgeschnitten
sind, noch von anderen Stellen der Himoberfläche aus in Erregung
versetzt werden können. Auch diese Auffassung Antons bildet sich
gerade darin an meinen Befunden ab, daß die Eigenleistungen des
rechten Sensomotoriums vom linkshimigen Gyrus supramarginalis aus
aktiviert, zugleich aber auch im Sinne der Rechtsdeviation verdreht
werden.
Ich habe die vorstehende Besprechung auf die wichtigsten über¬
einstimmenden Punkte meiner beiden Autopsiebefunde beschränkt;
ich habe aber keineswegs diejenigen Punkte des Autopsiebefundes, die
im vorigen unbesprochen geblieben sind, bei der Deutung außer acht
gelassen. Erstens stimmen meine beiden Fälle auch noch darin über¬
ein, daß beidemale auch der rechte Himschenkelfuß lädiert war. Darin
kann ebenfalls ein theoretisch wichtiger Punkt enthalten sein, mag
er sich nun auf die Anordnung der Fasern beziehen, deren Zerstörung
hier für die Hemiplegie maßgebend war, oder auf andere Einflüsse, die
anderen Bahnen des Himschenkelfußes oder benachbarten subcorticalen
Ganglien angehören und die erst bei weiteren Befunden der theoretischen
Klarstellung zugänglich sein werden 1 ). Zweitens ist nicht zu über¬
sehen, daß in meinem ersten Fall, in dem das hier geschilderte Syndrom
dauernd und viel hochgradiger zu beobachten war als im zweiten, die
bis gegen das Stimhim reichende Zerstörung im Putamen und im Mark
der Inselrinde beachtenswert ist; sie fehlt im zweiten Fall. Ich glaube,
daß dieser Punkt sich der hier gegebenen Darstellung im wesentlichen ein-
fügen läßt, da er vor allem besagt, daß in diesem ersten Falle noch viel
mehr extrapyramidale Motilität in ihrer Verarbeitung durch subcorti-
cale Zentren gestört ist; daß daraus eine besondere Beziehung des
Syndroms zu jener extrapyramidalen Motilität gefolgert werden sollte,
x ) Gemeint sind hier vor allem die pontinen Bahnen des Himschenkelfußes.
Z, f. d. g. Neur. u. Psych. XCm. 10
146
0. Pötzl:
die der Verarbeitung durch das Striatum untersteht, nicht der Verar¬
beitung durch die Hirnrinde, erschiene mir angesichts der scharfen
Selbstwahmehmung der Defekte bei so vielen striären Erkrankungen
nicht als den Tatsachen gemäß; ich habe indessen zum Teil deshalb mit
der Veröffentlichung des ersten Falles gezögert, bis ich den zweiten Be¬
fund hatte, weil mir erst aus diesem hervorzugehen schien, daß von
den subcorticalen Ganglien, die zu dem Grundmechanismus dieser
Störung in Beziehung zu setzen sind, nicht das Striatum in erste Reihe
zu stellen ist, sondern der Thalamus. Was die Zerstörung des Marks
der Inselrinde anbelangt, so kann sie wieder mit einer gestörten Ver¬
arbeitung archäischer zentraler Erregungskomponenten in Verbindung
gebracht werden, deren spezifische Alteration nach meiner Darstellung
den Grundzug der ganzen Erklärung des Phänomens bildet. Im zweiten
Falle schließlich waren mit der Sehstrahlung auch die medianen unteren
Anteile der occipitalen Thalamusstiele und das Pulvinar thalami zer¬
stört. Es ist besonders hervorzuheben, daß diese Zerstörung eine Ver¬
drehung der Wahrnehmung des Außenraums und der optischen Bilder
der Sehdinge nicht hervorgerufen hat und daß so die Abspaltung des
optischen Bildes vom kinästhetischen Bild nicht durch eine Kongruenz
an falscher Stelle verhindert worden ist. Analoges dürfte nach dem
klinischen Befund für den Kramer sehen Fall gelten. Immerhin ist es
möglich, daß diese eigenartige Herdzerstörung dazu beigetragen hat,
daß das Syndrom in meinem zweiten Fall gegliederter und rückbildbarer
erschien als im ersten und daß die Abwehrreaktion gegen das optische
Bild eine geringere war. Im übrigen aber sehe ich in dieser Eigenart
meines zweiten Befundes eine Bestätigung meiner an den Angularis-
befunden gewonnenen Anschauungen, daß die Wechselwirkung zwischen
Sehsphäre und parietaler Blicksphäre vor allem an die occipitalen Ge¬
biete des Gyrus angularis zusammen vor allem mit der kunealen Lippe
der Calcarinagegend gebunden ist 1 ); das Gebiet dieser Wechselwirkungen
war auch in meinem zweiten Fall in der rechten wie in der linken Hemi¬
sphäre intakt.
Schon im früheren ist darauf hingewiesen worden, daß die Topo¬
graphie des Scheitellappenherdes in meinen beiden Fällen auch in ihrem
einzelnen sehr beachtenswert ist. In beiden Fällen beschränkt sich der
Herd auf jene Rindenpartie des Gyrus supramarginalis, die an die
Interparietalfurche grenzt. Im ersten Fall unterminiert der Herd auch
den Boden der Interparietalfurche bis in deren dorsale Mitte hinein;
im zweiten Fall bleibt er mehr oberflächlich und verschont den Boden
der bezeichneten Furche. Ich bin geneigt, auch diese Differenz mit der
geringeren Ausprägung und Flüchtigkeit des Syndroms bei meinem
*) Damit stimmt auch die schon von Anton betonte Wichtigkeit der Unter¬
brechung dorsaler Anteile der occipitalen Thalamusstiele.
Über Störungen der Selbstwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 147
zweiten Fall in Verbindung zu bringen. Vor allem aber entspricht die
Lage des Herdes im ersten Falle einer ausgiebigeren, im zweiten Falle
einer mehr partiellen Zerstörung gerade jenes Himrindengebietes, das
in Bereiche des sensory-visual-band von Eüiot Smith fällt. Diese Rinden¬
formation umgibt bekanntlich den Sulcus interparietalis beim Menschen;
sie stellt strukturell eine gewisse Verwandtschaft dar zwischen dem sen¬
sorischen postzentralen und dem visuellen occipitalen Gebiet. Dieser
Parallelismus der Struktur des hier einzig innerhalb des Scheitellappens
gestörten Rindengebietes und des klinischen Charakters der vorliegenden
Störung, die das optische Körperbild vom kinästhetischen abspaltet,
darf nicht unvermerkt bleiben. Ich halte diesen Befund für einen wich¬
tigen und klaren Spezialfall einer Anwendung der Lehre von der cyto-
arehitektonischen Gliederung der Rindenfelder auf klinische Syndrome
der menschlichen Himpathologie. Da im zitierten Schaffer sehen Falle
nach den Bildern, die Schaffer bringt, die Rindenzone des visual-sensory-
Band rechtshimig ausgiebig lädiert ist, die Abspaltung des optischen
Körperbildes vom kinästhetischen Körperbild aber in diesem Falle
nicht vorhanden war, ist indessen m. E. schon aus den bereits vor¬
liegenden Befunden der Schluß abzulehnen, daß die Rindenläsion
dieser Gegend allein anders als etwa flüchtig das Syndrom der Spaltung
des Körperbildes zustande bringen kann; es bedarf trotz dieser merk¬
würdigen Beziehungen dazu offenbar zum mindesten einer Mitwirkung
der Störung thalamischer Systeme.
Allerdings könnten flüchtigere Störungen der gleichen Art zumal
bei einer vorhandenen allgemeineren Hirnschädigung vielleicht doch
gerade durch Rindenläsionen des interparietalen Streifens zustande
kommen. Ich verweise in dieser Beziehung darauf, daß das Syndrom
einer Spaltung des Körperbildes z. B. in den Delirien nach paralytischen
Anfällen nicht allzu selten ist; die abgespaltene Hälfte des optischen
Körperbildes verwandelt sich dann für den Deliranten in einen Doppel¬
gänger oder überhaupt in eine andere fremde Person, die neben ihm im
Bette liegt und auf die er mit dem nicht gelähmten Arm losprügelt. Es
liegt die Möglichkeit vor, daß derartige paralytische Anfälle gerade
frischen Veränderungen im interparietalen Streifen entsprechen; diese
Möglichkeit könnte in der Folge durch Kombination der gewöhnlichen
histologischen Methoden mit der Marchi-Methode nach Starlinger
exakt geprüft werden. Deshalb soll hier auf diese Verhältnisse hinge¬
wiesen werden. Auch das ist beachtenswert, daß sich in solchen Delirien
so häufig nicht nur das Bild des eigenen Körpers, sondern auch das
abgespaltene optische Bild einer Körperhälfte für das Bewußtsein zum
Bild einer ganzen Person reintegriert.
Im übrigen aber sehe ich in dieser Parallele zwischen einer dem
Menschen eigentümlichen cytoarchitektonischen Struktur der Groß-
10 *
148
0. Pötzl:
himrinde und den Symptomen- einer in dieses Feld lokalisierten Herd-
erkrankung, die eine visuell-sensorische Abspaltung enthalten, vorläufig
nur eine weitere Bestätigung dafür, daß die cytoarchitektonische Gliede¬
rung der Himrinde durch die phylogenetische Wirksamkeit desselben
Vorgangs regiert und herausmodelliert wird, der hier in seiner Fort¬
wirkung während des individuellen Lebens durch die Herderkrankung
betroffen worden ist. Ich verweise darauf, daß, wie schon früher er¬
wähnt, eine vergleichende Betrachtung R. Kleins über die Befunde an
eigenen und fremden Fällen von parietaler Apraxie dieselbe wichtige
Beziehung des linkshimigen interparietalen Streifens für die Aufrecht¬
erhaltung der Eupraxie ergeben hat. Im eigenen Falle Kleins konnte
eine tiefgehende Totalzerstörung des Interparietalstreifens vor allem
damit in Beziehung gebracht werden, daß die modellierenden Einstel¬
lungen der Hand vom Tasten auf das Erblicken abgelenkt erschienen.
Sie stellten sich nur beim Fehlgreifen der rechten Hand ein, unter der
optischen Wirkung des betreffenden, nicht ergriffenen Gegenstandes;
so führten sie zu Handlungen wie mit halluzinierten Objekten. Auch
in diesem Befund ist eine visuell-sensorische Abspaltung enthalten;
sie betrifft aber nicht das Körperbild, sondern die freie Verwertung der
Erscheinungen im Außenraum zum Ergreifen und Hantieren.
Der Vergleich zwischen dieser linkshimigen und den hier beschrie¬
benen rechtshimigen Parietalerkrankungen führt zu der Frage zurück,
ob es ein Zufall ist, daß alle drei hier besonders berücksichtigten Fälle
von Nichtwahmehmung der linksseitigen Hemiplegie exquisit rechts«
hirnige Herdkombinationen enthalten haben. Es wäre möglich, daß
rechtshimige Leistungen unter sonst gleichen Umständen mehr auf die
Aufrechterhaltung der Statik der Körperlichkeit, des Erregungsgleich¬
gewichts hinwirken, während die linkshimigen Gegenstücke dieser
Leistungen mehr die Aktivierung dynamischer Erregungen vollziehen;
die rechtshimige Leistung würde mehr den Zustand der Ruhe ge¬
währleisten, die linkshirnige die Aktionen. Dies ist zunächst nur ein
anderer Ausdruck für die ohnehin längst bekannten Grundzüge der
Rechtshändigkeit beim Menschen; die Formulierung an dieser Stelle
würde nur darauf aufmerksam machen, daß die rechte Hemisphäre in
ihrer Art eine ebenso wichtige protektive Wirkung auf die linke Hemi¬
sphäre ausübt, wie die linke Hemisphäre auf die rechte. Nur unter¬
scheiden sich eben beide protektiven Wirkungen voneinander.
Die Idee, daß die rechte Hemisphäre eine eigenartige protektive
Wirkung ausübt, in der sie über die linke Hemisphäre dominiert, stammt
aus dem unveröffentlichten Nachlaß des verstorbenen J. A. Hirschl.
Hirschl hatte als erster eine Reihe von rechtshimigen Tumoren der
Gegend der ersten Schläfenwindung gesammelt, deren Sitz ungefähr dem
Spiegelbild der erweiterten Wernicke sehen Stelle entsprach. Das ge-
über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 149
meinsame Symptom dieser Fälle bestand in einer Olykosurie ; Hirschl
leitete daraus die Hypothese ab, daß die rechte Hemisphäre bei der
Patronanz über die vegetativen Leistungen überwiege, die linke Hemi¬
sphäre bei der Patronanz über die cerebrospinalen Innervationen.
Hirschl meinte, daß dieser Gegensatz gerade bei jenen Hirnrindenpar-
tien sich besonders ausdrücken müsse, deren linkshimige Spiegelbilder
besonders scharf auf hochdifferenzierte innervatorische Leistungen ein¬
gestellt seien, wie eben die Wemicke sehe Stelle beim Menschen. Der
rechtehimige Charakter der hier dargestellten Befunde, der rechtshimige
Herd bei der früher zitierten Herrmann sehen Störung der Fusion des
Außenraums, der Umstand, daß ich Störungen im Sinne von Quadru-
pedeneinstellungen beim Gehen als Wirkung zweier rechtshirnigen Stirn¬
polherde fand, ist immerhin auffällig. Allen diesen Befunden gemeinsam
ist das besonders auffällige Einschießen spezifisch gerichteter tonischer
Erregungen in Muskelgruppen, die sonst durch die Schutzwirkung
dieser Zentren von der Peripherie abgehalten werden. Es scheint, daß
diese, zum Teil phylogenetisch alten Engrammen entsprechenden, spezi¬
fischen zentrifugalen Erregungen in der Gegenreaktion der rechten
Himhälfte gewissermaßen besonders leicht abspaltbar enthalten sind,
ähnlich z. B. wie manche Verbindungen zwischen Hämagglutininen und
Blutkörperchen in der Wärme besonders leicht spaltbar sind. Ob von
diesen Befunden zu dem Kern der Hirschl sehen Anschauungen in der
Folge sich eine Brücke schlagen lassen wird, bleibt abzuwarten; jeden¬
falls gehört hierher auch die von IAepmann und Pappenheim gelegentlich
ihres Falles von Leitungsaphasie behauptete Verschiedenheit „links-
himiger und rechtshimiger Engramme“. Diese Autoren nehmen an,
daß im Beispiel der Rückbildung von sensorischer Aphasie die rechts-
himigen Engramme nicht ausreichen für eine volle Wiederherstellung
der expressiven Störungen der Sprache, während sie zur Wiederherstellung
des Sprachverständnisses ausreichen sollen. Ich habe meine Einwen¬
dungen gegen diese Auffassung an einer anderen Stelle ausführlich
vorgebracht und möchte darauf nur insofern zurückkommen, als auch
in dieser Anschauung der Gedanke enthalten ist, daß die protektive
Wirkung der linken Hemisphäre mehr den dynamischen Erregungen
bei Aktionen, die protektive Wirkung der rechten Hemisphäre mehr
der Wiederherstellung eines Erregungsgleichgewichts gegen die Außen¬
welt und ihre Eindrücke zugewendet ist; soweit die zitierte Auffassung
mit diesem Gedanken übereinstimmt, pflichte ich ihr selbstverständlich
bei, um so mehr als sich mir im Sonderfall der Orientierung im Außen¬
raum und der Wahrnehmung der äußeren Raumverhältnisse zu zeigen
schien, daß innerhalb gewisser Grenzen die Einstellung zum Gleich¬
gewicht schon Vorgänge enthält, die der Wahrnehmung selbst angehören;
allerdings gilt dies nur für die Grundierung der Wahrnehmungen, also
150
0. Pötzl:
für das, was die moderne Psychologie das Hintergrundserlebnis nennt.
Was den Engrammbegriff anlangt, so zeigen gerade die hier veröffent¬
lichten Befunde, wie sehr das Wesen, das ihm zu gründe Hegt, sich mit
phylogenetisch und ontogenetisch älteren motorischen Einstellungen
deckt, die von der Gegenreaktion der Zentren abgebaut werden und
innerhalb neuer Komplexe als Aktivatoren oder als Antrieb wieder er«
scheinen; ein Beispiel dafür gibt schon das ÜberbHcken, aus dem all-
mähHch der ÜberbHck wird.
Unter solchen Formationen befindet sich vieles, das an die „be¬
dingten Reflexe“ Pawlows erinnert oder in sie eingereiht werden muß.
Im Zusammenhang damit ist es nicht unwichtig, daß in meinem zweiten
Fall vorübergehend Saugreflexe erschienen sind. Ebenso zeigte der zweite
Fall Redlich-Bonvicinis (Totalerweichung im Gebiet der Unken Arteria
cerebri posterior und der rechten Arteria cerebri anterior; Nichtwahmeh-
mung der Blindheit) als Hauptreaktion einen von Hnksher durch Licht¬
einfall auslösbaren Wagner-Jauregg sehen Atzreflex. Diese Beispiele zeigen
nur, daß phylogenetisch alte motorische Einstellungen unter denselben
Bedingungen besonders leicht wieder zum Vorschein kommen, die das
RückfUeßen phylogenetisch alter Erregungen in die früheren Wege
durch Wegfall der Gegenreaktion der Zentren bedingen; die Erinnerung
des Körpers erscheint wieder, wenn die Erinnerung der Seele verschwin¬
det; auch in diesem Mechanismus ist eine Analogie mit den langen
Fortwirkungen hysterischer motorischer Einstellungen im Sinne von
Breuer und Freud sowie mit ihrer Gegenwirkung, der Katharsis , zu er-
bUcken, andererseits auch eine gewisse Analogie zu den Vorgängen bei
der Korsakow sehen Psychose, auf die man versucht hat, das Antonsche
Symptom zurückzuführen, ohne den Tatsachen damit gerecht zu werden.
Im allgemeinen zeigt die Wirksamkeit alter phylogenetischer motori¬
scher Einstellungen gerade bei der hier auf gezählten Reihe rechtshirniger
Störungen, wie fehlerhaft es ist, wenn man immer noch die aktiven psy¬
chischen Vorgänge, z. B. die Erhebung von Komplexen in die Wahr¬
nehmung und ins Bewußtsein unmittelbar aus den bedingten Reflexen
Pawlows herzuleiten versucht; es ist viel eher ein Abbau und ein
Wiederaufbau aus Bausteinen dieser bedingten Reflexe, der hier wirksam
ist. Die bedingten Reflexe spielen bis zu einem gewissen Grade die Rolle
des artfremden, die aus ihnen und anderen Elementen sich neu auf¬
bauenden komplexen Bewußtseinsphänomene die Rolle des arteigenen
Eiweißes. Man könnte eher sagen, daß das Bewußtsein die bedingten
Reflexe geistig verdaut, als daß es selbst eine algebraische Summe be¬
dingter Reflexe sei. Im Besonderen aber führen die zuletzt besprochenen
Beziehungen zur Diskussion der Frage, ob und wieweit die Mechanismen
des hier besprochenen Sonderfalles des Antonschen Symptoms auch auf
die übrigen bisher beschriebenen Phänomene dieser Art anwendbar sind.
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 151
3.
Die bisherigen Erörterungen haben wiederholt zu Punkten geführt,
in denen das Wesentliche der Anton sehen Grundanschauung bestätigt
und erweitert werden konnte, während andersartige Anschauungen
abgelehnt werden mußten. Die Diskussion der allgemeineren Bedeu¬
tung der Mechanismen des hier beschriebenen Sonderfalles beginnt am
besten mit Antons originalen Fällen 2 und 3, während sein erster Fall
ausscheidet, da mir eine Autopsie desselben nioht bekannt ist.
Antons zweiter Fall betrifft die Nichtwahmehmung einer Blind¬
heit; Anton selbst hebt hervor, daß beiderseits der hintere Sehhügel und
der äußere Kniehöcker merklich atrophiert waren und daß die Strah¬
lungen des Sehhügels und des äußeren Kniehöckers in den größten
oberen Teilen total unterbrochen waren. Im klinischen Befund war
besonders die Orientierungsstörung auffällig; es ist damit ersichtlich,
daß dieser Fall neben anderen Befunden auch jene Beziehungen in sich
enthält, die eine Anwendung der im vorigen für einen anderen Sonderfall
ausgeführten Anschauungen auf die optische Sphäre prinzipiell mög¬
lich machen. Die konstante Beziehung zur Orientierungsstörung hat
bekanntlich später Hartmann dazu geführt, die A nton sehe Nichtwahr¬
nehmung der Blindheit in ihrem Wesen als eine Orientierungsstörung
aufzufassen.
Der dritte Fall von Anton (Nichtwahmehmung einer zentralen Taub¬
heit) enthält im Autopsiebefund den Vermerk, daß neben den Assozia¬
tionssystemen die Fasersysteme, die von T 1 und T 1 zu den basalen
Ganglien und zum Himschenkd 1 ) ziehen, fast gänzlich unterbrochen
waren. Damit allein erscheint der Fall geeignet, die an meinen Befunden
besprochenen Verhältnisse mutatis mutandis auf die Hörsphäre zu über¬
tragen. Wenn in den beiden Antonschen Fällen direkte Zerstörungen
der Zwischenhimganglien selbst fehlen, so würde sich dieser Unter¬
schied leicht dadurch verstehen lassen, daß die Aufhebung der tiefer
wurzelnden Körpereigenheit auch eine tiefergreifende Zerstörung in
den Schichtensystemen der alten motorischen Einstellungen erfordern
dürfte.
Albrecht hat in neuerer Zeit 3 Fälle mit Antons Symptom veröffent¬
licht; er bestrebt sich, den hohen Wert der ursprünglichen Anton sehen
Auffassung den abweichenden Anschauungen anderer Autoren gegen¬
über zu verteidigen. Der erste Fall Albreckts enthält neben einer Klein¬
hirnmetastase (linke Hemisphäre) eine Hypemephrommetastase, die
in der rechten Hemisphäre genau an der Wurzel der Interparietalfurche
zwischen h. C. W. und den Anfangsteilen des Scheitellappens sitzt.
Übrigens ist vermerkt und illustriert, daß der rechte Thalamus be-
*) Vom Verf. gesperrt gedruckt; vgl. die Himschenkelherde in meinen Be¬
funden.
152
0. Pötzl:
sonders stark plattgedrückt war, ebenso der rechte Balken. Klinisch
war der Fall „an der Grenze des Anton sehen Symptoms“.
Die Rechtshimigkeit und die nahe Lagebeziehung des Großhirn¬
tumors zu dem Gebiet der parietalen Erweichungen meiner beiden
Fälle sind bemerkenswert. Daraus ergibt sich, daß auch auf diesen Fall
die Ergebnisse der hier mitgeteilten Untersuchungen und Betrachtungen
angewendet werden können; die Nichtwahmehmung betraf übrigens
hier auch die Blindheit.
Albrechts zweiter Fall ist ein großes Gliosarkom, das von der parieto -
occipitalen Hälfte des Thalamus ausgeht und den ganzen dorsalen Scheitel¬
lappen ausfüttt (Nichtwahmehmung der Blindheit und der linksseitigen
Bewegungsstörungen; allerdings in Delirien).
Auch für diesen Fall gilt die Anwendbarkeit der hier dargestellten
Zusammenhänge.
Der dritte Fall Albrechts ist ein Stimhirntumor mit Nichtwahmeh¬
mung der Blindheit. Ich scheide ihn für die Besprechung vorläufig
aus, um ihn später mit anderen vergleichbaren Fällen zusammen¬
zustellen.
Nichtwahmehmung einer Blindheit, die rein oder vorwiegend
zentraler Natur war, betreffen auch die beiden Herdfälle von Redlich
und Bonvicini. Ich kenne beide Befunde aus eigener Anschauung. Der
eine Fall hatte doppelseitige Erweichungen im ganzen Gebiet der
Arteriae cerebri posteriores; beide Erweichungen reichten ganz auffallend
weit nach vom, so daß auch das Pulvinar thalami beiderseits mitzerstört
war; außerdem bestand eine Degeneration des makulo-papillären
Bündels im Nervus opticus.
Die doppelseitige Affektion des Pulvinar und der Corpora geniculata
tritt hier für die in diesem Falle fehlende Zerstörung des oberen Anteils
der parieto-occipitalen Thalamusstiele und der parieto-occipitalen
Konvexität ein, derart, daß die hier geäußerten Anschauungen auch
für diesen Fall mutatis mutandis auf die Verhältnisse der optischen
Sphäre anwendbar bleiben.
Der andere Fall von Redlich und Bonvicini ist der im früheren
schon erwähnte Fall mit Totalerweichung der linken Arteria cerebri
posterior und der rechten Arteria cerebri anterior. Der linkshimige
Herd ist analog dem Herd des ersten Falles Redlich-Bonvicini. Dazu
kommt im Sinne des von mir angenommenen Mechanismus, der alte phylo¬
genetische motorische Einstellungen in eine Querfunktion umwandelt,
die Totalzerstörung der vorderen 4 / 6 des Balkens. Man sieht, daß auch
für diesen Fall die hier gegebenen Erklärungen anwendbar sind.
Bonhoeffer beschreibt einen Fall von reiner Wortblindheit mit Nicht¬
wahmehmung der Lesestörung; über die Obduktion des Falles ist mir
nichts bekannt; im Zusammenhang damit ist zu erwähnen, daß einer
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 153
meiner eigenen Fälle von reiner Wortblindheit und Farbenagnosie
(Böhm) ebenfalls eine linkshimige Totalerweichung der Arteria cerebri
posterior hatte, sonst keinen Herd. Der Occipitalpol war in diesem Fall
völlig intakt, die Konvexität unversehrt; frontalwärts reichte die Er¬
weichung bis fast zum Uncus; die Zerstörung machte knapp an den
Grenzen des Pulvinar thalami Halt. Dieser Kranke hatte eine dauernde
und sehr scharfe Selbstwahmehmung für seinen Defekt. 1 )
Für diesen Fall hat also der linkshirnige Herd des Redlich-Bonvicini-
sehen Typus für das -4nfcm sehe Symptom nicht ausgereicht. Im Sinne
der früheren Ausführungen ließe sich der Bonhöffer sehe Befund auf
zweierlei Arten erklären: Entweder dadurch, daß eine Erweichung vom
Typus meines Falles sich noch weiter in den Thalamus fortsetzt, wie es
bei der zweiten Erweichung meines zweiten hier beschriebenen Falles
sich tatsächlich vorfand (allerdings in der r. H.), oder durch eine Mit¬
läsion der occipitalen Konvexität und der oberen Thalamusstiele. Gegen
die erste Erklärung spricht vielleicht, daß das Anton sehe Symptom für
Verhältnisse, die das Sehen betreffen, in meinem zweiten Fall gefehlt hat.
Die bisher besprochenen Fälle, sowie die Fälle von Wendenburg und
Orlowski, lassen sich in den Rahmen des hier dargestellten Grundmecha¬
nismus einfügen; sie enthalten wenigstens nichts, was diese Einfügung
unmöglich machen würde, und vieles, das sie nahelegt. Anders ist
es mit einer zweiten Reihe von Fällen (durchwegs Tumoren), die sich
zunächst in die hier beschriebene Anschauung nicht einfügen lassen. Der
größere Teil dieser Tumoren betrifft Geschwülste des Stimhims; die
Betrachtung dieser Fälle hat Albrecht den Anlaß gegeben, besondere Be¬
ziehungen des „ Balken - und Stimhims “ für die Entstehung des Anton-
sehen Symptoms zu vermuten; demgemäß hat Albrecht auch für die Er¬
klärung des Symptoms in der vorhin zusammengestellten ersten Reihe
von Fällen neben der anderen ,,assoziativen“ Schädigungen besonders
die Wichtigkeit einer Durchbrechung frontalwärts gerichteter Asso¬
ziationssysteme betont. Diese letztere Anschauung läßt sich auf meine
beiden hier dargestellten Befunde, wie leicht ersichtlich ist, nicht an¬
wenden. Es bleibt aber zu untersuchen, ob diese eine Reihe für sich dar¬
stellen, die Fälle aber, die mehr oder weniger der Anschauung Albrechts
entsprechen, eine zweite Reihe.
Zu diesen letzteren Fällen gehört vor allem der dritte Fall von Al¬
brecht selbst, in dem sich mit dem Wachsen eines linksseitigen Stimhim-
tumors und nach einer Palliativtrepanation zugleich mit Euphorie und
Witzelsucht eine Nichtwahmehmung der Blindheit erst entwickelt hatte.
Ferner gehört hierher ein weiterer Fall von Redlich und Bonvicini ,
in dem ein rechtshimiger Stimhimbalkentumor bestand, und der Fall 3
von Mingazzini (Stimhimtumor links).
x ) VgL die Büder in Jahrbücher f. Psych. u. Neurol. 39.
154
0. Pötzl:
Es ist auffallend, daß in den Fällen von Stimhimtumor die Nicht-
wahmehmung der Blindheit sich gerade in Fällen fand, in denen (im
Falle Albrecht schon dem Antonsehen Symptom voraneilend) die Eu¬
phorie und Witzelsucht sich stark entwickelt zeigte. Dies erinnert
daran, daß bei der progressiven Paralyse die Nichtwahmehmung der
Blindheit ein sehr häufiges Ereignis ist; sie findet sich häufig dann,
wenn ein Tabiker mit Opticusatrophie erst im Stadium völliger oder
fast völliger Blindheit die progressive Paralyse bekommt. Ich habe seit
Jahren einschlägige Fälle dieser Art genauer beobachtet und fand auch
an ihnen im wesentlichen dasselbe wieder, was trotz aller Abweichungen
im Standpunkt Anton, Albrecht , Schilder einerseits, Redlich und Bonvi-
cini andererseits übereinstimmend festgestellt haben: daß das Symptom
sogar bei der Paralyse von dem Grad der Störung des Gedächtnisses
und der Merkfähigkeit unabhängig ist.
Es ist aber auch meinen Erfahrungen nach vom Grad der manischen
Erregung unabhängig. Ich vermißte es bei einer paralytischen Manie
mit schweren Graden manischer Erregung und fand es im Gegensatz dazu
nur verbunden mit der charakteristischen Euphorie bei zwei hochgebil¬
deten Literaten mit ganz geringfügigen initialen psychischen Störungen.
„Die grünen Matten Tirols haben mir mein Augenlicht wiedergegeben“,
sagte der eine von ihnen, als er von seinem Sommeraufenthalt mit den
Zeichen der initialen Paralyse zurückkam.
Daß bei einem Paralytiker das Anton sehe Symptom durch einen
suggestiven Einfluß erst hervorgerufen wurde, zeigt eine mir von
meinem verstorbenen Freunde J. A. Hirschl überlieferte Beobachtung
aus der Klinik Krafft-Ebing.
Dort fanden sich eine Zeitlang 3 Kranke eng zusammen; alle 3 waren ortho¬
doxe Juden. Der eine von ihnen, ein Paranoiker, war ein gelehrter Talmudist und
bemühte sich stets, den beiden anderen aus dem Talmud zu beweisen, daß er
der Messias sei. Der zweite war ein Hypochonder, ebenfalls ein gelehrter Talmudist
und beschäftigte sich immer damit, den ersten aus dem Talmud zu widerlegen.
Der dritte war ein tabisch erblindeter, leicht euphorischer, nicht hochgradig de¬
menter Paralytiker. Eines Tages warf der Hypochonder dem Paranoiker ein:
„Du willst der Messias sein, du bist doch nur ein Chamer. Wenn du der Messias
bist, warum läßt du dann diesen armen Juden blind herumlaufen?“ Sofort stellte
sich der Paranoiker in Positur und segnete den Blinden: „Geh hin, mein Sohn,
von nun an wirst du wieder sehen!“ Der Paralytiker erwiderte sofort: „Gott, ich
sehe wirklich, haben Sie nicht einen blonden Vollbart, Herr Doktor?“
Von diesem Tage an bis zu dem etwa 4 Monate später in einer Serie von
paralytischen Anfällen erfolgten Tod dieses Kranken bestand bei ihm das Anton -
sehe Symptom, die Nichtwahrnehmung der Blindheit; er beschrieb in der typischen
Weise konfabulierend alles, was er angeblich sah, ungefähr in der Weise des Redlich -
Bonvicinischen Falles mit dem Stirnhirnbalkentumor.
Mir selbst ist in der Untersuchung solcher Kranker etwas aufge¬
fallen, das man freilich recht schwer exakt beweisen kann: Daß die
Kranken in den Beschreibungen dessen, was sie angeblich sehen, auf-
j
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 155
fallend viele richtige Treffer machen, derart, daß man bei einer Stu¬
dentenvisite oder in einer Vorlesung zuweilen lange Zeit Mühe hat, dem
Auditorium plausibel zu machen, daß diese Kranken wirklich nicht
sehen. So hat z. B. bei einer Studentenvisite, die ich führte, der be-
zeichnete Tumorkranke von Redlich-Bonvicini die Aufgabe gehabt, einen
ihn untersuchenden Studenten zu beschreiben; zum großen Ergötzen
des Auditoriums begann er die Beschreibung prompt und richtig:
„Ein blasser Jüngling.“
Ich setze derartige Beispiele hierher, obgleich sie eigentlich anek¬
dotenhaft anmuten; dennoch glaube ich, daß man sie nicht entbehren
kann, wenn man das Antonsche Symptom und die kontroversen Mei¬
nungen, die sich an dieses knüpfen, vorurteilslos von allen Seiten be¬
leuchten will. Ich habe im vorigen zwei Beispiele gebracht, die, für
sich allein betrachtet, fast wie ein Beweis für die organisch-himpatho-
logische Natur des Anton sehen Symptoms erscheinen; der anekdoten¬
hafte Fall, in dem dieses Symptom auf dem Wege der Suggestion bei
einem Paralytiker hervorgerufen worden ist, scheint für sich allein fast
das Gegenteil zu beweisen; die tadellose Wahrheit dieser Beobachtung
ist mir durch Hirschl verbürgt. Und ebenso ist der Eindruck nicht un¬
wichtig, daß diese Kranken in ihren konfabulierenden Beschreibungen
nicht so selten auffallende instinktive Treffer dort machen, wo sie z. B.
auf den Klang der Stimme oder aus dem für ihre restlichen Sinne noch
wahrnehmbaren Eindruck der Gesamtsituation passende optische
Ergänzungen machen. Dieser Eindruck berührt sich wieder mit einer
Anschauung, die Anton selbst als erster geäußert hat. Anton hat schon
bei der ersten Beschreibung des Symptoms die Frage aufgeworfen,
ob „bei einer Sinneserregung nunmehr auf anderen Wegen als durch die
zentralsten Sinnesbahnen ein dunkles Gefühl von Zustandsänderung
dem Individuum zur Wahrnehmung gelangt.“ Es müsse allerdings für
ihn Vermutung bleiben, „daß das erhaltene subcorticale Sehen und
Hören — der Hauptfaktor bei niederen Tieren — auch dunkle Emp¬
findungen auslösen kann, welche den Ausfall bewußter corticaler Sinnes-
wahmehmung verdecken“.
Gerade dieser Punkt der Anton sehen Mutmaßungen ist zum min¬
desten in seiner allgemeinen Anwendbarkeit durch die Feststellung
von Redlich und Bonvicini endgültig erschüttert worden, da ja diese
Autoren vor allem den Nachweis brachten, daß das Anton sehe Sym¬
ptom ebensogut bei peripherer Blindheit zusammen mit Psychose oder
Himerkrankung auftreten kann, wie bei Blindheit, bzw. doppelseitiger
Hemianopsie mit Restgesichtsfeld durch Himherderkrankung. Höchst
wichtig ist übrigens auch der Hinweis dieser beiden Autoren darauf,
daß manche Kranke mit doppelseitiger Hemianopsie und röhrenförmi¬
gem zentralen Restgesichtsfeld ihren Sehrest ebensowenig beachten,
156
0. Pötzl:
als andere die Blindheit. Gerade die Redlich-Bonvicini sehen Fälle zeigen
besonders klar, daß sich die Blindheit bei Stauungspapille und Hirn¬
tumor für das Antonsehe Symptom so verhält wie die zentrale Blindheit;
diesen Befunden sind die bekannten häufigen Fälle von tabisch-blinden
Paralytikern mit Opticusatrophie ohne weiteres anzuschließen.
Freilich hat schon Anton beachtet, daß für die Auslösung von Hal¬
luzinationen periphere und zentrale Blindheit gleich wirksam sind;
ebenso hat Anton bereits mit Recht die alte Ansicht von Dufour
abgelehnt, daß die cerebrale Hemianopsie durch Rindenverletzung
schon bei einseitigem Himherd nicht zum Bewußtsein komme. Anton
neigt indessen doch der Ansicht zu, daß der doppelseitige Sehsphären¬
herd ein Grundtypus für die Nichtwahmehmung der Blindheit sei;
allein selbst dies stimmt nicht durchgängig mit den Tatsachen; zahl¬
reiche Fälle von Kriegsverletzungen beider Hemisphären z. B. zeigen
die scharfe Selbstwahmehmung ihrer Defekte; auch doppelseitige
schwere Polzerstörungen, wie z. B. mein Fall Obszud mit bleibendem
Ausfall des makulären Sehens gingen vom ersten Augenblick an
mit scharfer Selbstwahmehmung der Sehstörung einher. Im Gegen¬
satz dazu zeigen gerade die hier beschriebenen Fälle, daß es
wenigstens für die Nichtwahmehmung einer Hemiplegie nicht auf die
Doppelseitigkeit der Herde ankommt. Was die Nichtwahmehmung
optischer Defekte anlangt, so besteht mindestens kein Beweis dafür, daß
die Bonhoeffersehe Nichtwahrnehmung einer Wortblindheit doppel¬
seitige Herderkrankungen betraf; aber auch bei anderen komplexen
cerebralen Störungen, die gewiß nicht prinzipiell auf bilaterale Herde
zurückzuführen sind, ist in gewissen Stadien die Nichtwahmehmung
oder mindestens die Nichtbeachtung des Defektes das Gewöhnliche; dies
gilt vor allem für die Wemicke sehe Aphasie im Stadium der Logorrhöe;
man glaubte vielfach sogar, daß die Logorrhöe durch die Nichtwahr¬
nehmung der Störung der inneren Sprache geradezu verursacht sei;
Her8chmann hat indessen an einem Fall, den ich mit ihm gemeinsam
beobachtet habe, feststellen können, daß die Logorrhöe mit Krankheits¬
einsicht verbunden war und als ein Zwang wider Willen empfunden
wurde.
Herschmann hat den Befund im Sinne meiner Auffassung gedeutet,
daß die projektive Eigenleistung einer zentralen Region sinkt, wäh¬
rend die Querfunktion (die Umwandlung eines Teiles der zentrifugalen
Impulse in jene aktivierenden Vorgänge, von denen früher vielfach die
Rede war) steigt. Im Herschmann sehen Fall konnte man daran denken,
daß der von Arnold Pick entdeckte Mechanismus, die Enthemmung
der Leistungen des motorischen Sprachenzentrums bei Schädigung des
sensorischen Sprachzentrums, auf dieses Wechselverhältnis zwischen
einer ursprünglichen projektiven Leistung des sensorischen Sprach-
Über Störungen der Selbstwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 157
Zentrums und der dieser Leistung zugehörigen Querfunktion zurück*
geführt werden könnte. Die nach der Peripherie abfließenden Sprach-
impulse enthemmen sich, während ihre Umwandlung in Aktivatoren
der Wahrnehmung zeitweilig durch die Schädigung der zentralen
Eigenleistung sistiert ist. Damit wäre die Logorrhöe sowohl, wie die
nur zuweilen mit ihr zugleich bestehende Nichtwahmehmung des De¬
fektes zwar auf die gleiche gemeinsame Grundursache zurückgeführt,
aber unabhängig voneinander; es würde sich derselbe Mechanismus
wiederfinden, der sich für die Nichtwahmehmung der linksseitigen
Hemiplegie im vorigen ergeben hat; die Nichtwahmehmung des Aus¬
falls einer ganzen Sphäre wäre wieder die Störung der integralen Funk¬
tion; die Störung des Sprachverständnisses in allen Einzelreaktionen
wäre die Störung der differenziellen Funktionen; der Umstand, daß die
Logorrhöe sich bald nur mit der Störung des Sprachverständnisses, bald
auch mit der Störung der Selbstwahmehmung für die Worttaubheit
verbinden kann, würde nur daran erinnern, daß im Schaffer sehen Falle
die differenziellen Störungen im höchsten Grad bestanden, die integrale
Störung aber nicht; auch bei der Worttaubheit könnte man dann die
Differenzen dieses Zusammentreffens in den einzelnen Fällen morpho¬
logisch z. B. durch die größere oder geringere Beteiligung der unteren
Thalamusstiele an der Herdläsion erklären.
Aus allem dem geht hervor, daß die Einseitigkeit oder Doppel«
seitigkeit der Himherde nicht das Wesentliche und Konstante an den
hirnpathologischen Anteilen des Anton sehen Symptoms sein kann; da¬
gegen erscheint für das Auftreten dieses Symptoms an Himherdfällen
ohne wesentliche Allgemeinschädigung des Gehirns die Anwendung der
hier an einem Sonderfall abgeleiteten Mechanismen allgemein möglich
zu sein. Überdies bringt diese Anwendung Erklärungen, die im Falle
der Autopsie einer exakten Untersuchung zugänglich sind und die sich
mit allen Einzelheiten der klinischen Bilder zu vertragen scheinen.
Damit ist aber die Schwierigkeit noch nicht behoben, die in dem Um¬
stand liegt, daß die Nichtwahmehmung suggestiv bei einer progressiven
Paralyse hervorgerufen werden konnte; ebenso bleibt der von Redlich
and Bonvicini hervorgehobene überaus wichtige Umstand zu bedenken,
daß das Symptom analog dem Auftreten von Halluzinationen bei peri¬
pherer Blindheit verbunden mit Himerkrankung ebenso auftritt wie
zentral bedingten Sinnesdefekten. Wie schon oben bemerkt worden
fit. scheint mit dem letzteren die Vermutung Antons , daß das erhaltene
>abcorticale Sehen und Hören hier dunkle Empfindungen auslösen
kann, die den Ausfall für die Selbstwahrnehmung verdecken, definitiv
gefallen zu sein.
Daß die Nichtwahmehmung z. B. bei dem Paralytiker oder bei einem
Fall mit Stimhimtumor zugleich mit zweifelloser völliger Blindheit auf-
158
0. Pötzl:
treten kann, ist sichergestellt und nicht einmal selten; daß es sich daher
im allgemeinen Fall prinzipiell nicht um die Wirkung dunkler vorbewu߬
ter visueller Eindrücke der Außenwelt handeln kann, wie etwa bei der
von mir beschriebenen visuellen Traumreaktion, ist unmittelbar ein¬
leuchtend. Ich habe in der Krankengeschichte des ersten hier be¬
schriebenen Falles erwähnt, daß ich unterschwellige kinästhetische
Eindrücke bei der Untersuchung auf ihn habe wirken lassen, prinzi¬
piell in analoger Weise, wie ich in den zitierten Traumexperimenten
unterschwellige visuelle Darbietungen auf Gesunde wirken ließ. Die
Zeit der Beobachtung meines ersten Falles war zufällig die Zeit, in
der ich einen großen Teil der zitierten Traumversuche machte.
Wie vermerkt, hatte ich den Eindruck, daß unterschwellige Lage-,
Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindungen, die der linken
Seite appliziert wurden, tatsächlich in verspäteten Erscheinungen von
Bewegungshalluzinationen und anderen Sensationen am Phantom der
linken Körperhälfte zum Ausdruck gekommen sind. Da aber die et¬
waige Wirkung dieser durch die Untersuchung zugeführten Keime
für Halluzinationen sich mit einer Menge unkontrollierbarer Wirkungen
mengte, die von der ganzen Außenwelt und Innenwelt des Kranken und
vom Einfluß der Vergangenheit herstammten, hielt ich die Ergebnisse
meiner Versuche in diesem Fall nicht für beweiskräftig; ich habe des¬
wegen auch vermieden, die Protokolle hier mitzuteilen, um so mehr
als weder das Verständnis dieses Sonderfalls, noch das generelle Ver¬
ständnis des Anton sehen Symptoms durch Erwägungen gefördert wer¬
den kann, ob im Sinne von Anton wirklich unterschwellige, auf den
gestörten Sinn selbst wirkende Einflüsse der Außenwelt hier im Spiele
waren oder nicht. Wenn es in meinem ersten Fall wirklich so war, so
ist dies leicht begreiflich, da die zentripetalen sensiblen Leitungen und
die Kerngegend des Centre median de Luys usw. im Thalamus sicher
nicht vollständig zerstört waren; der Charakter der Supramarginalis-
läsion aber entspricht einer bloß apperzeptiven Störung, wie aus den
Befunden von Redlich und von Schaffer schon genügend hervorgeht. In
anderen Fällen dagegen, wie eben bei den stockblinden Paralytikern oder
Tumorkranken ist die Mitwirkung solcher unterschwelliger spezifischer
Empfindungselemente eben doch mit Sicherheit von der Hand zu weisen.
Auffallend ist aber, daß beim Stirnhimtumor wie bei der Paralyse
das Symptom immer wieder zusammen mit der charakteristischen
Euphorie auftritt; dieser Umstand scheint zunächst Redlich und Bon-
vicini recht zu geben, die es als eine in ihrem Wesen bisher noch nicht
ergründete „Teilerscheinung einer allgemeinen, hochgradigen Störung
der Hirnfunktionen bei Bestehen der Blindheit“ auffassen. Indessen
ist die Euphorie, wie die früher gegebenen Beispiele von Paralytikern
und wie auch manche Fälle von Stirnhimtumor zeigen, an sich immerhin
Über Störungen der Selbstwahmehnmng bei linksseitiger Hemiplegie. 159
eine spezifische Erscheinung, deren Zusammenhang mit der Stirnhirn¬
läsion von vielen Seiten auch für die Paralyse betont wird, beim Stim-
himtumor aber gerade nach den neueren Ergebnissen als gesetzmäßig
angenommen werden darf. Außerdem ist es auffallend, daß Kranke mit
Anämschem Symptom auch bei Parietalherden jene charakteristische
Euphorie haben können; z. B. erwähnt sie Kramer ausdrücklich für
seinen Kranken, während in meinem ersten Fall diese Euphorie niemals
vorhanden war, in meinem zweiten Fall höchstens eine gemütlich gleich¬
gültige Stimmung bestand. Überblickt man dies, so wird man zunächst
ohne vorgefaßte Meinung doch wenigstens ein auffallend häufiges Zu¬
sammentreffen des Anton sehen Symptoms mit dieser Euphorie bei
Himkrankheiten finden; auch die Stimmung der Kranken mit Wemicke-
scher Aphasie ist zur Zeit ihrer Logorrhoe gerade dann meist sorglos
euphorisch, wenn die Nichtwahmehmung für die Worttaubheit besteht;
gleichzeitig mit der Hemmung der Sprachimpulse und dem Suchen
nach Worten (also mit dem Stadium der Verwandlung des Aphasiebildes
in das Bild einer amnestischen oder mehr pseudomotorischen Aphasie)
tritt mit dem Wiedereinsetzen von Anfängen des Sprachverständnisses
auch die Einsicht in den Defekt, zugleich aber auch häufig der Um¬
schlag in eine morose gereizte Stimmung ein. Auf diesen Wandel der
Stimmungen des sensorischen Aphasikers hat mich Bonvicini schon zu
der Zeit aufmerksam gemacht, als ich unter seiner Leitung meine ersten
Aphasiefälle untersuchte.
Es gibt noch eine Erscheinung bei Psychosen, die zum mindesten eine
Ähnlichkeit mit dem Anton sehen Symptom hat, und die bei der Be¬
sprechung dieses Symptoms ebenfalls zu erwähnen ist. Wie Wagner -
Jauregg in seinen Vorlesungen seit sehr langer Zeit hervorhebt, ist es
fast charakteristisch für den Geisteszustand im epileptischen Delirium,
daß der Kranke auf die Frage, ob er in seinem Leben noch Anfälle be¬
kommen werde, dies emphatisch und wie von der tiefsten Überzeugung
durchdrungen verneint; hat er, wie so häufig, Delirien religiösen Inhalts,
so bekommt man gewöhnlich die Antwort: „Gott hat mich von meinem
leiden befreit“ oder dergleichen. Nun hat der Epileptiker mit dieser
Einstellung insofern nicht einmal unrecht, als bekanntlich während des
epileptischen Deliriums selbst nur außerordentlich selten Krampfanfälle
ablaufen; Redlich und ich haben denn auch bei den Liquordruckmes-
sungen an einer Anzahl von Epileptikern regelmäßig auffallend tiefe
Druckwerte des Liquors während epileptischer Delirien, dagegen be¬
trächtliches Ansteigen des Liquordrucks vor anfallsreichen Zeiten ge¬
funden. Ich selbst nun habe vor Jahren auf der Klinik Wagner-Jauregg
einen Epileptiker im Delirium beobachtet, der schon seit mehr als
10 Jahren aus peripheren Ursachen völlig erblindet war; in der Ekstase
des Deliriums, zugleich mit Reaktionen im Sinne des von Wagner -
160
0. Pötzl:
Jauregg hervorgehobenen Verhaltens verkündete er mit erhobener
Stimme sein Glück, daß ihm das Augenlicht wiedergeschenkt sei, daß
er sehe. Die Untersuchung ergab dabei nichts, das auf die unmittelbare
Wirkung optischer Halluzinationen hätte schließen lassen; während
seiner pathetischen Glücksversicherungen wurde er oftmals befragt, was
er sehe; er erwiderte, immer wieder im höchsten Pathos, fast stets das¬
selbe: „Ein Etwas von fern, dunkel, das näher zu kommen scheint“;
seine Beschreibungen paßten immer auf jene Nebelbilder, wie sie er¬
blindete Tabiker und Kranke mit Stauungspapille so häufig beschreiben
und die eher entoptischen Erscheinungen gleichen als gestalteten Hallu¬
zinationen. Jedenfalls zeigt diese Beobachtung, daß das erwähnte
Wagner-Jauregg sehe Symptom im epileptischen Delirium zusammen
mit dem Antonschen Symptom Vorkommen kann, und daß die gemein¬
schaftliche, die beiden Phänomene begleitende Grundstimmung hier das
ekstatische Gefühl einer Befreiung ist.
Als Glücksgefühl einer Befreiung kommt diese Stimmungslage wieder
der Euphorie sehr nahe, die eine so häufige Begleiterscheinung des An¬
ton sehen Symptomes ist; auch in der Euphorie des Paralytikers wie in
der des Kranken mit Stimhimtumor hegt etwas, das dem Gefühl einer
Befreiung gleicht; die Paralyse befreit von der schweren depressiven
Stimmung, die im Vorstadium so häufig ist; beim Stimhimtumor
allerdings ist die psychische Struktur der Euphorie noch nicht genügend
klargestellt. Indessen spricht man in beiden Fällen von einem Weg¬
fall der Hemmungen. Was aber der Wegfall der Hemmungen eigentlich
zu bedeuten hat, zeigt sich am einfachsten bei den Alkoholwirkungen, die
ja häufig und gewohnterweise eine Euphorie setzen, deren Ähnlichkeit
mit dem Zustand des euphorischen Paralytikers und Stirnhimkranken
geradezu sprichwörtlich ist.
Für die pharmakologischen Wirkungen des Alkohols nun ist es seit
Kraepelin und durch Joteyko wohl bekannt, daß der Alkohol in kleinen
Gaben eine Erleichterung der cerebralen motorischen Prozesse bewirkt;
er nimmt damit die Ermüdung und vielleicht noch früher das Ermü¬
dungsgefühl; die Sinnesleistungen (Kraepelin), und zwar gerade wieder
die apperzeptiven Leistungen, sind gleichzeitig damit bereits beein¬
trächtigt; alles dies ist schon längst auf die Hemmungs- und Abschlie¬
ßungsfunktion bezogen worden, die Ooltz und J. Loeb dem Großhirn
zugeschrieben haben. Hans Horst Meyer findet es naheliegend, anzu¬
nehmen, daß der Alkohol im Anfang seiner Wirkung „nur diese hem¬
mende Großhimfunktion schwächt und dadurch die ungeordneten, un¬
konzentrierten und deshalb planlos gesteigerten Reaktionen der wider¬
standsfähigeren tieferen Nervensysteme (Basalganglien, Mark) hervor¬
treten läßt“. In einer anderen Art der Einwirkung unter besonderen
Umständen bewirkt der Alkohol die tobsüchtigen Entladungen im
Über Störungen der Selbstwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 161
pathologischen Rausch oder epileptische Anfälle. Man sieht, daß alle
diese Typen von Wirkungen des lipoidlöslichen Alkohols wie pharmako-
dynamische Sonderfälle einer Umkehrung jenes Vorgangs erscheinen, den
ich als Gegenreaktion der Zentren an zahlreichen Beispielen be¬
schrieben und den ich hier als Grundmechanismus der beiden Fälle
mit Nichtwahmehmung der linksseitigen Hemiplegie hingestellt habe:
In ihrer feineren Struktur vielfach den Immunkörperreaktionen ver¬
gleichbar, besteht diese Gegenreaktion der Großhirnzentren in einer
Schutzwirkung gegen spezifische, sonst in alten phylogenetischen Wegen
gegen die Peripherie hin abschießende Quanten von Erregung und in
der Verwandlung der einzelnen spezifischen Erregungsquanten zu Akti¬
vatoren der Wahrnehmungen, bzw. zum Antrieb für koordiniertere,
später erworbene Aktionen, wie es z. B. im Stimhimfall der aufrechte
Gang im Gegensatz zum Vierfüßlergang ist.
Damit aber erweisen sich auch die Stimhimfälle und die Paralysen,
überhaupt die Fälle, in denen das Anton sehe Symptom von einer Eu¬
phorie begleitet ist, derselben Betrachtungsweise zugänglich, die der hier
beschriebene Sonderfall ergeben hat.
Nunmehr sind eigentlich alle bisher beschriebenen Typen des Anton-
sehen Symptoms als einer Zurückführung auf den hier beschriebenen
Grundmechanismus fähig erkannt worden. Für ganz vereinzelte Fälle,
wie z. B. den Fall 2 von Redlich und Bonvicini (eigroßen Tumor, der
von der Dura des Clivus ausgehend die Brücke komprimiert), möchte
ich aber, trotzdem man z. B. wenigstens die Verdrängung der subcorti-
calen Zentren hier heranziehen kann, doch lieber auf die Anwendung
des hier besprochenen Prinzips verzichten; sie erschiene mir hier als zu
vage; ich möchte die hier gegebene, in jedem Einzelfall die besondere
Struktur der wirklich ablesbaren Veränderungen voll berücksichtigende
Erklärungsweise nicht ähnlichen Einwänden aussetzen, wie sie Bon-
hoeffer nicht mit Unrecht der ursprünglichen allgemeinen Fassung der
Anton sehen Erklärung entgegengesetzt hat: Daß eine Mit Verletzung
zahlreicher Assoziationssysteme wohl bei keiner Läsion der Rinde und
des Markmantels vermißt werden dürfte, daß es sich aber um eine Los¬
lösung von allen wesentlichen assoziativen Beziehungen weder in den
Fällen Antons noch in den anderen Fällen handelt. Ich habe im vorigen
an die Stelle dieser allgemeinen Beziehung der ,,Assoziationssysteme“
einen präzis definierten Mechanismus gesetzt, der die Umwandlung
projektiver Erregungen in eine Querfunktion betrifft; ich lege zur Prü¬
fung dieser Beziehungen nur Gewicht auf solche Befunde, aus denen in
allen Einzelheiten die Wirksamkeit oder das Fehlen dieses Mechanismus
klar nachgewiesen werden kann; ich habe nicht die Absicht, auch
solche Fälle in ihn einzuordnen, in denen es gleich schwer ist, zu ver¬
neinen wie zu beweisen, daß er wirksam war.
Z. f. d. g. Ntnr. u. Psych. XCIII.
11
162
0. Pötzl:
An der allgemeineren Anwendbarkeit dieses Mechanismus auf das
ganze Anton sehe Symptom ändert es wenig, wenn einzelne Fälle in ihren
Mechanismen unklar bleiben müssen. Dasselbe gilt für alle anderen
längst akkreditierten himpathologischen Erscheinungen; es wird z. B.
kaum jemandem einfallen, deshalb, weil man gelegentlich ohne fest¬
stellbare Veränderungen im Großhirn doch tonisch-klonische epilep¬
tische Anfälle z. B. bei einem Kleinhirnbrückenwinkeltumor findet, des¬
wegen die Beziehungen der epileptischen Klonismen zur Großhirnrinde
zu bestreiten usw.
Dagegen scheint mir die bisher gegebene Darstellung noch in einem
Hauptpunkt unvollständig zu sein. Wenn es wahrscheinlich gemacht
werden konnte, daß derselbe cerebrale Mechanismus auch in den Fällen
von Stirnhimerkrankungen und von Psychosen wirksam ist, die das
Anton sehe Symptom zeigen, so ist doch offen geblieben, warum in diesen
Fällen der periphere Sinnesdefekt ebenso wirkt wie in anderen Fällen
der zentrale, genau wie bei der Erweckung von Halluzinationen. Die
Zurückführung des Symptoms auf den gleichen Grundvorgang für die
Stimhimfälle und Psychosen wurde durch eine Betrachtung möglich,
die zeigte, daß auch in diesen Fällen phylogenetisch (und ontogenetisch)
ältere motorische Einstellungen aus ihrer Bindung an die zentralen
Sinnesleistungen gewissermaßen abgespalten und frei werden.
Wendet man diese Anschauung auf die optische Sphäre und ihre Lei¬
stungen an, so ist zu beachten, daß der Begriff einer Sphäre der
optischen Leistungen nicht identisch ist mit dem Begriff der Sehsphäre
im Gehirn; wenn durch eine Störung der Grundierung des optischen
Weltbildes der Raum für die Sehdinge überhaupt verschwindet, dann
verschwindet mit ihm auch die Lokalisation des zu vermissenden
Eindrucks und damit — ganz wie bei den apperzeptiven Störungen
der Wahrnehmung überhaupt — auch die bewußte Wahrnehmung im
Sinne eines Vermissens ; es bildet sich kein Vakuum mehr. Deshalb
hat Hartmann mit Recht das Anton sehe Symptom eine Orientierungs¬
störung genannt.
Ich glaube aber nicht, daß dieser Raum, das Kontinuum, in dem
die Dinge sich bewegen, bei der Anton sehen Nichtwahrnehmung der
Blindheit wirklich verschwindet; die tatsächlichen Ergebnisse der Be¬
obachtung des Innenlebens und der Reaktionen solcher Kranker stim¬
men mit einer solchen Auffassung nicht überein; es macht eher den Ein¬
druck, als sei dieser raumbildende Vorgang verschoben auf die Sphäre
der Erinnerung und abgelenkt von der Sphäre der Wahrnehmung,
ähnlich wie der Einfluß der linkshirnigen aktivierenden Deviations¬
impulse das Bild der linken Körperhälfte in den hier beschriebenen
Fällen nach rechts gedreht hat. Ein solcher Verschiebungsvorgang
ist aber im Prinzip von der cerebralen Sehsphäre genau so unab-
Über Störungen der Selbetwahmehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 163
hängig, wie die Verschiebung in den hier beschriebenen Fällen trotz der
Intaktheit der Sensomotorien vor sich gegangen ist; dagegen muß ihn
jeder Sinnesdefekt, wie er auch bedingt sei, auf das stärkste fördern;
wir können kaum jemals annehmen, daß der ganze aktivierende Vor¬
gang aufgehoben sei (eine Ansicht, die Redlich und Bonvicini sowie
andere Autoren mit Recht bekämpft haben), die aktivierende Tätigkeit
muß aber fort und fort angeregt werden durch einen neuen Zufluß
von Erregungswirkungen aus der Außenwelt. Wie sehr dies notwendig
ist, zeigt jeder Taubstumme. Wenn mm (z. B. durch die Blindheit)
der Erregungszufluß für eine ganze Sphäre von Wahrnehmungen ab¬
gesperrt ist, so kann diese Absperrung gerade für dieses Sinnesgebiet
die Verschiebung der Aktivatoren aus der Sphäre der Wahrnehmung
in die Sphäre der Erinnerung sehr begünstigen, so daß sie unter Um¬
standen auch dort schon in Erscheinung tritt, wo sie bei intaktem Zu¬
fluß der äußeren Erregungen sich noch nicht eingestellt hätte.
Durch Berücksichtigung dieser Einflüsse erscheint der ganze Vor¬
gang beim Anton sehen Symptom im allgemeinen mehr zu einem schwan¬
kenden oder wenigstens Schwankungen zugänglichen Verlauf disponiert;
es wird ebensowenig stabil bleiben müssen, wie die Halluzinationen
eines Hemianopikers. Auf diese Weise ist der tatsächliche Befund
verständlich, den Redlich und Bonvicini mit Recht gegen die An¬
nahme einer dauernden Vernichtung aller optischen Vorstellungen
eingewendet haben; die Inkonstanz der Erscheinung, die in manchen
Fallen wieder plötzlich vom Kranken zu weichen vermag. Wenn
aber diese Autoren sagen, daß ihnen dieser Wechsel allein ge¬
eignet erscheint, eine rein anatomische Erklärung dieses Symptoms
als unzureichend zu erkennen, da ja die anatomischen Läsionen selbst¬
verständlich die gleichen bleiben, so glaube ich nicht, daß man ihnen
in diesem Punkte beipflichten kann. Mit Albrecht ist dagegen einzu¬
wenden, daß starke Schwankungen der Symptome bekanntlich ebenso
gut bei Aphasien und Apraxien usw. Vorkommen können, also bei Er¬
scheinungen, deren Zusammenhang mit lokalisierten Himherden außer
Zweifel ist.
Spricht man, wie ich es im vorigen getan habe, von einer Verschie¬
bung des sphärenbildenden Vorgangs von der Sphäre der Wahrnehmung
auf die Sphäre der Erinnerung, so muß wohl noch gezeigt werden,
wieweit für den Fall der Anton sehen Symptoms die beiden hier gebrach¬
ten Begriffe konkretisiert werden können. Dazu scheint nun nicht viel
anderes notwendig zu sein, als daß man eine Tatsache berücksichtigt, die
niemand leugnen wird: dieselbe Verschiebung eines aktivierenden Vor¬
gangs, die aus Erinnerungsspuren Bilder macht, geschieht im Traum;
sie betrifft im Traum vorwiegend, aber nicht ausschließlich das Visuelle.
Sowenig also, worüber sich alle Autoren einig sind, das Anton sehe
11 *
164
O. Pötzl:
Symptom durch Halluzinationen zu erklären ist, so sehr erscheint es
möglich, das Anfon sehe Symptom und die Halluzinationen auf denselben
zentralen, u. a. nach Sinnespforten geordneten VerschiebungsVorgang
zurückzuführen; das Verhältnis zwischen Halluzinationen und Anton *
schein Symptom ist analog, wie in den hier gebrachten Beispielen das
Verhältnis der differenziellen Wahmehmungsstörungen im Falle von
Schaffer und der Störung der Integralfunktion bei meinen beiden Hemi-
plegikem war.
Freud nennt — innerhalb gewisser Grenzen gewiß mit Recht —
den Traum den Wächter des Schlafes und betont, daß er nicht der
Störer des Schlafes sei. Der Traum gewährleistet nach Freud die Fort¬
dauer des Zustandes einer Abwendung von der Außenwelt trotz der
Wirkung von Erregungen, die diesen Zustand stören; wir haben am
Beispiel des ersten hier beschriebenen Falles den Typus einer Abwehr¬
reaktion gesehen, die eingestellt war gegen denjenigen optischen Sinnes¬
eindruck, der das nun einmal erlangte Gleichgewicht des Körperbildes
zu stören geeignet war. Man sieht, daß die hier gebrachten Ergebnisse
und die Freitische Auffassung von Schlaf und Traum miteinander mehr
Berührungspunkte haben, als es vielleicht im Anfang scheint; vor allem
ist im Schlaf wie im Fall der Nichtwahmehmung der Blindheit die
Wahrnehmung ausgeschaltet; diese Ausschaltung vollzieht sich, wie es
scheint, in beiden Fällen nicht ohne die Mitwirkung eines zentralen
A bwehrvorgang8 gegen die Wahrnehmung .
Ihrer Struktur nach erscheint die Wahrnehmung selbst einem Ab¬
wehrvorgang nicht unähnlich, insofern als auch bei der Wahrnehmung
die im früheren besprochenen aktivierenden Kräfte eine zentrale Ver¬
arbeitung der zentripetalen Erregung beschleunigen, zugleich aber diese
Nachwirkung dämpfen und größtenteils zur Ruhe bringen. Die Vor¬
gänge, die die Struktur der Wahrnehmung verraten, lassen sich am
leichtesten an geeigneten Fällen von Lissauer scher Seelenblindheit
untersuchen. Es zeigt sich dabei auch u. a. regelmäßig eine Erscheinung,
auf die ich besonders aufmerksam gemacht habe, und die bei den theore¬
tischen Deutungen derartiger Befunde zu unrecht vielfach unberück¬
sichtigt bleibt. Wenn ein Agnostiker einen Gegenstand nicht erkennt, so
drängen sich nicht nur alle Teile des Gegenstandes nebeneinander und
nacheinander in gesonderter Wahrnehmung auf; sondern es kommen auch
alle möglichen Ähnlichkeiten und Unterschiede ins Bewußtsein, die die
Gestalt des betreffenden Objektes noch unsicherer und schwankender
machen, als sie es ohnehin schon ist; es kommen auch alle Reminis¬
zenzen, die mit diesem Gegenstand in irgendeiner mehr lockeren oder
mehr engeren Weise verknüpft sind usw. Das Ganze ist ein verwirren¬
des Nebeneinander und Durcheinander, in dem nicht nur die Neigung
zur Zerspaltung der optisch gegebenen Gestalt, sondern auch das auf-
Über Störungen der Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie. 165
dringliche Auftauchen von Reminiszenzen die Verwirrung vermehrt. Im
Falle der sicher funktionierenden, rasch überblickenden und klar er¬
fassenden ungestörten Wahrnehmung hingegen ist dieses ganze Ge¬
menge, vor allem auch die Menge von Reminiszenzen innerhalb der Sphäre
der bewußten Vorgänge nicht vorhanden ; daß dasselbe Gemenge aber
auch bei der ungestörten Wahrnehmung doch in irgendeiner Weise gegen¬
wärtig ist, daß es mindestens in Keimwirkungen angeregt und zu Nach¬
wirkungen anregend vorhanden ist, zeigen die von mir durchgeführten
experimentellen Untersuchungen der visuellen Trauminhalte, in denen
nur das und gerade das nachweisbar ist, was der Agnostiker an Stelle
der richtigen bewußten Wahrnehmung bewußt sieht, oder was ihm ins
Bewußtsein hinein ein fällt. Wie man sieht, ist eine leicht studierbare
Störung der Wahrnehmung in dem Material, das sie bringt, traum-
verwandt ; dies ist nur selbstverständlich, wenn man, wie es früher
unter Benützung der Freud sehen Anschauungen geschehen ist, den Vor¬
gang beim Traum als einen zentralen Abwehrvorgang gegen die Wahr¬
nehmung auffaßt.
Gemeinsam ist beiden, wie man sieht, u. a. eine Ablenkung akti¬
vierender Einflüsse auf Elemente der Erinnerung , die im Falle der
Agnosie teilweise, im Falle des Traums ganz hauptsächlich vor sich geht.
Nach der früher besprochenen Auffassung ist diese Ablenkung akti¬
vierender Faktoren auf die Erinnerung auch etwas Wesentliches bei
den Vorgängen des Anton sehen Symptoms; wie in der Agnosie und im
Traum geschieht diese Ablenkung innerhalb einer ganzen Kategorie
von Einstellungen z. B. innerhalb der ganzen optischen Sphäre. Das
Beispiel der Agnosie zeigt, daß man nicht genötigt ist, große voneinander
verschiedene Gehimteile 1 ) für diesen verschiebenden Vorgang zwischen
Aktivierung der Wahrnehmung und Aktivierung der Erinnerungen
schematisch in Anspruch zu nehmen, sondern daß es vorläufig
genügt, sich die Wirkungsweise eines derartigen Vorgangs ähnlich
strukturiert vorzustellen, wie die Sherringtonsche aktive Entspannung
der Antagonisten durch einen zentralen Innervationsvorgang, der
die Antagonisten spannt. Entweder die Sphäre der Wahrnehmungen
wird Vordergrund, die Sphäre der Erinnerungen Hintergrund, wie das
gewöhnlich im wachen Leben des Menschen der Fall ist, oder es dreht
sich der Vorgang um; aus dem Hautrelief wird ein Basrelief) aus dem
dunklen Hintergrund wird der hellere Vordergrund; die Erinnerung
tritt plastisch als Gestaltung hervor; die Wahrnehmung verdämmert
im Hintergrund. So ist es im Traum, und so scheint es mir auch beim
Antonschen Symptom für die Eindrücke jener Sinnessphäre zu sein,
für die das Symptom besteht.
* * #
l ) Die angeblichen „Wahmehmungs-“ und „Erinneningszentren“.
166
0. Pötzi:
Ich habe diese allgemeineren Beziehungen nur angefügt, um flüchtig
zu prüfen, wieweit der hier dargestellte Sonderfall allgemeiner wichtige
Beziehungen und Analogien enthält. Es ließe sich das noch weiter aus¬
führen; mit den Beziehungen zum Schlaf ist auch die Beziehung zum
Hypnoid und damit zur suggestiven Wirkung gegeben, die bei jenem
Paralytiker das Anton sehe Symptom erst hervorgelockt hat; mit den
Beziehungen zu den Mechanismen von Schlaf und Traum ist auch ein
neuer Hinweis auf die Wichtigkeit des Thalamus für den bezeichneten
Vorgang gegeben, da ja, wie bekannt, eine als sogenanntes Schlaf¬
zentrum bezeichnete Partie in der Gegend vor der Commissura posterior
zu finden ist ; man könnte geneigt sein, diesem Zentrum vor allem den
Abwehrvorgang gegen die Wahrnehmung zuzuschreiben. Auch ent¬
hält die Beziehung zum Traum Analogien zu jener scheinbaren instink¬
tiven Treffsicherheit, mit der manche Konfabulationen der Blinden
ohne Selbstwahrnehmung oft die Situation frappant und zutreffend
optisch zu ergänzen scheinen. Der Traum tut nicht selten dasselbe,
indem er die Teileindrücke, die frühere Situationen für die wache Erinne¬
rung hinterlassen haben, gerade durch jene Teile ergänzt, die unbewußt
geblieben oder unbewußt geworden sind, die aber geometrisch getreu
entwickelt werden, wie sie wirklich waren; endlich enthält das Bespro¬
chene auch eine Analogie mit der Korsakow sehen Psychose, bei der be¬
kanntlich Gregor zuerst nachgewiesen hat, daß ein außerbewußt wirken¬
der Anteil der Erinnerungsspuren eigentlich ungestört bleiben kann;
ein solcher äußert sich nach Gregor z. B. in der Zeitersparnis bei der
Wiederholung von Einzulemendem in der Rekonvaleszenz Korsakow-
Kranker. Demgemäß wäre es möglich, auch die Korsakow sehe Psychose
als eine Störung der Bildung eines Bereiches , einer Sphäre der Lokali¬
sation für die jüngsten Ereignisse zu bezeichnen, bei der eine Selbst-
wahmehmung gerade für diese Störung fehlt. An die Stelle der nicht¬
gebildeten Zeitsphäre und der Lokalisationen, die in sie hineingehören,
wären die für diese Bildung spezifischen Aktivatoren auf die Sphäre
einer ferneren Vergangenheit und auf die Erinnerungen vom damaligen
Alltag abgelenkt; eine derartige Auffassung der Korsakow sehen Psychose
würde allerdings erst dann einen wirklichen Fortschritt bedeuten, wenn
es auch hier gelingen würde, spezielle Strukturen zu erfassen, wie es
bei dem Sonderfall möglich war, dem diese Arbeit gilt. Ich habe diese
Auffassung nur deshalb hier berührt, weil sich an ihr zeigt, daß das
Antonsche Symptom nicht aus der Korsakow sehen Psychose erklärt
werden kann, sondern daß vielleicht das Antonsche Symptom und die
Korsakowsche Psychose nebeneinander und unabhängig voneinander
aus einem besonderen Grundmechanismus entspringen, dessen Sonder¬
fälle beide sind; das gleiche Verhältnis fand sich früher zwischen Anion -
schein Symptom und Halluzinationen, zwischen Antowschem Symptom
Über Störungen der Selbstwahrnebmung bei linksseitiger Hemiplegie. 167
und der sog. Assoziationsstörung, zwischen An/on schein Symptom und
den Orientierungöstörungen im allgemeinen; es trifft für alle Teilerklä¬
rungen zu, die die verschiedenen Autoren an ihm versucht haben, auch
für die von Albrecht für einen Teil der Fälle mit Recht betonten Be¬
ziehungen zur Stimhimbalkenfunktion.
Demgegenüber aber haben wir gesehen, daß die scheinbar diffe¬
renten Erklärungen von Anton selbst einerseits, von Redlich und Bon -
vicini andererseits den größten Teil jener objektiven Momente enthalten
und berücksichtigen, in denen das eigentlich Wesenswichtige enthalten
war. Fügt man die beiden einander scheinbar so widerstreitenden
Auffassungen von Anton und von Redlich-Bonvicini zusammen, so ergibt
sich die einheitliche Erklärung des Antonachen Symptoms, deren Ge¬
dankengang hier angedeutet worden ist. Wichtiger als diese Verallge¬
meinerung aber ist mir der dargestellte Sonderfall, der die von mir in
vielen himpathologischen Vorgängen gefundene Gegenreaktion der
Zentren mit einem neuen Beispiel belegt.
Zusammenfassung.
Beschrieben werden 2 Fälle von linksseitiger Hemiplegie mit Nicht¬
wahrnehmung der Hemiplegie. Es bestand in beiden Fällen linksseitige
Hemianästhesie, Körperfremdheit des optischen Bildes der linken
Körperhälfte und die Ergänzung des kinästhetischen Körperbildes durch
ein Phantom, das samt den Impulsen, die ihm galten, gegen die Mittel¬
linie hin wie nach rechts verdreht erschien. Beide Hemiplegien waren
spastisch; im 2. Fall erschien die Spastizität gleich nach dem Insult
und ließ später nach.
Die Autopsie ergab in beiden Fällen u. a. das Zusammentreffen
übereinstimmend gelegener Herde im rechten Thalamus und im Schei¬
tellappen der rechten Großhimhälfte. Die Scheitellappenherde waren
übereinstimmend gelegen, in der Gegend des Interparietalstreifens (sen-
sory-visual band von EUiot Smith).
Aus diesem Befund wird ein gemeinsamer Mechanismus für beide
Fälle abgeleitet:
In einer größeren Zahl von Herderkrankungen des Großhirns konnte
die physiologische Wirksamkeit einer Gegenreaktion der Zentren erschlos¬
sen werden. Diese Gegenreaktion stellt sich in einer Art von spezifischer
Schutzwirkung dar, die verschiedene spezifische Anteile von zentraler
Erregung bindet . Ohne diese Bindung würden, wie z. B. im epileptischen
Anfall, dieselben Anteile der zentralen Erregung auf dem Wege phylo¬
genetisch alter motorischer Bahnen zentrifugal ablaufen, zumal in den
Thalamus. Die Schutzwirkung der Großhirnzentren lenkt aber diese
Erregungsanteile in die Quere ab und verwandelt sie in Aktivatoren , d. h.
168 0. Pötzl: Über Störungen d. Selbstwahrnehmung bei linksseitiger Hemiplegie.
in spezifische Antriebe der Wahrnehmungen und der komplexen Be¬
wegungsakte.
Ein Sonderfall dieser Gegenreaktion der Zentren findet sich in den
beiden hier beschriebenen Befunden.
Der rechte Thalamus, der Zielpunkt dieser Gegenwirkung der Gro߬
hirnzentren ist schwer geschädigt, ebenso der rechte G. supramarginalis,
der Ausgangspunkt für die Querwirkung des bezeichneten Vorganges.
Diese Querwirkung besteht hier in einer Aktivierung des kinästheti-
schen Körperbildes der kontralateralen Körperhälfte, die in der Norm
durch eine gegenseitige Bindung und Umwandlung der parietalen De¬
viationsimpulse sich ungestört vollzieht.
In den beiden hier beschriebenen Fällen fehlen die zu diesem nor¬
malen Vorgang gehörigen linksdrehenden Deviationsimpulse aus der
rechten Hemisphäre. Es erscheint darum im klinischen Bild eine Rechts¬
drehung des kinästhetischen Körperbildes und damit seine Abspaltung
von dem optischen Bild, das ihm sonst kongruent bleibt, aber auf diese
Weise seine Kongruenz mit ihm verloren hat. Das optische Bild der
linken Körperhälfte wird als körperfremd in den Außenraum hinaus¬
projiziert, zusammen mit allen anderen Sehdingen des Außenraums,
da es jetzt nur mehr unter denselben aktivierenden Einflüssen steht
wie diese.
Schließlich werden einige Gesichtspunkte entwickelt, nach denen
dieselben Prinzipien auch auf die übrigen Beispiele des Anton sehen
Symptoms, der Nichtwahmehmung von Defekten bei Erkrankungen
des Großhirns, anwendbar zu sein scheinen.
Literaturverzeichnis.
Albrecht, Arch. f. Psyehiatrie u. Nervenkrankh. 55, 889 (Anton-Festschrift);
daselbst die Literatur bis 1918; ferner: Schilder, Das Körperschema. Springer.
Berlin 1923; daselbst die Literatur bis 1923. — Babinski , Sur l’anosognosie. Rev.
neurol. 30, Nr. 6, S. 731—732. 1923.
Zur Kenntnis der diffusen meningealen Gliome des Kleinhirns.
Von
Prof. Alexander Schmineke.
(Aus dem Pathologischen Institut der Universität Tübingen.)
Mit 7 Textabbildungen.
(Eingegangen am 12. Mai 1924.)
Bekanntlich ist die diffuse Geschwulsterkrankung der weichen
Hirn- und Rückenmarkshäute nicht allzu selten. Auch ist die Frage
wiederholt in den letzten Jahren an der Hand neuer Beobachtungen
erörtert worden. Es kommen sowohl metastatische Carcinome und
Sarkome wie primäre Sarkome, Endotheliome und Gliome in den
Meningen in diffuser Ausbreitung vor. Ich unterlasse es, da ausführ¬
liche Literaturübersichten genügend vorliegen, mich mit der Frage
einleitend literarisch zu beschäftigen und verweise hinsichtlich der
metastatischen Geschwülste auf die Arbeiten von Heinemann , Löhe
und Pette , hinsichtlich der primären Sarkome und Endotheliome für
die ältere Kasuistik auf das große Referat und auf die Geschwulstlehre
von Borst und die Arbeit von Rach und Hof mann, für die neuere Kasuistik
auf die Arbeit von Lameyer , Keiser und Letvy , hinsichtlich der Gliome
auf die von Löwenberg und Rütimeyer. Die weichen Häute des Zentral¬
nervensystems bieten ja für die diffuse Ausbreitung der Geschwülste
infolge ihres anatomischen Baues, worauf auch Grund hingewiesen hat,
indem zwischen zwei in fester Lage befindlichen Membranen ein kom¬
munizierendes System von Hohlräumen vorhanden ist, besonders
günstige Verhältnisse dar. Außerdem ist in der ausgiebigen Lymph-
bewegung im subarachnoidealen Maschennetz ein wesentlicher, die
Fortleitung und Verbreitung von Geschwulstelementen begünstigender
Faktor gegeben. Diese Dinge sind ja hinlänglich bekannt; auch stehen
z. Zt. über Histogenese, histologische Klassifizierung und Wachstums¬
art der metastatischen und primären diffusen Menginealgeschwülste
keine offenen Fragen mehr zur Debatte, um so mehr als die Frage der
Endotheliome in der erst kürzlich erschienenen Arbeit von Lewy eine
ausführliche Bearbeitung gefunden hat. Neue Fälle diffuser Geschwulst¬
bildung der weichen Hirn- und Rückenmarkshäute müssen also Besonder¬
heiten auf weisen, wenn sie über den Rahmen der Kasuistik hinaus
170
A. Schraincke:
Interesse bieten sollen. Der nachstehende Fall dürfte meines Erachtens
diese Forderung erfüllen. Er zeigt Verhältnisse, wie sie in der Weise
die Literatur des Gegenstands bisher nicht aufweist, weshalb ich ihn
hier ausführlich folgen lasse.
Es handelt sich um eine diffuse Geschwulst der weichen Häute des Klein¬
hirns bei einem 24jährigen Mann 1 ), der 2 Monate vor seinem Tod durch Fall
ein schweres Köpft rau ma mit nachfolgendem Bewußtseinsverlust von mehr¬
stündiger Dauer erlitten hatte. Nach dem Unfall hatte das Sehvermögen stetig
abgenommen, auch hatte er schlechter gehört. Der Kranke war nicht mehr im¬
stande, zu gehen und zu stehen; vor allen Dingen hatte er an starkem Schwindel
gelitten, der sich aber nur einstellte, wenn er sich im Bett aufrichtete oder ver¬
suchte, das Bett zu verlassen. Auch hatte Patient öfters erbrechen müssen. Die
Einweisung in die hiesige chirurgische Klinik erfolgte von dem behandelnden
Arzt unter der Annahme eines Hirnabscesses. Bei der Aufnahme konnte Patient
weder gehen noch stehen, auch konnte er sich im Bett nicht vollständig aufrichten,
weü er sofort schwindlig wurde.
Die Untersuchung von Herz, Lungen und Nieren ergab normalen Befund.
Das linke Ohr erwies sich als vollständig taub. Das rechte zeigte keine Störung.
Die Augenuntersuchung ergab doppelseitige Stauungspapille. Finger wurden links
in 1V 2 , rechts auf 5 m Entfernung gezählt. Die Untersuchung in der Nerven-
klinik ergab eine Parese des linken Facialis, Klopfempfindlichkeit der rechten
Schädelseite, herabgesetzten Tonus der Extremitätenmuskulatur und schwere
cerebellare Störungen. Unter der Annahme eines rechtssitzenden Tumors wurden
durch Trepanation die unteren Teile der rechtsseitigen Zentralwindungen unter
Aufklappen eines großen TFa^nerschen Lappens freigelegt. Es wurde jedoch
außer einer Abplattung der Windungen und eines starken Vorquellens des Hirns
nach Spaltung der Dura auch bei Punktionen nichts gefunden. Die Operations¬
wunde wurde darauf durch Hautnähte verschlossen. Am anderen Morgen nach
der Operation wurde Patient apathisch und kam mittags ad exitum.
Die Sektion ergab im Bereich der rechten Schläfenscheitelgegend eine kinder¬
handtellergroße Knochenaufklappung mit Duraspaltung. Auf der Innenfläche der
harten Hirnhaut fanden sich im Bereich der Wunde flächenhafte Blutauflagerungen.
Längsblutleiter o. B. Die Windungen des Großhirns waren stark abgeplattet,
die Sulci verstrichen. Bei Herausnahme des Gehirns zeigte sich der Boden des
3. Ventrikels vorgebuchtet und fluktuierend. In dem Sinus der Schädelbasis
flüssiges Blut. Die Hypophyse erschien an ihrer Oberfläche napfförmig ein-
gedellt. Um die Tonsillargegend des Kleinhirns fand sich eine deutliche Im¬
pressionsmarke der Konturen des Foramen magnum. Die Leptomeninx der Groß-
und Kleinhirnbasis erschien zart. An der herausgenommenen Hypophyse war
nichts Besonderes makroskopisch festzustellen. Der Türkensattei war tief; er
kommunizierte mit der Keilbeinhöhle durch eine bleistiftdicke Öffnung. Nach
Abziehen der Dura mater von der Basis fand sich an keiner Stelle eine abnorme
Pigmentierung an der Außenfläche des Organs, auch w r aren keine auf eine Fraktur
hinweisende Veränderungen vorhanden.
Die weitere Sektion w'urde an dem in Formol gehärteten Gehirn vorgenommen.
Es zeigte sich hier auf dem Horizontalschnitt unterhalb der Höhe des Balkens
eine starke Erweiterung der Seitenventrikel und des dritten Ventrikels (Abb. 1).
Das Ependym war hier schwielig und granulär verdickt. Die Tela chorioidea
ließ weiter nichts Besonderes erkennen. Die Pia meninx der Oberfläche des Klein -
J ) Ich verdanke die klinischen Angaben der Güte des Vorstandes der hiesigen
chirurgischen Universitätsklinik, Herrn Prof. Perthes.
Zur Kenntnis dor diffü<en iHrüinirn^Uuj ftjicnne du» jslriiiliinm. 171
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h\jrn* m*r .**$ }&?wh '$*'• HvMiMi>härvn tvnhcirf urul <*>w
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vermin aamäheriid normal dicker und dimrlisiplitiger Pio bedeckt. An der
•*. . *>* i " V.i! v ^ t: _\ t _ ■' f -t ■'.'■• - 4 : '
‘fiel. eirie h^endwie stärkereYt^iudumg der Fm maler mebt auf.
An ii^rn iwiken A^nstiei^ «i-clitk Der. Aqnaedüetu^ Sylun «rar. dkik-
Woistiiufick erweitert* auch 4. Ventrikel erweitert. Das Kpunrlv m wie in den übriire«
-.Eine .wtmle bei fier^efo)OEf der Ktümm-
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H'k I. »|fr tUtn u lun»i^>.«yi|iv'h.-. ffrktärut*# ■; ’1/'V-
kÄTijbeTe »hu HVrniv.pbltiyn inui der ubncm 11 ivj»ieil«> aue)r m der h.uManz -de*
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dem Schnittvun brännlidr-r Fa» I?-\ ' Jjhe ^HumtmlnMiMchcii Vvvsren eic ht
misfäd« Dw. i.ht- Nieren Zeigten embryonale bapfMiny. IHe
iSeheiMiiereri u-'ftrori klein, aut .«eimeiw-; i ; ■! t hilft(-»T Kiiit.fi>, (m Mrt^il Milt iri
•i'*; pv b fne-je^emi in d>*i Hu-Kv;»,.**» ca, 1 (^inft/turtr vTO der P\leruH^ren/e
entfernt* yijiv tfh?erfgr«*l$t- Vm^}>lburj.v sg^wndwu dei auf dtH)% ^uhbitl ♦ ; iwbd£rltUb
■I.a ■ . .. _’i._ 'U. -V-u » ... ;« 2 ä / . .. - .- i. ,i_. o.. i .. ’. .. „•. ' »■ t» '.t.
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A* SvMwvke
tVrWvmg dec.AbfhiÜwge deV -4/Ventrifete•.^■■•■F«raiiiTO Mfig^cH und
Apertar.ur tatemk^ — süini liyihi«r( phHM^ ^-führt hart«/, utitL.tla kein
Tfojiddfc ggfuiulen \Km-<ii'u .'Äfr, vrtrt>?isTv:$& MiSjiffiiim ;fer^Ik4niingt»it
7/tmöojtüt nur euf iijtsti Hydroeejüudu* iimiuafun. wurde die
Frage einer diffusen meuingeaicn ( 2/. seira u Ist mh]t rat uni, die ja uniev
dem Bild einer ^ eiMHelien Trühihig verlaufen und so eine- dirmvUeJm
Le|Umneningiti> env*au*ehen kann, noch offi^igela^en. Die wikto-
\jih. 2. SvJmttt tue (Jti Kl^iUiirViob^HlAiUVi! tnit u<?«ehw<iist irn Sjibarrtohoeki^ftir^um i)uii
mjt. r il>i- Pi:». Efklfrrtuoi 'i>Xi. TeWX, i<» 1 .
^4ßt^hji\ ■ f'.>T|rn.b* • /fer TaF t,ttö Vurh&^deiiseift einer Oc-
±'-hw uK.ir vr,n den folgenden \ ^r}uUtncssvn.
iBhreieh de* weidlH). v<-rdHsl' ouvsehefiden Teile der Kleinhirn-
.ihrviVmhe v^/r * 1* r SühMraelthoideairauro mit ‘(Jeäehwufct
durvth’.vaehsev* (Ahn.2*. ImIüm W.udelü’ «> nt I» mu ein fitirilhire* O-
>w*he >nii MngeJ&gcnrr. du’/ l»>v t hn Hie}» . «• und -pmd*•Ifi.Vn.uigeu Kemeri
<Tm«' gr<‘iF«c- premu-lfF«: rh<Hn;.U>u upd der hir Blinkern.* ehm ukN -
ri<ti<o}u*n >ti|i|H ),e»iutMWer» n.n>tnordinnig I.Ahb, 3), Die Fihrii-
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dekm -de jv ? 2 /*/und d»mmd^preehMid auch die Luge der
tämHüftifffn (iUaw* kcömte Vmi m nn;!»f.-alfr die.Fasern
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Yjit »Irr »lilfiisvn CJikunc «irs Kleinhijruv
in' J^äjiamten wh .■h'bücAmo-.iiunkx fenge{äjfJ>t M&bmj. sich tMsti'
v/in- fJUität hrftUn fiirV;teii. «nt 4t?r !f s H/*r<xt-hen und der Hvi&rsehvn Gliä-
mHhddo m Blaufärbung zur thifstidfang- fcaimm »ud sich von den in tlee
Kk'S«tiin>ritide verlauf indrii 'Oliaf »ismi nicht urdersclmdcn. Das Ver¬
haltender Geschwulst int hu ha ittctiunidcale» Kaum bot .•sonst zu Berner-
kiiiigcai keitiHii Aulntb Der gesamte Kaum zwischen Arachrtoidea und Pia
w?tt durchwat'hsMt. Dje Arterien und Venen wttn-n iuvr yon dem ghuaen
(«eachwulstgewebe yois< hkidet; wedjoi glidse Fastet» und mesenchymale
Abft. & DO-vir/eidi** (Hr»«»»s mH v>?vi fttbliiaffer A.*v*v
•bjr<*.tT»iO|t. t^Ap%ljrpu VUt kivWt ut 4 »t
>wt.i Kitiivit. brklanmK iV-\t., A%j#rv lOu *.
Fasern der AJvaditu» *,mr »i^ Jnn? £>*«.- -uh fhm
mvrk^oribnt *yunk- durch das bctfomlyrr dvp
zur
Furchen des Khnnhinm von
\vcrhi?clfidcii ti<agv von : t &*♦:
stiumdo iri M^inör ur >1 \\tt$uiu* t^ru.ip dcTyr ^dh^Wdvnoi-
dealrnutu 'üherofti- und in *ei »kt < h'Aun\rh*Ht do<-h nk von
ihm differenten* jtfe tjtc jo,• i«- Öfei&lvoil'sieh dcntlieh von
der suhj»ia)»?n <im v \lnvuhi.'<>«»* :A^vii/:ni ließ, und Zosftnti/nnFiivjb
zwischen di*r HUhnraehhi^^ly C^^^!. k } n ünd der sTiiipml-^k^crehellrtr
^wnedrsonen jmr dvr, fFi4iMrnllon< die von der Pia in dir
A: pW Aufc
(ic^'bw'uUt'
Mau .^dfi .liier die AVindun^cn und
di) drn rniihlnm $t#U*jpi in Zier l>k*he
i)\\ fii'ilcoki. (Ahh. i, n hr»d 4 *.
Av Bcltmimke
Arnehnoidea hineinzogon, bestanden ( Ahb, 5). Dabei' mußten die Le-
faß* die epie*rebellai*‘ durchziehen* ura .in.die mol^
kxjlare Schicht der KlemKirntmde erteutretem Der Emdnicfcy daß es-
dich hei der snbaradrnoiäeafeü ^^chwbizone - und-'der sufapialen um
getrennte Lagen huinMle, armde noch, dadurch verstärkt, daß in¬
folge SehrÄ^y^- 1 «fcs der Fixierung and JEmbetiuhg
de« .Materials tfu einer IVtocersÄ Zwischen liititßsj piae und 5fcr obersten
eubpi&I ihwii^^Uoiir gekowjmeri vw\ so daß mitunter
Spaltmü&e die >hAtpi&fe Ck^frvrütet xaid diuiu den Vtm
ten trennte (Abb\ 3i VVenn «A* tick hier auch «in, artificielle SfdirU*%
^, v ■ ' ‘ fVi jry^rü->ttivv- •• härn^l^v
doch an* der ihm
: v * Sftt^tejhwig /überhaupt hofvoi.
• jEntüojp‘ daß Huhpial«’ uncb
ihtintit j>iae ni^h?
jiit Stärkere)
Weise* der gegen'
zeitigen Losung il bet ha u pt f iihiü:
wäre?)., und -daß- in der
Tia ruatür Tüit ihrer G^n^haid
subaraehndideale und subphde
Güseli walntiage
Die eubjtuderi Geschv^e 0
Zollager überzogen out h die
Im uclieh in Qtuntl und Kvad
gfeielunaßic* in gleich •Helot
Schh'iifV oder *.M fand sich ein
.Im deradiied in dt'T Seidel) fdivke,
djiß #/kere und dünnere Lagen
hier 4 h* K UnnhirnubeHiiii;d/v
uml»tio iUiiikn*
rtHg verlief Auch fanden ge*
tftöfr iilstgcvrebe vorhaivieii tv:*ü*v.
U^tfVW »1154 ni»t\* f *|.
mi;ilf»rl»f)dte VVtvr» Dl. i .
y.‘{!!>nk< eij|*}t > e eih «- üteri^UfÜ kein Grsydimiktge^che auf n iO:y,\\}e» e;
IIik m- ! »I rja zeigte tni IVre^h <U-t Ti» h- und am Ka«?d. der Furchen »:h •
(h^chxeuDtübei'zug Linken i T Abb. 7h oder die G^h^uDtzeUed. lagen
nur in dünner Lug»v d*r Hirnnbeil! n’S«~ .»uf HH-D »,var dann der AoH
c»ra*: j hnM]<h‘tdrü»m» frvj u*n ^.^ n vtd *t in ih r KJeinlrinmiuk* 'fanden
euch minmde bi«toi<»gfvhi •. VVrhäh aDsr. Nirgends «ah mau. Eindringen
von ^cMcIi'AuKhzc'lleu- b» dir • M*»ichnlajM'hielir oder ein t• be.ru reifen
entlang der hi^ eihaen'wietf Druiu . Dis glure FaserueriVnhin» der
subpiaiif>jv /^Keh^vafer Ihftc«. ghtg in-Schicht der
Rimjn knut inuv-rifejv ülHn , l ? rot/dcm e j>efu»-ü h^ioeh infolge der yem
Zur Keuvttti*' düf diffusen ntpn irrealen <«)u»'nw il?$ Kfcmhirn^
.t J'f« .': .''rt»>i»raclu4r/i«4cftlf»!*. und M»0l»bil*« >\ adwturu rl*« Vr^i.jriilMnünr -fMUn*? <k*t
<i»*.iaß?.tr9Ü*>-i> i»r»» 1 \. »;ljrt(ö.rM>»ik: Krl-iänni;', !*• vi V, r .T .••• J.
Abbi 0. «sub|*/ftkr t>*‘»ohw ui<
fiV.jj t'i >tVuV U )*< M»bartK:f>m> id t ft t r»uniK*\>t#:
/v/ 'V '» '.V' v if ;* y*-k • «Vv*- * 1 # .« 5t Vi •• % * .* j-.‘ r ._ ''■•
A. tfclinriju-ke
der' •ÄioJeküiÄ.r^C'hieht G^cImiilst^truIcttAr diV-.ferehzo *11-
schart uml virätiicb. ; viSchnittw': >ön v Teiteii 4#t
K k*iiiMrno’ijerflacht 1 , di»* .muh /hmU n vo«' tlr.ri iiWikmskopjseh svhw*
deUfUob vordiekt nus^(*bri«d«-f/ gelegenAvitren und fyrtk.ro^kay> : i:H 4 l:> i>u*ii r
irgendwie gegen dU* Norm verdickt oder utidurchrfiobtig erschu/mm.
\>tiT nvikroskopisrh »mi - 1 i >esc h willst i nfij tra ürm sowohl dos sul>Ar?*ehr
'riöiäralen:'- $y$f; • f^tzu»-ic4H^k DU; Verhältnisse gliö.höh
durchaus fe in 4el) Verdiokton jT^irtifn; mir dn/i d«-r _.S\iK-
^raclHioidert.lriUiüi; nteht sn rna-sm durch ‘du* Deschwulst ii dütrat io?t .?
; : , V* v **." l * ‘ijv ' r k tU>r*
"»'•. < ‘-’.-K' :.iimiierUrlw«' V.-seuMeuftn ’ nM m^hwulstgnvd* ri»i*
•' ■ Krkiftruiur V§'-.k
cCfiillt vind diuiitri^pk^h.eftd * war.
den zur L mmsmhmm g&fc«.uimenen Schnitten
erfhirh« 'äijBns?r i^^ufi^^fiodltrattno io» Svik
WK H*'i ‘ l >{;nh «|(T l!»ljt|)<* pil!*' Hilf ‘döi li« 7 )-
(tfäfc n dicken ßcBchivjdsittaivctr; \Vi*«gen
getretenen iink^seiti'gch TaÜhhert
|p ms *i•'< 1\.•'5 1 K» : .äeusli m* mit l'mpehung iw-
üi-ii in:/' hind -ich nn piah n rhfrzn^ der
Dies wor auch In den Nerven
Zur Kenntnis der diffusen meningealen Gliome des Kleinhirns. 177
diesen Befund war somit die linksseitige Ertaubung erklärt. Auch in
der Hülle des rechten Acusticus fand sich Geschwulstgewebe, jedoch
war es nicht in das Nerveninnere eingedrungen. Auch fanden sich
keine degenerativen Veränderungen an den Nervenfasern selbst.
Weiter gelangten zur Untersuchung Stücke der hinteren Teile der
Decke der Rautengrube mit dem Velum medulläre posterius, des
Plexus chorioideus des 4. Ventrikels und der Seiten Ventrikel, aus der
Rautengrube selbst und aus der Wand der beiden Seiten Ventrikel.
Die Untersuchung der ersteren ergab eine diffuse Infiltration der Pia
mater mit Geschwulstdurch- und -umwachsung der Plexuszotten.
Dieser Befund ist insofern hervorzuheben, als durch ihn die Entstehung
des Hydrocephalus internus klargestellt werden konnte, der somit in
der mechanischen Verlegung der Abflußwege des Liquor des 4. Ven¬
trikels in den Subarachnoidealraum seine Erklärung fand. Die Unter¬
suchung des Plexus chorioideus lateralis ergab normale histologische
Verhältnisse. In den Stücken aus dem Boden der Rautengrube und
der Wandung der Seitenventrikel konnte eine chronische, schwielige
und granuläre Ependymitis festgestellt werden. Die subependymären
Glialagen waren hier derbfaserig. Der Epithelbelag war vielfach unter¬
brochen, und es fanden sich aus faserreicher und ödematöser Glia mit
großen, protoplasmatischen Gliazellen bestehende Wärzchen. Die zur
Untersuchung gekommenen Stücke aus der Meninx des Großhirnmantels
und der Basis zeigten normale Verhältnisse.
Fasse ich die histologischen Verhältnisse kurz zusammen, so fand
sich also ein Gliom mit flächenhafter Ausbreitung im Subarachnoideal¬
raum des Kleinhirns und subpialer auf der Kleinhimoberfläche mit
Hydrocephalus internus, der in einer mit der Geschwulstinfiltration
der weichen Häute der hinteren Deckplatte der Rautengrube gegebenen
Erschwerung der Zirkulation des Liquor cerebrospinalis seine Erklärung
fand. Für die linksseitige Ertaubung ergab die Durchwachsung des
Acusticus mit Geschwulst und die ihr folgende Faserentartung das
anatomische Substrat.
Was nun m. E. den Fall zu einem besonderen stempelt und seine
Verhältnisse über das bei den diffusen Meningcalgliomen Bekannte
hinausgehen, läßt, ist die flächenhafte subpiale Ausbreitung der Ge¬
schwulst auf der Kleinhimoberfläche. Mit ganz wenigen Ausnahmen,
auf die ich gleich zu sprechen komme, bildete bei den mcningealen
Geschwülsten die Intima piae stets die Grenze gegen die Hirn- und
Rückenmarksoberfläche. Eine Unterwachsung der Pia mater in größerer
Ausdehnung und eine Überkleidung der Hirn- und Rückenmarksober¬
fläche, indem die Geschwulst subpial, also in dem cpicerebralen Raum
der älteren Autoren (His) wuchs, fand sich nicht. Dabei braucht es
kaum der besonderen Hervorhebung, daß es sich bei dem hier gemeinten
Z. f. d. g. Neur. u. Piych. XCIII. 12
178
A. Schmincke:
um etwas anderes handelt als um eine Überschreitung der Rindengrenze
bei den primär in der Hirn- und Rückenmarksmasse entwickelten Ge¬
schwülsten, die sich dann sekundär im Subarachnoidealraum aus¬
breiten. Auch für das bei Syringomyelie (Saxer und Schlesinger) und
bei progressiver Paralyse (Alzheimer) beobachtete Vordringen der Glia
in Pia mater gilt dieses. Es handelt sich hier um ganz andere Dinge.
Ich hebe hervor, eine derartige subpiale Art des Wachstums wie in
unserem Fall ist überhaupt bei einer diffusen Meningealgeschwulst
etwas Besonderes, und nur in den Fällen von Rindfleisch und Rach
scheint den gegebenen Schilderungen nach eine dem unseren Fall ähn¬
liche subpiale Ausbreitung vorhanden gewesen zu sein.
Im Fall Rindfleisch fand sich bei einem primären Tumor der Fomix — Sarkom,
21jährige Frau — die Neubildung metastatisch in Form einer dünnen, zarten
Gewebsplatte zwischen der Pia mater und der Kleinhirnoberfläche. Die Geschwulst
saß ihr dicht auf, ohne an irgendeiner Stelle in die Nervensubstanz einzudringen.
In 3 Fällen von Rach — 2 Kinder mit Sarkom des Kleinhirns und 33 jähriger Mann
mit diffusem Endotheliom der Basis und Konvexität des Gehirns — fanden sich
zwischen Pia mater und Rinde kappenartig den Windungen aufsitzende Tumor¬
massen.
An und für sich kann natürlich jede Geschwulst — wie in den Fällen
von Rindfleisch und Rach und in dem hier in Rede stehenden Gliom¬
fall — bei einem subarachnoidealen Wachstum auch einmal subpial
wachsen und hier dann streckenweise die Kleinhimoberfläche über¬
ziehen. Ich möchte jedoch das subpiale Wachstum in meinem Fall —
und damit komme ich zu dem Punkt, warum er mir überhaupt der
Bekanntgabe wert erschien — anders deuten und in einer besonderen
Genese der gliösen Geschwulstzellen die Erklärung für die bemerkens¬
werte Überkleidung der Kleinhirnoberfläche in Form einer Gesclrwulst-
tapete sehen. Ich greife hierbei auf die Entwicklungsgeschichte der
Kleinhirnrinde zurück, und indem ich als die formale Genese der Gliom¬
geschwulst eine Entwicklungsstörung annehme — diese Auffassung ist
ja für die Gliome allgemein anerkannt 1 ) — leite ich die Geschwulst¬
zellen von der superficiellen Körnerschicht ab. Hierbei handelt es
sich bekanntlich um eine für die histologische Differenzierung der
Kleinhirnrinde bedeutungsvolle Zellage, die um das Ende des 3. Em¬
bryonalmonats auftritt, rasch an Stärke zunimmt und während der
ersten Monate des extrauterinen Lebens wieder verschwindet. Ihre
Elemente wandern in die Kleinhirnrinde ein und werden zum Aufbau
der unteren Schichten verbraucht, deren Dichte mit dem fortechreiten-
l ) Ich heb© auch das sonstige Vorhandensein von Entwicklxmgsstöningen
in dem Fall hervor, die embryonale Nierenlappung, den rechtsseitigen Leisten -
hoden, das Vorhandensein eines Adenomyoms im Magen; als soiche erwies sich
die kleine Geschwulst im Pylorusteil des Magens (versprengter Pankreaskeim ?).
Man findet ja Entwicklungsstörungen so gut wie immer gehäuft.
Zur Kenntnis der diffusen meningealen Gliome des Kleinhirns. 179
den Schwinden der oberflächlichen Körnerschicht zunimmt ( Schaper ,
Vogt und Aswatazurow , Berliner). Nach Schaper sind die superficiellen
Kömerzellen zunächst indifferent und somit geeignet, beide Arten der
Kleinhirnrindenelemente, Nerven- und Gliazellen aus sich hervorgehen
zu lassen. Lugaro und Popoff konnten mit Hilfe der Golgi -Methode ein
Hervorgehen von Neurogliaelementen aus Zellen der oberflächlichen
Kömerschicht in einzelnen Fällen tatsächlich nach weisen.
Wer die Bilder embryonaler Kleinhimrinden und der in den ersten
extrauterinen Lebensmonaten kennt, wird ihre frappante Ähnlichkeit
mit denen hier in unserem Geschwulstfall anerkennen. Die Frage steht
somit so: Sind wir berechtigt, auf Grund der zweifellos vorhandenen
Ähnlichkeit der Bilder der subpialen Ausbreitung der Geschwulst in
unserem Fall mit denen der superficiellen Körnerschicht Schlüsse auf
die Histogenese zu ziehen? Rekapitulieren wir vorher noch einmal
kurz die Gesamtverhältnisse des Falles, so ist sichergestellt: der glio-
matöse Charakter der Geschwulst, ihre diffuse meningeale Ausbreitung
und ihr subpiales Wachstum auf der Kleinhimoberfläche, wobei das
letztere auch in den Furchen und in der Tiefe derselben dort vor¬
handen war, wo im Subarachnoidealraum sonst nichts von Geschwulst
sich beobachten ließ. Man sah hier verschiedentlichst Geschwulst¬
gewebe in Form von circumscripten Zellansammlungen weit ab von
jeder Geschwulstentwicklung im Subarachnoidealraum. Diese Bilder
führten über zu denen einer kontinuierlichen Geschwulstüberkleidung
der Kleinhimoberfläche. Es fanden sich Stellen, im Bereich derer im
Subarachnoidealraum zwar ebenfalls Geschwulst vorhanden war, die
aber an Menge durchaus hinter der epicerebellar zur Entwicklung ge¬
kommenen zurücktrat. War im Subarachnoidealraum die Geschwulst¬
entwicklung massig, so war sie es auch subpial. Nirgends fanden sich
umgekehrt Stellen, im Bereich derer bei Freisein der Rindenoberfläche
Geschwulst ausschließlich subarachnoideal entwickelt war. Es hat
natürlich etwas sehr heikles, derartige lokalisatorische Momente und
Bilder des Wachstums zu Schlüssen auf die Histogenese verwerten zu
wollen. In irgendwie zwingender Weise kann man das nicht. Man
kann das nur ganz im allgemeinen und mit dem Grad von Sicherheit
tun, wie wir ihn überhaupt in Fragen der Ableitung von Geschwülsten
von bestimmten Zellformen bei der Annahme entwicklungsgeschicht¬
licher Störungen zur Verfügung zu haben glauben. Hierbei spielen
subjektive Momente, die in der persönlichen Erfahrung des Unter¬
suchers und schließlich gefühlsmäßige Eindrücke, die aber eben
wieder in jahrelanger Beschäftigung mit Fragen der pathologischen
Histologie die entsprechende feste Grundlage haben, immer eine nicht
unerhebliche Rolle. Ich hatte nach langer Beschäftigung mit den
Präparaten immer wieder den Eindruck, daß die subpiale Ausbreitung
12 *
180 A. Schmincke: Zur Kenntnis der diffusen meningealen Gliome des Kleinhirn s.
der Geschwulst das Wachstum im Subarachnoidealraum überwog, und
daß sie als die Primäre hier anzusehen war. Die objektiven Grund¬
lagen für diese Ansicht glaube ich oben in der nötigen Eindeutigkeit
gegeben zu haben.
Diese besondere Neigung der Geschwulstzellen zum Wachstum auf
der Kleinhirnoberfläche kann ich mir sehr wohl in Bedingungen der
Histogenese gegeben denken, wenn ich als Matrix der Zellen die der
superficiellen Kömerschicht, für die die Kleinhimoberfläche die legale
Lage von Haus aus ist, annehme. Ich greife dabei auf liegengebliebene
und nicht vollständig in die übrigen Teile der Kleinhimrinde aufge¬
gangene Zellkomplexe zurück, die möglicherweise durch das Trauma,
welches 2 Monate vor dem Tode den Schädel getroffen hatte, zu einem
geschwulstmäßigen Gliomwachstum veranlaßt worden sind. Man mag
zu der Frage der Beziehungen der Gliomentstehung auf traumatischer
Grundlage stehen wie man will (s. dazu Wörth, Dürck ), die Möglichkeit
einer traumatischen Entstehung muß zugegeben werden. Doch ist dies
ja eine für das hier in Rede stehende unwichtige Frage. Was mir also
an dem Fall besonders erscheint, und weswegen ich ihn hier bespreche,
ist die besondere Form des subpialen Wachstums bei einem der an und
für sich recht seltenen diffusen meningealen Gliome, wobei ich die
besondere Art des subpialen Wachstums und der damit gegebenen
Überkleidung der Kleinhimoberfläche mit einem Mantel von Ge¬
schwulstzellen in der histogenetischen Abstammung der gliösen Ge¬
schwulstzellen von Zellen der superficiellen Kömerschicht, und zwar
nicht vollständig rückgebildeten derselben begründet sehe. Man wird
in weiteren Fällen, die ähnliche Verhältnisse zeigen, mit einer der¬
artigen Ableitung der Geschwulstzellen zu rechnen haben.
Literaturverzeichnis.
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pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 62 . — Lameyer, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 49 .
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und Aswatazurow, Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 49 . — Schaper, Morpho¬
logisches Jahrbuch 21 . — Schlesinger , zit. nach Vogt und Aswatazurmv, Arch. f.
Psychiatrie u. Nervenkrankh. 49 . — Vogt und Aswatazurow, Arch. f. Psychiatrie
u. Nervenkrankh. 49 . — Wörth, Monatsschr. f. Unfallheilk. u. Invalidenw. 1923, 8/9.
(Aus dem Anatomischen Laboratorium [Professor Dr. Jakob ] der Staatskranken¬
anstalt und Psychiatrischen Universitätsklinik Friedrichsberg-Hamburg.)
Zur Kasuistik der Cavemome des Gehirns.
Von
Dr. A. Stiel,
Assistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik Szeged (Ungarn).
Mit 2 Textabbildungen.
(Eingegangen am 5. Mai 1924.)
Bliitgefäßgeschwülste des Gehirns sind äußerst selten. Aus diesem
Grunde erscheint die Mitteilung der folgenden kasuistischen Beob¬
achtung gerechtfertigt.
Der am 24. VIII. 1894 geborene Kranke D., von dem eine Anamnese nicht
vorliegt, wurde am 2. XII. 1916 in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg auf-
genommen. Die körperliche Untersuchung zeigte einen 152 cm großen Mann mit
angewachsenen Ohrläppchen ohne Anomalien der Haut. Auffällig war ein weibischer
Typ der Genitalbehaarung und eine besondere Größe des Penis. Die neurologische
Untersuchung ergab außer leicht gesteigerten Sehnenreflexen nichts Besonderes,
es bestand aber angeblich Klopfempfindlichkeit des Schädels, der Gang war etwas
unsicher und die Sprache erschien undeutlich, aber nicht artikulatorisch gestört.
Die psychische Untersuchung zeigte eine gewisse Schwerfälligkeit des Gedanken¬
ablaufs, ergab aber sonst nichts Besonderes. Der Kranke starb wenige Tage
nach der Krankenhausaufnahme. Es bestand die letzten Tage eine leichte Be¬
nommenheit und eine zeitweise deliriöse Verwirrtheit.
Die Obduktion der Körperhöhlen zeigte außer einer Pneumonie im
linken Unterlappen nichts Besonderes. Bei der Öffnung des Schädels
zeigte sich die Dura ziemlich gespannt, die Hirnwindungen waren ab¬
geplattet, die Venen der Rinde waren stark gefüllt. In der Gegend
der Sella turcica lag eine Geschwulst von blauroter Farbe, die sich in
das Gehirn hinein fortsetzte. Die Hypophyse wurde nicht gefunden,
sie muß wohl unter der Geschwulst gelegen haben und von dem nicht
spezialistisch vorgebildeten Obduzenten übersehen sein. Beim Durch¬
schneiden des angehärteten Gehirns zeigte sich dann eine hühnerei-
große Geschwulst, die auf der Schnittfläche das typische Bild einer
cavernösen Blutgefäßgeschwulst bot. Es fanden sich zahllose große
und kleine blutgefüllte Räume, die durch mehr oder minder dicke
Wände voneinander getrennt waren. Bei der genaueren Untersuchung
der Gefäße zeigten sich von der Arteria cerebri anterior, besonders der
‘tec'H:zah)r.eieh& feinste öefößch^h, die in den Tumor Tiinein^t^hlt^n.
nach vorn bis zürn ;tla.lkenkm<r Mi&' : lut#
Wollte sich hh*z i\h rumiln/he Masse in beiden Vorderhilnierrr vor.
Weiter rüekwart^ hatte sie die Foniix und den unteren TrU des Septum
]»ejluei»)iJin zerstört .Und die ^tjdnmgan^iion -seitwärts verdrängt.
Sach hinten lug der % VoiüHktd : m \. wesentlichen. frei, vväbremi de
Corpora ?naröiJlari*i durah t^utnoc4verdrängt
neu» Es bestand kein Hydroeephiiius.
JVMn 1 . SrJitiirt,» 1 äf*lr it£?i 'T.itfiiOi;. Kar*.Kfeht «AfyfrteirW ,.cavernfor 'ÖHMräüum» »am TvU «a-
• lüi* h &ni 7 « fliiuiu s.'pi.n cvovmif. Wi •> niät^y. ti;* mit stark*»* *<U«w *».--**«r?t 0 &?
uf.ii . 'xM. .s-rlivy.-iCiit \
nmo Uber äufcb sehr
BiütraUrUd; Vfjftt; tot OheTaÜ
den(heb, duty^ee ist okdCn-d « tu ven; Muskulatur oder ejustisehcn
r :e.-? n in Am \V:i luhney« n nie h/M* eisen. fm Höldraume selbst
mit Bhn imiulh. /Oem-t ->.* 1 « Thromben. die hiei und ;h>
auch nreJnjskrf -n»d
i he in.ikmskv>]h>< )n> 1‘?de;s*iehii!ii
g der Ccsobvruh
U zeigt biis }AiH
«‘in*‘s typischen enArenn^Vr Anehen-
: njab bebt. zah
inheiir; zb fix Te'l
mekrosko]>ise!i nicht Uivln' mkeeobn
tif Huhhaunue i
Ile runVilieh oder
inm^ebnaijie geformt* *fhd und ViN
nzt weiden von
litTHäimuni lundre v
^ürbigen Lainelien. Uhry .w-ikst An«
1 meist ?jen,lieft
dünn;
Zur CaMiisl'jk der Caverno/u*’ des «ieiimis.- 183
VVit*- das \Vateh&tunj der (rischwütet vor ftioh gegangen ist v talJt stell
aus den Prdiparatoi iiiehi ohite weitere« /Vii- iidi l&ifeP
Partien findet man durchweg mü blutj/efüHte grolle Bohlrliiime ohne
Krimptm’tigf-. Bagegeti sieht man. hfer-iiiut i 0L iirdtm..
miilürran Teilen kleinere Paiiien, wo durch vih lock^Te^ und niehi
kjvrnmphes BlndegeWelie mit deutitehvrn mt
mirvgvhiiü lüg Hohimumtv aitg<jgi'euii w.erifcii. Volt. Mer aus
Inu Ui»>gUch(.*r\Vetee eino Vergrößerung d<T (k>«‘hvvu!*t statfg^'fu tuten
Ahb- £ Atn «l*j*r I ^» Tumors xal)llo*& v*Jrlpgkie Utftitttß*. yf ir andrer'
(sn*iHf*r>'H. lie| r sind iwi'li twhi ruvenii^ tt&uatti <leA Tumor* kugWf.liijU.Vm.
Kärbiiuii iiatti tftu UiriHon, Mikfnplioto^r-, «obwurbe Wr^rOUütfUnK*
i
Die Verbindung de* Tumors mit der Artem eerebri Anterior i-t
l»t!vits er\H;iimt. Auf den Seliintk-H ltnwn sieh noch AVuiige’ grolterc
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184
A. Stief:
meist den Charakter von Capillaren und sind durchweg eingescheidet
von dicken Massen von Kalk. Auf Längs- und Querschnitten erkennt
man an den größeren von ihnen deutlich die Intima, um diese herum
liegt oft noch etwas Bindegewebe und dieses wiederum ist eingescheidet
von einer dicken Lage von Kalk, der sich als solcher durch Lichtbrechung
und chemische Reaktion zu erkennen gibt. Man sieht sogar Kalkringe,
die nichts mehr von Endothelbelag erkennen lassen und in deren Lumen
rote Blutkörperchen liegen.
Außerordentlich stark ist die Reaktion der Glia um die Ge¬
schwulst. Man findet eine sehr starke Wucherung von faserbildenden
Zellen; derbere und feinere Gliafasern schließen den Tumor völlig ein
und dringen auch weit zwischen die cavernösen Hohlräume vor. Die
Astrocyten umklammern auch vielfach die von Kalk eingescheideten
Capillaren der Umgebung. Gegenüber dieser Wucherung der Glia tritt
die Reaktion mesenchymaler Zellen ganz zurück. Nur vereinzelt finden
sich in der Umgebung Anhäufungen von lymphocytären und fibro¬
blastenartigen Zellen. Diese sowohl wie die Gliazellen sind vielfach
mit reichlichem Blutpigment beladen. In den bindegewebigen Zellen
ist das Pigment meist in Form grober, unregelmäßig geformter Klum¬
pen abgelagert, in Gliazellen dagegen findet man feine Granula, die die
einzelnen Zellen oft bis in die feinsten Fortläufer erfüllen.
Die Markscheiden sind in der Umgebung der Geschwulst fast ver¬
schwunden, dagegen lassen sich Achsenzylinder bis in die zwischen
den Hohlräumen liegende Glia verfolgen. Hier liegen auch einzelne
Ganglienzellen. Die Achsenzylinder zeigen gelegentlich Sprossungs-
erscheinungen in Form von Knopfbildungen.
An Schnitten aus der Hirnrinde findet man eine leichte Wucherung
der Randglia, die Ganglienzellen lassen leichte Veränderungen im
Sinne einer Sklerose erkennen.
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß es sich hier um einen
22jährigen Mann handelte, bei dem vielleicht ein leichter Schwachsinn
bestand und der unter den Zeichen einer deliriösen Verwirrtheit wenige
Tage nach der Krankenhausaufnahme starb. Anhaltspunkte für das
Bestehen eines Tumors haben sich intra vitam nicht ergeben. Bei der
Obduktion hat sich ein hühnereigroßes Cavernom an der Basis des
Großhirns gefunden. Die Diagnose ergibt sich aus der makroskopischen
und mikroskopischen Beschaffenheit der Geschwulst, die durchaus
typisch ist.
Die Kasuistik dieser Tumoren ist 1911 von Asttvazaturow zusammen¬
gestellt. Er führt im ganzen 11 Fälle auf; seitdem sind nur noch einige
weitere beschrieben. Volland beobachtete bei einem 26jährigen Mäd¬
chen 2 große Cavernome im Stirnhirn. Klinisch war im 3. Lebensjahre
eine Halbseitenlähmung aufgetreten, mit 12 Jahren zeigten sich zuerst
Zur Casuistik der Cavernome des Gehirns.
185
epileptische Anfälle, die sich mit 19 Jahren wiederholten. Powers be¬
schreibt 1913 ein Angioma cavemosum im Frontalhim. Klinisch
bestand Epilepsie, der Tod erfolgte im Status. Über einen weiteren
Fall berichtet Mattauschek. Seine Beobachtung ist interessant, weil
sich hier in der Geschwulst nicht nur reichliche Kalkablagerung, son¬
dern auch Knochenbildung fand. Endlich hat Huebschmann in einem Fall
multiple kleine Angiome in der Rinde gesehen. Müller hat neuerdings
einen Fall von multiplen Himangiomen mitgeteilt, der klinisch unter
einem eigenartigen Bilde verlief, das differential-diagnostisch an eine
tuberkulöse Meningitis oder Encephalitis denken ließ 1 ).
An klinischen Erscheinungen hat unser Fall außerordentlich wenig
geboten. Das ist typisch für diese Art von Tumoren, für die Angiome
sowohl wie für die Cavernome. Astwazalurow hebt in seiner Zusammen¬
stellung hervor, wie oft gerade die Cavernome symptomlos oder ohne
allgemeine Tumorzeichen verlaufen. Er sieht den Grund dazu in der
langsamen Entwicklung dieser Geschwülste. Sie wachsen, indem sie
die nervöse Substanz ganz allmählich zerstören, ohne daß es zu Ver¬
schiebungen oder zu Zuwachs des intrakraniellen Inhalts kommt.
Auch in unserem Falle ist offenbar auch das Wachstum der Geschwulst
so langsam vor sich gegangen, daß durch die Usurierung des Knochens
Platz geschaffen wurde und eine wesentliche Raumbeschränkung im
Schädel kaum eingetreten ist. Auch die typischen Geschwülste dieser
Gegend, die Erdheimschen Hypophysengangstumoren machen ja oft
relativ wenig Drucksymptome.
Astwazalurow ist geneigt, Traumen im Gehirn für die Entstehung
dieser Geschwülste verantwortlich zu machen. Mehr Wahrscheinlich¬
keit dürfte die Anschauung für sich haben, daß hier Entwicklungs¬
störungen vorliegen (Bibbert u. a., Volland). Gerade VoUands Fall,
wo neben den Himcavernomen sich Blutgefäßgeschwülste am Arm
fanden, ist in dieser Hinsicht instruktiv. Auch in unserem Falle macht
der Sitz es nicht gerade wahrscheinlich, daß ein Trauma bei der Ent¬
stehung eine Rolle gespielt hat.
Die außerordentlich starke Reaktion faseriger Glia ist bei diesen
Geschwülsten häufig und erklärt sich wohl aus ihrem langsamen Wachs¬
tum, das der Glia Zeit zu völliger Ausreifung läßt. Auch die Gefäß-
neubildungen um den Tumor herum sind mehrfach beobachtet. Über
Kalkablagerungen in und um die Geschwulst berichten ebenfalls mehrere
Autoren (Astwazalurow, Volland , Huebschmann ). Sie dürften auf den
mangelhaften Blutkreislauf in dieser Gegend zurückzuführen sein.
l ) Monatschr. f. Psychol. u. Neurol. 53, 243. Hier auch die übrige Literatur.
Über psychische Folgezustände nach Gehirntrauma.
Von
Dr. Edgar Trautmann.
(Aus der städtischen Nervenheilanstalt Chemnitz-Hilbersdorf. — Direktor: Prof.
Dr. L. W. Weber.)
(Eingegangen am 14. Juni 1924.)
Obwohl schwerere psychische Veränderungen nach Schädeltraumen
verhältnismäßig selten sind, so besitzen sie trotzdem großes praktisches
Interesse aus forensischen Gründen, noch mehr aber wegen ihrer großen
Bedeutung für die Unfallversicherung. Jedoch ist es für den Gut¬
achter nicht immer leicht, festzustellen, ob und bis zu welchem Grad eine
eintretende Geistesstörung mit einem vorangegangenen Unfall in Zu¬
sammenhang gebracht werden muß, zumal wenn der Unfall längere Zeit
zurückliegt. Nach Berger ist die Fragestellung gewöhnlich die: Ist das
Trauma die alleinige Ursache der psychischen Veränderung oder schuf
es nur die Prädisposition, so daß eine weiter hinzukommende Schädi¬
gung die Auslösung bedingte, oder ist das Trauma selbst nur die eigentlich
auslösende Ursache bei bereits latent bestehender Anlage. Auch kann
der Unfall selbst die Folge einer schon vorher vorhandenen, bisher un¬
bemerkten Psychose sein und seinerseits durch die Verschlimmerung des
Prozesses zum erstenmal greifbare Symptome in Erscheinung treten lassen.
Gäbe es für hirntraumatische Erkrankungen ein einheitliches spe¬
zifisches Krankheitsbild, dann wäre die Frage des ätiologischen Zu¬
sammenhanges einfacher. Jedoch ist die Diagnostik dadurch erschwert,
daß diese Folgezustände in der Maske mannigfacher psychischer Krank¬
heitsbilder auftreten können entsprechend der Eigentümlichkeit aller
Geistesveränderungen, in dem Mosaik ihres klinischen Bildes von Fall
zu Fall durch die Variabilität in der Zusammenstellung der einzelnen
Züge zu überraschen.
Nicht selten wird irrtümlicherweise aus der zeitlichen Aufeinander¬
folge von Trauma und Psychose auf einen ursächlichen Zusammenhang
geschlossen. Hierfür sei als Beispiel folgender Fall angeführt:
Fall 1. Ein 15jähr. Junge fiel vom Wagen, ohne sich jedoch erhebliche Ver¬
letzungen zuzuziehen. Unmittelbar anschließend entwickelte sich eine Psychose,
welche von verschiedenen Gutachtern einwandfrei als Schizophrenie diagnostiziert
wurde. Der Pat. war vor dem Unfall gesund, aber es lag eine schwere erbliche
Belastung vor.
E. Trautmann: Über psychische Folgezustände nach Gehimtrauma. 187
Es entstand nun ein Gutachterstreit darüber, ob die Psychose als
Folge des Traumas aufzufassen sei. L. W. Weber negierte den ätio¬
logischen Zusammenhang mit der Begründung, daß die Schizophrenie als
endogene Krankheit durch ein Trauma nicht erzeugt, sondern höchstens
ausgelöst werden könne. Bei dieser erblichen Belastung hätte es sich also
bestenfalls nur um eine Auslösung handeln können, und zwar nur dann,
wenn das Trauma ein sehr erhebliches gewesen wäre. Nun waren aber in
diesem Fall die traumatische Erschütterung und die Verletzungen so un¬
bedeutend, daß es sogar zweifelhaft erschien, ob der Sturz vom Wagen
überhaupt traumatisch in diesem Sinne gewirkt habe. Die auffallende
zeitliche Aufeinanderfolge legte jedoch so sehr die Versuchung nahe,
an einen ursächlichen Zusammenhang zu glauben, daß nur die Berück¬
sichtigung der übrigen zum Beweis dieser Annahme erforderlichen Ge¬
sichtspunkte von der Annahme jeglichen ursächlichen Zusammenhangs
abhielt. Horn , welcher die Auffassung Webers teilte, hat diesen Fall an
anderer Stelle ausführlicher behandelt.
Im Folgenden seien einige echte Fälle wiedergegeben, welche sowohl
wegen der Frage der Ätiologie von gewissem Interesse sind, als auch durch
die Besonderheit ihres klinischen Bildes geeignet sind, zu den Erfah¬
rungen über hirntraumatische Geistesstörungen beizutragen.
Fall 2. Der 49 Jahre alte Fleischer E. W. stürzte im Juni 1923 vom Motorrad.
Nach Angaben des Arztes bestand Hirnerschütterung mit retrograder Amnesie.
Einige Wochen später Auftreten von Erregungszuständen. Bei der Einlieferung
in die Nervenheilanstalt am 7. VIII. 1923 klagte er über Kopfschmerzen mit
Schwindelgefühl und zeigte auffallende Gedächtnisstörungen. Die Merkfähigkeit
war so stark vermindert, daß er kurz nach dem Mittagessen sich dessen nicht mehr
erinnerte. Er war örtlich und zeitlich nicht orientiert. Auffassung und Gedanken¬
ablauf waren erschwert. Nach einigen Tagen traten wahnhafte Größenideen auf,
die sich hauptsächlich auf seine geschäftliche Tätigkeit bezogen. Die Stimmung
war dabei heiter; er fand alles in seiner Umgebung wundervoll und erzählte über¬
treibend von seiner „prachtvollen“ Verpflegung.
Körperlich: Starke Klopfempfindlichkeit des Hinterkopfes, linker Patellar-
reflex gesteigert. Pupillen beiderseits gleich weit, rund, ohne Reflexstörungen.
Wassermann im Blut aber positiv. Lumbalpunktion konnte nicht vorgenommen
werden.
Am 18. VIII. 1923 hatte sich der psychische Zustand wieder weitgehend ge¬
bessert. Er war wieder klar und geordnet, örtlich und zeitlich orientiert.
Es handelt sich also hier um einen akut auftretenden psychotischen
Prozeß im Anschluß an ein schweres Himtrauma. Die klinischen Er¬
scheinungen (die Erregungszustände, die Gedächtnisstörungen und vor
allem die Größenideen) ließen in Verbindung mit dem positiven Blut-
Wassermann vermuten, daß es sich um eine durch das Trauma manifest
gewordene progressive Paralyse handelte. Auch an eine vorher schon
latent vorhandene Lues cerebri, die sich infolge des Trauma rasch fort^
schreitend entwickelt hatte, hätte man denken können, wiewohl derartige
Fälle verhältnismäßig selten sind. Indes zeigte die rasch eintretende Bes-
188
E. Trautmann:
serung fast aller Symptome ohne Anwendung einer antiluetischen Kur,
daß es sich um eine paralyseähnliche, posttraumatische Psychose handelte,
bei der als besonders charakteristische Symptome Merkfähigkeitsstörung,
Desorientiertheit und Größenideen im Vordergrund standen. Das be¬
stätigte sich auch durch die Tatsache, daß der Verletzte 3 / 4 Jahr nach
dem Unfall sich weiter körperlich und geistig wohl befand und sein Ge¬
schäft wieder in vollem Umfang weiter betrieb.
Fall 3. Der Holzschleifereibesitzer E. B. war bis zum 45. Lebensjahre immer
gesund, hat in der Schule gut gelernt, war im Beruf sehr fleißig und erfolgreich.
Mit 45 Jahren erlitt er am 19. VII. 1918 einen Unfall, indem er vom Zahnrad
einer Maschine am Kopfe erfaßt wurde. Er wurde bewußtlos in einer Blutlache
aufgefunden. Nach 5 Stunden Rückkehr des Bewußtseins. Pat. war aber von
diesem Augenblick an verwirrt und psychomotorisch erregt. Nach kurzer vorüber¬
gehender Besserung trat erneut Verschlimmerung ein.
3 Wochen nach dem Unfall bot er folgendes Krankheitsbild: Stumpf heitere
Affektlage, sehr unruhig, bleibt nicht im Bett, läuft dauernd in einen anderen
Saal, verunreinigt den Fußboden, redet vollkommen inkohärent und ist auf keine
Frage zu konzentrieren. (Sind Sie krank?) „Nein, aber ich bin gebunden durch
meine Gebundenheit, durch die Gesundheit.“ Nach einigen Tagen geringe Besse¬
rung, aber jetzt ausgesprochene Neigung zu Perseveration und motorische Para¬
phasie: (Was macht man mit einem Hammer?) „Die hiebt man an.“ (Macht
dabei die richtige Geste.) Außerdem bestand starke Merkstörung und Fehlen der
örtlichen und zeitlichen Orientierung.
Körperlich: Quer verlaufende Narbe über dem rechten Scheitelbein. Leichte
Schwäche des rechten Facialis und Hypoglossus. Patellarretlex links schwächer
als rechts. Stehen und Gehen unsicher; Bauchdeckenreflexe rechts schwächer
als links. Pupillen o. B. WaR. im Blut negativ. Lumbalpunktion 4 Wochen nach
dem Unfall: Druck vermehrt. WaR. negativ. Nonne schwach positiv.
Nach 2 Wochen weitere Besserung. Perseveriert nicht mehr so oft, aber ist
noch sehr vergeßlich und verwirrt, führt Selbstgespräche, legt sich in fremde Betten.
Anfang Oktober nur noch zeitweise Verwirrtheit und perseveratorische Äuße¬
rungen; dabei schlechter Schlaf, nächtliche Unruhe, Verstimraungszustände und
Neigung zum Weinen.
Am 23. X. 1918 wurde er als weitgehend gebessert aus der Anstalt entlassen.
Spätere Untersuchung ergibt vollkommene Genesung. Er konnte dauernd seinen
Beruf in vollem Umfang wieder auf nehmen.
Diese Psychose, welche sich unmittelbar an das Erwachen aus der
Bewußtlosigkeit anschloß, verlief abgestuft in drei verschiedenen Bil¬
dern. Zuerst bestand starke motorische Unruhe mit Zerfahrenheit und
Verwirrtheit. Als diese schweren psychotischen Erscheinungen sich ge¬
legt hatten und Pat. wieder etwas geordneter war, trat die Merkstörung
und Desorientiertheit deutlicher in Erscheinung; zugleich kamen die Nei¬
gung zu Perseveration und die paraphasischen Störungen zum Ausdruck.
Später bei sonst zunehmender Besserung bestand noch eine deutliche
Affektschwäche mit der Tendenz zu depressiven Reaktionen. Alles, auch
die cerebralen Herdsymptome kamen zu vollkommener Dauerheiluiig.
Einen ähnlichen Verlauf, wenn auch in den Einzelheiten der Sym¬
ptome abweichend, zeigt folgender Fall:
Über psychische Folgezust&nde nach Gehirntrauma.
189
Fall 4. Der 31 jähr. Einfahrmeister W. K. wurde am 30. VII. 1921 in voller
Fahrt durch Unfall aus dem Auto geschleudert. Er trug mehrere Gesichtsver-
letzungen, einen Nasenknorpel- und Schädelbasisbruch davon. 8 Tage lang blieb
er bewußtlos.
Vor dem Unfall war Pat. immer gesund gewesen, war geistig immer sehr reg¬
sam, hatte in der Schule gut gelernt und hatte sich außerhalb der Dienstzeit im
Zeichnen und Rechnen selbständig weitergebildet. Im Felde war er 2 Jahre lang
als Autofahrer tätig.
Nach Abheilung der äußeren Verletzungen bot K. auffallende psychische
Veränderungen. Er war in seinen Äußerungen sehr zerfahren und imgeordnet
und zeigte ein absonderliches, manieriertes Verhalten in seinen Bewegungen und
beim Sprechen. Dabei war er immer sehr unruhig und reizbar. Eine Erinnerung
an den Unfall bestand nicht.
Neurologisch war eine Ungleichheit der Pupillen vorhanden, lebhafte Patellar-
reflexe, Schwanken bei Fußaugenschluß.
1 / a Jahr später waren außer einer Herabsetzung der Geruchsempfindung keine
neurologischen Symptome mehr nachzuweisen. Psychisch war er wieder klarer
und geordneter, er war aber leicht ermüdbar und versagte bei jeder Arbeit, welche
Anforderungen an seine Aufmerksamkeit und Willensspannung stellte. Da er
deshalb seinem Beruf nicht nachgehen konnte, so blieb er dauernd zu Haus,
wo er sich im Haushalt etwas beschäftigte. Auch jetzt war noch Neigung zu
Erregung und allgemeine Unruhe vorhanden.
Im März 1922 hatte sich sein Zustand so weit gebessert, daß er einen leichten
Posten m der Montage seiner ehemaligen Arbeitsstätte wieder ausfüllen konnte.
Er war jedoch langsam und schwerfällig bei der Arbeit, machte dauernd einen
schläfrigen Eindruck, war immer noch leicht gereizt und klagte viel über Kopf¬
schmerzen und Gedächtnisschwäche.
Bei der gutachtlichen Nachuntersuchung im August 1923 waren die schweren
geistigen Veränderungen abgeklungen, die Stumpfheit und Schwerfälligkeit hatte
sich völlig verloren, er war lebhafter und regsamer geworden. In seiner Leistungs¬
fähigkeit war er wieder so weit, daß er als Meister die Aufsicht über 6 Arbeiter
führen konnte. Dagegen waren andere krankhafte Erscheinungen geblieben, die
man als neurasthenischen Symptomkomplex auffassen kann: Lidflattern, Tremor
der Finger, lebhafte Reflexe, Klagen über rasche Ermüdbarkeit bei der Arbeit,
Gedächtnisschwäche, Kopfschmerz, Brechreiz.
Wie im Falle 3 schloß sich auch hier unmittelbar an die Gehirner¬
schütterung ein Zustand von psychotischem Charakter an (Zerfahren¬
heit, Manieriertheit, motorische Unruhe). Diese Erscheinungen klangen
wieder ab und ließen zunächst vor allem eine Einschränkung der gei¬
stigen Leistungsfähigkeit zurück, die den Patienten über ein Jahr lang
beruflich untauglich machte. In diesen intellektuellen Defektzustand
mischten sich alsbald auch neurasthenische und affektive Störungen,
welche die Wiederaufhellung des Intellekts überdauerten und nachher
so stark überhandnahmen, daß man der Entwicklung einer traumati¬
schen Neurose Vorbeugen mußte. Er befand sich also in jenem Stadium
der Genesung, über welches viele Patienten nicht hinauskommen, wenn
sie gewissen schädlichen Einwirkungen einer Rentenbewilligung nicht
gewachsen sind. Es wurde deshalb damals Kapitalabfindung vor-
geschlagen.
190
E. Trautmann:
Der weitere Verlauf ist nicht bekanntgeworden.
Fall 5 . Der löjähr. O. H. wurde bei der Stallarbeit am 21. V. 1916 von einem
Pferd gegen die Stirn getreten und bewußtlos, blutend aufgefunden. Der Arzt
stellte damals fest: Schwere Gehirnerschütterung, Bruch des Stirnbeines, 10cm
lange Stimwunde.
Nach Verheilung der äußeren Wunden blieben noch verschiedene Beschwerden
zurück: Schwindelgefühl, Kopfschmerz beim Bücken und fast täglich Nasenbluten.
Zeitweise mußte H. die Arbeit unterbrechen.
Vor dem Unfall war Pat. immer gesund gewesen, hatte sich körperlich und
geistig gut entwickelt, war in der Schule gut mitgekommen und hatte nie hyste¬
rische Zeichen geboten.
Nach 17* Jahr trat zum ersten Male ein eigentümlicher Anfall auf, welcher
mit Kopfschmerzen und Schwindel begann und sich in einen schlafartigen Zustand,
der mehrere Tage anhielt, fortsetzte. Dabei ließ Pat. Stuhl und Urin unter sich
gehen. Der Schlaf war unterbrochen von vorübergehenden Somnolenzerschei¬
nungen, in welchen der Pat. auf Anreden langsam und schwerfällig reagierte, im
übrigen aber völlig stumpf und teilnahmslos sich verhielt. In diesem Zustand
nahm er auch Nahrung zu sich. Derartige Anfälle dauerten bis 10 Tage. Nach
dem Erwachen fühlte er sich wieder völlig wohl und konnte wieder wie vorher
seiner Arbeit nachgehen. Die Anfälle wiederholten sich später ohne äußeren An¬
laß ungefähr alle Vierteljahre.
Am 6. III. 1919, also 3 Jahre nach dem Trauma, bot der Pat. bei der Auf¬
nahme in die Nervenheilanstalt folgenden Befund:
Körperlich: Geringe Schwäche des rechten N. facialis. Babinski links zweifel¬
haft. Oppenheim links positiv.
Psychisch: Geordnet und klar, aber sehr schwerfällig, verlangsamter Ge¬
dankenablauf, starke Affektlabilität mit besonderer Neigung zum Weinen, weh¬
leidiges und energieloses Verhalten, viel Klagen über Kopfschmerzen.
Eine längere Beobachtung des Pat. war nicht möglich.
In diesem Falle hinterließ das schwere Trauma zunächst eine Reihe
lästiger subjektiver Beschwerden. Nach P/ 2 Jahr traten periodisch
eigentümliche Zustände auf, die man wohl als epileptische Äquivalente
ansehen muß. Die dem Anfall unmittelbar vorausgehenden Kopfschmer¬
zen und Schwindelanfälle sind als Aura aufzufassen. Das Untersich-
gehenlassen von Kot und Urin spricht für die epileptische Genese des
eigenartigen Dauerschlafes. Für Epilepsie sprach auch die Veränderung
seines psychischen Verhaltens. Der früher geistig normale und arbeits¬
fähige Mann zeigte jetzt die für ein Himleiden charakteristischen Sym¬
ptome auf intellektuellem und affektivem Gebiet. Für die Annahme einer
Hysterie waren keine Zeichen vorhanden. Auch die Anamnese bot keine
Anhaltspunkte hierfür.
Was die Frage des ätiologischen Zusammenhanges mit dem Trauma
anbelangt, so muß man an die Möglichkeit denken, daß es sich um das
zufällige Auftreten einer genuinen Epilepsie unabhängig von der Hirn¬
verletzung handelte, wofür sowohl das Alter als auch der große zeitliche
Abstand zwischen Unfall und Beginn der Epilepsie zu sprechen scheinen.
Jedoch die so stark ausgeprägten psychischen und geistigen Verän¬
derungen ließen erkennen, daß eine dauernde traumatische Gehirn-
Über psychische Folgezust&nde nach Gehirntrauma.
191
Schädigung zugrunde liegen mußte. Auch seit der Verletzung ununter¬
brochen bestehende Beschwerden, welche die symptomatische Brücke
zwischen Trauma und Ausbruch der Epilepsie bildeten, sprechen für
diese Annahme. Es ist außerdem möglich, daß der Patient schon
einige Zeit vor dem Auftreten der großen Anfälle an epileptischen
Erscheinungen gelitten hat, wie das zeitweise Aussetzen von der
Arbeit vermuten läßt.
Es sei ferner erwähnt, daß auch Hermann berichtet, daß ein Soldat,
der durch Sturz vom Pferde und durch Huftritte schwer verletzt worden
war, ebenfalls 1—2 Jahre nach dem Unfall periodische Zustände zeigte,
die mit innerer Unruhe und Erregung begannen und in Schlafzustände
übergingen, welche oft 8 Tage lang anhielten.
Bemerkenswert ist, daß es sich in Hermanns Fall ebenfalls um Huf¬
tritte handelte und daß die Anfälle ebenfalls erst 1—2 Jahre nach dem
Unfall in Erscheinung traten.
FaU 6. Der Pat. E. Sch. war von Haus aus Stotterer und geistig beschränkt.
In der Kindheit litt er an Krämpfen, blieb 3 mal sitzen und wurde, da er seine Lehr¬
zeit nicht beendete, Gelegenheitsarbeiter.
Im 45. Lebensjahr stürzte er am 7.11. 1921 als Kutscher vom Wagen, schlug
den Kopf auf dem Steinpflaster auf und blieb bewußtlos liegen. Aus dem einen
Ohr floß Blut. 1 Stunde später wurde festgestellt, daß die rechte Pupille größer
war als die linke. Nach dem Erwachen war er verwirrt, desorientiert und klagte
über Kopfschmerzen; abends trat Erbrechen ein, der Puls war verlangsamt,
58 Schläge pro Minute. 4 Wochen später wurde folgender Befund erhoben: Blöder
Gesichtsausdruck, stumpfes, affektloses Verhalten, langsame und schwerfällige
Bewegungen, Gedächtnis und Merkfähigkeit schlecht. Er wußte den Namen seiner
Mutter nicht, konnte sich an Ereignisse des gleichen Tages nicht mehr entsinnen,
war örtlich und zeitlich nicht orientiert Beim Sprechen deutliche Erschwerung
der Wortfindung mit Neigung zu paraphasischen Entgleisungen. Einen Tinten¬
wischer bezeichnete er als „Wischplikat“, einen Schlüssel als „Halterfederschreiber“
(teü weise perse veratorisch bedingt). Wort Verständnis dagegen war gut, ebenso
Spontan- und Diktatschreiben Körperlich: Ausgeprägter Turmschädel mit Ex¬
ophthalmus und asymmetrischer Gesichtsbildung. Rechte Pupille weiter als
linke, ungleiche Lichtreaktion« Linker Patellarreflex fehlt, rechter Patellarreflex
schwach auslösbar. Achillessehnenreflexe beiderseits negativ. Rombergsches
Zeichen angedeutet, WaR im Blut und Liquor negativ.
8 Wochen nach dem Unfall wieder wesentliche Besserung, Orientierung wieder
vorhanden, allgemeines Verhalten aber noch stumpf und gleichgültig.
Bei der Untersuchung am 23. VIII. 1922, 16 Monate nach dem Unfall, wurden
subjektive Beschwerden in den Vordergrund gestellt: Klopfempfindlichkeit des
Kopfes, Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Hörstörungen, Verschlechterung des
Gedächtnisses und der Merkfähigkeit. Wegen der zunehmenden Beschwerden
hatte er seinen Beruf als Kutscher aufgegeben und sich zuletzt mit Holzhacken
beschäftigt.
Die körperliche Untersuchung hatte keine Veränderungen ergeben.
Die Beobachtung im Dezember 1922 ergab eine fortgeschrittene Demenz.
Die Gedächtnisstörungen waren so stark, daß er teilweise desorientiert war. Er
war zur Arbeit nicht mehr fähig. Im nächsten Vierteljahr zunehmende psychische
Veränderung. Er war mürrisch und reizbar geworden, hatte immer zu klagen
192
E. Trautmann:
und zu schimpfen und neigte sehr zu Erregungszuständen. Im übrigen war er
stumpf und interesselos. Er wurde im Dezember 1923 in diesem Zustand in die
Landesanstalt überführt.
Hier hatte sich also bei einem angeborenen Schwachsinn eine schwere
traumatische Demenz entwickelt. Die anfänglichen intellektuellen Aus¬
fallserscheinungen, die mit Desorientiertheit und aphasischen Störungen
einhergingen, bildeten sich nur teilweise wieder zurück. Das starke Her¬
vortreten der subjektiven Beschwerden bei der Untersuchung am 23. VIII.
1922 deutete auf eine Weiterentwicklung des Krankheitsprozesses. Die
intellektuellen Leistungen nahmen bald rapid ab, und die hinzutretenden
psychischen Veränderungen vervollkommneten später das Bild einer
ausgesprochenen traumatischen Demenz.
Es ist schwer zu sagen, ob in diesem Fall der angeborene Schwach¬
sinn als konkurrierende Ursache der posttraumatischen Verblödung auf¬
zufassen ist. Aber so viel läßt sich wohl annehmen, daß die klinischen
Erscheinungen insofern viel schwerer ausfielen, als der Patient durch
seinen angeborenen Schwachsinn schon von vornherein eine primäre
Urteilsschwäche in die traumatische Demenz mit hineinbrachte. Es
addierte sich also noch zu der angeborenen Urteilsschwäche jene Trü¬
bung des Urteilsvermögens, welche sekundär durch die traumatische
Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörung bedingt war.
Mit Rücksicht auf das Alter des Patienten (45 Jahre) kann man ver¬
muten, daß die Verblödung der Entwicklung einer traumatisch be¬
schleunigten Himarteriosklerose zu verdanken war, welche jedoch keine
sonstigen klinischen Symptome geboten hatte.
Ein Beispiel für schwere Folgen hirntraumatischer Entstehung sei
in folgendem Fall ausführlicher dargestellt:
Fall 7 . Der Maurerpolier H. F. stammte aus gesunder Familie, namentlich
von Arteriosklerose oder Nervenkrankheiten war bei seinen Eltern nichts bekannt.
Er selbst war bis zu seinem Unfall immer gesund, hatte es beruflich zu einer selb¬
ständigen Stellung gebracht, hatte aktiv gedient und war seit August 1914 als
Sanitätsunteroffizier im Felde.
Im 34. Lebensjahre wurde er am 22. VI. 1915 auf der Lorettohöhe durch
Granatexplosion verschüttet. Nach eigenen Angaben war er 1 l j t Tag bewußtlos;
nach den Angaben eines Kriegskameraden soll er erst 4 Tago nach der Verschüttung
bewußtlos ausgegraben worden sein. Möglicherweise handelt es sich in diesem
Widerspruch um eine retrograde Amnesie. Es wurde nach 4 Tagen im Kriegs¬
lazarett Toumai XI. A.-K. eine motorische Schwäche der linksseitigen Extre¬
mitäten und eine gleichseitige Herabsetzung der Sensibilität festgestellt. Ein
positiver Babinski kam erst nachher hinzu, ebenso eine Erschwerung der Sprache.
Im September 1915 klagte er während seines Lazarettaufenthaltes zum ersten Male
über Schwindel und Kopfschmerzen. Sein Allgemeinbefinden besserte sich aber
so weit, daß er von Oktober 1915 an wieder als g. v. Sanitätsdienst tun konnte.
In dieser Zeit verschlimmerte sich sein Leiden jedoch wieder, so daß er im März
1917 den Dienst aufgeben mußte. Vor allem kamen jetzt Klagen über Gedächtnis¬
schwäche und Reizbarkeit hinzu. Neurologisch waren zu den früheren Symptomen
Uber psychische Folgezustände nach Gehirntrauma.
193
noch folgende hinzugetreten: gesteigerte Patellarreflexe, zeitweise Fußklonus, Lid-
flattem, Zungentremor.
Im Oktober 1917 ist in den Versorgungsakten außerdem noch erwähnt:
Linksseitige Facialisschwäche, Schlängelung und Verhärtung der Radialarterien,
Verstärkung des 2. Aortentones.
Psychisch: Stumpf, schwerfällig, verlangsamte Assoziationsfähigkeit, rasche
Ermüdbarkeit, erhebliche Merkstörung, Reizbarkeit und Neigung zu Zwangslachen.
Bald darauf mußte er aus dem Heere entlassen werden.
In der Folgezeit schritt das Leiden langsam fort, ohne daß es jedoch zu
einem Schlaganfall kam. Bis zum Jahre 1923 konnte er sich noch in der Familie
halten, um von da an dauernd in der Anstalt untergebracht zu werden.
Das Zustandsbild, das er unmittelbar vor seinem Tode im Januar 1924
geboten hatte, bedarf einer eingehenderen Schilderung: Im Vordergrund
standen die psychischen Veränderungen, und unter diesen vor allem die schwere
Demenz. Seine Aufmerksamkeit war nur kurze Zeit zu fixieren. Die Auf¬
fassungsfähigkeit war derartig reduziert, daß man nur ganz einfache Auf¬
forderungen mit Erfolg an ihn richten konnte. Beim Versuch zu lesen, sprang
er von einer Zeile zur andern und reihte sinnlos unzusammenhängende Worte
aneinander. Den Sinn zusammengesetzter Bilder verstand er nicht, obwohl
er die Einzelfiguren noch erkannte. Über Ereignisse seines Lebens und über
Daten seiner Familiengeschichte konnte er überhaupt keine Auskunft mehr
geben, ebensowenig konnte er neue Eindrücke festhalten.
Er war örtlich und zeitlich völlig desorientiert. Seine Äußerungen auf Urteils¬
fragen waren gänzlich zerfahren. (Was bedeutet das Sprichwort: Lügen haben
kurze Beine?) „Er hat kurze Beine.“ (Wer?) „Das Sprichwort.“
Die Sprache zeigte eine eigentümliche Störung, die Ähnlichkeit besaß mit
der Palilallie: Er sprach nur in abgerissenen Sätzen und wiederholte das Ge¬
sprochene in raschem Tempo krampfhaft hintereinander. Dabei brachte er die
Worte hastig und explosiv hervor, indem er mit dem Ton immer höher stieg:
„Urotropin will ich haben. Urotropin will ich haben. Urotropin will ich haben. —
Urotropin, Urotropin, Urotropin. U—ro—tro—pin.“
Sein Allgemein verhalten hatte eine sehr unangenehme Form angenommen.
Er war roh und grob geworden, schimpfte oft in ordinärer Weise, war dauernd
unzufrieden, benahm sich unflätig, aß mit den Fingern, urinierte auf den Fußboden
und war auch im Bett dauernd unrein, öfters zeigte er unmotiviertes zwangs¬
artiges Lachen.
Körperlich bot er folgende Veränderungen: Geringe Schwäche des linken
N. facialis bei gesundem Stirnast. (Sonstige Hiranerven waren nicht betroffen.
Die Pupillenreaktionen waren normal, Augenhintergrund o. B.) Im linken Arm
und Bein geringer Spasmus und Herabsetzung der rohen Kraft. Armsehnen- und
Periostreflexe links, sowie linksseitiger Patellar- und Achillessehnenreflex ge¬
steigert. Gordon und Oppenheim positiv. Zeitweise Fußklonus. Die Reflex¬
steigerungen und der Fußklonus waren auch im rechten Bein nachzuweisen, wäh¬
rend hier sonstige Pyramidensymptome fehlten. Auffallend stark ausgeprägt
war eine Asynergie cerebelleuse, die jede komplizierte gemeinsame Tätigkeit der
Hände wie auch das Gehen unmöglich machte. In beiden Händen ausgesprochene
Adiadochokinese. Baranysche Prüfungen waren nicht möglich. Alle Bewegungen
erfolgten auffallend langsam und hatten etwas Starres an sich, das an das Bild
des amyostatischen Zustandes erinnerte. Der linksseitige Bauchdecken-Reflex
war schwächer als der rechte.
Die Herzdämpfung war verbreitert, Herzaktion normal, Töne rein, der
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 13
194
E. Trautmann:
2. A.-T, deutlich verstärkt, Radialarterie verhärtet und geschlängelt, Blutdruck
185/135 R.R.
Im Urin geringe Menge Eiweiß ohne pathologische Sedimentbestandteile. Die
Konzentrationsbreite der Niere war etwas eingeschränkt.
In Blut und Liquor keine luetischen Zeichen.
Der Tod erfolgte im Status epilepticus, der ohne Vorboten plötzlich einsetzte
und naoh mehreren Stunden letal endete.
Die Sektion ergab folgenden pathologisch-anatomischen Befund: Pia über den
seitlichen Teilen der Himkonvexität leicht fibrös verdickt, überall leicht abziehbar.
Hirngewicht 1315 g. Auf Schnitten in Rinde und Mark zerstreut, besonders
reichlich in den Stammganglien , am meisten aber im Kleinhirn kleinste bis erbsen¬
große , oft cystische, gelbbräunlich 'pigmentierte Herde , in welchen die Himsubstanz fehlte.
Starke Sklerose der basalen Arterien , besonders die A. basalaris war stark
geschlängelt .
Herz stark hypertrophisch, dilatiert. Im Myokard grauweißliche gelbliche
Herde. Coronargefäße sklerosiert, Aorta sklerotisch verfleckt, im Bauchteil zahl¬
reiche bis pfennigstückgroße sklerotische Einlagerungen.
Nieren verkleinert, Kapsel stellenweise erschwert abziehbar, Oberfläche fein
granuliert, Rinde stellenweise etwas verschmälert. Arterien nicht sklerotisch, auf
der Schnittfläche jedoch klaffend. Mikroskopisch: Starke Vermehrung des Binde¬
gewebes der Rinde mit Neigung zu Schrumpfungen. Starke Rundzelleninfiltration
im Interstitium. Glomeruli zum Teil verödet und hyalin entartet. Das Epithel
der Harnkanälchen degenerativ verändert. Stellenweise cystische Räume mit homo¬
genen Inhalt. Die Arteriae interlobulares wiesen verdickte Wandungen auf und
waren stellenweise verschlossen. Die größeren Arterien waren sonst unverändert.
Die Bedeutsamkeit dieses Falles liegt in der frühzeitigen, im
34. Lebensjahr beginnenden, und raschen Entwicklung einer auffallend
schweren arteriosklerotischen Demenz bei einem bis dahin gesunden
und voll leistungsfähigen Mann. Die Frage des ätiologischen Zu¬
sammenhanges wird durch den ganzen Verlauf der Krankheit bejaht.
Es besteht zunächst die Tatsache, daß das Gehimtrauma ein schweres
war und, wie die 4 Tage nachher festgestellten linksseitigen Lähmungs¬
erscheinungen beweisen, mit Gehirnschädigungen, wahrscheinlich Blu¬
tungen, einhergegangen sein muß. Anschließend entwickelten sich als
erste Zeichen eines fortschreitenden Gefäßprozesses weitere neurologische
Symptome, zu welchen sich drei Monate nach dem Unfall die typischen
subjektiven Beschwerden hinzugesellten. Zwei Jahre später wurde eine
manifeste und klinisch nachweisbare Arteriosklerose festgestellt. Im
weiteren Verlauf zeigte dann die Arteriosklerose eine stetig zunehmende
Entwicklung, bis sie zu dem eigenartigen Zustandsbild führte, das der
Patient in den letzten Wochen bot.
Die klinische Vermutung jedoch, daß das Trauma als alleinige Ursache
der Gefäßerkrankung anzusprechen sei, wurde durch den Sektionsbefund
der Niere in Frage gestellt. Der vorwiegend chronisch-entzündliche Zu¬
stand der Niere und der Mangel an ausgesprochenen arteriosklerotischen
Veränderungen der Nierengefäße läßt die Möglichkeit zu, daß ein pri¬
märer alter Nierenprozeß vorlag, der vor dem Unfall schon bestanden
Über psychische Folgezustände nach Gehimtrauma.
195
hatte, der zur Nierenschrumpfung geführt und vielleicht eine klinisch
latente Arteriosklerose schon vorher bedingt hatte, wobei die schwere
körperliche Arbeit im Maurerberuf als begünstigendes Moment berück¬
sichtigt werden muß. Dagegen spricht allerdings, daß F. bis zu seiner
Verschüttung beruflich und militärisch vollkommen leistungsfähig und
bis dahin auch körperlich gesund war, und daß auch bei den zahlreichen
Lazarettaufenthalten in den nächsten beiden Jahren nach der Ver¬
schüttung keine Zeichen einer Nierenerkrankung festgestellt worden
waren. Selbst wenn also bei der Entstehung dieser Hirnarteriosklerose
außer dem schweren Gehimtrauma die chronische Nierenerkrankung
eine Rolle gespielt haben sollte, so kann sie doch höchstens die erste
Grundlage gewesen sein, auf deren Boden durch die traumatische Gehim-
schädigung der vielleicht zunächst als ,,Präsklerose“ vorhandene Gefä߬
prozeß zum weiteren Fortschreiten, zur wirklichen Arteriosklerose und
zur diffusen Ausbreitung angeregt wurde.
Wenn die Nierenentzündung schon vor der Zeit der Verschüttung
bestanden hat, so hat sie jedenfalls klinisch in den 8 Jahren nach der
Verschüttung keine erhebliche Rolle gespielt, weder körperlich noch
psychisch. Die anatomische Grundlage des klinischen Krankheitsbildes
war ausschließlich die diffuse Arteriosklerose der Hiraarterien.
Deshalb ist man wohl berechtigt, in diesem Falle als wichtigsten
Krankheitsprozeß die traumatische Demenz und die sie begleitenden
Herdsymptome anzusprechen, als deren anatomische Grundlage eine
diffuse Himarteriosklerose gefunden wurde in einem Lebensalter, in
welchem dieser Befund sonst ungewöhnlich ist. Die meisten in der Lite¬
ratur veröffentlichten Fälle weisen ein beträchtlich höheres Alter auf
(Kronthaly Friedmann , Dinkler , Koppen usw.) Apelt beschreibt sieben
Fälle, die das 30. Lebensjahr noch nicht erreicht haben.
Bemerkenswert ist die Eigenart des klinischen Krankheitsbildes; die
Art der Sprachstörung, die allgemeine Starrheit, die dyskinetischen Er¬
scheinungen legten schon klinisch die Vermutung nahe, daß die Stamm¬
ganglien besonders stark in Mitleidenschaft gezogen sein mußten, wäh¬
rend die hochgradige Assynergie und die Adiadochokinese auch auf das
Kleinhirn hinwiesen. Diese Vermutung wurde durch den Sektions¬
befund bestätigt.
Dagegen ist auffallend, daß die hemiparetischen Symptome im Ver¬
lauf der Krankheit nur wenig Zunahmen, d. h. daß trotz des schweren
arteriosklerotischen Befundes die Erscheinungen von seiten der Pyra¬
midenbahnen im wesentlichen fast die gleichen blieben wie zu Beginn des
Prozesses. Es wäre zu erwarten gewesen, daß die entsprechenden Gefä߬
äste hier, wo die traumatische Einwirkung ursprünglich die deutlichsten
und offenbar stärksten mechanischen Schädigungen gesetzt hatten, für
die Entwicklung der Arteriosklerose am meisten prädisponiert gewesen
13*
196
E. Trautmann:
wären. Dies bestätigte sich jedoch nicht. Niemals war eine Apoplexie
eingetreten. Die zuletzt einsetzenden Krämpfe sind wohl als Zirku¬
lationsstörungen aufzufassen, da ihnen kein nachweisbarer pathologisch¬
anatomischer Befund zu Grunde lag. In Hinsicht hierauf und mit Be¬
rücksichtigung der Tatsache, daß die Verkalkung nicht nur die Gehirn¬
gefäße betraf, sondern sich auch auf das übrige Gefäßsystem erstreckt,
muß man annehmen, daß in diesem Fall der lokalen Gefäßschädigung
keine Bedeutung für die Entwicklung der Arterioskerose beizumessen
ist. Da aber andererseits kein Zweifel besteht, daß durch das Hirntrauma
die rasche Progredienz der Arteriosklerose ausgelöst wurde, so muß man
vermuten, daß der Gefäßprozeß abhängig war von der Schädigung irgend
einer Zentralstelle, von welcher das Wohlergehen des Gesamtgefä߬
systems abhängig ist. Stämmler hat bekanntlich der Degeneration der
sympathischen Halsganglien eine bedeutsame Rolle in der Entstehung
der Arteriosklerose zugeschrieben. E. Fränkel negiert die Möglichkeit
des ätiolog. Zusammenhangs der Arteriosklerose mit einem erlittenen
Trauma. Er hält auch die Entstehung einer Himarteriosklerose nach
Kopftrauma für unerwiesen und stellt sogar die Möglichkeit einer Ver¬
schlimmerung durch Trauma in Zweifel. (Dtsch. med. Wochenschr. 1919,
Nr. 46).
Darum scheint uns dieser Fall besonders beachtenswert, weil er be¬
stätigt daß durch traumatische Himschädigung allerdings bei vorher be¬
stehender Prädisposition eine Arteriosklerose tatsächlich zur Entwick¬
lung gebracht werden kann selbst in einem so jugendlichen Alter, in
welchem diese Erkrankung im allgemeinen nicht erwartet wird. Andrer¬
seits aber bestätigt dieser Fall wie diejenigen von Friedmann, Komthal ,
Köppen, Winkler usw., daß man als pathologische-anatomische Grund¬
lage der echten traumatischen Demenz eine Arteriosklerose der Hirn-
gefäße voraussetzen muß (vgl. Fall 4), oder besser gesagt, einen Him-
gefäßprozeß, welcher seine patholog.-anatomischen Verhaltens wegen
unter dem Sammelbegriff der Arteriosklerose zu rechnen ist. Insofern
wäre die Demenz erst als sekundäre Folge der Trauma aufzufassen und
man würde besser sprechen von einer posttraumatischen Arteriosklerose.
Daß allerdings zum Zustandekommen eines solchen Gefäßprozesses
eine Prädisposition erforderlich ist, scheint folgender Fall zu beweisen,
welcher zeigt, von welch schweren traumatischen Schädigungen sich
ein Gehirn in kurzer Zeit erholen kann ohne Folgen zu hinterlassen.
Fall 8. Der 20jähr. Landwirt G. St. war nach einem Sturz von einem Heu¬
wender am 23. VI. 1922 14 Tage lang bewußtlos. Die schwere Gehirnerschütterung
zeigte sich in einer Lähmung des rechten N. Facialis und der rechtsseitigen Extre¬
mitäten, linksseitiger Ptosis und PupÜlenstarre, homonymer Hemianopsie und
motorischer Aphasie.
Nach 2 Monaten war in diesen zahlreichen und schweren Herderscheinungen
schon eine weitgehende Besserung eingetreten. Im August 1923 bestand nur noch
Über psychische Folgezustände nach Gehirntrauma.
197
eine geringe Schwäche des rechten Facialis und des rechten Armes; am rechten
Bein Waren außer einem leichten Fußklonus keine neurologischen Krankheits¬
symptome mehr nachzuweisen. Die Sprache war etwas langsam, aber ohne apha-
sische Störungen. Gesichtsfeld und Pupillen waren wieder in Ordnung.
In diesem Falle hatte also die schwere Himerschütterung keinerlei
psychische Schädigung zur Folge gehabt, und auch die neurologischen
Defekte zeigten einen überraschenden Heilungsverlauf.
Eine kritische Betrachtung der angeführten Fälle ergibt zunächst,
daß die Voraussetzungen, die nach Reichardt für den Nachweis der
traumatischen Bedingtheit einer Geistesstörung erfüllt sein müssen, in
allen Fällen unzweideutig gegeben sind. Sämtliche Patienten erlitten
eine derartige schwere Gehimschädigung, daß die neurologischen
Symptome noch lange nach dem Unfall bestehen blieben. Die Ver¬
letzungen waren also schwer genug, um eine Geisteskrankheit hervor-
rufen zu können.
Der Zusammenhang zwischen den jeweiligen Folgezuständen und
dem Trauma konnte ebenfalls in den einzelnen Fällen nachgewiesen
werden. In den drei ersten Fällen war das insofern einfach, als die Psy¬
chose jedes Mal in unmittelbarem Anschluß an den Unfall auftrat bei
einem vorher völlig gesunden Patienten. Im Falle 5 war zwischen der
Hufschlagverletzung und dem Auftreten der Epilepsie durch die dauern¬
den Beschwerden und die zeitweilige Arbeitsunfähigkeit eine kontinuier¬
liche Brücke gegeben. Auch in dem Krankheitsverlauf des Schwachsin¬
nigen (6) waren die Übergangs- und Brückensymptome zwischen dem
akuten Studium am Anfang und der späteren schweren Demenz klinisch
dauernd nachweisbar. Im vorletzten Falle (7) konnte man die all¬
mähliche Entwicklung der arteriosklerotischen Demenz ununterbrochen
verfolgen. Sie begahn klinisch mit einem nervösen Vorstadium, in
dessen Verlauf der Patient zunächst noch 1 / 2 Jahr nach der Verschüttung
wenigstens als g. v. betrachtet werden konnte. In etappenweiser Ver¬
schlimmerung führte die Krankheit im Verlauf von 8 Jahren zum Tod.
In diesem Falle konnte das Trauma allerdings nicht als die alleinige Ur¬
sache des Krankheitsprozesses betrachtet werden.
Die Zusammenstellung der 8 Fälle demonstriert vor allem die Man¬
nigfaltigkeit der klinischen Gesamtbilder, welche als Folgeerscheinungen
traumatischer Hirnveränderungen auftreten können. Isolierte neuro¬
logische Herdsymptome können wie im Falle 8 ohne irgendwelche psy¬
chischen Veränderungen als einzige Folge bestehen und sich sehr bald
wieder völlig zurückbilden, oder es kann anfänglich zu schweren psy¬
chotischen und Intelligenzstörungen kommen, die einige Wochen nach
dem Unfall für immer wieder verschwinden (2—4). In anderen Fällen
entwickelte sich trotz unbedeutender Anfangserscheinungen langsam
aber stetig eine schwere Demenz (6, 7), oder Epilepsie (5). E3 ist auch
198
E. Trautmann:
möglich, daß sich indirekt auf Grundlage geringfügiger Dauerbeschwerden
eine Neurose entwickelt (6).
Aber trotz der Buntheit der Gesamtbilder lassen sich einzelne Sym¬
ptomgruppen herausschälen, welche man für traumatische Himkrank-
heiten zwar nicht als spezifisch, aber doch als charakteristisch betrachten
kann. An Hand dieser Symptomkomplexe ist es auch möglich, bei man¬
chen Fällen eine gewisse Stadieneinteilung des Verlaufs vorzunehmen.
So schloß sich an das Stadium der Bewußtlosigkeit in den ersten drei
Fällen mehr oder weniger unmittelbar ein kürzer oder länger dauernder
Zustand psychotischer Art an: Psychomotorische Erregtheit, Manieriert¬
heit, Inkohärenz der Gedankengänge, Äußerung von Größenideen,
stumpfe Heiterkeit usw. Beim Abklingen dieses Zustandes trat gewöhn¬
lich ein Symptombild reiner Intelligenzdefekte hervor, welches an den
Korsakow’schen Symptomkomplex erinnert (3, 4, 6, 7). Hierbei stand
die Störung der Gedächtnisfunktionen und des Gedankenablaufes im
Vordergrund ( Kalberlah ). Im Falle 3 und 6 ist dieses Bild infolge be¬
stimmter Herddefekte noch mit paraphasischen und perseveratorischen
Einschlägen vermengt. Sehr oft zeigten die Patienten in diesem Stadium
schon eine abnorme Reizbarkeit und Überempfindlichkeit (4 und 6). Bei
klarer werdendem Verstand aber treten wie bei 4, 5 und 6 die subjek¬
tiven Beschwerden und affektiven Veränderungen immer mehr in den
Vordergrund (nervös. Stadium) vielleicht als Ausdruck zurückbleibender
vasomotorischer Störungen: Kopfschmerzen und Schwindelgefühl, ab¬
norme Sensationen usw. Bei gegebenen Voraussetzungen entwickelt
sich aus diesem nervösen Stadium noch nach Monaten eine schwere
posttraumatische Demenz (6, 7), sei es auf Grund einer Arteriosklerose,
sei es in Form einer Epilepsie (5). Falls ein derartiger trauriger Aus¬
gang nicht eintritt, gehen auch die subjektiven Beschwerden gewöhnlich
in Heilung oder Besserung über. Bleiben sie jedoch bestehen, dann
können sie unter Umständen entsprechend der psychischen Konstitution
der Kranken den Stoff zu einer schweren Neurose liefern, welche man
dann als indirekte Unfallfolge auffassen muß (4). Hier scheint es so
zu sein, daß, so lange rein organisch bedingte Krankheitserscheinungen
(Psychose, Intelligenzstörungen) das Wesen der Persönlichkeit im Kerne
verändert halten und beherrschen, jene neurotischen Krankheitssym¬
ptome nicht zur Entwicklung kommen können, weil zu ihrer Ent¬
stehung ein Persönlichkeitsfaktor erforderlich ist. Erst beim Abklingen
der schweren geistigen Veränderungen können sich diese pathologischen
Reaktionen als neurotisches Krankheitsbild nach Maßgabe des Frei¬
werdens der Persönlichkeit aus dem Auf einanderwirken der orga¬
nischen Residuen und der wiedererwachenden psychischen Indivi¬
dualität entwickeln. Daher tritt auch bei schweren dauernden Him-
schädigungen fast niemals eine sogenannte traumatische Neurose auf
Über psychische Folgezustände nach Gehirntrauma.
199
(Reichardt). In dem nervösen Stadium des AbheilungsVorganges liegt daher
auch der kritische Augenblick, wo die Psyche die führende Rolle über den
weiteren Verlauf der Entwicklung übernimmt, und alles hängt davon ab,
wie sie die subjektiven Beschwerden verarbeitet; denn wenn auch die or¬
ganischen Defekte so weit abgeheilt sind, daß sie an und für sich klinisch-
symptomatologisch kaum noch oder gar keine Wirksamkeit mehr entfalten,
so kann durch psychogene Zuschüsse die untere Grenze des Wirksamkeits¬
bereiches überschritten werden, so daß aus dieser doppelten Quelle ein
neuer klinischer Symptomkomplex entspringt, bzw. dauernd genährt
wird. In der Psyche und ihrer günstigen bzw. ungünstigen Beeinflussung
liegt deshalb im ,,nervösen“ Stadium solcher Fälle die Entscheidung,
ob die traumatischen Folgen klinisch zur Ausheilung kommen, oder ob die
an und für sich nicht mehr störenden Residuen zu Kristallisationszentren
werden für eine unter Umständen schwere und dauernde posttrauma¬
tische Neurose. Welche Bedeutung der Rentengesetzgebung in solchen
Fällen zukommt, ist jedem erfahrenen Gutachter zur Genüge bekannt.
In der Reihenfolge ihres Auftretens lassen sich also folgende psychische
Symtomkomplexe als Einheiten zusammenfassen: 1. Bewußtlosigkeit,
2. psychotisches Bild, 3. Intelligenzstörungen (Korsakow), 4. nervöse
Beschwerden (vasomotorische Störungen), 5. Verblödung (Arterioskle¬
rose, Epilepsie) oder Unfallneurose (Rentenneurose). Neben diesen
Symtomen verlaufen unabhängig die lokalisierbaren Herdsymptome
wie neurologische Ausfallserscheinungen oder aphasische Störungen.
Die angeführten Symptomkomplexe treten jedoch nicht in jedem
Falle in geschlossener Reihenfolge auf, sondern es können sowohl einzelne
Stadien übersprungen werden, als auch kann die traumatische Krank¬
heit z. B. ausschließlich in dem dritten und vierten Bild sich zeigen. Auch
können sich die nervösen Beschwerden ohne schweren Zwischenerschei¬
nungen unmittelbar an die Bewußtlosigkeit anschließen (5, 7). Niemals
aber lösen sich die Bilder in entgegengesetzter Reihenfolge ab.
Erwähnenswert ist noch, daß die Fälle, welche gleich mit den schwe¬
ren psychotischen Erscheinungen begannen, harmlos verliefen (2, 3, 4),
während die Fälle, welche mit harmlosen Symptombildem ihren Anfang
nahmen, einen bösartigen Ausgang fanden (5, 6, 7).
Ob in den einzelnen Fällen die Art des Krankheitsverlaufes abhängig
ist von der Lokalisation etwaiger Zerstörungsherde oder ob sie der Aus¬
druck einer individuellen Reaktionsweise des Gehirns ist, läßt sich nicht
entscheiden. Auch scheint die Schwere der Verletzungen keinen Einfluß
hierauf zu haben, wie Fall 8 beweist. Dagegen läßt die Tatsache, daß in
zwei bekannt gewordenen Fällen durch Hufschlag eigentümliche epi¬
leptische Krankheitsbilder ganz gleicher Art ausgelöst wurden (5), daran
denken, daß die Mechanik des traumatischen Insults einen maßgebenden
Einfluß hat auf die Art der psychischen Folgezustände.
(Aus der Universitäts-Klinik für Psychiatrie und Nervenkrankheiten in Wien.)
Zur Frage der Umwandlung des klinischen Bildes der Paralyse
in eine halluzinatorisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge
der Malariaimpfbehandlung.
Von
Privatdozent Dr. Joset Gerstmann,
Assistent der Klinik.
(Eingegangen am 17. Juni 1924.)
Es ist heute auf Grund der zahlreichen günstigen Erfahrungen, die
mit der Wagner-Jauregg’schen Malariabehandlung der progressiven
Paralyse in Wien wie auch in verschiedenen anderen Orten und Ländern
gemacht wurden, die Frage wohl als entschieden zu betrachten, daß von
allen bisher bei der Paralyse bekannt gewordenen und zur Anwendung
gelangten Behandlungsmethoden die Malariatherapie als die erfolgreichste
und somit gegenwärtig als die souveräne angesehen werden kann. Denn
es konnten mit diesem therapeutischen Verfahren Remissionen in einer
Zahl und von einer Vollkommenheit und Dauer erzielt werden, wie sie
bis heute keine andere Methode bei dieser Krankheit gezeitigt hat.
Wenn wir auch nach wie vor bestrebt sein müssen, in erster Linie
die praktisch- technische Seite deser Behandlungsmethode auszubauen
und zu vervollkommnen, und hauptsächlich in der Richtung hinzu¬
arbeiten, möglichst ausgiebige und dauerhafte Remissionen zu sichern, so
stellte uns die Malariatherapie der Paralyse im Laufe der Erfahrungen
auch vor eine Reihe recht wichtiger klinisch-psychiatrischer Tatsachen
und Probleme, die nicht unbeachtet bleiben dürfen und die hier teil¬
weise zur Erörterung kommen sollen.
Ich habe bereits in der Ende 1921 abgeschlossenen zweiten Mitteilung
meiner Abhandlung ,,über die Einwirkung der Malaria tertiana auf die
progressive Paralyse“ 1 ) obiges Thema zum erstenmal mit einigen Be¬
merkungen angeschnitten. Es hat sich seither an einer Reihe von wei¬
teren Fällen bestätigt, daß im Gefolge der Malariaimpfbehandlung (im
direkten oder indirekten zeitlichen Zusammenhang mit der inokulierten
Infektionskrankheit) in der Gestaltung des paralytischen Krankheits¬
bildes eine eigenartige reaktive Veränderung sich abspielt, die darin
besteht, daß entweder im Rahmen des gewöhnlichen klinischen Bildes
simultan eine andere atypische Psychose sich einstellt, oder das typische
Zustandsbild sich sukzessiv in ein anders geartetes atypisches um wandelt.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 74. 1922 und 81. 1923.
J. Gerstmann: Zur Frage d. Umwandlung d. klin. Bildes d. Paralyse usw. 201
In Anbetracht der relativen Häufigkeit einschlägiger Beobachtungen in
unserem Material 1 ) und der Geringfügigkeit hierher gehöriger Mitteilungen
von anderer Seite, erscheint es geboten, darauf einmal näher einzugehen.
Es kommen bei diesen reaktiven Abänderungen verschiedene kli¬
nische Erscheinungsformen zur Beobachtung: delirante, amentielle,
halluzinoseartige, paranoide, katatone und dgl. Zustandsbilder.
Die deliranten Reaktionen machen sich gewöhnlich während der
ersten Fieberattaken geltend; in den folgenden Fieberanfällen sind sie
seltener; in den späteren bzw. letzten Fiebertagen bleiben sie meist ganz
aus oder interferieren wahllos mit einzelnen Fieberanfällen. Schilder 2 ) hat
unlängst ausgeführt, daß das Eigenartige dieser deliranten Zustände in
dem Fehlen phantastischer Elemente beruht, was ich auf Grund meiner
Erfahrungen bestätigen kann. Sie unterscheiden sich dadurch von den
echten Fieberdelirien, die bekanntlich durch ein phantastisches Gepräge
sich auszeichnen. Anderseits ähneln sie — worin ich mit Schilder über¬
einstimme — demjenigen Typus der Delirien, wie man ihn bei ge¬
wissen organischen Himerkrankungen zu sehen pflegt.
Die amentiaartigen Reaktionen treten zumeist in den späteren Fieber¬
anfällen oder auch gegen Ende der Fieberperiode auf. Sie zeigen ein mehr
oder minder ausgesprochenes phantastisches Gepräge sowie gelegentlich
auch deutliche Zeichen von Verwirrtheit — wenn auch nicht tiefgreifen¬
der Art — und entsprechen in ihren Zustandsbildem den bekannten
Bildern der Fieber- und Deferveszenzdelirien sowie denen der infektiösen
oder postinfektiösen Amentia.
Die deliranten und amentiellen Reaktionen sind hier wohl eine Re¬
sultante zweier Komponenten: einerseits der infektiös-toxischen Ein¬
flüsse, anderseits der besonderen Artung des paralytischen Gehirns. Daß
der letzteren Komponente bei der Entstehung dieser Reaktionen ein
maßgebender Anteil zukommt, ergibt sich besonders aus dem Um¬
stande, daß wir bei den mit Malaria geimpften Fällen von multipler
Sklerose und postencephalitischem Parkinsonismus sowie in den Fällen
von Dementia praecox, in denen wir die Behandlung versuchsweise
machten, derartige Reaktionen nie zu sehen bekamen.
Im Vordergründe des Interesses steht in der vorliegenden Abhandlung
die reaktive Umwandlung des gewöhnlichen klinischen Bildes in ein
Zustandsbild, in dem — bei fehlender Bewußtseinstrübung — Trugwahr¬
nehmungen, paranoide Wahnideen, katatonie- und schizo-phrenieähn-
liche Erscheinungen die Hauptrolle spielen. Die Sinnestäuschungen sind
*) Nachtrag zur Korrektur: In einer kürzlich erschienenen Abhandlung
„Über die Infektionsbehandlung der Metasyphilis“ (Jahreskurse f. ärztl. Fortb.,
Maiheft 1924) führt Steiner an, dieselben Beobachtungen auch bei der Recurrens-
behandlung der Paralyse gemacht zu haben.
a ) Demonstration im Verein für Psychiatrie in Wien. Wien. klin. Wochenschr.
1920, Nr. 20.
202 J- Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzina-
hier meist von einer solchen Reichlichkeit und einer derartigen sinn¬
lichen Lebhaftigkeit, daß sie ganz die Bildfläche beherrschen und der¬
selben das Gepräge einer HaUuzinose verleihen.
Diese Umwandlung des rein paralytischen Bildes in eine halluzinato¬
risch-paranoide Erscheinungsform pflegt in der Regel erst während der
letzten Fiebertage oder (innerhalb eines in seiner Ausdehnung wechseln¬
den, manchmal selbst über mehrere Wochen oder Monate sich er¬
streckenden Zeitintervalls) nach Abschluß der Fieberperiode zu er¬
folgen. Gewisse Andeutungen oder Vorboten lassen sich aber nicht selten
schon nach den ersten Fieberanfällen erkennen. Manchmal sieht man
ein amentielles Bild in ein rein halluzinatorisch-paranoides hinüber¬
leiten. Oft geht letzteres aus einem während der zweiten Hälfte oder
gegen Ende der Fieberzeit akut einsetzenden und rasch abklingenden, mit
ängstlicher Unruhe und mehr oder minder getrübtem Bewußtsein ein¬
hergehenden halluzinatorischen Erregungszustände hervor. Wir haben
auch die interessante Beobachtung gemacht, daß in manchen der malaria¬
geimpften Fälle halluzinatorisch - paranoide Phänomene in unmittel¬
barem Anschluß an eine in der Nachbehandlungsperiode jeweils verab¬
reichte Neosalvarsan-Injektion eintreten können. Allerdings waren dies
zumeist Fälle, in denen schon vorher bzw. zu Ende der Fieberperiode
vorübergehend halluzinatorisch-paranoide Abänderungen bestanden
haben. In solchen — anscheinend salvareanempfindlichen — Fällen
wurden dann derartige Erscheinungen offenbar neuerlich ausgelöst.
Die Verschiebung des klinischen Bildes in der Richtung einer hallu¬
zinatorischen (halluzinoseartigen), paranoiden oder katatonen Erschei¬
nungsform geht oft soweit, daß die Paralyse im Zustandsbilde schwer
oder kaum mehr erkennbar ist. Es kommen so Bilder zustande, die mit
den Halluzinosen bei der Schizophrenie, bei chronischen Vergiftungen
(Alkohol, Cocain usw.) weitgehende Analogien zeigen und in mehrfacher
Hinsicht auch an die Plaut sehen Halluzinosen der Luetiker erinnern.
Unter den Trugwahmehmungen treten die Gehörshalluzinationen
regelmäßig am stärksten hervor. Sie knüpfen teils an äußere Reize an,
teils erscheinen sie völlig unabhängig von Sinnesreizen. Sie manifestieren
sich in elementarer (Sausen, Rauschen, Glockenläuten), wie in komplexer
Form (worthafte Phoneme, Stimmenhören). Die Stimmen werden sowohl
als direkte Anrede als auch nach Art eines unfreiwilligen Zuhörens von
zufällig oder absichtlich geführten Gesprächen wahrgenommen. Sie
werden bald auf anwesende oder in der Nähe weilende Personen bezogen,
bald werden sie wie aus weiter Feme halluziniert und abwesenden Ver¬
wandten oder Bekannten zugeschrieben. Radiotelegraph, Lufttelephon,
„Cyklofon“ und dgl. Ausdrücke kehren im Sinne von Stimmenvermitt-
lem in den Mitteilungen der Patienten in auffälliger Häufigkeit wieder.
Manchmal wird die Herkunft der Stimmen in phantastischer, übersinn-
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 203
licher Weise gedeutet. Gewöhnlich sind es deutliche und laute Stimmen,
die gehört werden, hin und wieder wird auch im Flüsterton gesprochen.
Die Stimmen werden stets als von außen kommend wahrgenommen, nicht
selten sind sie auch mit ausgeprägten akustischen Pseudohalluzinationen
in Form des Gedankenlautwerdens vergesellschaftet. Der Inhalt der
Stimmen ist wechselnd. Zumeist zeigt er ausgesprochene Beziehungen
zur Person des Halluzinierenden; es werden entweder erhebende (etwa
den früheren Größenideen entsprechende) Äußerungen gehört, oder es
werden Vorwürfe gemacht, Warnungen ausgesprochen, Ratschläge oder
Befehle erteilt, Hohn- und Spottreden geführt, Schimpfworte und Droh¬
äußerungen ausgestoßen; die Vorwürfe und Beschimpfungen sind oft
recht obszöner Art; sie beziehen sich häufig auf den vorausgegangenen
Anstaltsaufenthalt sowie auf die seinerzeitige syphilitische Infektion
und gegenwärtige paralytische Erkrankung des Patienten; in den Be¬
drohungen spielt in verschiedener Variation das Vernichtet- und Zer¬
stückeltwerden oftmals eine dominierende Rolle. Zuweilen werden be¬
stimmte Spott-, Schimpf- oder Drohworte in einförmiger stereotyper
Weise wiederholt. Die Stimmen zeigen auch in manchen Fällen aus¬
gesprochen imperativen Charakter. Nicht selten sind aber die Stimmen
durchaus indifferenten Inhaltes und lassen keinerlei persönliche Be¬
ziehung erkennen.
Die Gehörstäuschungen sind recht häufig von körperlichen Hallu¬
zinationen begleitet. Ihr Inhalt ist mitunter ein ziemlich mannigfal¬
tiger. Meistens wird das Gefühl des Elektrisiertwerdens geäußert.
Nicht selten tauchen auch illusionäre optische Wahrnehmungen sowie
ausgeprägte Gesichtshalluzinationen elementarer und komplexer Art,
manchmal auch solche des Gleichgewichtssinnes und sonstiger Sinnes¬
sphären auf. Doch spielen diese Sinnestäuschungen gegenüber den
Gehörshalluzinationen im Zustandsbilde gewöhnlich nur eine unterge¬
ordnete Rolle. Außerdem mußte in manchen Fällen einiges, was an¬
fänglich als optische Halluzination sich präsentierte, bei näherer Betrach¬
tung doch anders — etwa als lebhafte optische Vorstellung oder als Er¬
innerungstäuschung und dgl. — auf gef aßt werden.
Oftmals stehen die Halluzinationen die ganze Zeit ihres Vorhanden¬
seins hindurch, bei andauernd ungetrübter Besonnenheit, isoliert da,
ohne wahnhaft verarbeitet zu werden.
Sehr häufig aber sind sie mit Beachtungs-, Beeinflussungs-, Beein-
trächtigungs- oder Verfolgungsideen sowie mit physikalischer Wahn¬
bildung verschiedener Ausprägung verbunden, so daß ausgesprochene
paranoide Bilder entstehen. Auch Vergiftungsideen kommen vor. Es
scheinen hier jedoch die Wahnbildungen, die meist dürftigen Inhaltes
sind, manchmal aber recht abenteuerlichen und phantastischen Charakter
annehmen können, im allgemeinen eine relativ geringe Selbständigkeit
204 J. Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzin
zu haben. Sie zeigen engere inhaltliche Beziehungen zu den Gehörs¬
halluzinationen, und es hat meistens den Anschein, als wenn erst die
halluzinatorischen Erlebnisse den Anstoß zu ihrer Entwicklung ab¬
gäben. Eine systematisierende Verarbeitung der Wahnvorstellungen
wird entweder völlig vermißt oder zeigt sich nur in sehr geringem Maße.
Doch läßt sich hin und wieder einmal ein mehr oder minder aus¬
gesprochenes Wahnsystem feststellen.
Bemerkenswert ist die Haltung der Patienten ihren halluzinato¬
rischen und wahnhaften Vorstellungen gegenüber. Es bestehen da aus¬
gesprochene Schwankungen. In der ersten Zeit der Umwandlung in das
halluzinatorisch-paranoide Zustandsbild sind diese psychotischen Er¬
scheinungen regelmäßig mit dem Bewußtsein der Wirklichkeit, mit posi¬
tivem Realitätsurteil verbunden. Späterhin regen sich — mit zunehmen¬
der Aufhellung des paralytischen Krankheitsbildes — wiederholt Zweifel
an ihrer Realität. Die Kranken kommen sich nicht darüber ins Klare,
ob die halluzinatorischen Erlebnisse wirkliche oder eingebildete sind.
Sie kommen oft in bezug auf die einen zu einer ziemlich richtigen Ein¬
sicht und Korrektur, während sie den anderen gegenüber kritiklos bleiben.
Schließlich macht sich — besonders in dem Maße, als eine gute Remission
in Entwicklung begriffen ist — ein Gefühl des Aufgezwungenen, des
Fremdartigen der psychotischen Gebilde in immer ausgesprochenerer
Weise geltend, die Kranken identifizieren sich dann nicht mehr mit
denselben, betrachten sie als krankhaft, rücken sie von sich ab, zeigen
ein zuschauerhaftes Verhalten.
Die Stimmungslage ist während dieses halluzinatorisch-paranoiden
Zustandes labil, beeinflußbar, wechselnd. Zeiten stärkeren Halluzinierens
gehen oft mit Angstaffekt und entsprechender psychomotorischer Er¬
regung einher, aber der Angstaffekt ist nie ein anhaltender und wirklich
lebhafter, sondern mehr oberflächlicher, übertriebener, anfallsweise ein¬
setzender Art. Zeitweise sind die Kranken gereizt, mürrisch, zornig,
aufbrausend, nörgelnd, ablehnend, schimpfen und drohen. Manchmal
erscheinen sie indolent, gleichgültig und teilnahmslos gegen die Vorgänge
der Umgebung, affektstumpf. Meist besteht indifferente Affektlage.
Im allgemeinen bewahren die Kranken eine entsprechende äußere
Haltung und sind zugänglich.
In einer Gruppe von Fähen aber entwickelt sich ein eigenartiges, ab¬
sonderliches Benehmen mit Stereotypien, einförmiger Wiederholung
derselben Reden, schrullenhafter, manirierter Verschrobenheit, Ver¬
schlossenheit und Unzugänglichkeit, negativischem, stuporartigem Zu¬
stande, plötzlich impulsiven Erregungen. Es enthält dadurch das para¬
noid-halluzinatorische Zustandsbild eine katatone Färbung oder es
kommt ein mehr oder minder ausgeprägtes Bild einer paranoiden Schizo¬
phrenie zustande. Eine nähere phänomenologische Untersuchung er-
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 205
gibt jedoch regelmäßig grundsätzliche Unterschiede im psychotischen
Erleben dieser Fälle gegenüber ähnlichen Fällen von echter Schizo¬
phrenie. Insbesondere ist die Stellungnahme zu den halluzinatorisch¬
wahnhaften Erlebnissen eine wesentlich andersartige.
Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, daß in den einschlägigen
Fällen unserer Beobachtung an einen vorgebildeten Mechanismus für
die Entwicklung dieser halluzinatorisch-paranoiden Umwandlungs¬
produkte etwa im Sinne einer prädisponierenden alkoholischen Grund¬
lage oder einer angeborenen entsprechenden Veranlagung nicht gedacht
werden konnte. Es waren im Vorleben der hier in Betracht kommenden
Fälle tatsächlich keine alkoholischen, dispositionellen und hereditären
Antezedentien festzustellen, die geeignet wären, einen derartigen Ge¬
danken auf kommen zu lassen.
Ich habe eingangs bei der Besprechung der im Verlaufe des Mala-
riafiebera sich einstellenden deliranten und amentiellen Reaktionen an¬
geführt, daß wir diese eben nur bei den Paralysen, nicht aber bei den
andern zu Behandlungszwecken mit Malaria geimpften Krankheitsfällen
wie bei der Schizophrenie, der multiplen Sklerose, dem postencephali-
tischen Parkinsonismus zu sehen bekamen. Das Gleiche gilt auch
von den halluzinatorisch-paranoiden Umwandlungsprodukten. Auch
diese gelangten ausschließlich bei der progressiven Paralyse im Gefolge
der Malariaimpfbehandlung und gelegentlich auch anderer Behandlungs¬
arten (Typhusvaccine, Alttuberkulin, Natrium nucleinicum) zur Be¬
obachtung. Dieses Verhalten ist sehr bemerkenswert. Es weist darauf
hin, daß die Malariainfektion erat durch ihre Einwirkung auf das para¬
lytisch abgeänderte Gehirn diesen — wahrscheinlich durch den Krank¬
heitsprozeß irgendwie vorbereiteten — Mechanismus in Erscheinung
bringt. Die Sonderart des Gehimvorganges erweist sich hier als das
maßgebende Agens.
Während die deliranten und amentiaartigen Abänderungen gewöhnlich
nur ein akzidentelles, episodisches Ereignis während der Fieberperiode
darstellen, ist die Dauer der halluzinatorischen, paranoiden, Schizo¬
phrenie- oder katatonieähnlichen Umwandlungsprodukte eine unregel¬
mässige und wechselnde, wobei eine gewisse Abhängigkeit von der Form
und dem Stadium des zur Zeit des Eintretens in die Malariabehandlung
gerade vorliegenden paralytischen Krankheitsprozesses nicht zu ver¬
kennen ist. In manchen — vornehmlich inzipienteren — Fällen sind sie
transitorischen Charaktere und bloß auf wenige Tage begrenzt. In
anderen Fällen lösen sie sich erst im Laufe der folgenden Wochen und
Monate — bei gleichzeitiger allmählicher Entwicklung einer guten Re¬
mission — vollkommen auf. In weiteren Fällen schließlich — es sind
dies namentlich vorgeschrittenere Grade, bei denen nur ein Stationär-
bleiben auf einer mehr minder unvollständigen Remissionsstufe oder
206 J« Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine hallimna-
auf der Stufe des bereits vor dem Eintreten in die Behandlung bestande¬
nen psychischen Funktionszustandes zu erzielen ist — gehen sie überhaupt
nicht mehr ganz zurück, sondern persistieren in chronischer Weise, meist
in Form von weniger intensiven, aber doch öfters recht hartnäckigen,
isolierten, elementaren oder komplexen Gehörshalluzinationen, seltener
in Form einer Verbindung der akustischen Trugwahmehmungen mit
paranoider Wahnbildung. Es können dabei die Demenz sowie die son¬
stigen paralytischen Symptome unter Umständen selbst soweit gebessert
sein, daß die Kranken eine auffällige Leistungsfähigkeit wieder erlangen
und sogar ihrem früheren Berufe — wenn auch nur in unvollkommenem
Ausmaße — wieder nachgehen können; es hinterbleiben aber in derartigen
Fällen nunmehr als hauptsächliche residuäre Störung akustische Hallu¬
zinationen teils elementaren Charakters, teils beschimpfenden und be¬
drohenden oder völlig indifferenten Inhaltes, manchmal auch mit Pseudo-
und Gefühlshalluzinationen kombiniert, wobei für die Irrealität dieser
Wahrnehmungen oft volle Einsicht und zutreffendes Urteü besteht.
Es ist in psychologischer Hinsicht sehr beachtenswert, daß diese
halluzinatorischen und paranoischen Gebilde in der ersten Zeit ihres Be¬
stehens oft einen deutlich determinierenden Einfluß der psychischen In¬
halte und Erlebnisse, die vorher im klinischen Zustandsbilde vorherr¬
schend waren, auf die Art ihrer Inhalte aufweisen. Das paralytische
Grundmotiv ist hier in verschiedener Färbung und Schattierung wieder¬
holt erkennbar. Insbesondere lassen sich Beziehungen zwischen voraus¬
gehenden Größenwahnvorstellungen und dem Erlebnisinhalt der späteren
halluzinatorisch-paranoiden Bilder mehrfach feststellen. Äußerungen der
Kranken wie z. B. sie wären verfolgt, man drohe sie umzubringen, man
werde sie zerstückeln, weil man sich ihrer ungeheueren Reichtümer be¬
mächtigen wolle, ferner Einbrecher seien überall, die Wohnung sei aus¬
geplündert, das ganze Gold und die Juwelen seien geraubt u. dgl. mehr,
deuten auf solche Zusammenhänge hin. In dem Maße, als die typisch
paralytischen Manifestationen in weiterer Rückbildung und der Krank¬
heitsprozeß in weiterer Remission begriffen sind, verlieren auch die resi-
duären halluzinatorisch-paranoischen Erscheinungen nach und nach jeg¬
liche inhaltlich-psychologische Beziehung zu den früheren psychotisch¬
paralytischen Erlebnissen.
Es erscheint notwendig, auf die Frage nach dem Vorkommen aku¬
stisch-halluzinatorischer bzw. halluzinatorisch-paranoider Bilder bei der
gewöhnlichen progressiven Paralyse mit einigen Worten einzugehen. So¬
weit ich die Literatur übersehe, hat besonders Plaut 1 ) diese Frage zum
Gegenstand näherer Untersuchungen gemacht. Unter 713 Fällen (503
männliche und 210 weibliche), die aus einem in einem Zeitraum von
l ) Plant, Über Halluzinosen der Syphilitiker (Monogr. a. d. Gesamtgeb. d.
Neurol. u. Psychiatrie). Verlag J. Springer 1913.
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 207
6 Jahren in die Münchner psychiatrische Klinik auf genommenen Pa¬
ralytikermaterial zur Prüfung gelangten, blieb eine Gruppe von nur 10
Fällen übrig, in denen von besonnenen Kranken distinkte Gehörs¬
täuschungen angegeben wurden. Davon fielen 7 Fälle in Abzug, von denen
4 sich als Fehldiagnosen erwiesen und 3 offenbar auf alkoholischer Basis
halluzinierten, so daß nur in 3 Fällen, die überdies — wie Plaut hervor¬
hebt — in ihrem Verlauf ungewöhnlich waren, die akustisch-halluzi¬
natorischen Erscheinungen auf einen paralytischen Prozeß bezogen wer¬
den konnten. Darunter war noch ein Fall „bezüglich der Diagnose nicht
ganz einwandfrei“, während bei den übrigen zwei die Paralysediagnose
wohl sicher stand, doch fanden sich bemerkenswerterweise paranoide
Halluzinanten in ihrer nahen Verwandtschaft. Plaut schließt aus seinen
Untersuchungen, daß akustische Trugwahmehmungen ohne Bewußt¬
seinstrübung eine der Paralyse fremde und eine so seltene Erscheinung
derselben sind, „daß ihr Auftreten zur sorgfältigen Revision der Dia¬
gnose in jedem Falle Anlaß geben muß“ 1 ). Mein allgemeiner Eindruck,
den ich im Laufe der Jahre an unserem ungemein großen Paralytiker-
material empfangen konnte, und eigens in dieser Richtung angestellte
genauere Nachforschungen zeigten mir gleichfalls, daß die genannten
psychotischen Phänomene im klinischen Bilde der gewöhnlichen Para¬
lyse zu den größten Seltenheiten gehören.
Es ergibt sich aus vielfältiger Beobachtung, daß diese reaktive Ab¬
änderung und Umwandlung des paralytischen Krankheitsbildes in ein
bei gewöhnlichem Paralyseverlauf so ungemein seltenes Bild einer
Halluzinose bzw. eines halluzinatorisch-paranoiden Zustandes, so wenig
Zuversicht sie im Moment ihres Auftretens einzuflößen geeignet ist, durch¬
aus nicht etwa als Ausdruck einer ungünstigen Wendung der Prognose
des Krankheitsprozesses quoad durationen et remissionen anzusehen
ist, sondern im Gegenteil gleichsam als Markierungspunkte eines Abbaues
des Krankheitsprozesses, als Vorboten einer therapeutischen Beein¬
flussung sich darstellen, entweder im Sinne einer zur Entwicklung kom¬
menden vollen oder einer unvollkommenen Remission je nach der Dauer
und dem Stadium der Erkrankung oder im Sinne eines Stationärwerdens
x ) Auch Vertes (Gyogyäszat 53 . 1913; ref. in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
u. Psychiatrie T. 1913) fand in einem Paralytikermaterial von 416 Fällen der Buda-
pester Psychiatrischen Klinik, die er auf das Vorkommen von Sinnestäuschungen
untersuchte, Gehörshalluzinationen nur in einem sehr geringen Prozentsatz; sie
waren — wie der Autor betont — hauptsächlich in solchen Fällen festzustellen,
in denen die Paralyse einen langsamen Verlauf darbot. Ebenso ergaben ein¬
schlägige Untersuchungen von Banse und Roderburg (Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
u. Psychiatrie 35 . 1914) in einem Material von 168 männlichen und 29 weiblichen
Paralysen der Provinzialheilanstalt zu Lauenburg i. P., daß echte Halluzinationen
des Gehörssinnes, von den Fällen abgesehen, in denen sie „als flüchtige Begleiter¬
scheinungen lebhafter Erregungszustände mit Bewußtseinstrübung“ auf traten,
bei der Paralyse ein seltenes Vorkommnis seien.
208 J* Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzina-
in vorgeschritteneren Fällen. Es präsentieren sich diese halluzinatorisch¬
paranoiden Erscheinungsformen in der Mehrzahl der Fälle, in denen sie zur
Beobachtung kamen, als bestimmte psychopathologische Rückbildungs¬
mechanismen des paralytischen Krankheitsvorganges, von temporärer,
transitorischer Art in Fällen, in denen die Rückbildung zur vollen
Remission d. h. zum völligen oder fast völligen Rückgang der psychischen
Krankheitserscheinungen sich vollzogen hat; chronisch werdend, sich
stabilisierend in Fällen, in denen der Hirnprozeß auf einer mehr oder
minder unvollkommenen Remissionsstufe oder auf der Stufe des der
bereits vorher eingetretenen Gewebsdestruktion entsprechenden Funk¬
tionsstandes in einen Stationärzustand übergetreten ist. Es zeigt sich
auch dementsprechend im Krankheitsverlauf meist ein deutlicher Ant¬
agonismus zwischen den typisch paralytischen Symptomen (Demenz,
Größenideen, Euphorie, fehlende Krankheitseinsicht, Gedächtnisstörung,
Desorientiertheit u. dgl.) und den atypischen halluzinatorisch-paranoiden
Gebilden. Die ersteren erweisen sich zur Zeit, als die letzteren zutage
treten, geringer ausgeprägt im Vergleich zu früher, sind deutlich im
Krankheitsbilde zurückgetreten und sind seither in der Regel in kon¬
tinuierlicher weiterer Abnahme begriffen. Tritt aus irgendeinem Grunde
eine Verschlimmerung ein, nehmen die paralytischen Krankheitserschei¬
nungen wieder fortschreitenden Charakter an, so verschwinden dann
die halluzinatorisch-paranoiden Phänomene mehr oder minder weit¬
gehend, um eventuell bei Wiedereinstellung einer Besserung des Para¬
lyseprozesses wieder in Erscheinung zu treten.
Diese Umwandlung des typischen Bildes der Paralyse in das Bild
einer Halluzinose oder eines paranoiden Zustandes kann man gelegent¬
lich auch bei Behandlung mit Tuberkulin [ Wagner- Jauregg *)] oder
Typhusvaccine vorübergehend oder dauerhaft in Fällen beobachten, die
gebessert wurden oder einen stationären Verlauf genommen haben.
Sie war ferner auch vereinzelt bei der Behandlung mit Nukleinsäure
festzustellen [0. Fischer 2 )]. Sie wurde schließlich hin und wieder auch
als spontane, ohne Behandlung sich einstellende Reaktion in Fällen
gefunden, in denen die Paralyse von selbst in einen stationären Zustand
übergegangen ist. Es scheint demnach, als wenn sie in den einer Remis¬
sion entgegengehenden sowie in den stationären Fällen ein häufiges,
gleichsam charakteristisches Vorkommnis wäre. Es zeigen dies unter
anderem besonders die von A . JalcobP) aus einem Sektionsmaterial von
1800 Fällen beschriebenen 5 Fälle von stationärer Paralyse, in denen
bei 4 Kranken während des ungewöhnlich langen und außerordentlich
schleppenden (in 2 Fällen über einen Zeitraum von über 20 Jahren sich
*) Persönliche Mitteilung.
a ) Zitiert nach Pötzl (Med. Klinik 1923, Nr. 46).
3 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 54. 1920.
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 209
erstreckenden) Verlaufes das klinische Bild von halluzinatorisch-parano¬
iden und katatonen Erscheinungen völlig beherrscht war und mit dem
atypischen Krankheitsbilde auch ein atypischer anatomischer und sero¬
logischer Befund korrespondierte. Freilich ist in den anscheinend spon¬
tan stationär gewordenen Fällen nicht mit Sicherheit auszuschließen,
ob nicht irgendeine unbeachtet gebliebene interkurrente Infektion für
das Stationärwerden des paralytischen Krankheitsprozesses verantwort¬
lich zu machen wäre.
Die Befunde A. Jakobs in den Fällen von stationärer Paralyse und
die Untersuchungen Sträußlers und Koskinas 1 ) an Gehirnen von in Re¬
mission begriffenen, aber interkurrent verstorbenen malariabehandelten
Paralytikern unserer Klinik ergeben, daß der Umwandlung des typi¬
schen Krankheitsbildes in ein atypisches von oben geschildertem Gepräge
und der in ihrem Gefolge vor sich gehenden Entwicklung eines Stationär¬
oder eines Remissionszustandes auch anatomisch eine sukzessive Um¬
wandlung des charakteristischen paralytischen Gehimprozesses in ein
atypisches Bild im Sinne eines Aufhörens oder zumindest einer hoch¬
gradigen Verlangsamung der Progredienz, eines Stehenbleibens oder
selbst einer Regression des KrankheitsVorganges mit weitgehender
Reduktion der histologischen Veränderungen und Hinterlassung von
Narbenbildungen entspricht. Es waren die histologischen Verände¬
rungen — speziell in den Fällen unserer Klinik — so dürftig entwickelt
und besonders hinsichtlich der Infiltrationserscheinungen so ungemein
geringgradig, daß das anatomische Bild mit dem gewöhnlichen histo¬
logischen Befunde der Paralyse in auffälligster Weise kontrastierte.
Dieser der Umwandlung des Krankheitsbildes parallel gehende Abbau
des histologischen Hirnbefundes präsentiert sich nur als korrelativer
Ausdruck derselben. Er stellt aber nicht die Ursache dieses Umwand¬
lungsprozesses dar, ebensowenig wie letzterer als konsekutive Wirkung
des vor der durchgeführten Behandlung bzw. vor dem Eintreten des
Stationärzustandes bereits erfolgten Parenchymzerfalles aufgefaßt
werden kann. Der klinischen Umwandlung geht — allerdings erst
innerhalb eines in der Regel über Monate und Jahre sich erstreckenden
Zeitintervalles — auch serologisch ein allmählicher Übergang des für die
Paralyse typischen in einen durch Rückbildung der pathologischen Serum-
und Liquorreaktionen ausgezeichneten, atypischen Befund parallel.
Ich 2 ) habe in einer früheren Abhandlung auf Grund der Tatsache, daß
in zweien der von Sträußler und Koskinas untersuchten Fälle die histo¬
logischen Veränderungen, soweit sie nachweisbar waren, in Schläfelappen
vergleichsweise ausgeprägter sich erwiesen als in den anderen Rinden-
^ebieten, und im Hinblick auf das bekannte Vorkommen von Gehörs-
M Wien. med. Wochenschr. 1923, Nr. 17.
J ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 81. 1923.
Z. f. d. g. Ncar. u. Pfych. XCIII.
14
210 J* Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzina-
täuschungen bei Sehläfehimaffektionen die Vermutung ausgesprochen,
daß vielleicht zwischen der deutlicheren Ausbildung und längeren Persi¬
stenz der pathologischen Veränderungen in der Schläfenlappenrinde und
der im Anschluß an die Impfmalaria sich relativ häufig vollziehenden
Umwandlung des klinischen Bildes in das Bild einer Halluzinose wie auch
besonders der nicht seltenen Hartnäckigkeit und Stabilisierung der aku¬
stischen Halluzinationen eine nähere Beziehung besteht. Auch A. Jakob
hat an die Möglichkeit eines derartigen Zusammenhanges in einem
seiner Fälle von stationärer Paralyse gedacht, in dem das Vorherrschen
der Gehörshalluzinationen im Zustandsbilde mit einer besonderen Affek¬
tion der untersten Schichten der Schläfenlappenrinde einherging. Ferner
entsprachen in dem klinisch als Endzustand einer schleichenden Dementia
praecox diagnostizierten und durch einen nach Ausbreitung und Grad
atypischen histologischen Befund ausgezeichneten Paralysefall Dahl
[Willmanns-Ranke 1 )] den im Vordergründe stehenden akustischen Hal¬
luzinationen vornehmlich in der Temporalrinde ausgebreitete Gewebs¬
veränderungen. Diese Abänderung des Hauptangriffspunktes des Pro¬
zesses in stationär gewordenen und in Remission begriffenen Fällen ist
sehr bemerkenswert. Erscheint sie einerseits als eine Folgewirkung der
Umwandlung des paralytischen Hirn Vorganges aus einem bösartigen in
einen gutartigen Zustand, so spiegelt sich in ihr anderseits — wie auch
Pötzl hervorhebt — der Umwandlungsprozeß selbst in deutlich erkenn¬
barer Weise ab, in dem Sinne, daß es hier nicht zum bekannten Bilde der
sogenannten Schläfenlappenparalyse mit sensorischer Aphasie, zahl¬
reichen paralytischen Anfällen, schubweisem Verlauf, typischem Serum-
und Liquorbefunde und dgl. neben Gehörstäuschungen kommt, son¬
dern das atypische Bild einer Halluzinose oder eines paranoiden Zu¬
standes in Erscheinung tritt, ohne jene anatomisch auf eine stürmische
Steigerung der Gewebsdestruktion und parasitologisch auf eine stärkere
Spirochätenwucherung im Gehirn hinweisenden charakteristischen Be¬
gleitsymptome und bei langsamer Besserung oder allmählichem Negativ¬
werden der vorher positiven serologischen Reaktionen.
Als Hauptagens für das Zustandekommen der eigenartigen anato¬
misch-klinisch-serologischen Abwandlung des paralytischen Krankheits¬
prozesses im Anschluß an die Malariatherapie ist eine entsprechende
Abänderung jenes grundlegenden Faktors desselben zu denken, der be¬
ruht in der Art der biologischen Reaktion zwischen den Spirochäten und
ihren toxischen Produkten und den nervösen Elementen im paralytischen
Himgewebe. Dieser pathogenetisch kaum eindeutig zu fetssende, in
seinem Wesen noch ungeklärte ReaktionsVorgang ist vom histologischen
Gesichtspunkte mit A. Jakob bei der Paralyse (gegenüber dem der ge¬
wöhnlichen Hirnlues) als unspezifischer, maligner zu betrachten und be-
1 ) Nisels Beiträge zur Frage nach der Beziehung usw. 1, H. 3. 1913.
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 211
wirkt deren Progressivität. Als die Hauptkomponenten desselben sind
einerseits die bisher wohl noch nicht bewiesene, aber auf Grund viel¬
facher Erfahrungen als tatsächlich bestehend anzunehmende spezifische
Abwehr- und Immunschwäche des paralytischen Organismus, anderer¬
seits eine durch diese wie auch durch andere unbekannte Momente ge¬
förderte ungehemmte Vermehrung der Spirochäten (und vielleicht auch
eine besondere biologische Abänderung derselben) anzusehen. Es wird
durch die vermutlich im Gefolge der Malariabehandlung (hin und wieder
auch anscheinend spontan) erfolgende Anregung und Steigerung der
darniederliegenden Immunreaktionen und Abwehrmechanismen, durch
Wiederaktivierung der insuffizient gewordenen spezifischen cellulären
Reaktionsfähigkeit des Gewebes der eigenartigen reaktiven Wechsel¬
wirkung zwischen Spirochäten und Himsubstanz ihr deletärer Charak¬
ter genommen. Es werden die Spirochäten — soweit sie nicht durch die
im Organismus im Zusammenhang mit der Malariaerkrankung sich ab¬
spielenden Veränderungen zum Absterben gebracht werden — min¬
destens derart geschädigt, daß sie ihre Fähigkeit einbüßen, auf das
funktionierende Nervengewebe weiterhin in pathogener, destruktiver
Weise direkt oder indirekt einzuwirken. Man darf aus der sehr weit¬
gehenden Rückbildung der infiltrativen Veränderungen des Him-
gewebes im Gefolge der Malariabehandlung auf ein Zugrundegehen oder
Unwirksamwerden der Spirochäten schließen, insbesondere in Anbe¬
tracht der Untersuchungen A. Jakobs und Hermeis sowie anderer
Autoren, wonach bei der Paralyse größere Spirochätenmengen vor¬
nehmlich in der Hirnrinde von Fällen mit starker Ausprägung der
infiltrativen Vorgänge sich vorfinden und die lokale Einwirkung von
Spirochäten histologisch hauptsächlich in Infiltrationserscheinungen
sich äußert. Die supponierte Wiedereinstellung einer ausreichenden
Immun- und Abwehrfähigkeit des Gewebes und der unter anderem aus
der ausgesprochenen Reduktion der infiltrativen Veränderungen zu er¬
schließende Spirochätenabbauprozeß haben offenbar eine Umwand¬
lung des den gewöhnlichen fortschreitenden Paralyseverlauf bewirkenden
unspezifisch-malignen Reaktionsvorganges in einen spezifisch-benignen
zur Folge.
Neulich hat Pötzl 1 ) für die Umwandlung des typischen paralytischen
Krankheitsbildes in ein halluzinatorisch- paranoides Bild, bzw. für den
durch diese nicht selten markierten Übergang der Paralyse in eine re¬
mittierende oder stationäre Form folgende pathogenetische Deutung ge¬
geben. Er legt der für denselben zu vermutenden Verschiebung der
Reaktion zwischen Spirochäten und Nervengewebe aus dem aktiv-zerstö-
renden in der Richtung eines inaktiv-gutartigen Verhaltens den Wegfall
oder die Verminderung eines von ihm als Katalyse präzisierten Vor-
l ) Med. Klinik 1923, Nr. 46.
14*
212 J« Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzina-
ganges zugrunde, den er in Anlehnung an die von,#. Weil auf Grund der
Ergebnisse der Hämolysinreaktion gebildeton Theorie der Paralyse¬
entstehung darin erblickt, daß infolge der abnormen Permeabilität der
Meningeal- und Himgefäße zugleich mit den hämolytischen Hammel-
blutamboceptoren andere komplexe (in ihrer Natur noch unbekannte)
Eiweißstoffe aus dem Kreislauf in das Hirngewebe übertreten und als
Katalysatoren des paralytischen Prozesses jene schädliche Wirkung
entfalten, die deren Progressivität und Destruktivität zur Folge hat.
Den Indicator für den Wegfall dieses vom Blut herrührenden kataly¬
sierenden Vorganges, bzw. eines Verschwindens der Progredienz sieht er
in dem (das Ausbleiben eines Übertrittes der Katalysatoren anzeigenden)
Verschwinden der positiven Hämolysinreaktion im Zusammenhang mit
der Malariabehandlung 1 ).
Es ist mir im Laufe der Beobachtungen schon lange aufgefallen, daß
die besprochenen halluzinatorisch-paranoiden Zustandsbilder einerseits
mit den bekanntlich unter dem Bilde zahlreicher Sinnestäuschungen und
paranoider Wahnideen verlaufenden sog. Tabespsychosen, andererseits
mit den Plaut sehen Halluzinosen der Luetiker und dem mit diesen in
der Erscheinungsweise identischen Krankheitsbilde der paranoiden Form
der Himsyphilis (Kraepelin) mehrfache Ähnlichkeiten aufweisen. Die
Entstehung der beiden letzteren Krankheitsformen auf dem Boden einer
einfachen Himlues ist wohl anatomisch noch nicht sichergestellt, doch
erscheint sie auf Grund der Beobachtungen zweifellos 2 ). Es ist dieselbe
unter anderem auch aus ihrer auffälligen symptomatologischen Überein¬
stimmung mit den Tabespychosen zu erschließen, die ja so häufig im
wesentlichen auf rein luetischen Hirnveränderungen beruhen. Denn so¬
weit bei den Tabespsychosen pathologisch-anatomische Untersuchungen
bisher vorgenommen wurden (Jakob u. a.), ergaben sie in den echten
Fällen einen von dem histologischen Bilde der gewöhnlichen Paralyse
durchaus abweichenden Himprozeß (konstant negativer Spirochäten¬
befund, fehlende oder äußerst geringgradige infiltrative Veränderungen)
1 ) Man wird der Anregung Pötzls folgen und künftighin in den malariabe¬
handelten Fällen neben den anderen Liquorreaktionen auch auf die Hamolysin-
reaktion untersuchen müssen. Insbesondere wird man dabei auf das praktisch
wichtige Moment achten müssen, inwieweit jene Gesetzmäßigkeit und Überein¬
stimmung zwischen dem Verschwinden der Hämolysinreaktion und dem Eintreten
einer Remission oder eines Stationärzustandes, bzw. zwischen Wiederauftreten
der Hämolysinreaktion und Wiedereinsetzen einer Progredienz sich erkennen
läßt, wie sie Fischer , Pötzl, Hermann und Münzer (Med. Klinik 1923, Nr. 45, 46, 47)
auf Grund ihrer Befunde postulieren. Wir haben an unserer Klinik mit diesen
Untersuchungen vor einiger Zeit in ausgedehnterem Maße begonnen und können
auf Grund unserer vorläufigen Erfahrungen jetzt schon sagen, daß die Angaben
Pötzls und seiner Mitarbeiter sich durchaus zu bestätigen scheinen.
2 ) Kraepelin erblickt das anatomische Substrat der paranoiden Psychosen
auf syphilitischer Grundlage in einer Endarteriitis luetica.
torisch-paranoide Erscheinungsform iin Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 213
und zeigten vornehmlich Veränderungen im Sinne einer einfachen Him-
lues, teils in Form eines nichtentzündlichen, mit einer Proliferation der
Gefäßwandelemente einhergehenden Vorganges (Endarteriitis syphili¬
tica, herdförmige, offenbar vasculär bedingte Prozesse), teils auch in
Form entzündlicher syphilitischer Erscheinungen. In Anbetracht der
außerordentlichen Seltenheit der halluzinatorisch-paranoiden Mani¬
festationen im Krankheitsbilde der typischen fortschreitenden Paralyse
und der relativen Häufigkeit ihres Vorkommens unter den Fällen, die
im Gefolge einer Fieber- oder Infektionsbehandlung (eventuell auch
spontan) ihre Progredienz verloren, in den Zustand einer Remission der
paralytischen Erscheinungen übergetreten oder einen atypischen statio¬
nären Verlauf angenommen haben, darf der Ähnlichkeit derselben mit
den als luetische Halluzinose oder als paranoide Himlues bekannt ge¬
wordenen syphilitischen Psychosen und mit den im wesentlichen auf
einen begleitenden himsyphilitischen Vorgang zurückzuführenden Tabes¬
psychosen wohl eine gewisse Bedeutung beigemessen werden. Es ist
auch die Prävalenz von Halluzinationen und paranoiden Wahnideen im
klinischen Bilde der — bekanntlich mit negativem Spirochätenbefund
und negativen serologischen Reaktionen einhergehenden — Endarte¬
riitis syphilitica der kleinen Himrindengefäße [ Alzheimer , Nissl , Jakob 1 )]
und die oft weitgehende Übereinstimmung ihres Zustandsbildes mit dem
der atypischen stationären Paralyse sowie der syphilitischen Hallu-
zinosen und dgl. in diesem Zusammenhänge sehr bemerkenswert. Es
liegt wirklich der Gedanke nahe, ob nicht in der geschilderten Um¬
wandlung des klinischen Bildes der Paralyse in akustisch-halluzina¬
torische oder halluzinatorisch-paranoide Bilder gleichsam der Ausdruck
einer allgemein biologischen Verschiebung des paralytischen Prozesses
nach der Seite einer einfachen Hirnlues, bzw. der der Paralyse eigenen
Wechselwirkung zwischen Parasiten und Nervengewebe nach der Rich¬
tung eines einfachen syphilitischen ReaktionsVorganges zu erblicken wäre.
Hauptmann 2 ) faßt in seiner bekannten Abhandlung über „Klinik und Patho¬
genese der Paralyse im Lichte der Spirochätenforschung 44 die im gewöhnlichen
Paralyse verlauf, nach unserer Erfahrung nur ungemein selten, sich vorfinden¬
den halluzinatorischen, paranoiden oder katatoniformen Phänomene — die hallu¬
zinatorisch-paranoiden Umwand lungsprodukte im Gefolge der Malaria impf behänd -
lung waren ihm damals naturgemäß noch nicht bekannt — als Wirkung eines mit
der Existenz von Spirochäten zusammenhängenden, aber von ihrer Lokali¬
sation im Organismus unabhängigen, im engeren bakteriologischen Sinne un¬
spezifischen, auf proteolytischem Wege zustande kommenden eiweiß-toxischen
Vorganges auf, den er als die in der Pathogenese der Metalues neben der bakteriellen
immer wrieder geforderte toxische Komponente derselben ansieht. Er meint, daß
die damiederliegende Reaktions- und Abwehrkraft des metaluetischen Organismus
und die drohende Gefahr einer schrankenlosen Vermehrung der Parasiten denselben
*) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 54. 1920.
4 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 70. 1921.
214 J* Gerstrnann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzina-
veranlaßt, mit seinen proteolytischen Abwehrmechanismen einzugreifen. Die
Leibessubstanzen der Spirochäten werden als parenteral zugeführtes artfremdes
Eiweiß durch die proteolytischen Fermente extracellulär verdaut, wodurch es zu
einer Überschwemmung des Organismus mit den bekanntlich schwer toxisch
wirkenden Eiweiß-Abbauprodukten kommt. Diese haben eine elektiv gegen das
Zentralnervensystem gerichtete, anaphylaxieähnliche Wirksamkeit und üben
auch eine spezifische Wirkung auf die Endothelien der Blutgefäße aus. Haupt¬
mann führt nicht nur eine Reihe von paralytischen und tabischen Veränderungen,
sondern auch manche rein luetische Himvorgänge auf den hypothetischen eiweiß-
toxischen Prozeß zurück. So z. B. ist nach Hauptmann die Endarteriitis syphilitica
der kleinen Himrindengefäße eine Folge desselben. Er sieht in den Plaut sehen
Halluzinosen der Syphilitiker, in der Kraepeiin sehen paranoiden Hirnlues, in den
Tabespsychosen sowie in der im klinischen Bilde analogen Endarteriitis syphil.
der kleinen Himrindengefäße nicht das Produkt einer spezifisch-himluetischen
Erkrankung, sondern eher die Äußerung eines eiweiß-toxischen Vorganges, in
dem Sinne, daß sich einmal mit einer einfachen Himsyphilis eine mangelhafte
celluläre Reaktionsfähigkeit und konsekutiv ein allgemein toxischer Spirochäten-
Eiweißabbauprozeß verbindet. So heuristisch wertvoll die Hauptmann&che Theorie
im allgemeinen sein mag, muß sie in dem hier in Rede stehenden Zusammenhänge
entschieden abgelehnt werden. Wir haben ja allen Grand anzunehmen, daß in
den im Gefolge der Malariabehandlung in Remission oder im Stationärwerden be¬
griffenen Fällen entweder im Sinne einer Überlagerung der Immunität (Plaut und
Steiner) oder im Sinne einer zugleich mit der Bildung von Malariaimmunkörpern
bewirkten Mobilmachung von Abwehrstoffen gegen das syphilitische Virus der
celluläre Reaktionsprozeß bei der Paralyse eine Aktivierung und Steigerung er¬
fährt. Es ist demnach für einen proteolytischeil Spirochäten-Eiweißabbauprozeß
die von Hauptmann postulierte biologische Voraussetzung nicht gegeben. Eine
Reihe von Erscheinungen, die Hauptmann auf ei weiß-toxische Wirkung bezieht,
gehen im Anschluß an die Malariabehandlung mit einer großen Häufigkeit zurück.
Es seien hier nur die paralytischen Anfälle als Beispiel angeführt. Mit Hilfe der
Hauptmann sehen Hypothese lassen sich somit die halluzinatorisch-paranoiden
Umwandlungsprodukte der mit Malaria behandelten wie auch der unter ander¬
weitigem Einfluß remittierenden oder stationärwerdenden Paralysen ebensowenig
erklären wie die halluzinatorisch-paranoiden Psychosen bei einfacher Hirnsyphilis,
mit denen die Tabespsychosen wohl identisch erscheinen.
Pötzl hat sich unlängst gleichfalls in dem Sinne geäußert, daß bei
Berücksichtigung der Ähnlichkeiten mit den Plaut sehen Halluzinosen
der Luetiker und der paranoiden Hirnsyphilis die Umwandlung des para¬
lytischen Krankheitsbildes in ein halluzinatorisch-paranoides Zustands¬
bild vergleichbar erscheint einer Umwandlung der Paralyse in ein
Bild von Hirnlues. In der von ihm und seinen Mitarbeitern in einer
Reihe der malariabehandelten Fälle festgestellten Verwandlung der
Paralysekurve der Goldsolreaktion in eine Lueszacke, was w ir in unserem
Material unter den auf die Goldsolprobe untersuchten einschlägigen
Fällen gleichfalls häufig finden, ließe sich eine engere Parallele zu
dem klinischen Verwandlungsprozeß von seiten einer wichtigen Liquor¬
reaktion erkennen 1 ). Diese Parallele kann freilich nicht etwa im Sinne
2 ) Es ist vielleicht in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß Kirsch
bäum und Kaltenbach bei der von ihnen untersuchten Norniomastixreaktion (nach
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 215
einer Identität der Bedeutung der beiden Veränderungen verwertet
werden. Doch ist die Übereinstimmung der Wirkungen gewiß sehr
beachtenswert. Eine gewisse innigere Kausalität derselben ist wohl
zu vermuten.
Schon dem gewöhnlichen paralytischen Krankheitsvorgange wohnt
eine gewisse Verschiebungstendenz nach der Richtung einer einfachen
Himlues im allgemeinen inne. Es läßt sich dies von anatomischer Seite
deutlich erkennen. Hatte schon vorher Sträußler x ) in einer Reihe von
Arbeiten auf das nicht so seltene Vorkommen von echt luetischen
Veränderungen, speziell in Form von miliaren Gummen, im para¬
lytischen Himgewebe als erster hingewiesen, so geht insbesondere aus
den eingehenden Untersuchungen von A. Jakob 1 ) in ausgesprochener
Weise hervor, wie häufig in der Großhirnrinde der gewöhnlichen Para¬
lyse (vornehmlich der Anfallsparalyse) echte syphilitische Gewebsver¬
änderungen namentlich im Sinne miliarer gummöser Bildungen (bei
Anwesenheit zahlreicher Spirochäten) vorzufinden sind, gleichsam als
„imgenügende spezifische Gewebsreaktionen des paralytischen Gehirnes
im Kampfe gegen die Spirochäten“, als vergebliche Versuche des Ge¬
webes, den unspezifischen, diffusen, malignen Himprozeß in einen spezi¬
fischen, benignen Granulationsprozeß umzuwandeln. Jakob sieht in
diesem anatomischen Verhalten mit Recht einen Hinweis nach dem
biologischen Angriffsziel unseres therapeutischen Handelns. Sträußler
hat unter vier auf der Höhe des Malariafiebers (in noch ungebessertem
Zustande) verstorbenen, histologisch untersuchten typischen Paralyse¬
fällen unserer Klinik in zweien neben einer offenbar reaktiven Steigerung
und Akzentuierung der infiltrativen Vorgänge an mehreren Hirnrinden -
stellen entzündliche Herdbildungen gefunden, die über die Gefäßwand
in das umgebende Gewebe hinausgingen und in ihrem histologischen
Aufbau vielfach an die miliaren Gummen erinnerten. Er hat auf
Grund dieses Befundes sowie des deutlichen Zurücktretens und all¬
mählicher Rückbildung der histologischen Erscheinungen im Gefolge
der Malariaimpfung in den nach Abschluß der Infektion remittierten
(später interkurrent verstorbenen) Fällen wie auch ferner mit Bezug
auf die Veränderung der paralytischen Kurve der Goldsolreaktion
in eine Lues-cerebri-Zacke (im Sinne der Jakob sehen Deutung) kürz¬
lich in einer Diskussionsbemerkung die Ansicht geäußert, daß die
Wirkung der Malariabehandlung der Paralyse in der Rückkehr der
Kafka) unter Einfluß der Malariabehandlung gleichfalls eine Umwandlung der
anfänglich rein paralytischen Kurve in eine typische Lues-cerebri-Kurve beobach¬
teten (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 84. 1923).
1 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 12; Monatsschr. f. Psychiatrie
u. Neurol. 12.
2 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 5t. 1919.
216 J- Gerstmann: Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse in eine halluzina-
Reaktionsfähigkeit des Organismus aus dem malignen in einen früheren
benigneren Zustand beruhe. Die Anschauungen Jakobs und Sträußlers
decken sich mit der hier vorgetragenen Auffassung über den Hauptfaktor
der Destruktivität und Progressivität des paralytischen Krankheits¬
prozesses, den wir gleichfalls in dem infolge Insuffizienz der Abwehr¬
mechanismen unspezifischen Reaktionsvorgange zwischen den Spiro¬
chäten und ihren toxischen Produkten und den nervösen Elementen im
Hirngewebe erblicken. Dieser Vorgang erscheint in den remittierten und
stationären Fällen direkt und indirekt beeinflußt und abgeändert, einer¬
seits im Sinne einer Einwirkung auf die Parasiten selbst durch die in Ver¬
bindung mit der antagonistischen Malariainfektion im Organismus der be¬
handelten Kranken sich vollziehenden mannigfachen Veränderungen
(Phagocytenbildung u. dgl.), andererseits im Sinne einer Mobilmachung
und Steigerung der Immunkörperbildung und der Abwehrkräfte und einer
konsekutiven Umstimmung des Himgewebes zu einer spezifischen Reak¬
tion. In den vorhergenannten gummenartigen Herdbildungen in den
Gehirnen von interkurrent während des Malariafiebers Verstorbenen
wären gewissermaßen die ersten Anzeichen der Wiederaktivierung der
Reaktions- und Abwehrfähigkeit, die ersten Ansätze zur spezifischen
Reaktion zu erkennen. Es werden durch die Malariatherapie in einer
Reihe von Fällen anscheinend jene biologischen Verhältnisse ge¬
schaffen, wie sie vergleichsweise bei der allgemeinen Hirnlues vorliegen.
Es etabliert sich vermutlich in weiterer Folge oft eine Art von apatho-
genem, symbiotischem Verhältnis zwischen den geschädigten bzw. übrig¬
gebliebenen Spirochäten und dem mit Schutz- und Abwehrmechanismen
wieder ausreichend ausgestatteten nervösen Gewebe, etwa in analoger
Weise wie jener biologische Zustand, der vielleicht (eine unbekannt
lange Zeit) vor der Entwicklung des paralytischen Krankheitsprozesses
vorhanden war. Es wird so die Paralyse ihres deletären, progressiven
Charakters entkleidet, sie verwandelt sich in eine benigne Form. Es
kommt je nach Stadium und Grad der Erkrankung entweder zu einem
Stationärzustand auf der Stufe der bereits vor der Behandlung einge¬
tretenen psychischen Defektuosität oder zu einem Stationärbleiben auf
einer mehr oder minder unvollkommenen Remissionsstufe oder zu einer
vollen Remission, in einer Reihe von Fällen unter gleichzeitiger Umwand¬
lung des klinischen Bildes in eine halluzinoseartige oder paranoide Erschei¬
nungsform, die in den stationären Fällen häufig einen chronischen Charak¬
ter annimmt, während sie in den vollkommen remittierten Fällen gewöhn¬
lich als ein episodisches Ereignis, als eine Rückbildungsphase sich darstellt
Fassen wir die vorhegenden Ausführungen zusammen, so ergibt sich
folgendes:
1. Im Gefolge der Malariaimpfbehandlung der progressiven Paralyse
stellt sich nicht selten eine reaktive Umwandlung des typischen kli-
torisch-paranoide Erscheinungsform im Gefolge der Malariaimpfbehandlung. 217
nischen Bildes in eine atypische halluzinoseartige bzw. halluzinatorisch -
paranoide Erscheinungsform ein.
2. Diese Umwandlung vollzieht sich gewöhnlich zu Ende der Fieber¬
periode oder innerhalb eines gewissen, mehr oder minder ausgedehnten
Zeitintervalles nach der medikamentösen Unterbrechung der Malaria¬
infektion. Manchmal erfolgte der Umschlag in ein halluzinatorisch-
paranoides Zustandsbild in unmittelbarem Anschluß an eine in der
Nachbehandlungsperiode verabreichte Neosalvarsaninjektion.
3. Im Vordergrund dieser halluzinatorisch-paranoiden Umwand¬
lungsprodukte stehen akustische Halluzinationen elementaren und kom¬
plexen Charakters. Dieselben sind oft von außerordentlicher sinnlicher
Lebhaftigkeit und verleihen dem Zustandsbild das Gepräge einer Hallu-
zinose. Sie treten meist in Form von Stimmenhören (wechselnden, vor¬
nehmlich beschimpfenden und bedrohenden Inhaltes) in Erscheinung,
sind häufig mit Pseudohalluzinationen (im Sinne des Gedankenlautwer¬
dens) und Gefühlstäuschungen vergesellschaftet, können auch mit Trug¬
wahrnehmungen anderer Sinnesgebiete kombiniert sein.
4. In manchen Fällen sind die halluzinatorisch-paranoiden Phäno¬
mene mit katatonen Erscheinungen derart verbunden, daß eine weit¬
gehende Ähnlichkeit mit dem Bilde einer katatonen oder paranoiden
Schizophrenie entsteht.
5. Die Dauer dieser im klinischen Bilde der gewöhnlichen Paralyse zu
den größten Seltenheiten gehörenden akustisch-halluzinatorischen bzw.
halluzinatorisch-paranoiden Erscheinungsformen ist eine wechselnde.
Sie stellen sich als temporäres, episodisches Ereignis in Fällen dar, die
in eine volle Remission übergehen, und nehmen einen sich stabilisieren¬
den, chronischen Charakter an in Fällen, in denen auf einer mehr oder
minder unvollkommenen Remissionsstufe oder auf der Stufe der bereits
vor dem Eintreten in die Behandlung bestandenen psychischen Defek-
tuosität ein Stationärzustand sich etablierte.
6. Es besteht meist ein deutlicher Antagonismus im Krankheits¬
verlauf zwischen den typischen paralytischen Erscheinungen und den
atypischen halluzinatorisch-paranoiden Gebilden; letztere präsentieren
sich als psychopathologische Rückbildungsmanifestationen des para¬
lytischen Krankheitsprozesses auf dem Wege der Entwicklung einer
vollen Remission oder eines Stationärzustandes 1 ).
l ) Der Ausdruck volle Remission wurde hier im Sinne eines völligen oder fast
völligen Rückganges der psychischen Störungen und einer Wiedererlangung der
früheren Berufsfähigkeit, bzw. im Sinne eines praktisch an Heilung grenzenden Aus¬
ganges der Erkrankung gebraucht. Nach unseren Erfahrungen pflegen die im
Gefolge der Malariainfektionsbehandlung sich einstellenden vollen Remissionen
sich in der Regel zu stabilisieren, dauerhaft zu werden. — Die Bezeichnung
Stationärzustand wmrde im Sinne eines Stehenbleibens auf einer Stufe einer mehr
oder minder unvollkommenen Remission, d. h. einer Remission mit verschieden aus¬
geprägten, residuären psychischen Defekterscheinungen oder eines Stehenbleibens
218 J- Gerstmann: Zur Frage d. Umwandlung des klin. Bildes d. Paralyse usw.
7. Auch bei Behandlungen mit Bakterienprodukten (Tuberkulin,
Typhus vaccine) wurde diese Umwandlung des klinischen Bildes in ein
halluzinatorisch-paranoides Bild gelegentlich beobachtet. In den (in
der Literatur niedergelegten) Fällen von stationärer Paralyse erscheinen
in einer das Krankheitsbild beherrschenden Weise halluzinatorisch-
paranoide Phänomene als ein geradezu häufiges Vorkommnis.
8. Dem durch diesen UmwandlungsVorgang geschaffenen atypischen
Zustandsbilde geht auch in serologischer und anatomischer Hinsicht
eine sukzessive Umwandlung des für die Paralyse typischen in einen
atypischen Befund im Sinne einer weitgehenden Regression und Reduk¬
tion der pathologischen Veränderungen parallel.
9. Fs bestehen möglicherweise nähere Beziehungen zwischen der
deutlicheren Ausprägung und der längeren Persistenz der an sich gering¬
gradigen bzw. residuären histologischen Veränderungen in der Schläfe¬
lappenrinde und den akustisch-halluzinatorischen (oder halluzinatorisch-
paranoiden) Umwandlungsprodukten.
10. Die außerordentliche Seltenheit dieser psychotischen Gebilde
bei dem gewöhnlichen fortschreitenden Paralyse verlauf auf der einen, die
Häufigkeit ihres Vorkommens in remittierenden und stationär geworde¬
nen Fällen von Paralyse und ihre mehrfache Ähnlichkeit mit den soge¬
nannten syphilitischen Halluzinosen und der paranoiden Himlues wie
auch mit dem durch das Vorherrschen halluzinatorisch-paranoider Er¬
scheinungen ausgezeichneten klinischen Bilde der Endarteriitis syphilitica
der kleinen Hirnrindengefäße auf der anderen Seite, legen die Vermutung
nahe, als wenn dem eigenartigen klinischen Umwandlungsprozeß bio¬
logisch gleichsam eine Verschiebung der Hauptkomponenten des para¬
lytischen Krankheitsvorganges nach der Seite einer einfachen Hirnlues
im allgemeinen zugrunde liege.
11. Dieser Gedanke findet seine Begründung in der schon der gewöhn¬
lichen unbehandelten Paralyse — wie aus den anatomischen Verhältnissen
erkennbar ist — innewohnenden, jedoch infolge Insuffizienz der Schutz - und
Abwehrmechanismen u. dgl. nicht realisierbaren Verschiebungstendenz in
der Richtung einer Gewebsreaktion, wie sie bei der einfachen Himlues
vorliegt. Im Gefolge der Infektionstherapie stellt sich vermutlich eine
Umstimmung des paralytischen Himgewebes in positivem Sinne ein. Es
kommen dadurch in zunehmender Entwicklung biologische Bedingungen
zustande, die einer Rückkehr in ein dauerhaft apathogenes, benignes
Verhältnis zw'ischen Spirochäten und Nervensubstanz die Wege ebnen.
auf der Stufe eines der bereits eingetretenen Himgewebsdestruktion entsprechen¬
den Funktionszustandes verwendet. — Es besteht zwischen voller Remission, un¬
vollkommener Remission und Stationärzustand (in dem üblichen Sinne) nur ein
gradueller Unterschied. Es wird stets von dem Alter, dem Stadium und der Form
des paralytischen Krankheitsprozesses in erster Linie abhängen, ob im Zusammen¬
hang mit der Malariabehandlung sich der eine oder der andere Zustand etablierte.
Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
Von
Prof. M. S. Margulis.
(Aus der Nervenklinik des Klinischen Instituts für Ärzte in Moskau. — Direktor:
Prof. M. S . Margulis.)
Mit 5 Textabbildungen.
(Eingegangen am 15. Aprü 1924.)
Die Lehre Wemickes von der oberen hämorrhagischen Polience-
phalitis bedarf wie in nosologischer, so auch in anatomischer Beziehung
einer gründlichen Durchsicht.
Diese Durchsicht ist um so zeitgemäßer, als die epidemische lethar¬
gische Encephalitis, die hauptsächlich durch eine doppelseitige Läsion
der Basalganglien hervorgerufen wird, sich klinisch auch durch einen
ophthalmoplegischen Symptomenkomplex äußert. Die nächste Aufgabe
ist eine Klärung der Beziehungen zwischen der oberen Poliencephalitis
und der lethargischen Form, was zum Verständnis der Pathogenese der
einzelnen Symptome beider Formen beitragen kann. Die Beziehungen
der oberen Poliencephalitis zur lethargischen Encephalitis werden haupt¬
sächlich durch die Grenzen und durch die Verbreitung der Läsion in
beiden Fällen bestimmt.
Der klassische Wernicke sehe Typus besteht in einer Kombination
von Augenmuskellähmungen mit allgemeinen Hirnerscheinungen,
meistenteils psychischen, in Form eines Delirium tremens. Die patho¬
logisch-anatomischen Veränderungen dieser Form bestehen in punkt¬
förmigen oder größeren Blutergüssen im Gebiet des Aq. eerebri und des
3. Ventrikels. Entzündliche Gefäßerscheinungen fehlen im größten Teil
der Fälle von Poliencephalitis Wernicke. Sie fanden sich nur in den
Fällen von Zingerle , Preobraschensky und im späteren Fall von Berlelsen
und Rönne. In der Entwicklung der Lehre von der akuten oberen
Poliencephalitis werden dieselben Etappen wie in der Lehre von der
Encephalitis der Hemisphären beobachtet. Spielmeyer , Schröder und
andere Autoren wiesen auf den diathesen Charakter der Blutergüsse
bei Poliencephalitis hin, weshalb in diesen Fällen der ganze Prozeß
bei Fehlen von anderen entzündlichen Veränderungen nicht zu entzünd¬
lichen gerechnet werden kann.
220 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
Dasselbe sehen wir bei Encephaliditen der Hirnhemisphären, zu
welchen verschiedene pathologische Prozesse nur dank dem Vorhanden¬
sein im anatomischen Bild von Blutergüssen gezählt wurden. Später
suchte Schröder die Poliencephalitis nicht ganz aus der Gruppe der
entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems auszu-
schließen, indem er darauf hinwies, daß in einigen Fällen des Wemicke -
sehen Typus außer Blutergüssen noch andere Erscheinungen vorhanden
seien, die für einen entzündlichen Charakter des Prozesses sprachen.
Die Poliencephalitis von Wemicke ist ein Symtomenkomplex, der haupt¬
sächlich bei Alkoholismus sich findet. Die Lokalisation der Blutergüsse
ist eine rein zufällige. Anologe petechiale und größere Blutergüsse
findet man überhaupt oft in der Brücke, im verlängerten Mark und im
Großhirn bei Alkoholikern. Im Wemicke sehen Typus wird haupt¬
sächlich, jedoch nicht ausschließlich, die graue Substanz betroffen
(Zingerle, Oppenheim , Preobraschensky).
Die Beobachtungen von Zingerle , Wickmann , Preobraschensky
beweisen, daß der ophthalmoplegische Symptomenkomplex sich analog
der Encephalitis der Hemisphären auf dem Boden eines akuten infek¬
tiösen, diffus sich auf die weiße und graue Hirnsubstanz ausbreitenden
Entzündungsprozesses entwickeln kann. Für eine Identität dieses
Prozesses mit Encephalitis spricht außer dem anatomischen Bild die
gleichzeitige Entwicklung der Symptome von seiten des Großhirns
und des verlängerten Marks ( Preobraschensky , Freyhan u. a.). Der
ophthalmoplegische Symptomenkomplex von entzündlichem Charakter
stellt eine topographische Abart der akuten Encephalitis der Hemi¬
sphären vor ( Preobraschensky , Oppenheim). Zum ophthalmoplegischen
Symptomenkomplex von entzündlichem Charakter gehören folgende
von uns untersuchten Fälle.
Fall 1. 30 jährige Kranke. Entwicklung der nervösen Erscheinungen nach einer
fieberhaften Erkrankung. Choreatische Zwangsbewegungen , intranudeare Ophthal¬
moplegie , Hemiparesis dextr ., Bewegungsataxie in der rechten Handy cerebellare
Ataxie , Dysarthrie , allgemeine und partielle epileptiforme Anfälle , Schwachsinn.
Zurückgehen der Symptome und schließlich stationärer Zustand.
A. Ust. Mich., 30jähr. Dienstmagd, trat in die Nervenabteilung des Alt-
Ekatherinenkrankenhauses am 10. II. 1911.
Anamnese (nach Angabe des Gatten). Pat. erkrankte plötzlich im August
1910, sie befand sich dann im Gouvernement Tomsk, sie hatte Fieber im Laufe
von 2—3 Wochen, nach welchem sie sich erholte, doch begannen Zuckungen im
Gesicht und den Extremitäten sich bemerkbar zu machen; außerdem verdummte
sie stark, zugleich begannen epileptiforme Anfälle. Ähnliche Erkrankungen waren
in der Familie nicht zu konstatieren. Der Gatte konnte während der ganzen Krank¬
heitsdauer keine Lähmungen konstatieren. Lues, Alkohol werden negiert. Keine
Aborte.
Status praesens. In den Lungen nichts Besonderes. Herztöne etwas dumpf,
doch rein, keine Geräusche. Im Ham kein Eiweiß, andere innere Organe normal.
Pupillen reagieren fast nicht auf Licht. Willkürliche Bewegungen der Aug-
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis. 221
äpfel nicht ausführbar. Sie sind unbeweglich, scharf ausgeprägte Blicklähmung
nach links, die Augäpfel befinden sich in äußerster Seitwärtslage nach links. Bei
passiven Bewegungen des Kopfes nach rechts oder links gehen die Augäpfel in
entgegengesetzte Richtung. Liegt die Kranke ruhig auf dem Rücken, so sehen die
Augäpfel nach links. Augenhintergrund normal. Die Augenlider können willkürlich
gehoben werden. Kaumuskeln und übrige Hirnnerven in Ordnung. In der Gesichts¬
und Halsmuskulatur beständige Zuckungen einzelner Muskeln und ganzer Muskel¬
gruppen, schnelle fasciculäre Zuckungen der Gesichtsmuskeln besonders des Orbicu-
laris oculi. Die Kranke schließt beständig die Augen, drückt die Lider zusammen,
macht verschiedene Bewegungen mit den Lippen, Trismus, knirscht mit den Zähnen.
Die Mundöffnung wird verengt, zuweilen wird sie nach verschiedenen Seiten ge¬
zogen. Fasciculäre Zuckungen in beiden St. cleido-mastoidei und Platysma myoi¬
des. In der Zunge beobachtet man auch fasciculäre Zuckungen; die Kranke kann
nicht die Zunge herausgestreckt halten, da die Zwangsbewegungen sie daran
hindern. Die Mm. frontalis sind gespannt, die Nasolabialfalten beiderseits gleich
ausgedrückt. Gehör beiderseits gut. Gaumensegel verkürzen sich beiderseits
gleich. Die Stimme ist oft tonlos. Rachenreflex abgeschwächt, zuweilen ver¬
schluckt sich die Kranke dank den Zwangsbewegungen, überhaupt jedoch ist
das Schlucken nicht gestört. Zwangs beweg ungen derselben Art werden auch
in der Nacken- und Halsmuskulatur beobachtet, der Kopf wird hierbei nach hinten
und vorn bewegt. Beim Sitzen kann geringe Schwäche der Mm. cucullaris fest¬
gestellt werden. In den oberen Extremitäten, besonders rechts, beobachtet man
kurze blitzartige Zuckungen, die von der Verkürzung einzelner, gewöhnlich meh¬
rerer Muskeln und Muskelgruppen abhängen, so daß hierbei eine kombinierte
Zwangsbewegung entsteht — die Kranke ballt die Finger, beugt oder streckt den
Arm im Ellenbogen oder anderen Gelenken, proniert, rotiert ihn usw. In den
unteren Extremitäten beobachtet man Zwangsbewegungen von Flexions- und
Extensionscharakter in den Zehen und Fußgelenken. Die Krämpfe und Zwangs¬
bewegungen sind in den rechten Extremitäten stärker ausgesprochen, so daß die
Kranke fast beständig die rechte Hand mit der linken hält. Rechts ist die Kraft
merklich geschwächt. Pressio m. sin. 25 kg; man. dextr. 13 kg. Willkürliche Be¬
wegungen der Finger der rechten Hand sind dank den Zwangsbewegungen erschwert.
Keine Rigidität des rechten Arms. Die Kranke kann das ausgestreckte rechte
Bein nicht heben. Die Muskelkraft der unteren Extremitäten ist rechts etwas
geschwächt, links genügend. Bei passiven Bewegungen wird im linken Arm und
beiden Beinen Hypotonie der Muskulatur beobachtet. Im rechten Arm recht be¬
deutende Bewegungsataxie, links keine Ataxie. In den Beinen keine Ataxie. Die
Kranke geht schlecht mit kleinen Schritten, sie taumelt; der Gang ist von cere-
bellarem Charakter, die Zwangsbewegungen stören stark den Gang, sie stolpert
oft und läuft beständig Gefahr, ohne Hilfe zu fallen. Muskelsinn völlig erhalten.
Sensibilität aller Arten überall normal. Beckenorgane normal. Patellar-und Achilles¬
sehnenreflexe beiderseits lebhaft. Kein Klonus, kein Babinsky, Bauchreflexe vom
Hypo- und Epigastrium fehlen beiderseits; Sohlenreflex beiderseits vorhanden.
Wirbelsäule von normalem Bau, bei Beklopfen nicht schmerzhaft, von normaler Be¬
weglichkeit. Sprache dysarthrisch, monoton, leise, mit Unterbrechung; die Stimme
ist zuweilen tonlos; sie seufzt oft und stößt unartikulierte Laute aus. Die Sprache
ist zuweilen sehr erschwert. Die Kranke antwortet kaum auf Fragen, weint;
recht bedeutender Schwachsinn, die Kranke kann die einfachsten Forderungen
bei der Untersuchung nicht sofort erfüllen, weiß nicht den Namen des Kranken¬
hauses, nennt falsch den Tag, w r eiß weder Monat noch Jahr. Erkennt Personen
gut, kann die leichtesten arithmetischen Aufgaben nicht lösen, mit Mühe ein ein¬
faches Bild erklären.
222
M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
Die Kranke hat allgemeine epileptiforme Anfälle; sie beginnen oft mit kloni¬
schen Zuckungen im rechten Arm und in der rechten Gesichtshälfte, darauf gehen
die Zuckungen auf die linke Gesichtshälfte und die Extremitäten über und werden
allgemein, die Kranke verliert dann die Besinnung. Nach dem Anfall wird Bewußt¬
seinsstörung beobachtet.
Außer diesen epileptiformen Anfällen werden Anfälle von starken Zuckungen,
besonders in den Muskeln der rechten Gesichtshälfte und der rechten Extremitäten
beobachtet; der Kopf wird dabei nach rechts gezogen. Bei solchen Anfällen ver¬
liert die Kranke die Besinnung nicht.
Das klinische Bild dieses Falles besteht also aus einer choreatischen Hvper-
kinese und Zuckungen von myoklonischem Typus, die sich auf die gesamte will¬
kürliche Muskulatur mit Bevorzugung der rechten Seite ausdehnen; Anfälle von
allgemeinen und partiellen epileptiformen Krämpfen, die im rechten Arm be¬
ginnen; Störungen der Statik und Gang von cerebellärem Typus; Bewegungsataxie
der rechten Hand, Schwäche der rechten Extremitäten, Atrophie der kleinen
Muskeln der rechten Hand, Dysarthrie, Lähmung der willkürlichen Bewegungen
der Augäpfel bei Erhaltenbleiben ihrer automatischen Bewegungen. Verminderung
der Sehschärfe ohne Veränderung des Augenhintergrundes. Von seiten der Psyche
stark ausgeprägter organischer Schwachsinn. Im weiteren Verlauf der Erkrankung
bleiben die Herderscheinungen und die psychischen Veränderungen stationär; es
werden weitere Schwankungen in der Intensität der Zwangsbewegungen und der
Gleichgewichtsstörungen wie auch im Allgemeinzustand und der Zahl der epilep¬
tiformen Anfälle beobachtet.
Fall 2. 19jähriger Kranker , Soldat. Völlige Ophthalmoplegie ext. ei int ., beider¬
seitige Blicklähmung t bulbäre Dysarthrie. Störungen der statischen und motorischen
Koordination. Monoparesis brachii dextr. Trägheit der Mimik. Ausgang in völlige
Genesung. Krankheitsdauer ungefähr 7 Wochen.
Joseph Mel—koff, 19jährig, Gemeiner des 2. finn. Regiments, trat in die
Lazarettabteilung des Alt-Ekatherinenkrankenhauses am 17. X. 1916.
Anamnese. Am 24. IX. wurde der Kranke an der linken Hüfte verwundet und
nach Kiew, von dort nach Moskau evakuiert. Auf der Fahrt nach Moskau befand
sich der Kranke in einem sehr stark geheizten Wagen. Während des Schlafs be¬
merkte er nicht, daß die Tür, neben welcher er lag, geöffnet wurde. Beim Auf¬
wachen fühlte er, daß er erkältet sei. Am nächsten Tag stellte sich starker Kopf¬
schmerz ein, am Tage darauf bemerkte er Beschwerden beim Schlucken harter
Speise, flüssige Speise gerät in die Nase, sogar Wasser trinkt er mit Mühe, be¬
ständig sich verschluckend. Gleichzeitig bemerkt der Kranke ein Herabsinken
beider Lider. Im Laufe der nächsten 10 Tage tritt unbedeutende Besserung ein,
die Lider werden etwas besser gehoben, beim Trinken von Wasser und Milch,
verschluckt er sich weniger. Lues, Alkohol negiert er.
Status praesens. Der Kranke klagt über Schluckbeschwerden, Kopfschmerzen,
allgemeine Schwäche. Er ist von normalem Körperbau. Ernährungszustand
normal. In der Mitte der vorderen Hälfte der linken Hüfte befindet sich eine mit
einer Kruste bedeckte und mit dem unteren Gewebe eng verbundene Narbe: Die
Eintrittsöffnung der Kugel. Austrittsöffnung nicht vorhanden. Unbedeutende
Rötung der Schleimhaut beider Augen. Pupillen gleichmäßig erweitert, reagieren
weder auf Licht noch Akkomodation und Konvergenz. Ptosis beider Lider: die
Augen sind nur auf ein Drittel geöffnet, Augenbewegungen in unbedeutendem
Umfang nur nach oben. Alle anderen Augenbewegungen unmöglich. Diplopie.
Conjunctival- und Cornealreflexe lebhaft. Zähnefletschen in normalem Umfang.
Maskenähnliches Gesicht, träge Mimik. Bei Ruhe steht die linke Nasolabialfalte
etwas tiefer. Zunge wird gerade herausgestreckt, keine Atrophien. Keine Paresen
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
223
und Atrophie der Kaumuskulatur. Trage Verkürzung derselben, analog der Träg¬
heit aller Gesichtsmuskeln überhaupt. Geringe Verkürzung der Gaumensegel und
der Uvula. Leise Stimme, unverständliche langsame Sprache von bulbärem Cha¬
rakter mit nasalem Beiklang. Rachen und Unterkieferreflex fehlen. Am Gesicht,
Zunge und Schleimhaut des Mundes Sensibilität aller Arten völlig erhalten. Der
Kranke schluckt schlecht, verschluckt sich. Aktive und passive Bewegungen der
oberen und unteren Extremitäten in vollem Umfang. Passive Bewegungen frei.
Keine Rigidität. Der rechte Arm ist in allen Teilen etwas schwächer als der linke.
Kraft des linken Armes völlig genügend. Motorische Kraft der unteren Extremi¬
täten genügend. Bewegungsataxie in beiden Armen, links weniger ausgedrückt.
Muskelsinn in allen Extremitäten erhalten. Keine Ataxie der unteren Extremitäten.
Der Kranke sitzt mit Mühe im Bett; kann nur mit Unterstützung von beiden Seiten
stehen, schwankt dabei stark. Mit fremder Hilfe kann der Kranke einige Schritte
machen. Sensibilität aller Arten überall erhalten. Wirbelsäule auf Druck schmerz¬
haft, Beweglichkeit normal. Keine Rigidität der Nackenmuskulatur, kein Kernig.
Biceps- und Tricepsreflexe beiderseits auslösbar. Patellarreflexe fehlen beiderseits.
Kein Klonus, kein Babinsky. Bauchreflexe auslösbar. Beckenorgane in Ordnung.
Harnlassen selbständig. Obstipation. Herztöne und Herzgrenzen normal. Puls
100 in der Minute regelmäßig, von schwacher Füllung. Im Ham kein Eiweiß.
Lungen und innere Organe ohne Veränderung. Rachen gerötet, kein Belag. Eiter
aus dem rechten Ohr, dem Ausfluß gingen lancinierende Schmerzen in beiden
Ohren voraus. Temperatur 17. X. abends 38,3; 18. X. 37,7—38,8; 19. X. 37,3—
37,8; 20. X. 37,1—38,3. Sprache unverständlich, bulbär; trockene Zunge. Ver¬
schluckt sich. Puls 96 in der Minute.
21. X. 37,0—37,7. Bewegungen des rechten Augapfels in geringem Maß
nach rechts, links und oben vorhanden. Linkes Auge: unbedeutende Beweglichkeit
nach innen, Bewegung nach anderen Richtungen unmöglich. Sehschärfe subjektiv
verringert. Verkürzung der Gaumensegel und der Uvula bedeutend stärker aus¬
gedrückt als bei der ersten Untersuchung. Lumbalpunktion; es werden 20 ccm
Lumbalflüssigkeit entnommen, die unter erhöhtem Druck im Strom ausfließen.
Lumbalflüssigkeit farblos, Eiweiß 1,0%, viel Lymphocyten und wenige poly-
oucleare Zellen. Kultur steril. Im Ausstrich des Zentrifugats keine Bakterien.
22. X. 37,5—37. Linkes Ohr normal, rechts Perforatio memb. timp. dextr.,
unbedeutender eitriger Ausfluß. Sonst im Zustand des Kranken keine besonderen
Veränderungen.
23. X. 37,2—36,0. Augenuntersuchung: Lider gesenkt. Begrenzte Beweg¬
lichkeit der Augäpfel nach allen Richtungen. Pupillen gleichmäßig, reagieren
träge auf Licht, Medien durchsichtig. Augenhintergrund normal. Sensibilität der
Cornea herabgesetzt.
25. X. 36,2—36,5. Sprache ist etwas deutlicher, Schlucken besser. Wasser¬
mann im Liquor und Blut völlig negativ.
27. X. 37,3—36,8. Beweglichkeit des rechten Auges nach rechts und links
unbedeutend, nach unten unmöglich, nach oben sehr begrenzt. Links Bewegungen
nach innen und unten möglich, nach oben und außen nicht ausführbar. Pupillen
weniger breit, reagieren träge auf Licht. Conjunctival- und Comealreflex lebhaft.
Ptosis beider Lider, Augen halb geöffnet. Augen werden gut geschlossen, Zunge
gerade herausgesteckt. Schlucken bedeutend besser. Ißt Brei und gedrückte
Kartoffeln, ohne sich zu verschlucken. Sprache trägt zwar noch bulbären Charakter,
jedoch viel deutlicher. Schwäche des rechten Arms in allen Gelenken. Unbedeutende
Ataxie bei willkürlichen Bewegungen in den oberen Extremitäten. Bewegungen
werden in allen Gelenken der unteren Extremitäten in vollem Umfang mit ge¬
nügender Kraft ausgeführt. Keine Ataxie. Der Kranke sitzt im Bett fast frei.
224 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
Geht mit fremder Hilfe etwas besser. Keine Meningealerecheinungen. Patellar-
reflexe beiderseits auslösbar. Kein Klonus, kein Babinsky. Puls 76 in der Minute,
regelmäßig.
I. XI. 36,6—36,9. Lider um % gehoben. Beweglichkeit des rechten Auges
nach allen Richtungen. Bewegungsfähigkeit des M. rect. int. des linken Auges
wieder hergestellt, Bewegung nach außen unmöglich. Keine Ataxie der oberen
Extremitäten, kann selbständig noch nicht gehen, sitzt gut.
12. XI. Der Kranke geht auf Krücken gut. Keine Ptosis. Beweglichkeit des
linken Auges wird besser; schluckt gut, Sprache völlig deutlich.
26. XI. Der Kranke geht ohne Krücken, keine Augenmuskelstorungen, Sprache
deutlich, schluckt gut. Allgemeinzustand gut.
13. XII. Der Kranke wird gesund entlassen; keine Anfallserscheinungen.
Während seines Aufenthaltes im Lazarett erhielt der Kranke in der ersten Zeit
Chinin, Aspirin und Campher, Wein, Ableitung auf den Darm, Blutegel hinter den
Ohren, Einläufe aus 5 proz. Kollargol, späterhin erhielt er Strychnininjektionen.
Jodpräparate und kräftigende Mittel. Klinische Diagnose: Mesencephalitis ac.
(Poliencephalitis subacuta). Vulnus sclop. femor. sin.
Fall 3 . löjähriger Kranker. Plötzlicher Beginn mit allgemeinen Himsymjdornen.
Lähmung der Augenmuskeln. Parese der linken Extremitäten , Beuegungsataxie de*
linken Arms. Hyperalbuminose im Liquor cerebrospinalis. Erhöhte Temperatur ;
bedeutemies Zuriickgehen der Krankheitssymptome. Krankheitsdauer gegen 3 Monate.
S. N. Tschem., 15jährig, Küchenjunge, wird am 5. VI. 1912 in die Nerven¬
abteilung des Alt-Ekatherinenkrankenhauses aufgenommen.
Anamnese. Im Laufe von 3 Wochen litt der Kranke an plötzlich auftretenden
Kopfschmerzen, die die ganze Zeit über mit einigen Remissionen anhielten. Wäh¬
rend der Kopfschmerzen trat Erbrechen, mehrmals täglich, auf. Besinnungslosig¬
keit, Delirien. Der Kranke weiß nicht, ob Nackenrigidität bestand. Temperatur
war erhöht. Es bestand Doppelsehen, das auch jetzt noch vorhanden ist. Später
entstand Ptosis und linksseitige Hemiparese. Ohne besondere Heredität. Lues.
Alkohol werden negiert.
Status praesens. Lungengrenzen normal, vesiculäres Atmen. Herzgrenzen nor¬
mal, Puls 96 in der Minute, regelmäßig, Herztöne rein. Leber und Milz nicht
palpabel, Grenzen normal. Im Harn kein Eiweiß, auch sonst nichts Pathologisches.
Anisocoria, rechte Pupille breiter, Reaktion auf Licht, Akkomodation und Kon¬
vergenz lebhaft. Bewegung des linken Auges noch oben begrenzt, sonst Beweg¬
lichkeit normal, Ptosis. Rechtes Auge: Lähmung der Mm. rect. int. sup. und
infer., Mm. obliqui sup. und inf. erhalten. M. abducens dextr. normal. Ptosis
rechts mehr ausgedrückt, als links. Diplopie. Sehschärfe normal. Strabismus
divergens. Gehör, Geruch und Geschmack normal, Zunge wird normal herausge¬
steckt, Rachenreflex normal. Conjunctivalreflex beiderseits erhalten. Trigeminus
unverändert. Alle Facialiszweige normal. Sprache unverändert. Obere Extre¬
mitäten: aktive Bewegungen in allen Gelenken genügend, bei passiven Bewegungen,
keine Rigidität. Links Kraft ein wenig verringert. Biceps- und Tricepsreflexe
beiderseits auslösbar. Pressio m. dextr. 40 kg, m. sin. 20 kg. Sensibilität aller
Arten erhalten. Keine meningealen Erscheinungen. Abdominal und Cremaster¬
reflexe beiderseits normal. Aktive und passive Bewegungen der unteren Extre¬
mitäten beiderseits normal. Kraft des linken Beines geringer. Patellar- und
Achillesreflex normal. Kein Klonus, kein Babinsky. Plantarreflex vorhanden.
{Sensibilität aller Arten an den unteren Extremitäten erhalten. Gang unverändert,
geringe Bewegungsataxie des linken Armes. Beckenorgane in Ordnung. Subjektiv
Schwäche der linken Extremitäten.
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis. 225
7. VI. 36,6—37. Puls 92 in der Minute. Rechtes Auge: Ophthalmoplegia ext.
Rechte Pupille breiter, reagiert auf Licht lebhaft. Die noch vorhandenen Be¬
wegungen des Auges werden durch die Mm. obliqu. ausgeführt. M. rectus extr.
dext. erhalten. Rechter Augapfel in extremer äußerer Lage. Linkes Auge: begrenzt
sind nur die Bewegungen des M. rect. sup., die übrigen Bewegungen geschehen in
genügendem Umfang. Linke Pupille reagiert auf Licht lebhaft. Ptosis beider
Lider, rechts starker. Diplopie. Beide Nasolabialfalten gleichmäßig ausgedrückt.
Zunge wird gerade herausgestreckt. Schlucken frei. Motorische Kraft des linken
Armes in allen Gelenken, besonders den proximalen, bedeutend geschwächt. Be¬
deutende Ataxie bei Bewegungen des linken Armes. Im linken Bein keine Ataxie.
Motorische Kraft des linken Beines in allen Teilen genügend. In den rechten
Extremitäten keine Bewegungsataxie. Kein Klonus. Patellarreflexe beiderseits
gleich. Kein Babinsky. Keine bulbären Erscheinungen.
10. VI. 36,9—37,0. Kaum merkliche Ataxie im linken Arm. Sonst ohne
Änderung. Cerebrospinalflüssigkeit durchsichtig, unter bedeutendem Druck.
14. VI. 36,5—37. Ptosis etwas geringer. Ataxie des linken Armes. Augen¬
hintergrund normal. Oc. dextr. Ophthalmoplegia ext. Ptosis incompl. Paresis
mm. recti sup., int. et inf. Oc. sin.: Ptosis. Pupillen reagieren auf Licht, Akkomo¬
dation und Konvergenz. Wassermann negativ. In der Cerebrospinalflüssigkeit
Hyperalbuminose 0,6% 0 . Keine Pleocytose.
22. VI. 36,4—37,2. Ptosis etwas verringert, Beweglichkeit der Augäpfel nach
links normal, nach rechts unverändert. In den folgenden Tagen Temperatur
normal.
7. VIII. Ptosis beiderseits bedeutend geringer, mehr rechts. Parese des M.
rect. int. Beweglichkeit des linken Auges nach allen Richtungen normal. Keine
paretischen und ataktischen Erscheinungen.
14. VIII. Ptosis und Lähmungen der Augenmuskeln bedeutend geringer.
Der Kranke wird gebessert ausgeschrieben. Wahrend seines Aufenthalts in der
Nervenabteilung erhielt er in der ersten Zeit Einläufe mit 5proz. Kollargol, Chinin,
Aspirin mit Campher, Wannen, Jodpräparate, Faradisation der Augenmuskeln,
später stärkende Mittel. Klinische Diagnose: Mesencephalitis ac. (Poliencephalitis
sup. ac.).
Fall 4. 40jährige Frau , plötzlicher Beginn und allmähliches Anwachsen all¬
gemeiner Himsymptome , komatöser Zustand , Lähmung der äußeren und inneren
Augenmuskelny Strabismus divergens. Spastische Lähmung aller Extremitäten.
Babinsky beiderseits, verlangsamter Puls , erhöhte Temperatur . Mikroskopisch: ex¬
sudativ-proliferative Encephalitis mit Erweichung im Hirnstiel, Vierhügeln und
Brücke.
Marie Av—., 40jährig, Bibliothekarin, wird am 12. I. 1922 in die Nerven¬
abteilung des Alt-Ekatherinenkrankenhauses aufgenommen.
Anamnese. Vor 3 Tagen erkrankt, beim Beginn klagte die Kranke über Kopf¬
schwindel, Übelkeiten, Kopfschmerzen. Der Kopfschwindel begann nach Angabe
der Umgebung vor einer W 7 oche. LTngefähr 1 Stunde nach Beginn der Erkrankung
verlor die Kranke die Besinnung, es trat eine epileptiformer Anfall ein, der sich
am nächsten Tage wiederholte, gleichzeitig trat Erbrechen ein. Gestrige Tem¬
peratur 37,8, heute morgens 37,9. Ptosis des linken Auges seit der vorigen Nacht.
Lues wird negiert, kein Alkoholismus. Vor einigen Jahren psychische Erkrankung
mit Halluzinationen, die letzten Jahre fühlt sich Pat. gut.
Status praesens. Die Kranke ist im komatösen Zustand, reagiert nicht auf
Fragen. Pupillen reagieren nicht auf Licht. Linksseitige Ptosis. Das linke Auge
ist nach außen gezogen, das rechte steht in mittlerer Lage unbeweglich. Die übrigen
Himnerven bieten keine bemerkenswerten Abweichungen von der Norm. Keine
Z. f. d. g. Neur. u. P«ych. XCIII. 13
226 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
Nackensteifigkeit, kein Kernig. Lähmung aller 4 Extremitäten, im linken Arm
Rigidität. Kein Klonus, Babinsky beiderseits. Patellarreflexe lebhaft. Am Kranz
beginnender Decubitus. Herztöne etwas dumpf, keine Geräusche. Puls 96 in der
Minute, regelmäßig. In der linken Lunge scharfes Atmen. Abends Temperatur
37,9. Im Harn kein Eiweiß, kein Zucker. Spezifisches Gewicht des Harns 1,020.
Im Sediment einzelne Leukocyten, Zellen der Ausführungsgänge, amorphe phosphor¬
saure Salze.
13. I. 36,4—36,7. Bewußtloser Zustand. Keine Rigidität der Nackenmusku¬
latur. Rigidität beider untern Extremitäten. Babinsky beiderseits. Puls schwach,
54 in der Miunte.
14. I. 38,3—39,9. Komatöser Zustand. Pupillen eng, reagieren nicht auf
Licht. Rigidität aller 4 Extremitäten. Läßt Ham und Faeces unter sich. In der
linken Lunge mittel- und kleinblasiges Rasseln. Kurzatmigkeit. Die Kranke
exitiert am 15.1. 1922, 7 Uhr morgens. Krankheitsdauer gegen 13 Tage. Während
ihres Aufenthaltes im Krankenhaus erhielt sie Tonica fürs Herz unter die Haut
und Eis auf den Kopf.
Klinische Diagnose . Mesencephalitis ac. (Poliencephalitis sup. ac. corp. qua-
drigem et craris cerebri).
Sectio 16. I. Pros. W. Talalaew.
Poliencephalitis et ramollitio cinerea cruris cerebri et corp. quadrigemin.
Bronchopneumonia catharralis pulmon. sin. Hyperaemia venosa organorum com¬
munis. Makroskopisch findet man auf der Schnittfläche durch die vorderen Hügel
und den Himstiel eine Erweichung der ganzen linken Hälfte der Pedunculi und des
inneren Drittels der rechten. Auf der Oberfläche des Erweichungsherdes sieht man
zerfheßende rote Punkte von Petechien. Im Gebiet des Tegmentums wird makro¬
skopisch keine Erweichung beobachtet. Auf der Schnittfläche durch die hinteren
Hügel sieht man die Erweichung des Pes pedunculi links. Auf der Höhe des Aus¬
tritts des N. trochlearis sieht man 2 Erweichungsherde: einen in der Unken Pyramide,
den anderen im Tegmentum rechts; erweicht sind die Brachia conjunctiva, Lem-
niscus later, et medialis. Auf folgenden Schnitten in caudaler Richtung geht die
Erweichung bis zur Höhe des Trigeminuskerns. Thrombose der Art. basilaris, verte-
bralis und ihrer Zweige wird nicht beobachtet.
Die mikroskopische Untersuchung des Hirnstammes ergibt ein einförmiges
Bild in allen seinen Teilen, weshalb diese Veränderungen gemeinsam beschrieben
werden können: die weichen Hirnhäute des Stammes sind mit Lymphocyten
infiltriert, die Hauptveränderung in den weichen Häuten besteht in einer lymphoi-
den Infiltration, außerdem werden proliferative Veränderungen der Adventitia der
Gefäße, der Bindegewebselemente und des Epithels der Lymphräume der weichen
Hirnhäute beobachtet. Die proliferativen Veränderungen sind hauptsächlich an
den Grenzen der Hirnsubstanz ausgebildet und bestehen im Auftreten heller
polyblastoider und epitheloider Zellenelemente. In der Umgebung einiger Gefäße
der weichen Hirnhäute sieht man Muffs aus proliferierten endo-perithealen Ele¬
menten, hauptsächlich Polyblasten und Plasmazellen, zuweilen findet man auch
epitheloide Zellen (Abb. 1). Die Gefäße der weichen Häute sind stark erweitert
und mit Blut gefüllt. Die weichen Häute sind größtenteils fest mit der Hirnsub¬
stanz verschmolzen; fast überall wird ein Übergang des Entzündungsprozesses
auf die Hirnsubstanz festgestellt. An der Berührungsfläche mit den weichen
Hirnhäuten sieht man infiltrierte in die Tiefe dringende Gefäße. Außerdem findet
man an den Berührungsflächen und in ihrer Umgebung eine diffuse und knochen-
förmige, hauptsächlich um die Gefäße gelegene Gliaproliferation. Zuweilen findet
man um die erweiterten und mit Blut gefüllten Capillaren und pericapillären Ge¬
fäße mit saftigem proliferierendem Endothel herdartige Verstärkungen der Glia-
der akuten qiideuiis«\linn und siudvnlisuhftii Mesionrojihalitfe; 227
probfer«itu»iü Ju der weiße« um! grauen Substanz de» Stonmes winl' starke Ib-
jek!u»n nmi RJatfMwrftÜlun*; der tkfaße ftettfrsteJfc; Di*? Cftpülareu bil&>n;.einweit- 1
inMHktg*»* in tinken tfefaßtm wird .Staat* ^ Injizierten
liÄßf* miliim lilu i gjefäße in dnr HiironJ&ianz and in tlvn pmvat>cüfama
Riutie'u brrtiai/ hUA, An vielt?« Sieben de* Stamme* siebt rrmn auiior aroüen,
diffus msitvaU' mdi&rv m&rnfisehv s itäd den der
X*ma*«bsfcan^ Die--^Wiv t>*Mdtri<‘hem« größt?« Rrweiefmnushi^rd«* erweisen sieb
hei mikte^kruseber Untaraudiung aueb \ ok rjrn OfifÄßen" unabhängig: hn ib*biet
der tMnbtuvjVtiintkvm- M der urößW MVii <fer NW *'Viiiolhsti durt-li die KrvrWUunc
-j*. .;•. r. .•?.•• ‘l&i&lji&LÜJ. * ,.i. ' :TSf ; ! _J-..
< :!ie rrh.iHiwn befinden Wh im Sladjum öiiin:• seiiwr-ren Tigp%
49 P
Ai>b. 1, £eläi; »oh «ter \W!’hen Hirnhaut Mit Muff
art»'«ritiüeßttn Elementen, Intfm&ta Sklerose. Fall 4. ’Ypiyr-
i'^r)>tutu. Ei^adlaniMtutyiuvKvVni.
f« sinken, bftwpt^eiilich klerae« •=(>*!*Ü^^ri--findnt•. «hms' Tititxmbeii von -tlee-
k< ohun.k». n\ %iv\rfi&n iddW« «MM mau röteUnd ge-
mweht>die völlig ödet teilweise «ins i irtadlüm«-m oty» leneren. In den
.föjT&jJen ^ Stamme}? berm-ht l> ¥ fn}>Wid‘.* iitfillrntitm vpi% 4k?fch$tdW^ kt. in'
Sötten iWIStiSen eine prWifrnitkm.i&# ZU b^lbaeliten, die »ioh auf
den pena/iventi(teilen Kaum bc^hrunltf. Die ptxdifeiierenden KJeöicute sind fttiro-
bWieide- und vpiuW/ide Zellen. Starke t iliaiindif^rntidtt,, * i>ie DJiakefue ziehen
ifc *tiier, r.uvrdlfr/. in Oflprflireh- und‘i^^pilfari^/Geiuißim ent-
btjg. Den faiw dp^b^hr«itU\m>n kleinen <Wbißeti entlang f:&öj>k4&chlieh in der
Brnko weht man Ansammlimgen vt: f n (diiikmten rdu reöHfmnßiger. Fnrnu die hatipt-
^ÄchlSicK an einer Seift der (Muße liem m Die Amammhmggtt ».»«ziehen aus runden
Weainpft« wU fiellem Pmtoplamnasaiim uml stark gefärbtem Kern. Diese Zellen
SÄäfeft. Im umliWiuatfWrR' r.lmelernentek ariden Kerne der Zrllejiansa?nm 1 1 tngen
jrj^r: hi viiiiei L f euu v im>ai:r>eri pro(i*pl;Wuia^sr!ien (diainttsse iKvrluin^ iit^:*b \lz-
h&*i&£) Dii^ iri den ^VnM^h^ikvfifii^u ijj^eqdeti Ki-tfno Mod polymorph., imn sidit oft
'WjSimtiiit'rt* KMriv: rmlt Art der & anderen zerfallen dfr Kerne auf
:;' - * UnvMpffinhntndu' HiirhmiMm. iM-i ■jarftlfy« Teil der Zellen int lieft nul /n-
iM 1-ihlV.Wi O'hronKitm >läi> findet mich dunikh„ lymphoovtenithnlir he Kerne.
d '• X^Usfij^amhiiwqaeo ;weht nur wrr Italic. 1 «/ wo ^Ür KrfrHrftui#*ij
«di finden., sanftem auch ui flr r Briick» findet rnaw sehr vide r+vr^iv** Fwwri* ~
pykno Inehr, xerfailendo Kenia, zwi^chcai weMn-n i.Vtrft ?.>); *de, r* bft, Sach ihm),
•mprphdk^irfcheo f%eri»chafUui und ihr** FiutVimx rite Kftnfr m 4%i '' : &W
ftAmoiiiHjeai iiiit den andi*rt*u- ^Ukk^rnanim, Hel Mt Prüpscnft iilentMh.
Fonmm dtr 'iftfrkarh'p; .findet man auch toi. dftfu« pt^difcTi^nd^n^dfti&jeHeM
AbV». *JL P^U)»b*.>u«i£rf StirMihitn \ <»n 4(Ut»1 r\q ; «Jioim ei»ü * w|n-
jif'rtl beb*b* l’cabfcv^tU'f»: f.. aWuebi, \ rr$v. VÄTl>»mi^: \ )kr»^ria-'bljui.
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ei ft /irftJH* «Sfadium der $Jntwk*klon^ ft <^ Khfttt'Mi danHollr».. kl&Rfweii
ftud {Ai<!>. it). (n fftnft&m Kndrdn-n «rein man m ot'i .unrm : timil.hc»*r Pono
Oef&ft, »n andern kann ehr Cefitß nur S$r*hnitrkqi k ( 1 n?ftfl tfr-ft' iiwWli
Ofr.alifov jTcnvuM dm-? hi hh erddi *nofr T< rak tinft wi; m de«Tierhh^dh,vK-f >ehA^v N* -
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qftfter Kttk^n äik'H jnart: nietru^rfaflprortukte.
M.*u 1 fvu 1 I ;’»•.»;•!: c.-npp; UUC--FC nnd »*i jp$ i’ivs d jjft <\ 'V|in»e .Adi^en/._Vi)«»»ic-r.
j u\ ^ul drn jife^^ rintteftV^^nfrjkefe ^irrl 4fe t x \^id^UV\
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M .ifeiiMÖpfti) mc h w','ftfr. Stijek iiWi' ft»’r X »Ä tfr ist mit Vteten Ora4l.f1*, dk*
< v^.btrr-H dm i»:ü tVfftist j, c !i,n ot/.lerv dm mdcrvn Ted riei Knicke firulet mac
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis. 229
Herde von injizierten Gefäßen, um welche perivasculäre Verdichtung der Gliazellen
und Proliferation des Endoperitheis beobachtet wird; letztere ist oft stärker aus¬
gebildet als die Infiltration. In den Nervenzellen sieht man verschiedene Stadien
von Tigrolyse der Kerne. Einzelne gequollene Achsencylinder. Im verlängerten
Mark findet man auch entzündliche exsudativ-proliferative Erscheinungen, haupt¬
sächlich Infiltration der Adventitia mit Lymphoeyten. Man findet desqua¬
mativ-proliferative Thromben. Der Charakter der Gliaproliferation entspricht
demjenigen in den höheren Teilen.
Wenn wir das pathologisch-anatomische Bild dieses Falles resü¬
mieren, so sehen wir, daß sein mikroskopisches Bild aus zwei selbständigen
koordinierten Prozessen besteht, und zwar aus Erweichung und exsu¬
dativ-proliferativer Entzündung. Diese beiden Prozesse, ein nekro-
biotischer und ein entzündlicher, sind durch ein- und dieselbe toxisch-
infektiöse Ursache hervorgerufen.
Fall 5. 17jährige Kranke , plötzlicher Beginn der Erkrankung mit allgemeinen
Himerscheinungen und Lähmungen der Augenmuskeln . Seitliche und vertikale
Blicklähmung. Statische Störungen , keine Lähmungen. Erhöhte Temperatur. Stark
ausgedrückte meningeale Erscheinungen ; später Schläfrigkeit , Delirien , reflektorisch¬
spastische Erscheinungen und Lähmungen. Hämorrhagische Cerebrospinalflüssigkeit,
HyperaUm minose. Exitus letalis . Bei der Obduktion hämorrhagische Mesencephalitis
mit großen Blutergüssen.
N. Trof., 17 jährige Schülerin wird in die Nervenabteilung des Alt-Ekatherinen-
krankenhauses am 28. XI. 1921 mit Klagen auf starke Kopfschmerzen auf ge¬
nommen. In der Kindheit überstand sie Masern und Scharlach. Vor 3 Jahren
Flecktyphus. Die Eltern der Kranken leben und sind gesund. Lues wird negiert.
Keine Tuberkulose. Die augenblickliche Erkrankung begann am 23. XI. 1921.
Die Kranke kam aus der Schule und klagte sofort über starke Kopfschmerzen;
es trat Erbrechen ein, das 24 Stunden dauerte. Der Kopfschmerz hielt die ganze
Zeit an, darauf trat Diplopie ein.
Status praesens . Die Kranke ist bei Besinnung, antwortet richtig auf Fragen,
ist in der Umgebung gut orientiert. Gibt sich immer Mühe, das rechte Auge dank
der Diplopie geschlossen zu halten. Rechte Pupille breiter als linke, reagiert nicht
auf Licht, linke Pupille reagiert träge. Willkürliche Bewegungen des rechten
Auges nach links begrenzt, es kann nicht bis zur äußersten Lage geführt werden.
Nach rechts wird es nur bis zur Mittellinie bewegt. Bewegungen nach oben und
unten unmöglich. Willkürliche Bewegungen des linken Auges nach links un¬
bedeutend, rechts bis zur Mittellinie, nach oben und unten unmöglich. Strabismus
divergens. Assozierte Bewegungen der Augen; nach links können sie nicht bis zur
äußersten Lage geführt werden, nach rechts sind Bewegungen nur bis zur Mittel¬
linie möglich. Assoziierte Bewegungen nach oben und unten nicht ausführbar.
Reflektorische und automatische Bewegungen beider Augen sind in gleichem Um¬
fang wie willkürliche ausführbar. Übrige Hirnnerven in Ordnung. Schlucken
nicht beeinträchtigt, keine Dysarthrie. Stark ausgedrückte Rigidität der Nacken¬
muskulatur. Kernig stark positiv. Keine Lähmungen und Ataxie der Extremi¬
täten. Stark ausgedrückte Störungen der Statik — die Kranke taumelt beim
Gehen stark. Sensibilität aller Arten normal. Patellar- und Achillesreflexe lebhaft.
Kein Klonus, kein Babinsky. Sphincteren in Ordnung. Herzgrenzen normal.
Töne rein. Lungen: in beiden Spitzen scharfes Atmen. Zahl der roten Blutkörper¬
chen 5,200,000, der weißen 7550. Hämoglobin nach Sahli 85%. Im Harn kein
Eiweiß, kein Zucker, keine Formenelemente. Temperatur morgens 37, abends 37,8.
230 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Syraptoraenkomplex
29. XI. 36,6—37,4. Starke Kopfschmerzen und Diplopie. Starke Rigidität
der Nackenmuskeln. Kernig positiv. Starke Schmerzen in den Schulterblättern.
Schlaflosigkeit.
30. XI. 37,8—37,5. Ptosis beider Lider. Strabismus divergens. Augen¬
muskellahmungen unverändert. Rigidität der Nackenmuskeln. Kernig positiv.
Schmerzen im Rücken und Schulterblättern. Starße Kopfschmerzen. Es wird
Lumbalflüssigkeit, die unter hohem Druck mit beigemischtem Blut abfließt, ent¬
nommen.
I. XII. 37,1—37,4. Kopfschmerzen halten an. Ptosis beiderseits, Diplopie.
Strabismus divergens. Pupillen erweitert, wie früher.
3. XII. 37,2—38. Augen geschlossen; sie werden mit Mühe geöffnet; schläft
fortwährend, starke Kopfschmerzen, Rigidität der Nackenmuskeln. Kernig.
Schmerzen im Rücken. Bewußtsein getrübt. Eiweiß in der Cerebrospinalflüssiti-
keit O,12 0 / 00 . Im Sediment: Große Anzahl von Leukocyten, viel Lymphocyten; man
findet einzelne neutrophile und Endothelzellen. Wassermann im Blut und Cerebro¬
spinalflüssigkeit negativ.
4. XII. Kopfschmerzen. Augen geschlossen. Schläft beständig. Keine Läh¬
mungen, keine Sensibilitätsstörungen.
5. XII. Harnverhaltung. Ptosis rechts stärker, links Nasolabialfalte tiefer.
Zunge weicht nach links ab, zittert. Starke Kopf- und Rückenschmerzen. Menin-
gealerscheinungen wie früher. Sensibilität unverändert. Bewegungsschwäche im
rechten Hüftgelenk.
6. XII. Augenmuskellähmungen unverändert. Ptosis beiderseits. Diplopie,
rechte Nasobialfalte steht tiefer, Zunge weicht nach links ab. Schläft beständig,
antwortet auf Fragen richtig, phantasiert und schreit oft auf.
9. XII. öffnet mit Mühe die Augen. Sprache unverändert. Gehör normal.
Schläfrigkeit, starke Kopfschmerzen und Schmerzen im Rücken. Parese in beiden
Hüftgelenken.
II. XII. Meningeale Erscheinungen stark ausgedrückt, öffnet die Augen mit
Mühe, Augenmuskellähmungen unverändert, schläft beständig. Die Kranke ist
unruhig, bewegt sich im Bett, schreit auf.
15. XII. Ptosis, Strabismus div., öffnet die Augen mit Mühe. Babinsky links.
Sprache unverändert, ißt gut und selbständig. Harnlassen und Defäkation normal.
Beständige Schläfrigkeit.
18. XII. 37,0—37,4. Strabismus, Ptosis. Ataxie der oberen Extremitäten,
soporöser Zustand, auf Fragen antwortet die Kranke. Meningeale Erscheinungen.
Patellarreflexe lebhaft. Sensibilität erhalten.
21. XII. Soporöser Zustand. Ptosis, Strabismus, Diplopie. Parese des linken
Facialis. Zunge weicht nach links ab. Babinsky links. Lumbalpunktion: Punktat
durchsichtig von gesättigt rosa Farbe durch Blutbeimischung. Eiweiß 0,15%, viel
Lymphocyten, einige polynucleare Zellen.
23. XII. Soporöser Zustand; die Kranke ist unruhig, wirft sich im Bett hin
und her. Unwillkürliche Zwangsbewegungen in den Füßen. Hebt den einen oder
anderen Fuß, dreht sie nach rechts und links.
24. XII. Schläft beständig, wenn sie geweckt wird, antwortet sie richtig.
26. XII. Schläft fortwährend, sehr schwer zu erwecken, hört schlecht, spricht
undeutlich, Sprache mit bulbärem Beiklang; verschluckt sich beim Essen. Be¬
ständige Zwangsbewegungen in Händen und Füßen. Versteht alle an sie gerich¬
teten Fragen. Die Augen werden nur auf ein Drittel des Normalumfanges geöffnet.
28. XII. Soporöser Zustand. Die Kranke war in der Nacht sehr unruhig.
Schläft am Tage, ist sehr schwer zu erwecken. Lähmungserscheinungen von seiten
der Hirnnerven und der unteren Extremitäten unverändert. Sprache von bulbärem
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis. 231
Charakter. Schluckt schlecht. Die Zwangsbewegungen in den Extremitäten be¬
stehen fort und haben choreatischen Charakter.
29. XII. Liegt ruhig. Tiefer soporöser Zustand, läßt Harn unter sich.
30. XII. Komatöser Zustand. Lähmung aller vier Extremitäten. Nachts
18 epileptiforme Anfälle. Zunge und Lippen stark zerbissen. Puls von schwacher
Füllung, arhythmisch 92 in der Minute. Atmung beschleunigt und erschwert.
31. XII. Tiefer komatöser Zustand, wieder einige epileptiforme Anfälle. Un¬
beweglichkeit der Augäpfel, Pupillen erweitert, reagieren nicht. Lähmung aller
vier Extremitäten, keine spastischen Erscheinungen. Sehnenreflexe abgeschwächt.
Babinsky beiderseits.
1. I. 1922. Puls sehr schwach; tief komatöser Zustand, Lähmung aller vier
Extremitäten. Exitus letalis.
Obduktion am 1. I. 1922 (Pros. W. Talalajeu).
Rammoilitio rubra et haemorrhagia corp. quadrigemin. totalis et cruris cerebri
partialis.
Hyperaemia venosa cerebri. Hydrocephalus int. haemorrhagica. Hyper-
aemia venosa organorum communis.
Makroskopisch vernichtete der Bluterguß teilweise die Vierhügel und den
oberen Teil der Brücke. Im Hirnstiel war der Aq. cerebri durch den Bluterguß
verdrängt, der letztere liegt fast ventral, von den Seiten einen Streifen Hirn¬
substanz lassend. Ventral reicht der Bluterguß von beiden Seiten nicht bis zur
Subst. nigra. Die Gefäße der weichen Hirnhäute sind mit Blut injiziert, man be¬
obachtet viel subpiale Blutergüsse. In der Hirnrinde starke Injektion der Gefäße.
Makroskopisch bieten die Hirngefäße keine Veränderungen. Keine Thrombose.
Bei mikroskopischer Untersuchung sind die weichen Hirnhäute des Stamms
stark hauptsächlich mit Lymphocyten infiltriert. Die Gefäße der weichen Hirn¬
häute bieten die Erscheinungen einer lymphocytären Infiltration und in geringerem
Maße Erscheinungen einer Proliferation des Endoperitheis. Die weichen Häute
der Großhirnrinde sind in geringem Maße mit Lymphocyten infiltriert. An das
Gebiet des Blutergusses im Himstiel ventralwärts grenzt ein Herd erweiterter und
mit Blut injizierter Gefäße; in unmittelbarer Nähe des Blutergusses sind die an¬
grenzenden Gefäße stark mit Lymphocyten infiltriert (Abb. 3). Man findet viel
körnige Kugeln mit Blutpigment. Etwas entfernt von diesem Gebiet sieht man
stark erweiterte Gefäße von capillärem und präcapillärem Typus. In einigen von
ihnen wird lymphocytäre Infiltration der Adventitia beobachtet, andere Gefäße
sind nur erweitert und mit Blut gefüllt: zuweilen sieht man kleine perivasculäre
Blutergüsse. Noch weiter vom Gebiet der mit Blut gefüllten Gefäße sieht man
eine Proliferation des Endoperitheis; in der Adventitia der Gefäße erscheinen
Fibroblasten, epitheloide Zellen, viel körnige Kugeln mit Blutpigment. Die Nerven¬
zellen des Oculomotoriuskemes sind beiderseits fast völlig vernichtet. Die Re¬
aktion des Gliagewebes drückt sich hauptsächlich durch diffuse Proliferation aus,
man findet jedoch noch außerdem in geringer Zahl Knötchenbildungen (Abb. 4).
Im cerebralen Teil der Brücke sieht man stark ausgedrückte exsudativ-proliferative
Gefäß Veränderungen, bei Vorherrschen der erateren. Man findet auch weiße des¬
quamativ-proliferative Thromben (Abb. 5). Auf Präparaten sieht man Stellen
mit stark erweiterten Gefäßen, um welche sich miliare Blutergüsse finden. Das
Gebiet beider Abducenskeme und der Format io reticularis mit dem hinteren
Längsbündel ist teilweise durch den Bluterguß zerstört, hauptsächlich jedoch
werden entzündliche Prozesse beobachtet. Bei Osmiumfärbung sieht man. in
diesem ganzen Gebiet besonders im Gebiet des hinteren Längsbündels schwarze
Schollen. Die Nervenzellen der Brückenkerne befinden sich im Stadium einer
schweren Tigrolyse. Diffuse Gliaproliferation mit Kettenbildung von Kernen
33S M. $. Martrtfhs; Uph th. ;»,Jfao i> h‘g.isfctmr S\rri]M^.rh/rik-'Mi?i«lox
um dfc. tsgföijtt. Mail andYt. - -NcuT-pplM#^ !ih jchtf Brutdxe und im
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Intifträtjctfi der Advemitia, In der Kinde starke di \ (vsv \ diaproß femGon . Fm-
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Abb & Hü m<»rtiiaf^iJjebe torepliaJitf» rb*H -xjhniBebcnkriC HünM'frhu^iswft.*
■ lud)trat ton• etas, Fuilq. gaOfitehr? V«ri ti. Fäihu»i^ ; y> fttiäoii..
au^ exsudativ. 4 \Toiifemtivf*.n EntidLndurtgftfW :,^y*t?htdie. haupt&Wfclkh
irü Teil der' ‘Brj^äwe und im- : Ifi.irp4f*teth Hier treten
ftictidhe Vrmnd^i nrqeri apl die ' gewöhnlich. ;tUsF lifvr^Ovf tewetbe &»QephaJitfe fr-
?.eie.fkTief werden. ist. stellenweise dort aungedrüekt. wo iti großer Arnold
'^r^itrh* uml mit Flut MefüIlle tMafte'^^fondßn tv^den v u/ti welche BlHtrr^u^ 5
ä» sehen sind. In einigen (Mäßen findet man en tzü m> dkhe.Ki-<■ h<*ii.*»neen. Die
VJftrhugel sind völlig durch den Biüf«tgoÖ ?y rätdrt. An feilem werden VeD
drangunu <1(H3 Aq. eeiv4.ri. Immunhnyiseii^ Hydröeeph. ii*f und geringe gnfr.Uiul*
liefe Krseheintnigen in den Hikralganglien heMiaelUet. Be^iid.ere Arjfnietfeamkeä
•vordient das YVfharKi'-nsejn von fejferfhöife- h» r> nenlfeu VehMdefeun» Alters
hy feiY entzündlich \ erffridcrtM Teilen, die deh durch rcekfit«; erM/midkdm \’m
ä?>derunyeh vdu verschiedenem Alter ausdrückd». Tn diesern Fall wurde außer
der« vd, t -n beschriebenem ifeiN-richymaleu \t nireh ringen eine a^Dve Prolüeration
des idiayewebe^ jt-f>n'df*n. pifse I .•..rdn>f,Ttee rrse|e'iuun«j(‘n in eien uies<-
<ter afcutfij tih<l aporudis»-in*j/ Mr.^vu.^phaiiti^
.
KfifHiheu cwfr'fhor». Äi i-int»». tvip (5j \»>a »•^••rer
hämprftractiso'ri'r PoüertfepUahtH v AV> v 'Trt!^ VnrMmi? i ftrtsm-Hiimttlauu.
Ar t;. 5 SSiiüiM i<;-iir<'il!r^r>UUr-r Hu« m*»/. l ull A ■ 1.'oKmorpli-
Mint. 8W.»fipill*. V« **»';•' i/arhi.j^ TIu.itju».
234 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
und ektodermalen Geweben sind dank ihrer Verbreitung und Diffusität die Haupt -
prozesse, die hämorrhagische Encephalitis dagegen bildet hier nur einen auf einen
Herd sich ausbreitenden Prozeß. Eine Kombination von hämorrhagischer und
hyperplastischer exsudativ-proliferativer Encephalitis beschreibt Zingerle in seinem
Fall. Die Veränderungen in den weichen Hirnhäuten in Form einer serösen Menin¬
gitis waren hauptsächlich im Stammteil beider Fälle ausgedrückt, sie fanden sich
jedoch auch in anderen Teilen des zentralen Nervensystems. Im allgemeinen
haben die meningealen Erscheinungen einen diffuseren Charakter als die ence-
phalitischen und finden sich auch dort, wo jene fehlen. Die meningealen und ence-
phalitischen Veränderungen sind koordinierte Erscheinungen. Das Vorhanden¬
sein der ersteren bestätigt den entzündlichen Ursprung des ganzen anatomischen
Komplexes.
In beiden Fällen war eine primäre infektiöse Encephalitis vorhanden.
Im 5. Fall fand sich, wie auch im Fall 2 Economos , eine Kombination
einer exsudativ-proliferativen Encephalitis mit roter Erweichung und
ausgebreiteten Blutergüssen (im Fall Economos war ein großer Blut¬
erguß mit bedeutender Zerstörung der Rinde).
»A Im Fall Zingerle fand sich ein Bluterguß von ganz ungewöhnlich
großem Umfang. Im Fall von Bertelsen und Bonne war eine Kombination
von diathesen Blutergüssen mit exsudativ-proliferativem entzündlichem
Prozeß. So fanden diese Autoren in diesem Fall verschiedene hysto-
pathologische Veränderungen, ein rein hämorrhagisches Exsudat ohne
Reaktion von seiten der Gefäße des umgebenden Gewebes, unter dem
Ependym des 3. Ventrikels eine Proliferation des Endoperitheis und
Infiltration der Gefäße in den Cc. mamillaria und anderen Teilen des
Stammes.
Bei experimenteller Encephalitis bei Affen erhielt Economo auch
hämorrhagische Zerstörungen der Basalganglien. Eine unserem 4. Fall
analoge Kombination von Erweichungen mit poliencephalitischen Er¬
scheinungen findet sich in den Fällen von Eisenlohr und Schule. Im
Fall Eisenlohrs waren die Vierhügel, das Tegmentum des Himstiels und
die Brücke völlig erweicht. Im Fall Schüles war eine völlige encephalo-
malacytische Erweichung im Gebiet des Oculomotorius mit Übergang
der Erweichung auf das Pes pedunculi und viele Erweichungsherde im
Großhirn.
Wir sehen also, daß bei entzündlicher oberer Poliencephalitis der
hauptsächliche pathologisch-anatomische Prozeß eine exsudativ-pro¬
liferative Entzündung ist, die sich mit diathesen Blutergüssen oder Er¬
weichungen kombiniert, welche, durch dasselbe schädliche Moment her¬
vorgerufen, Komplikationen des Hauptprozesses bilden.
Wenn wir das klinische Bild unserer Fälle des ophthalmoplegischen
Symptomenkomplexes resümieren, so sehen wir, daß das charakte¬
ristische Symptom Augenmuskellährnungen darstellen. Im 1. Fall fehlen
alle willkürlichen Bewegungen der Augäpfel, bei Erhaltensein der auto¬
matischen und reflektorischen.
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
235
Bei passiven Bewegungen des Kopfes bewegen sich die Augen in
entgegengesetzter Richtung. Konjungierte Ablenkung der Augen nach
links.
Im 2. Fall sind die Augäpfel, außer einer geringen Bewegung nach
oben, unbeweglich.
Im 3. Fall leiden hauptsächlich die Bewegungen des rechten Auges —
Ophthalmoplegia ext.; im linken Auge ist nur die Bewegung des M.
rect.-sup. beschränkt.
Im 4. Fall findet man Ophthalmopl. ext. sin. Das linke Auge ist
nach außen gezogen, im rechten Auge Ophthalmopl. extr. dextr. Aug¬
äpfel unbeweglich.
Im 5. Fall unbedeutende willkürliche Bewegungen des linken Auges
nach links, Bewegungsmöglichkeit des rechten Auges nach links etwas
größer. Übrige Bewegungen der Augen unmöglich. Strabismus diver-
gens. Vollständige Blicklähmung nach rechts, nach links unvollständige.
Blicklähmung nach oben und unten.
Im 1. Fall fehlt Ptosis. Im 2. und 3. Fall unvollständige beiderseitige
Ptosis. Im 1. Fall ist die Ptosis gleich ausgedrückt, im letzten rechts
stärker. Im 4. Fall einseitige Ptosis; im 5. beiderseitige, etwas stärker
rechts ausgedrückt.
Im 1. Fall träge Pupillenreaktion auf Licht.
Im 2. Fall fehlt die Reaktion der Pupillen auf Licht, Akkomodation
und Konvergenz; im 4. Fall keine Reaktion auf Licht; im 3. Pupillen¬
reaktion auf Licht erhalten; im 5. reagiert die rechte Pupille nicht auf
Licht, die linke träge.
Die Augenmuskelstörungen drücken sich also in unseren Fällen
folgendermaßen aus: im 1. Fall Ophthalmoplegie mit Erhaltensein der
automatischen und reflektorischen Bewegungen; im 2. und 4. Fall völlige
Ophthalmoplegie extr. und inter. mit symmetrischer Beteiligung der
Augenmuskeln; im 3. und 5. Fall Ophthalmoplegia int. dextr.
Doppelseitige seitliche Blicklähmung wird im 1., 2. und 5. Fall
beobachtet; im 5. Fall war außerdem vertikale Blicklähmung.
Die in dem 3. und 5. Fall beobachtete Anisocoria wurde auch von
Oppenheim beschrieben. Im 2. Fall war Mydriasis, wie auch im Falle
Eisenlohrs, der größte Teil der Autoren spricht in analogen Fällen von
Myosis (Fall 4). Im 2. und 4. und teilweise im 5. Fall fehlt Pupillen¬
reaktion auf Licht dank der Lähmung des Sphincter pupillae. Pupillen-
starre auf Licht findet sich in den Fällen von Eisenlohr , Rennerl , Schule ,
im letzten Fall Boedeckers und im 1. Fall Zingerles.
Das Fehlen der Reaktion auf Licht hängt von der Unterbrechung
des Reflexbogens für den Pupillenreflex ab, der durch die Vierhügel
geht und von den Sehbahnen zum Zentrum des Sphincter pupl. zieht.
Unvollständige Unterbrechung des Reflexbogens ruft Trägheit des
236 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
Pupillenreflexes auf Licht hervor, was im 1. Fall beobachtet wurde,
in welchem die Pupillen auf Licht fast nicht reagierten. Träge Pupillen¬
reaktion auf Licht wird auch in den Fällen von oberer Poliencephalitis
bei Wernicke , Thomson , Boedecker , Oppenheim u. a. beobachtet.
Im 2. Fall war Akkomodation und Konvergenzlähmung vorhanden.
Die erstere wurde auch im Fall von Jacobens, der 2. von Boedecker be¬
obachtet. Ptosis, die wir in 4 von unseren Fällen beobachteten, ist
in einer ganzen Reihe von in der Literatur beschriebenen Fällen beob¬
achtet (i Oppenheim , Wernicke, Oayet, Thomsen, Koschewnikow), in anderen
Fällen von Poliencephalitis fehlt die Ptosis, ebenso wie es bei durch
Kernläsionen hervorgerufenen Ophthalmoplegien aus anderer Ursache
der Fall ist, bei denen der M. levator palpebrae super, nicht gelähmt wird.
Nystagmus fehlt in allen unseren Fällen. Nach Oppenheims Angaben
waren Nystagmus oder nystagmusartige Zuckungen der Augäpfel im
größten Teil der Fälle von oberer Poliencephalitis vorhanden. Ver¬
änderungen im N. opt. wurden in den Fällen von Thomson , Boedecker ,
Zingerle , Goldscheider in Form von Neuritis opt. oder atrophia ner. opt.
part. beobachtet. In unseren Fällen war der Augenhintergrund unver¬
ändert.
Im 1. Fall wird geschwächte Sehschärfe ohne Veränderung des Augen¬
hintergrundes beobachtet, im 2. ist das Sehen subjektiv vermindert
bei normalem Augenhintergrund.
Oppenheim erwähnt 2 analoge Beobachtungen. Sehstörungen ohne
Augenhintergrund Veränderungen werden durch Verbreitung des Pro¬
zesses auf die Vierhügel mit Läsion der Corp. geniculat. hervorgerufen
und müssen als Herdausfallsymptom, das mit Läsion der Vierhügel
zusammenhängt, angesehen werden.
Im 1. Fall bewegen sich die Augen bei passiven Seitwärtsbe¬
wegungen des Kopfes (bei Rückenlage des Kranken) in zur Kopf¬
bewegung entgegengesetzter Richtung. Ein analoges Bild beobach¬
teten in ihrem Fall Deny und Maillard : doppelseitige Bewegungs¬
apraxie mit rechtsseitiger Hemiparese und Apraxie der Augen¬
muskeln. Lähmung der willkürlichen Augenbewegungen. Bei Be¬
wegung des Gesichts in der Richtung zu einem Gegenstand bewegen
sich die Augen in die zur Kopfbewegung entgegengesetzten Richtung.
Die angeführten Erscheinungen müssen, wie in unseren, so auch in den
zitierten Fällen von Deny und Maillard auf Apraxie der Augenmuskeln
zurückgeführt werden.
Die Analyse der oben angeführten Augenmuskelstörungen ergibt,
daß sie aus Lähmungen einzelner Augenmuskeln, assoziierten, seitlichen
und vertikalen Blicklähmungen, konjugierten seitlichen Ablenkungen
der Augäpfel, Abnahme der Sehschärfe, zuweilen Apraxie der Augen¬
muskeln bestehen.
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
237
Von anderen Komponenten des ophthalmoplegischen Symptomen-
komplexes müssen die Störungen der Sprache, der Phonation, des
Schluckens, der Bewegungskoordination und die Ausfallserscheinungen
von seiten der Motilität und Sensibilität berücksichtigt werden.
Veränderungen der Sprache sind in 3 von unseren Fällen (1,2 und 3)
beobachtet worden. Im 1. Fall war die Sprache dysarthrisch, monoton,
abgebrochen. Die genannten Erscheinungen verstärken sich dank
choreatischen Zwangsbewegungen der Sprachmuskulatur. Im 2. Fall
ist die Sprache unverständlich, von bulbärem Charakter, im 5. Fall
erscheint die bulbäre Sprache im späteren Stadium der Krankheit
(1 Woche vor dem Tod). Phonationsstörungen werden im 1. Fall
beobachtet — die Sprache verlor ihren Klang. Im 2. Fall findet sich
schwache Stimme und nasale Phonation (Parese der Gaumensegel
und der Uvula).
Das Schlucken ist im 2. Fall gestört, im Anfang der Erkankung
verschluckte sich der Kranke, im 5. Fall entwickelt sich die Schluck¬
störung nebst anderen bulbären Erscheinungen in späteren Stadien
der Erkrankung. Im 1. Fall waren die Schluckstörungen hauptsächlich
durch choreatische Zwangsbewegungen hervorgerufen.
In 3 Fällen (1,2,5) war der Gang dank der statischen Bewegungsataxie
und den choreatischen Bewegungen stark gestört. Im 1. Fall schwankt
die Kranke, sie geht mit kleinen Schritten, Gang vom cerebellaren Cha¬
rakter. Im rechten Arm bedeutende Bewegungsataxie. Muskelsinn nor¬
mal. Im 2. Fall war die statische Ataxie in so starkem Maß ausgedrückt,
daß der Kranke nur mit Hilfe von beiden Seiten stehen konnte, er geht
nur mit fremder Hilfe. Er konnte nur mit Mühe im Bett sitzen. Be¬
wegungsataxie in beiden Armen, hauptsächlich in einem, keine Ataxie
der unteren Extremitäten. Muskelsinn normal. Im 3. Fall Bewegungs¬
ataxie des linken Armes, keine statischen Störungen. Im 4. Fall ko¬
matöser Zustand, so daß man über Koordinationsstörungen nicht urteilen
kann. Im 5. Fall stark ausgeprägte statische Störungen. Die Kranke
konnte sich nur mit fremder Hilfe von beiden Seiten fortbewegen.
Bewegungsataxie in den Händen entwickelte sich erst in der späteren
Krankheitsperiode. Muskelsinn normal.
Statische Störungen von cerebellarem Typus werden also in 3 Fällen
des ophthalmoplegischen Symptomenkomplexes festgestellt. Von
beiden letzten Fällen war in einem (Fall 4) komatöser Zustand vorhan¬
den, im andern kam der Kranke 3 Wochen nach Beginn der Erkrankung
in Beobachtung, so daß einige Krankheitserscheinungen, darunter auch
die Ataxie, bereits verschwunden sein konnten. Bewegungstaxie in den
oberen Extremitäten war in allen Fällen dieser Gruppe ausgedrückt,
außer dem komatösen Zustand im 4. Fall, wo sie nicht untersucht werden
konnte. Aus dieser Zusammenstellung ersehen wir, daß statische Stö-
238 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
rungen und Bewegungsataxie eine beständige Komponente des ophthal¬
moplegischen Symptomenkomplexes bilden.
Oppenheim hält die Gangstörung für ein beständiges Symptom der
oberen Poliencephalitis. Bewegungsataxie ist mehrmals in der Literatur
beschrieben {Oppenheim) , besonders stark war sie im Thomson sehen
Fall ausgedrückt.
Motorische Ausfallserscheinungen von hemiplegischem Typus waren
im 1. und 3. Fall — Hemiparesis. Monoparesis w r ar im 2. Fall. Im 4. Fall
war Lähmung aller Extremitäten; im 5. entwickelte sich am Ende der
Erkrankung Lähmung der unteren, darauf der oberen Extremitäten.
Ausgesprochene Hemiparese war in den Fällen von Gayei, Thomson ,
Goldscheider, Schule , Zinqerle deutlich ausgedrückt. Im 1. Fall beob¬
achteten wir eine bedeutende Atrophie der kleinen Muskeln einer Hand
von cerebralem Charakter auf Seite der Parese. Spastische und reflek¬
torisch-spastische Erscheinungen w r aren in unseren Fällen nicht vor¬
handen. Babinsky fehlt im 1., 2. und 3. Fall. Im 4. Fall ist Babinsky
beiderseits vom Beginn der Erkrankung an vorhanden. Im 5. Fall
fehlte Babinsky im Beginn der Erkrankung, später nach 3 Wochen zeigte
er sich an einem Fuß. Nach dem Insult, 3 Tage vor dem Tod, wird Ba¬
binsky beiderseits konstatiert. Church beschreibt einen Fall von oberer
Poliencephalitis, wo während der Krankheit sich leichter Klonus und
doppelseitiger Babinsky entwickelte. Dort, wo in unseren Fällen sich
Babinsky (Fall 4 und 5) und ausgeprägte Lähmungen der Extremitäten
fanden, fanden sich bei der Obduktion Auflagerungen im Bild des
Hauptprozesses. Im 4. Fall Erweichung, im 5. ausgebreiteter Bluterguß.
Spastische Erscheinungen, Klonus, Babinsky gehören nicht zu bestän¬
digen Elementen des ophthalmoplegischen Symptomenkomplexes, ihr
Vorhandensein spricht für eine Komplikation des Hauptprozesses.
Im 5. Fall wurden vom Beginn der Erkrankung menigeale Erschei¬
nungen konstatiert — Rigidität der Nackenmuskeln, Kernig, Schmerzen
im Rücken und den Schulterblättern. Die Untersuchung der Cerebro¬
spinalflüssigkeit (Lymphocytose) spricht auch in diesem Fall für eine
Beteiligung am entzündlichen Prozeß der weichen Hirnhäute. In
einigen in der Literatur beschriebenen Fällen von oberer Poliencepha¬
litis wurde Rigidität der Nacken- und Rückenmuskulatur, Schmerz¬
haftigkeit der Proc. spin., Hyperästhesie (Wynhoff u. a.) als Folge einer
Läsion der weichen Häute des Rückenmarks (Blutergüsse, Gefä߬
veränderungen usw.) konstatiert {Oppenheim). In unserem 2. Fall
war die Wirbelsäule auf Druck schmerzhaft.
Die Sehnenreflexe fehlten im 2. Fall beim Eintritt; nach 16 Tagen
erschienen sie wdeder. In den anderen Fällen sind die Sehnenreflexe
der unteren Extremitäten lebhaft. Überhaupt sind bei oberer Poli¬
encephalitis die Sehnenreflexe gewöhnlich lebhaft. Das Fehlen der
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
239
Patellarreflexe bei oberer Poliencephalitis wurde in den Fällen von
Wemicke, Koscheumikow , Thomson, Salomonsohn, Boedecker, Jacobeus
beschrieben. Erhöhung der Sehnenreflexe wird von Thomson angegeben.
Im 2. Fall ist das temporäre Fehlen der Sehnenreflexe der unteren Extre¬
mitäten beachtenswert, und zwar am Beginn der Erkrankung und auf der
Höhe des Krankheitsprozesses und darauf ihr Wiedererscheinen beim
Zurückgehen des Prozesses. Ein analoges Verhalten der Sehnenreflexe
sahen wir schon bei der ataktischen Gruppe der akuten Encephalitis.
Die Pathogenese dieser Erscheinung ist dieselbe, d. h. Zerrung, teilweise
Druck auf die Wurzeln durch Ansammlung der vermehrten Cerebro¬
spinalflüssigkeit im Meningealsack.
Die Hautreflexe sind im 2., 3. und 5. Fall normal, im 4. fehlen die
Bauchreflexe; im 1. Fall fehlen die Bauch- und Plantarreflexe beider¬
seits.
Im 1. und 5. Fall wurden Zwangsbewegungen beobachtet. Im 1. Fall
trugen sie den Charakter choreatischer, im 2. automatischer pseudo¬
spontaner Bewegungen. Zwangsbewegungen sind in der Klinik des
oberen Poliencephalitis selten. Choreatische Bewegungen wurden in
den Fällen von Koscheumikow, Goldscheider beobachtet.
Beckenorgane waren in unseren Fällen in Ordnung. Lähmung der
Sphincteren wird gewöhnlich nur im Endstadium der Krankheit
beobachtet und hängt mit dem Allgemeinzustand und der Bewußtseins¬
störung zusammen (4. und 5. Fall) (Oppenheim). Zuweilen wird retentio
urinae, Schwäche der Sphincteren bei Individuen mit klarerem Bewußt¬
sein beobachtet (Oppenheim).
Im 1. und 2 Fall wird Trägheit der Mimik beobachtet, im 2. Fall
träge Verkürzung der Kaumuskeln, obwohl keine augenfällige Parese
oder Atrophie dieser Muskeln zu beobachten ist, Parese des weichen
Gaumens und der Gaumensegel, schwache Stimme, Schluckstörungen.
Im 1. Fall sahen wir stark ausgeprägten Schwachsinn und allgemeine
epileptiforme Anfälle, die auf einen diffusen Charakter der Läsion
des Großhirns hinweisen. In Fällen von Poliencephalitis bei Alkoholikern
sind Veränderungen der Psyche Regel und erscheinen unter dem kli¬
nischen Bild des Delirium tremens (Oppenheim). In Fällen von oberer
Poliencephalitis nicht alkoholischer Entstehung wird auch Benommen¬
heit, Erregtheit und motorische Unruhe beobachtet (Oppenheim).
In einigen Fällen entspricht das psychische Bild dem Korsakowschen
Symptomenkomplex, oder aus akutem deliriosem Zustand entwickelt
sich ein chronischer — amnestischer ( Bonhoeffer), außerdem werden
schwere Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, Konfabu¬
lation beobachtet (Boedecker, Raimann, Murawjew, Stegmann). Im
2. Fall war die Psyche normal; im 3. wurde im Beginn der Erkrankung
gestörtes Bewußtsein — Delirium beobachtet, das schnell spurlos
240
M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Symptomenkomplex
verging. Preobraschensky behauptet, daß bei unkomplizierter Poli-
encephalitis keine besonderen psychischen Störungen vorhanden sein
müssen, ihr Vorhandensein weist auf eine Entwicklung encephalitischer
Herde in den Hemisphären oder auf ein regelrechtes Delirium tre¬
mens hin.
Wenn wir das klinische Bild des ophthalmoplegischen Symptomen
komplexes unserer Fälle resümieren, so finden wir außer Augenmuskel-
lähmungen eine ganze Reihe von klinischen Symptomen, die in jedem
Fall mehr oder weniger ausgeprägt sind, und zwar statische und dyna
mische Ataxie, Dysarthrie, Dysphagie, motorische Ausfallerscheinungen,
Abschwächung der Sehschärfe menigealer Symptome und Zwangsbe¬
wegungen. Es fehlen im genannten Symptomenkomplex Erscheinungen
von seiten der Pyramiden: Paresen, reflektorisch-spastische Erschei¬
nungen, Babinsky, oder aber sie stehen, wenn vorhanden, im Hintergrund.
In unseren Fällen ist außer Augenmuskelstörungen motorische Ataxie
am beständigsten, etwas seltener ist statische Ataxie, Dysarthrie von
bulbärem Typus findet sich im Anfangsstadium der Erkrankung in
2 von unseren Fällen, in späteren Stadien in einem Fall. Dysarthrie
ist also im Beginn oder weiteren Verlauf der Erkrankung eine recht ofte
Erscheinung im klinischen Bild unserer Fälle. Schluckstörungen finden
sich im Anfangsstadium verhältnismäßig selten (1 Fall), maskenähn¬
liches Gesicht, geringe Beweglichkeit der mimischen Muskeln oft. Ab¬
nahme der Sehschärfe bei normalem Augenhintergrund war in 3 unserer
Fälle. Meningeale Erscheinungen waren in 2 Fällen (4 und 5), Zwangs¬
bewegungen in 2 Fällen im 1. (Fall 1) waren sie ein beständiges, resi¬
duales Herdsymptom, im 2. (Fall 5) entwickelten sie sich in einer spä
teren Krankheitsperiode. Die einzelnen Elemente des ophthalmople
gischen Symptomenkomplexes weisen auf die topische Lokalisation hin
und bestimmen die anatomischen Grenzen der Läsion.
Seitliche Blicklähmung ist ein charakteristisches Herdsyraptom
bei Läsionen des oberen Teils der Brücke ( Monakow , Gaussei , Lewandmcs -
ky) y das auch auf die Seite der Läsion hinweist. Monakow lokalisiert
auf Grund seines Sektionsmaterials die seitliche Blicklähmung lateral,
teilweise im Kern des N. abducentis selbst, dabei wird außer der Wurzel
des N. abducentis auch der mediale Teil der Formatio reticularis zwischen
dem Kern des Abducens und dem hinteren Längsbündel lädiert. In
der Pathogenese der seitlichen assozüerten Blicklähmung gehört die
Hauptrolle der Formatio reticularis, die lateral vom hintern Längsbündel
liegt (Monakow). Das gleichzeitige Funktionieren bei seitlicher Einstel¬
lung beider Augen des M. rect. int. des einen undM. rect. ext. des zweiten
Auges setzt das Vorhandensein eines Koordinationszentrums voraus.
Über die Lokalisation dieses Zentrums gehen die Meinungen auseinander.
Einige Autoren sind der Meinung, daß für eine seitliche Blicklähmung
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
241
eine Läsion des Abducenskems genügt (Gaussei). Siemerling und van
Gehuckten hielten dieses für nicht genügend. Wernicke u. a. nehmen das
Vorhandensein von paarigen Assoziationszentren im oberen Teil der
Brücke an. Welcher Hypothese wir uns auch anschließen, meint Gaussd y
„die seitliche Blicklähmung bei Erhaltensein der Konvergenz, der
Hebung und Senkung der Augäpfel bildet ein pathognomisches
Symptom für eine Läsion des oberen Teiles der Brücke“.
Monakow stellt sich diese Zentren in Form zerstreuter oder sich in
Kettenform gruppierender multipolärer Zellen vor, die zwischen den
Kernen des Oculomotorius und Trochlearis im Gebiet des Aquaed.
Sylvü, in der zentralen grauen Substanz und der Formatio reticularis
liegen. Die Verbindung dieser Assoziationszentren mit dem Oculo-
motoriuskern geschieht augenscheinlich durch den Tractus pontis
ascendens, der aus dem Nucl. reticul. tegmenti austritt ( Lewandowsky ).
Möglicherweise spielt auch das hintere Längsbündel die Rolle dieser
Assoziationsbahn. Die oben angeführte Lokalisation der Assoziations¬
zentren für Seitenbewegungen der Augen ist sehr wahrscheinlich.
Einige Autoren lokalisieren die Zentren in anderen Gebieten. So lokali¬
sieren sie Raymond und Guillain in den Vierhügeln. Raymond führt
2 Fälle von Hemiplegien mit assozüerten Blicklähmungen der Augen
an. Bei der Sektion fand sich in beiden Fällen eine Läsion der Vier¬
hügel (Blutergüsse, Geschwulst). Im Fall von Raymond und Claude
ergab die Geschwulst der Vierhügel eine seitliche Blicklähmung, eine
Beschränkung der Augenbewegungen nach oben, Konvergenzschwäche
und comeale Anästhesie. In unserem 1. Fall spricht die willkürliche
Ophthalmoplegie bei Erhaltensein der automatischen und reflektorischen
Augenbewegungen für ein Erhaltensein der Oculomotoriuskeme. Die
Lokalisation der Läsion wird völlig durch das ganze klinische Bild be¬
stimmt, sie setzt sich aus Bewegungsataxie, choreatischen Bewegungen,
Herabsetzung der Sehschärfe zusammen und muß auf eine Läsion der
Vierhügel zurückgeführt werden. Die intranuclearen Koordinations¬
zentren für assoziierte Seitenbewegungen der Augen im oberen Teil
der Brücke sind in diesem Fall erhalten, da im entgegengesetzten Fall
alle Augenbewegungen wie willkürliche, so auch reflektorische ver¬
schwinden. In diesem Fall werden die Bahnen zerstört, welche die intra-
nucleären Koordinationszentren der Brücke mit der Rinde verbinden.
Im 2. Fall hatten wir eine Kombination einer äußeren Kernophthalmo¬
plegie mit doppelseitiger Blicklähmung. Für eine Kernlähmung sind
charakteristisch Diplopie, Ptosis, Ophthalmoplegia int., verschiedener
Lähmungsgrad einzelner Augenmuskeln, der beim Zurückgehen der
Augenmuskellähmungen hervortritt. In diesem Fall kann eine kombi¬
nierte doppelseitige Läsion der Abducenskeme vorausgesetzt werden,
obwohl gegen diese Annahme das Fehlen anderer Ausfallerscheinungen
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 16
242 M. S. Margulis : Ophthalmoplegischer Symptomen ko mp lex
in diesem Gebiet spricht. Die Läsion dieser Kerne und der anliegenden
medialen Teile der Formatio reticularis ruft seitliche Blicklähmungen
und Lähmung außer der willkürlichen auch der automatischen und
reflektorischen Augenbewegungen hervor. Die doppelseitige Läsion
der Abducenskeme bestätigt also in diesem Fall das Vorhandensein
einer Kombination von Kemophthalmoplegie und doppelseitiger Blick¬
lähmung. Analoge Kombination von Kemophthalmoplegie und doppel¬
seitiger Blicklähmung finden wir im 5. Fall. Der Prozeß war in diesem
Fall ein diffuser und betraf den oberen Teil der Brücke — seitliche Blick¬
lähmung, die Vierhügel — vertikale Blicklähmung und den Himstiel —
Oculomotoriuskem. Im 2. und 5. Fall fehlten außer den willkürlichen
auch reflektorische und automatische Augenbewegungen, die im 1. Fall
erhalten waren. Das Fehlen von reflektorischen und automatischen
Bewegungen der Augen in diesen Fällen hängt von einer Läsion außer
dem Oculomotoriuskem auch der Assoziationszentren in der Brücke
und den Vierhügeln ab. Wenn bei assoznerten Lähmungen der Augen¬
muskeln corticale Neuronen geschädigt werden (von der Rinde bis zu
den Vierhügeln), so verschwinden nur die willkürlichen Augenbewe¬
gungen (1. Fall). Bei Läsion der intranucleären Zentren verschwinden
die willkürlichen, automatischen und reflektorischen Augenbewegungen
(2. Fall). Im 1. Fall sahen wir eine Dissoziation zwischen den will¬
kürlichen Bewegungen der Augen einerseits und den automatischen
und reflektorischen andererseits — Erhaltensein der letzteren und
Lähmung der ersteren. Eine analoge Dissoziation wurde bei doppel¬
seitiger Läsion beider Himhemisphären beobachtet (Fälle von Toumier ,
Tilling , W. K. Roth , Roux , Wernicke, Oppenheim u. a.) — pseudo-
nucleäre Ophthalmoplegie Wernicke oder Tilling — Wemickesches
Symptom (Roux). Bei Läsion der Brücke (Encephalitis) wird eine
gleiche Dissoziation der willkürlichen und reflektorisch-anatomischen
Ophthalmoplegie von Bielschowsky und Steinert beschrieben. In diesen
Fällen werden die corticalen oder subcorticalen, supranuclearen Zentren
für assozüerte Augenbewegungen geschädigt. In unserem 1., teilweise
auch 2. Fall sind die intranuclearen, mesencephalitischen Zentren der
assoziierten seitlichen Augenbewegungen geschädigt. Cantonei und
Taguet bestätigen auf Grund anatomisch-klinischer Tatsachen das
Vorhandensein einer Dissoziation zwischen willkürlichen und auto¬
matischen Associationsbewegungen der Augen, die Läsionsherde können
dabei in der ganzen Ausdehnung von der Hirnrinde bis zu den Koordi¬
nationszentren des Zwischenhims liegen. Die ophthalmoplegischen
Störungen bestimmen in breiten Grenzen die Lokalisation der Prozesse
in unseren Fällen: caudal — der obere Teil der Brücke, cerebral —
Himstiel. Die anderen Elemente des klinischen Bildes detaillisieren
die genauere Lokalisation des Prozesses. Die statische Ataxie wird
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis. 243
durch Läsion der Kleinhim-Sehhügelbahnen, die durch die Vierhügel
im Bestand der oberen Bindearme ziehen, hervorgerufen. Die Bewegungs¬
ataxie wird durch Schädigung der aufsteigenden Kleinhimspinalen
Systeme des oberen Teils der Brücke hervorgerufen. Dysarthrie,
Schluck- und Phonationsstörungen sind pseudobulbäre Symptome.
Man kann die bulbären Sprachstörungen nicht im verlängerten Mark
lokalisieren, da Lähmungen und Atrophien der Sprachmuskulatur,
wie auch Läsionen der Kerne anderer Himnerven nicht vorhanden sind;
gegen eine bulbäre Lokalisation der Dysarthrie spricht auch das ver¬
hältnismäßig schnelle Zurückgehen der Sprachstörungen (2. Fall).
Dasselbe kann auch über die Schluck- und Phonationsstörungen ge¬
sagt werden. Das Fehlen des Rachenreflexes spricht auch für eine pseudo¬
bulbäre Läsion. Die Schwäche der mimischen Ausdrucksbewegungen
erklärt sich in einigen Fällen durch eine Verminderung der Tonusinner¬
vation der Gesichtsnerven durch die Wirkung des Entzündungsprozesses
auf den mittleren und caudalen Teil der Brücke. Der Grad dieser Lä¬
sionen ruft noch keine Parese hervor, äußert sich jedoch in einer Tonus¬
verminderung der Muskulatur. Es ist auch eine Verbreitung des Pro¬
zesses in cerebraler Richtung auf das Gebiet des N. lenticularis möglich,
was auch eine Störung der Ausdrucksbewegungen hervorruft. In den
von uns untersuchten anatomischen Fällen konnten wir nicht die ge¬
ringsten bemerkbaren Läsionen der Basalganglien finden. In den von
Wemicke beschriebenen Fällen von oberer Poliencephalitis (1881)
wurde eine Verbreitung der hämorrhagischen Entzündung auf die
graue Substanz des 3. und 4. Ventrikels und den Aquaed. cerebri kon¬
statiert. Im Fall Qayets lokalisierte sich der entzündliche Prozeß im
oberen Teil des Himstiels und den Sehhügeln. In analogen Fällen weisen
mimische Störungen auf eine Läsion des Nucl. lenticularis hin.
Die Lokalisation des Prozesses in unseren Fällen von oberer Polien¬
cephalitis ist also klinisch bestimmt — Himstiel, Vierhügel und oberer
Teil der Brücke. In einigen in der Literatur beschriebenen Fällen und
in unserem 1. Fall wird gleichzeitige Läsion des Großhirns hauptsäch¬
lich der Rinde beobachtet. Der beschriebene Symptomenkomplex
hat ausschließlich topographische Bedeutung und kann durch ver¬
schiedene Prozesse hervorgerufen werden: Geschwülste, Blutergüsse,
Erweichungen, Tuberkeln, entzündliche Prozesse. Irgendeinen Gefä߬
prozeß im oben angeführten Gebiet vorauszusetzen, haben wir keinen
genügenden Grund, da wir keine Ursache für Gefäßveränderungen
haben: das jugendliche Alter der Kranken spricht dagegen, außerdem
war der Verlauf der Erkrankungen in unseren Fällen ein fieberhafter,
infektiöser, und es fehlten die Erscheinungen eines schweren Insults,
die bei Thrombose oder Blutergüssen in diesem Gebiet gewöhnlich
sind. Die Ergebnisse der Lumbalpunktion sprachen auch gegen eine
16 *
244 M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer ^ymptomenkomplex
Embolie oder Thrombose. Gummas oder solitäre Tuberkel lokali¬
sieren sich sehr oft im Gebiet der Läsion unserer Fälle. Lues wird in
unseren Fällen negiert. Wassermann ist negativ. In 3 Fällen verging
die Krankheit resp. verbesserte sich der Zustand ohne spezifische Be¬
handlung. Es ist also kein Grund vorhanden, in unseren Fällen an
Syphilis zu denken. Der günstige Ausgang der Erkrankung im 2. Fall,
der protahierte Verlauf im 1. und das Zurückgehen der Symptome im 3.
wie auch die anatomischen Befunde im 4. und 5. Fall gestatten in
diesen Fällen einen Tuberkul auszuschließen. Geschwülste und Abscesse
können wir in unseren Fällen ausschließen, da Besserung resp. Genesung
eintrat. Die meningealen Erscheinungen in Verbindung mit den Er¬
gebnissen der Liquoruntersuchung lassen im 5. Fall an eine cerebro¬
spinale hämorrhagische Meningitis denken. Das Vorhandensein von
beständigen und progressierenden Lähmungserscheinungen der Augen¬
muskeln und später auch der Extremitäten vom Beginn der Erkran¬
kung an sprechen in diesem Fall gegen eine Meningitis.
Bei der differentiellen Diagnose des ophthalmoplegischen Sym-
ptomenkomplexes muß man die gleichzeitige oder ausschließliche Läsion
der basalen Hirnnerven in Betracht ziehen. Eine ähnliche entzündliche
Läsion einzelner Nervenstämme der Basis ist im Fall von Zingerle
beschrieben. Die oben angeführten analogen Fälle bilden einen Übergang
zu kombinierten Fällen von Poliencephalitis und Polineuritis (Zingerle).
Der Charakter des pathologischen Prozesses wird in unseren Fällen
durch den Verlauf, Ausgang und die klinischen Besonderheiten bestimmt.
So begann die Erkrankung in allen Fällen wie eine akute fieberhafte
Erkrankung mit erhöhter Temperatur, Delirium, getrübtem Bewußtsein
und komatösem Zustand.
Nach einer Periode des Anwachsens der Krankheitserscheinungen
sehen wir eine stationäre und darauf regressive Periode der Krankheit.
Ein Zurückgehen der Ausfallserscheinungen ist besonders stark im
2. und 3. Fall ausgedrückt. Im 1. Fall ist das Zurückgehen der Symptome
verhältnismäßig gering, da der Prozeß sehr verbreitet und schwer war.
Die Untersuchung der Cerebrospinalflüssigkeit spricht für eine ent¬
zündliche Entstehung des Prozesses im zentralen Nervensystem. So
wurde in 3 akuten Fällen (2, 3 und 5) Hyperalbuminose konstatiert;
im 2. und 3. Fall war eine mittlere Lymphocytose; in denselben Fällen
war im Liquor kein Blut, im 5. Fall war er hämorrhagisch. Das ver¬
hältnismäßig schnelle und starke Zurückgehen der Krankheitssymptome
im 2. und 3. Fall wie auch das Fehlen von Blut im Liquor sprechen für
einen exsudativ-proliferativen Charakter des Prozesses, im 5. Fall
war ein hämorrhagischer Entzündungstyp vorhanden.
Da bei entzündlichen ophthalmoplegischen Symptomenkomplex,
wie in unseren so auch in den in der Literatur beschriebenen klinisch
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
245
und auch anatomisch untersuchten Fällen, sich eine Läsion der weißen und
grauen Substanz des Stammes findet, so verliert die frühere Bezeichnung
dieses Symptomenkomplexes — obere Poliencephalitis — ihre Bedeutung.
Die Teilung auf obere und untere Poliencephalitis hat nur eine topo¬
graphische Lokalisation im Auge, spricht jedoch nicht von einem
Prozeß. Da diese Symptomenkomplexe topographische Varietäten
der Encephalitis vorstellen, so wird ihr Wesen und ihre Lokalisation
genauer bestimmt, wenn man die obere Poliencephalitis — Mesence¬
phalitis und die untere Poliencephalitis — bulbäre Encephalitis (Ence¬
phalitis bulbis) nennt.
Analoge Beziehungen bestehen zwischen der Mesencephalitis und
der lethargischen Encephalitis. Die klinischen und anatomischen
Ergebnisse der letzteren sprechen für vorherrschende Beteiligung
der basalen Ganglien, hauptsächlich des c. striati. Die lethargische
Encephalitis ist also eine Encephalitis der Basalganglien, ophthal¬
moplegische Symptome können hierbei völlig fehlen oder schwach
ausgedrückt sein. Wenn wir die topische Verbreitung des patholo¬
gischen Prozesses in den von uns beschriebenen Fällen mit den
Fällen von lethargischer Encephalitis vergleichen, so können wir die
Pathogenese der für sie charakteristischen Schläfrigkeit näher ver¬
stehen. Im 1., 2. und 3. Falle fehlte trotz stark ausgedrückter Augen¬
muskellähmungen Schläfrigkeit. Im 5. Fall fehlte im Beginn Schläfrig¬
keit, trat jedoch im weiteren Verlauf der Krankheit auf. Die cere¬
brale Grenze der oberen Poliencephalitis in unseren Fällen ist Hirnstiel
und das Kemgebiet der Augenmuskelnerven. Im 5. Fall ergab die mikro¬
skopische Untersuchung nur verhältnismäßig geringe entzündliche Ver¬
änderungen im Gebiet der Basalganglien, im selben Fall jedoch fand sich
ausgesprochener Hydrocephalus internus, Blutergüsse, die die umgeben¬
den Teile des Stammes und der Basalganglien zusammendrückten.
Das Erscheinen und das Anwachsen der Schläfrigkeit in einem späteren
Stadium der Erkrankung entspricht einem Anwachsen des Drucks
auf die Basalganglien durch die Blutergüsse und durch die in den Ven¬
trikelräumen sich ansammelnde cerebrospinale Flüssigkeit.
In denjenigen von unseren Fällen, in welchen der Prozeß in cerebraler
Richtung nicht über den Himstiel hinausging, fehlte die Schläfrigkeit.
Fälle von oberer Poliencephalitis mit Verbreitung des entzündlichen
Prozesses auf das Gebiet des 3. Ventrikels und der Basalganglien wurde
von Wemicke , Gayet , Oppenheim beschrieben. Die oben angeführten
Fälle verliefen alle mit ausgesprochener Schläfrigkeit. Economo be¬
trachtet diese Fälle als sporadische, lethargische Encephalitis.
Die Verbreitung des Prozesses auf das Gebiet der basalen Ganglien hat
also in diesen Fällen Schläfrigkeit zur Folge, was vorauszusetzen gestattet,
daß in diesem Gebiet ein Schlaf Zentrum vorhanden ist. Schläfrigkeit —
246
M. S. Margulis: Ophthalmoplegischer Syraptomenkomplex
nebst anderen klinischen Symptomen — Muskelsteifigkeit, Bewegungs¬
armut, Katalepsie, Zittern (amyostatischer Symptomenkomplex) ist-
charakteristisch für eine Läsion des striatum-pallidum. Die lethargische
Encephalitis unterscheidet sich von der Mesencephalitis durch ihre
Lokalisation und klinischen Symptome; als Bindeglied zwischen ihnen
dient der ophthalmoplegische Symptomenkomplex, der zum Bild
beider topographischer Varietäten der akuten Encephalitis gehört.
Die oben angeführte topographische Teilung der einzelnen Sym-
ptomenkomplexe bei Encephalitis des Stammes und der Basalganglien
darf nicht als eine strenge Abgrenzung des Prozesses durch bestimmte
anatomische Grenzen angesehen werden. So sahen wir, daß in den von
uns untersuchten anatomischen Fällen von Mesencephalitis sich der
entzündliche Prozeß auf die Brücke und das verlängerte Mark verbreitete;
dasselbe konnten wir auch in klinischen Fällen feststellen. Das Mittel-
him ist nur der Ort für die hauptsächliche Lokalisation des Prozesses.
In den Fällen des lethargischen Symptomenkomplexes finden wir ana¬
tomische Veränderungen und klinische Symptome einer Läsion des Mittel-
hims und der niedriger gelegenen Teile des Stammes, dabei ist der Prozeß
hauptsächlich im Gebiet der Basalganglien und des Hirnstiels lokalisiert.
Bei bulbo-pontinen Formen findet sich, wie wir es später zeigen wer¬
den, eine analoge Verbreitung des entzündlichen Prozesses auf die höher
liegenden Teile, Vierhügel und Himstiel.
Auf Grund unserer und in der Literatur beschriebener Fälle kommen
wir in bezug auf den entzündlichen ophthalmoplegischen Symptomen¬
komplex zu folgenden Schlüssen:
1. Der ophthalmoplegische Symptomenkomplex stellt bei akuter
Encephalitis eine topographische Varietät der akuten Encephalitis
der Himhemisphären vor.
2. Die hauptsächlichste pathologisch-anatomische Veränderung bei
entzündlichem ophthalmoplegischem Symptomenkomplex ist eine ex¬
sudativ-proliferative Encephalitis mit Blutergüssen oder Erweichungen
als Komplikationen.
3. Die Fälle von ophthalmoplegischem Symptomenkomplex Typus
Wernicke zerfallen in solche von entzündlicher und diatheser Entstehung.
4. Die einzelnen Elemente, aus welchen sich der ophthalmoplegische
Syraptomenkomplex zusammensetzt, haben eine ausschließlich topo¬
graphische Bedeutung.
5. Der Charakter des anatomischen Prozesses und des klinischen
Bildes des ophthalmoplegischen Symptomenkomplexes überhaupt
und in unseren Fällen insbesondere ist ein diffuser und befällt die weiße
und die graue Substanz.
6. Die graue Substanz wird beim ophthalmoplegischen Symptomen¬
komplex nicht ausschließlich, sondern vorherrschend geschädigt.
der akuten epidemischen und sporadischen Mesencephalitis.
247
7. Die ophthalmoplegischen Störungen bestehen in unseren Fällen
aus Lähmungen einzelner Augenmuskeln, assoziierter Seiten- und verti¬
kaler Blicklähmung, konjungierter seitlicher Ablenkung der Augäpfel
und Apraxie der Augenmuskeln.
8. Erscheinungen von seiten der Pyramiden-Paresen, reflektorisch -
spastische Erscheinungen, Babinsky fehlen oder sind nur sehr gering
im klinischen Bild des ophthalmoplegischen Symptomenkomplexes
überhaupt und in unseren Fällen insbesondere.
9. Koordinationsstörungen in Form von statischer und dynamischer
Ataxie bilden nach den Augenmuskelstörungen das beständigste Sym¬
ptom des klinischen Bildes unserer Fälle.
10. Außer den genannten gehören noch folgende mehr oder weniger
beständige Symptome zum ophthalmoplegischem Symptomenkomplex:
Dysarthrie, Dysphagie, Abnahme der Sehschärfe, seltener meningeale
Erscheinungen, Zwangsbewegungen.
11. Psychische Erscheinungen werden bei unkombinierter Ence¬
phalitis des Stammes nicht beobachtet.
12. Nach ihrer topischen Lokalisation zerfallen die Encephalitiden
des Stammes auf Encephalitis des Mittelhims-Mesencephalitis und
bulbäre Encephalitis. _
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greß in Budapest 1910. Programm-Vortrag. — Trehet, G ., Contribution ä l’etude
de la polioencephalite aigue superieur et interieur. These de Paris 1905. — Umher ,
Cber Mesencephalitis epid. Dtsch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 10. — Zingerle ,
Beiträge zur Klinik und pathologischen Anatomie der akuten Ophthalmoplegie.
Monatsschr. f. Psychiatrie 1897.
Rhombencephalitis.
Bulbärer, pontiner und bulbo-pontiner Symptomen komplex der akuten
epidemischen und sporadischen Encephalitis.
Von
Prof. M. S. Margulis.
(Aus der Nervenklinik des Klinischen Instituts für Ärzte in Moskau. — Direktor:
Prof. M. S. Margulis.)
Mit 3 Textabbildungen.
(Eingegangen am 15. April 1924.)
Die Gruppe der Rhombencephalitis umfaßt diejenigen Fälle, die sich
in den den vierten Ventrikel bildenden Teilen des zentralen Nerven¬
systems lokalisieren, und zwar im verlängerten Mark, Brücke und Klein¬
hirn. Klinisch drückt sich diese Lokalisation in bulbo-pontinen, seltener
nur bulbären und cerebellaren Komplexen aus.
In diesem Kapitel bringen wir 2 bulbäre Fälle (2, 4), 4 bulbo : pontine
und I Fall von pontiner Encephalitis (5); von ihnen gehören d Fälle
zur epidemischen Encephalitis (7 und 4), die übrigen sind sporadisch.
Fall 1. 14 jähr. Knabe , plötzlicher fieberhafter Beginn der Erkrankung, Läh¬
mung aller 4 Extremitäten; bulbäre Erscheinungen; Lähmung des weichen Gaumens,
Schlucklähmungen. Störungen der Atmungs - und Herztätigkeit; meningeak Er¬
scheinungen. Obduktion: exsudativ-proliferative Encephalitis.
W. A. Stepanow, 14 jähr., wird am 1. VI. 1921 in die innere Abteilung des
Alt-Ekat herinen krankenhauses aufgenommen.
Anamnese: Der Knabe erkrankte vor 7 Tagen; plötzlich stieg die Temperatur;
der Kranke empfand Schmerzen in den Gelenken und Muskeln der Extremitäten.
Bis zur augenblicklichen Erkrankung war er völlig gesund. Von Seiten der Heri-
dität nichts besonderes. Bei der Aufnahme klagt der Kranke über Schmerzen in
der Brust, in den Gelenken beider Arme, brechende Schmerzen in den Waden-
muskeln, Verstopfung.
Status praesens: 2. VI. In beiden Lungen zerstreutes trocknes Rasseln; Zinks
hinten auf der Höhe des Spina scapulae feuchtes kleinblasiges und krepitierendes
Rasseln. Kein Auswurf. Herztöne dumpf. Herzgrenzen etwas nach links ver¬
breitet. Puls 108 in der Minute, mittlerer Füllung. Milz etwas vergrößert; Leber
in Ordnung. In den letzten 3 Tagen Verstopfung, kein Erbrechen. Temperatur
abends 38,3°; im Harn kein Eiweiß. Bewegungsfähigkeit der Extremitäten recht
stark beschränkt. Kein Ausschlag.
3. VI. Temperatur 38,5 bis 39,5 r . Umfang der Bewegungen in den oberen
und unteren Extremitäten sehr beschränkt. Schmerzen in den Gelenken der
unteren Extremitäten. Puls 110 in der Minute, mittlerer Füllung. Herpes labialis.
M. S. Margulis: Rhombencephalitis.
249
4. VI. Temperatur 38,9°. In der linken Lunge hinten ein katarrhalischer
pneumonischer Herd von Handgröße. Puls beschleunigt, 136 in der Minute.
Atmung 36 in der Minute. Im Harn kein Eiweiß, keine Formenelemente. Nachts
Delirien. Morgens Bewußtsein frei. Wird 12 Uhr mittags in die Nervenabtei¬
lung übergeführt. Bewußtsein frei. Der Kranke klagt über erschwertes Atmen.
Es wird ausgesprochene Dysarthrie bulbären Charakters konstatiert. Verschluckt
sich beständig beim Schlucken des Speichels. Völlige Lähmung des Gaumenbogens
und des weichens Gaumens. Rachenreflex fehlt. Pupillenreaktion auf Licht
lebhaft. Keine Augenmuskellähmungen. Übrige Himnerven normal. Völlige
Lähmung der oberen und unteren Extremitäten; Sehnenreflexe der oberen Extre¬
mitäten geschwächt, an den unteren nicht auslösbar. Keine pathologischen Re¬
flexe. Keine reflektorisch-spastische Erscheinungen. Alle Sensibilitätsarten er¬
halten. Kernig beiderseits. Geringe Spannung der Nackenmuskulatur. Puls 108
in der Minute, arhythmisch. Um 1 Uhr tritt Bewußtlosigkeit ein, Pupillen rea¬
gieren auf Licht schwach. Starke Cyanose der Lippen, erschwertes ungleich¬
mäßiges und konvulsives Atmen, 35 in der Minute. Aus dem Mund erscheint
Schaum. Puls 120 in der Minute, arhythmisch. Völlige Lähmung der oberen und
unteren Extremitäten. Nach 15 Min. beginnt der Puls schwächer zu werden und
verschwindet völlig. Herztöne kaum hörbar; konvulsives Atmen wird seltner und
um 1 Uhr 20 Min. tritt Exitus letalis ein.
Klinische Diagnose: Encephalitis acuta (epidemica) bulbi.
Während seines Aufenthalts im Krankenhaus erhielt der Kranke Salicyl-
präparate, Herzmittel, Eis auf den Kopf und Expectorantia.
Sectio am 6. VI. (Prosektor W. Talalaew). Broncho-pneumonia sinistra;
Bronchitis catarrhalis; Status thymicus c. hyperplasia amygdalae; apertus follicu-
larum linguae, lienis; hypoplasia gl. suprarenalis; hyperaemia venosa cerebri,
cerebelli et organonum communis.
Epikrisis. 14jähr. Knabe erkrankt plötzlich mit Fiebererscheinungen und
Schmerzen im ganzen Körper. Ins Krankenhaus wird er mit erhöhter Temperatur
am 7. Krankheitstag gebracht. In der linken Lunge ein katarrhalischer pneumo¬
nischer Herd, geringe Milzvergrößerung, kein Ausschlag, Pulsbeschleunigung.
Beim Eintritt wird starke Beschränkung der aktiven Bewegungen der Extre¬
mitäten konstatiert, die schnell in völlige Lähmung aller 4 Extremitäten übergeht.
Erschwertes Atmen; bulbäre Sprache, völlige Lähmung der Gaumenbogen und
des weichen Gaumens; starke Schluckstörungen, keine pathologischen Reflexe;
die Sehnenreflexe der unteren Extremitäten fehlen; Bewußtsein erhalten, nachts
Delirien; geringe Spannung der Nackenmuskulatur, Kernig. Krankheitsdauer
10—11 Tage; Tod bei Erscheinung von Herz- und Atmungslähmung. Bei der
Obduktion makroskopisch nur venöse Hyperämie aller Teile des zentralen Nerven¬
systems. Von seiten der anderen Organe wird Hyperplasie der Mandeln und all¬
gemeine Hyperämie aller inneren Organe konstatiert. Bei mikroskopischer Unter¬
suchung des zentralen Nervensystems werden die am stärksten ausgeprägten Ver¬
änderungen im Stamm hauptsächlich in der Brücke und Himstiel beobachtet.
Im Großhirn sind die Veränderungen so unbedeutend, daß man sie unbeachtet
lassen kann. Die Veränderungen sind in allen Teilen des Nervensystems gleich
und unterscheiden sich nur durch ihre Intensität. Gemeinsam allen Teilen des
centralen Nervensystems ist eine starke Hyperämie und Blutüberfüllung des capil-
laren Gefäßsystems, wie auch der venösen und arteriellen größeren Gefäße in der
weißen und grauen Hirnsubstanz. Die Veränderungen der Gefäße bestehen außer
in Hyperämie undStase in Infiltration der Gefäßwände, hauptsächlich der Adven-
titia mit lymphoiden Elementen und Proliferation der endo-perithelialen Elemente
(Abb. 1). Man findet geringe perivaskuläre Blutergüsse. In den Gefäßen werden
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Bei spezieller Ol/Hfarlnine Kifften. *iyh die genarmt en Kerne elektiv uftd *tdh:e
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meinaauiv sypeyh.iE pt'ntdf4ü>»nVa*is^he Ihmülsubstanz, in. weleiinr die ubni
be^ehriehenen Keine liefen. ln :|p|'}w?nVödsku& Yp• fermen findet man oft gritn*
bö^ophil »?.etie-hr»mirtf isdt^ Zerfall{.r»»<l.ukv*: in Form-' von iv* holten. j>e«enerät»oti
fctnzeftier l agern ü|jt| müht bepMehtgt Bei Färbung nnt $a
franiu und Seharlaelj K tirkb-i man 'i»h Rndtü fe l i UA*<t ■ «otalie Fett, in den-Nerrsre
zellen dei Kinde Er-*. heim* wen ohi T'nr-'k-is Aarh isieht man recht viel. »mv«v
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Vm> 2 rntxrritirphkF*fiiiv^ t.lia-GraiiUloün*; M.hj tu* n<* fc /UlMn« . V$Whiri#bl:»u f.ü!
■
252
M. S. Margulis:
änderte Zellen. In den Nervenzellen des Stammes ist die Tigrolyse bedeutend
stärker ausgedrückt und mehr verbreitet; in einigen Zellen ist Fibrolyse und Frag¬
mentation der Neurofibrillen ausgedrückt. Erscheinungen von Neurophagie werden,
wenn auch in geringem Maße, in einzelnen Stellen des Stammes beobachtet; in den
Nervenzellen der Rinde wird Neurophagie nicht konstatiert. Die weichen Hirnhäute
des Stammes sind dicht hauptsächlich mit Lymphocyten infiltriert. Ausläufer
der infiltrierten weichen Hirnhäute dringen in die Tiefe des Stammes. Die weichen
Hirnhäute des Rückenmarks sind auch mit Lymphocyten infiltriert. In der
Rinde des Großhirns ist die Infiltration der weichen Hirnhäute schwach ausge¬
drückt.
Wenn wir das oben Angeführte resümieren, so sehen wir, daß die pathologisch¬
anatomischen Veränderungen dieses Falles in Erscheinungen einer exsudativ-
proliferativen Encephalitis bestehen, die sich aus exsudativ-proliferativen Er¬
scheinungen im Endoperithel der Gefäße und proliferativen Erscheinungen ira
Gliagewebe mit Bildung von Knötchen zusammensetzen.
Fall 2. 53 jähr. Mann. Plötzlicher Beginn der Erkrankung, völlige Schluck¬
lähmung, Phonations8törungen bei unveränderter Artikulation, Fehlen von moto¬
rischen Lähmungen . Statische und Betvegungsataxie, Sensibilüäisstörungen. Krank¬
heitsdauer 23 Tage. Exitus letalis.
D. J. B., 53 jähr. Mann wird in die Nervenabteilung des Alt-Ekatherinen-
krankenhauses am 11. XI. 1907 aufgenommen.
Anamnese. Den Beginn der Erkrankung datiert der Kranke vom Morgen des
gestrigen Tages. Ohne Bewußtseins Verlust bekam er plötzlich Kopfschwindel,
er konnte nicht allein nach Hause gehen und wurde mit fremder Hilfe dahin ge¬
schafft.
Im Jahre 1904 hatte der Kranke einen Insult: Ohne Bewußtseins Verlust
wurden der linke Arm und das linke Bein schwach, auch Diplopie wurde beobachtet.
Nach Angabe des Kranken war er dann 3 Monate krank; nach dieser Zeit stellten
sich Kraft und Beweglichkeit wieder ein. \ : or P/g Jahren wiederholte sich der
Insult, jedoch ohne Diplopie. Der Kranke erhielt während dieser Zeit 50 Ein¬
reibungen (Quecksilber). Die Erscheinungen des 2. Insults verschwanden auch
nach einiger Zeit. Lues hatte der Kranke augenscheinlich im 17. Lebensjahr. Um
diese Zeit hatte er Geschwüre an den Unterschenkeln, die spezifisch behandelt
wurden. Seit dieser Zeit wurde diese Kur nicht wiederholt. Genügender Alkoholis¬
mus, zeitweise trank er sehr viel. Andere Erkrankungen will er nicht gehabt
haben. Bis zur augenblicklichen Erkrankung fühlte er sich völlig gesund. Fieber¬
hafte Erkrankungen, erhöhte Temperatur, Unwohlsein waren nicht vorausge¬
gangen.
Status yraesens. In den Lungen zerstreutes trockenes Rasseln. Keine per¬
kutorischen Veränderungen. Puls 74, von genügender Füllung. Herzgrenzen nicht
vergrößert. Herztöne etwas dumpf, keine Geräusche. Arterien sehr hart, gewunden.
Bauch etwas aufgetrieben, Leber nicht palpabel. Im Ham kein Eiweiß und kein
Zucker. Temperatur normal 36,5°. Pupillen ungleichmäßig, rechts breiter. Reak¬
tion auf Licht träge, auf Konvergenz und Akkomodation erhalten. Rotatorischer
Nystagmus der Augäpfel. Umfang der Augenbewegungen normal, keine Paresen
der Augenmuskeln. Die Zunge wird gerade herausgestreckt. Parese des linken
unteren Facialiszweiges. Kraft der Masseteren genügend. Gaumensegel und
Gaumenbogen links gelähmt. Stimme rein mit stark ausgedrückter nasaler Pho¬
nation. Artikulation normal, keine Spur von Dysarthrie. Schlucken fast unmöglich.
Harte Speise kann der Kranke überhaupt nicht schlucken, mit weicher verschluckt
er sich, er kann nur 1 oder 2 Schluck nehmen. Reflektorisches Schlucken auch
unmöglich. Aktive Bewegungen in allen 4 Extremitäten völlig normal in genügen-
Rhombencephalitis.
253
dem Umfang. Kraft und Umfang der Kopfbewegungen auch völlig genügend.
Platysma wird links schwächer als rechts gespannt. Grobe Kraft der Extremi¬
täten völlig genügend. Pressio man. d. 70 Pf., man. sin. 50 Pf. Ataxie der
linken Extremitäten bei geschlossenen wie auch offenen Augen. Rechts keine
Ataxie.
Der Kranke kann im Bett sitzen, obwohl er Kopfschmerzen empfindet, zu
stehen ist er nicht imstande, beim Versuch, es zu tun, schwankt er nach links,
Muskel und stereognostischer Sinn völlig erhalten. An der rechten Seite des Kopfes,
des Gesichts, des Körpers und den rechten Extremitäten Anästhesie von disso-
ziertem Typus; taktile Sensibilität und Drucksinn überall erhalten, Schmerz- und
Temperatursinn gelähmt. Links im Gesicht Anästhesie für Schmerz und Tem¬
peratur im 1. und 2. Trigeminuszweige. Auf der Schleimhaut der Zunge, Lippen,
inneren Wangenfläche Sensibilität aller Arten erhalten. Geschmack nicht ver¬
ändert, Gesicht normal, Augenhintergrund unverändert. Geruch und Gehör beider¬
seits normal. —
Der Kranke ist Analphabet; seine Handschrift kann deshalb nicht unter¬
sucht werden; Patellarreflexe beiderseits lebhaft; kein Klonus, kein Babinsky;
Plantarreflexe beiderseits vorhanden, Kremaster erhalten; Bauchreflexe beider¬
seits schwach ausgedrückt. Muskeltonus und mechanische Erregbarkeit der
Muskeln normal. Keine Rigidität bei passiven Bewegungen der Extremitäten.
Beckenorgane in Ordnung. Psyche normal. Gedächtnis und Auffassung nicht
verändert.
13. XI. Sensibilitätsstörungen unverändert. Muskel und Drucksinn unver¬
ändert. Schlucken ganz unmöglich. Auswurf wird etwas besser expektoriert.
Artikulation nicht gestört. Psyche völlig normal. Temperatur 36,5 bis 36,8°.
Puls 74 in der Minute.
14. XI. Puls 84. Keine Arhythmie. Schlucken unmöglich. Nährklysma wird
gehalten. Temperatur normal.
16. XI. Puls regelmäßig. Schlucken unmöglich.
18. XI. Puls 100, regelmäßig. Hemianaesthesia dextra von dissoziertem Typus
wie früher. Ataxie im linken Arm geringer, im linken Bein unverändert.
23. XI. Puls 100, Schlucken wie früher unmöglich, Kopfschwindel beim
Sitzen geringer. Weicher Gaumen und Gaumenbogen werden jetzt links viel besser
gehoben, nasaler Beiklang der Sprache stark ausgedrückt. Der Kranke steht ohne
fremde Hilfe. Sensibilitätsstörungen unverändert. Allgemeine Schwäche, Tem¬
peratur normal.
25. XI. Der Kranke ist stark geschwächt, Puls von schwacher Füllung; setzt
sich mit Mühe im Bett, Sprache, dank der progressierender nasaler Phonation,
kaum verständlich. Schlucken unmöglich, Temperatur normal, Sensibiltäts-
störungen unverändert.
26. XI. Temperatur 36,0 bis 36,0°. Der Kranke wird immer schwächer,
keine Lähmungen, keine Paresen. Sensibilitätsstörungen unverändert. Schlucken
unmöglich. Patellarreflexe beiderseits lebhaft.
28. XI. Bedeutende Bewegungsataxie in den linken Extremitäten, besonders
im Arm. Muskelsinn völlig erhalten. Keine Lähmungen, keine Paresen der Ex¬
tremitäten. Ihre Kraft, die allgemeine Schwäche in Betracht ziehend, ist genügend.
Schlucken unmöglich.
30. XI. Die Schwäche progressiert, Sensibilitätsstörungen unverändert.
Puls 100, von schwacher Füllung, Temperatur normal.
1. XII. Puls kaum fühlbar, die Schwäche progressiert, der Kranke kann ein
Nährklysma nicht halten. Bewußtsein klar. Keine Lähmungen oder Paresen der
Extremitäten. Alle Erscheinungen bleiben stationär. Schlucken unmöglich.
254
M. S. Margulis:
3. XII. Puls kaum fühlbar, soporöser Zustand, reagiert nicht auf Fragen.
Exitus letalis.
4. XII. Während seines Aufenthalts im Krankenhaus erhielt der Kranke
folgendes: Natr. jodat, Quecksilber (in Form von Injektionen und Einreibungen),
Herzmittel (Coffein, 01. camphor). Faradisation des weichen Gaumens, Er¬
nährung durch Nährklysmata. Im allgemeinen bleiben alle Erscheinungen stationär, j
es wurden nur geringe Schwankungen in ihrer Intensität beobachtet.
Autopsie (Prosektor Prof. W. Woronin) 5. XII. 1907. Encephalitis bulbi (in der
linken Hälfte des verlängerten Marks unter dem Boden des 4. Ventrikels findet
sich ein entzündlich erweichter Herd). Atheromatosis permagna art. basilaris,
carotidum, coronarium, valvularum aortae, atheromatosis aortae levis. Hyper-
aemia hepatis, renum lienis.
Epikrise: Bei einem 53jähr. Mann, der bis dahin sich gesund fühlt (in der
Anamnese 2 Insulte, von denen er sich erholt), entwickeln sich plötzlich ohne
Prodomalerscheinungen und Bewußtseinsstörung Gleichgewichtsstörungen, Be¬
wegungsataxie in den linken Extremitäten, Verlust des Temperatur- und Schmerz¬
sinns in der rechten Hälfte des Kopfes, Halses, Rumpfes und der rechten Extre¬
mitäten, Thermoanästhesie und Analgesie im Gebiet der 1. und 2. Trigeminusaste.
Die rechte Pupille ist breiter als die linke, die Reaktion beider auf Licht trage,
rotatorischer Nystagmus, die linke Hälfte des weichen Gaumens und der linke
Gaumenbogen sind gelähmt, nasale Phonation, Schlucken unmöglich (Artikulation
jedoch unverändert). Parese des linken unteren Facialiszweigs, grobe Kraft und
Umfang der Bewegungen in den Extremitäten völlig erhalten. Während seines
Aufenthaltes im Krankenhaus blieben alle Erscheinungen stationär. Bei mikro¬
skopischer Untersuchung findet sich in der linken Hälfte des verlängerten Marks
auf der Höhe des Vaguskerns ein entzündlich erweiterter Herd.
Mikroskopische Untersuchung. Die weichen Hirnhäute sind besonders an der
Hirnbasis und am Stamm verdickt. An denselben Stellen sind sie etwas getrübt.
Die Gefäße der Basis und des Stammes sind stark sklerosiert. Auf Schnitten durch
das Großhirn wird makroskopisch nichts Besonderes konstatiert, ebensowenig
auf Schnitten durch die Brücke und niedriger. Auf der Höhe des Vaguskems, in
der linken Hälfte des verlängerten Marks findet sich ein entzündlich erweichter
Herd. Seine Grenzen sind folgende: lateral — Peripherie des Gehirns, medial
reicht der Herd nicht bis zu den Fasern der Schleife, ventral erreicht er das dorsale
Knie der unteren Olive; dorsal ergreift er das Corp. restiforme und läßt den Boden
des 4. Ventrikels frei. Der Herd fällt durch seine grell rote Farbe auf weißem Feld
auf. Die Farbe hängt von kleinen, dicht liegenden zuweilen konfluierenden roten
punktförmigen Blutergüssen ab. Das Gewebe des Herdes ist von lockerer Kon¬
sistenz und etwas eingefallen. Im genannten Ort erreicht der Herd seine größte
Breite 5 mm; dem Stamme entlang zieht sich der Herd auf 8 mm. Das Rücken¬
mark bietet makroskopisch wenig Veränderungen.
Bei mikroskopischer Untersuchung einer Serie von Schnitten findet sich das
caudale Ende des Herdes etwas über dem Anfang der Erweiterung des Zentral¬
kanals beim Calamus scriptor. Auf dieser Höhe und etwas höher sieht man nur
ödem und parenchymatöse Veränderungen des Nervengewebes, die an der Peri¬
pherie der linken Hälfte der Medulla oblongata liegen. Bei Untersuchung von
weiteren Schnitten in cerebraler Richtung erweitert sich allmählich der Herd;
den parenchymatösen Veränderungen schließen sich dabei Erscheinungen von
seiten der Gefäße in Form von Gefäßvermehrung, von Injektion mit Blut, Infil¬
tration der Gefäßwände mit Lymphocyten an. Gleichzeitig beobachtet man an¬
fangs kleine, später bedeutende Erweichungsherde im Nervengewebe. Auf Schnit¬
ten aus der Höhe der größten Entwicklung des Herdes fällt allem zuvor die große
Rhombencephalitis.
255
Anzahl der erweiterten und mit Blut gefüllten Gefäße von hauptsächlich venösem
und capillarem Typus auf; Arterien finden sich wenig und nur an der Peripherie
des Herdes. Die Gefäßwände bieten außer einer bedeutenden Infiltration mit
Lymphocyten und zuweilen einer geringen Verdickung der venösen Wände keine
anderen pathologischen Erscheinungen. In den perivaskulären Räumen findet
sich eine bedeutende Anzahl von Zellenelementen: Lymphocyten, epitheloide
Zellen, Fibroblasten, kernige Kugeln, Zerfallprodukte von Myelinschollen, die
mit Osmium sich schwarz färben. Man findet auch grüne basophil-metachromatische
Zerfallsprodukte (bei Tioninfärbung). Außerhalb des Herdes bieten die Wände
der umliegenden Gefäße Infiltration und Proliferation der Adventitia. Starke
diffuse und perivaskuläre Proliferation der Neuroglia. Die Fasern der Neuroglia
im Herd und an seiner Peripherie sind zerfasert, ödematös, ihre Knoten¬
punkte sind auseinander geschoben und verdickt. Im Glianetz sieht man oft
Detrit, in anderen Fällen enthalten sie aufgequollene, veränderte Achsenzylinder.
Die Zellen des dorsalen Vaguskernes und der Kerne der Hinterstränge weisen keine
besonderen Veränderungen auf. Die Nähe des Herdes wirkt natürlich auf die
Ernährung der anliegenden Zellen, die sich durch Erscheinungen von Tigrolyse,
durch Verdrängung des Kernes an die Peripherie, durch Fehlen oder ungenügende
Differentierung des Kernes wie auch durch geringe Verminderung der Zahl, zu¬
weilen auch der Größe der Zellen äußert. An der Peripherie des Herdes finden
sich sehr viele gequollene Achsenzylinder. Ebensolche gequollene Fasern sieht
man auch im Gebiet der Corp. restiform. der Gowerschen Bündel, verhältnismäßig
entfernt vom Herd, wo entzündliche Gefäßerscheinungen schon nicht zu beobach¬
ten sind. Der Durchmesser solcher gequollener Achsenzylinder erreicht 75—100
Die an den Herd grenzende weiche Hirnhaut ist in einigen Stellen verdickt und
mit Lymphocyten infiltriert. Besonders dicht sind die in der Längsrichtung ge¬
troffenen venösen Gefäße mit ihnen besät. Die Gefäße sind erweitert und mit
Blut gefüllt. Im Gebiet des Herdes dringen einige Gefäße der weichen Hirnhäute
in die Himsubstanz ein. Die Wände dieser Gefäße sind stark mit Lymphocyten
infiltriert. In anderen Gefäßen der weichen Hirnhäute sieht man Erscheinungen
von Endarteritis. Obliteration des Lumens, Thromben werden nicht beobachtet.
Auf der Höhe der größten Entwicklung des Herdes im Gebiet des Vaguskemes
sind folgende Bahnen und Gebilde der linken Hälfte des verlängerten Marks in
Mitleidenschaft gezogen: fast die ganze Subst. reticul., mit Ausnahme ihrer me¬
dialen Teile, mitsamt dem Nucl. arnbiguus und den Fibr. arc. int., die durch die
Subst. reticular. ziehen, das linke Corp. restif., der laterale Teil des rechten Corp.
restif. ungefähr 2 /, (ventrale) der aufsteigenden Trigeminuswurzel, ein Teil der
Fibr. arc. ext., */ s der dorsalen und ungefähr l /* des ventralen Knies der unteren
Olive, ein Teil der dorsalen Nebenolive. Die mediale Grenze des Herdes erreicht
nicht die austretenden Fasern des 12. Nerven.
Der Dorsalkem des N. vagus zeigt nur auf einer kleinen Anzahl von Schnitten
auf der Seite des Herdes Ernährungsstörungen der Zellen, in seiner ganzen weiteren
Ausdehnung werden in ihm keine besonderen Veränderungen beobachtet. Der
Nucl. arnbiguus ist in seinem cerebralen und teilweise auch medialen Teil völlig
vernichtet.
In den höher gelegenen Schnitten bleibt der Charakter der pathologisch-ana¬
tomischen Veränderungen derselbe, mit Ausnahme von einzelnen kleinen Blut¬
ergüssen, die in Form von Bändern gewundener Kanälchen oder runden Ansamm¬
lungen auftreten.
Wenn man die Untersuchung der Schnitte in cerebraler Richtung fortsetzt,
so sieht man, daß der Herd allmählich abnimmt und auf der Höhe des Glosso-
pharingeuskemes und des unteren Teiles der spinalen Acusticuswurzel völlig ver-
256
M. S. Margulis:
schwindet. Der Herd lädierte also folgende Fasersysteme und Gebilde des ver¬
längerten Markes: 1. Formatio reticularis gris (mit Ausnahme der medialen Teile);
2. das linke Corp. restif.; 3. die direkte Kleinhirabahn, das olivo-cerebellare und
Gowersche Bündel, die lateralen Teile des rechten Corp. rest. (tract. olivo-cerebel-
laris); 4. den Nucl. ambiguus des N. vagi (den cerebralen und medialen Teil);
5. die linke spinale Trigeminuswurzel (hauptsächlich ihre ventralen 2 Drittel):
6. einen Teil der linken unteren Olive; 7. einen Teil der Fibr. arc. int.; 8. einen
Teil der linken dorsalen Nebenolive.
Das mikroskopische Bild dieses Falles besteht aus 2 Elementen: aus einer
exsudativ-proliferativen Entzündung und einer Nekrose des Nervengewebes. Es
muß allem zuvor die Frage entschieden werden, um welch einen anatomischen
Prozeß es sich hier handelt und welche von beiden Erscheinungen die primäre ist.
Oppenheim weist auf die Schwierigkeit und zuweilen Unmöglichkeit hin, embo-
lische oder thrombotische Erweichungen, die von reaktiven Entzündungen be¬
gleitet werden, von primären Entzündungen des Nervengewebes zu differentieren.
Für einen primären entzündlichen Prozeß in unserem Fall sprechen die stark aus¬
gesprochenen entzündlichen Erscheinungen von seiten der Gefäße. Dieselben
Erscheinungen beobachten wir auch bei reaktiven Entzündungen, doch ist ihre
Intensität hier bedeutend schwächer. Parenchymatöse Veränderungen der Nerven¬
fasern, die sich sogar dort finden, wo keine anderen entzündlichen oder Erweichungs¬
erscheinungen vorhanden sind, die eine Reaktion des Nervengewebes hervorrufen
könnten, sprechen auch für eine primäre Entstehung des Prozesses. Außerdem
konnten wir bei Untersuchung des ganzen Herdes auf Serienschnitten nirgends
Thrombose der Gefäße beobachten. Die proliferativen Erscheinungen im Endo-
perithel sprechen auch für einen entzündlichen Prozeß.
Wir nehmen also eine primäre Entzündung als Ursache der beschriebenen
Erkrankung an und wollen nun versuchen, seine Ätiologie festzustellen. Unser
Kranker hatte in der Jugend Lues. Die oben beschriebenen anatomischen Ver¬
änderungen unseres Falles enthalten nichts Spezifisches für Syphilis. Wir finden
keine charakteristischen syphilitischen Veränderungen der weichen Häute, wie
diffuse, verbreitete Verdickung, Infiltration der Gefäßwände, Thrombose der
Gefäße. Ebensowenig geben die Veränderungen der Gefäße des Hirnstammes
Grund für die Annahme einer spezifischen Ätiologie dieser Erkrankung.
Wenn wir alles oben Gesagte in Betracht ziehen, so müssen wir eine
primäre, aus den Gefäßen stammende Entzündung des verlängerten
Marks annehmen — Encephalitis bulbi. Als nächstes prädisponierendes
Moment muß auf die Intoxikation (chronischer Alkoholismus) des Or¬
ganismus unseres Kranken hingewiesen werden; die Entwicklung des
entzündlichen Prozesses ist höchstwahrscheinlich durch anschließende
Infektion hervorgerufen.
Falls . 13 jähr. Knabe . Residuale Erscheinungen: Schluck - und Phonations-
Störungen, Lähmung des weichen Gaumens, der Kaumuskulatur, Dysarthrie, degenera-
tive Atrophie der Zunge und Lippen, maskenförmiges Gesicht.
N. G. Fed—ow, 13jähr., trat in die Nervenabteilung des Alt-Ekatherinen-
krankenhauses am 25. X. 1913.
Anamnese: Erkrankte vor 2 Jahren. Die Angehörigen bemerkten, daß er
den Rücken zu grade hält, ßogar beim Bücken beugte er ihn nicht. Bald darauf
erkrankte der Knabe mit Fieber. Die Stimme wurde heiser; er klagte über Kopf¬
schmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Nach dieser Erkrankung begann er unver¬
ständlich zu sprechen. Seit der Erkrankung bis zum Eintritt ins Krankenhaus
Rhombenceph&litis.
257
traten keine besonderen Änderungen im Zustand des Kranken ein. Bis zu dieser
Krankheit war der Knabe immer gesund. Von seiten der Heridität nichts Be¬
sonderes. In der Familie wurden ähnliche Erkrankungen nicht beobachtet. Sy-
phihs wird negiert.
Status praesens: Der Kranke ist von normalem Bau. Ernährungszustand gut.
Innere Organe ohne Belang. Pupillen erweitert, gleichmäßig, reagieren lebhaft
auf licht, Akkommodation und Konvergenz. Kein Nystagmus. Beweglichkeit
der Augäpfel nicht beschränkt. Das Gesicht des Knaben fällt durch Maskenförmig-
keit auf. Der Kranke steht gewöhnlich die Arme leicht in den Ellenbogengelenken
gebeugt, den Kopf nach hinten gebogen; er hält die linke Schulter merklich höher
als die rechte, die Knie sind angezogen und etwas nach innen gewandt, ebenso
auch die Fußspitzen. Die Sprache ist undeutlich, heiser, näselnd. Es fällt dem
Kranken schwer zu sprechen: „Er ist seiner Zunge nicht mächtig.“ Die Sprache
ist von bulbärem Charakter, er spricht undeutlich einzelne Buchstaben und Silben
aus. Atrophie der Zungenmuskulatur, dieselbe breitet sich auf die ganze Zunge
aus, ist jedoch mehr rechts ausgedrückt ; die Zunge ist weich, man sieht fibrilläre
Zuckungen. Elektrische Erregbarkeit für beide Ströme stark vermindert, ebenso
im Orbicularis oris. Die Bewegungen der Nasolabialfalten sind langsam, die rechte
bleibt zurück; Kraft der Kaumuskeln gut. Parese des weichen Gaumens und der
Gaumen bogen, Rachenreflex nicht auslösbar. Verschluckt sich oft. Atrophie der
Lippenmuskul&tur. Der Kranke zerkaut und schluckt Speise mit Mühe, ißt lang¬
sam, beschmiert sich das Gesicht mit Speise, zuweilen hilft er sich beim Kauen
mit den Fingern, indem er die Vertiefungen im Mund mit ihnen reinigt. Viele
Buchstaben wie p, b, u, d, r kann er überhaupt nicht oder nur undeutlich aus¬
sprechen; er kann nicht pfeifen. Die Stimme ist schwach, monoton, mit näselndem
Beiklang. Alle aktiven Bewegungen in den oberen Extremitäten, in Ellenbogen-
und Handgelenk sind in vollem Umfang möglich. Ihre Kraft ist genügend. Der
Umfang der Bewegungen in den Fingern: Spreizen, Adduzieren, Beugen und
Dehnen ist begrenzt. Die Kraft der Interossei und* Lumbricales beiderseits ist
abgeschwächt. Pressio man. dextr. 40 kg, man. sin. 25 kg. Die Muskeln des Vorder¬
armes sind nicht atrophisch. Der Kranke hält die Arme im Ellenbogengelenk ge¬
beugt; die Hand und die Finger sind beiderseits gebeugt in Form der Geburts-
hilferhand; der große Finger ist opponiert. Bei passiven Bewegungen keine Rigi¬
dität. Keine Ataxie bei Bewegungen der oberen Extremitäten. Sehnenreflexe
der oberen Extremitäten lebhaft. Keine Atrophie der Handmuskeln. Untere
Extremitäten: aktive Bewegungen in allen Gelenken in vollem Umfang und mit
genügender Kraft möglich, mit Ausnahme beider Fußgelenke, in welchen nur
minimale Bewegungen möglich sind. Bewegungen der Zehen rechts begrenzt,
links nicht auslösbar. Beide Füße sind dank der Contractur der Unterschenkel¬
beuger gebeugt. Der Kranke geht auf den Fußspitzen, die Ferse hält er hoch.
Die Sehnenreflexe der unteren Extremitäten sind normal. Keine pathologischen
Reflexe. Plantar-, Bauch- und Cremasterreflexe beiderseits lebhaft. Sensibilität
aller Arten erhalten, Sphincteren in Ordnung. Temperatur normal. Keine Ko¬
ordinationsstörungen. Keine fibrillären Zuckungen in der Muskulatur der Ex¬
tremitäten und des Rumpfes. Keine Veränderungen der elektrischen Erregbar¬
keit. Psyche normal. Wassermann im Blut und Liquor völlig negativ.
Am 30. XII. wird Pat. ausgeschrieben. In seinem Gesundheitszustand traten
keine Veränderungen ein. Klinische Diagnose: Akute bulbäre Encephalitis (re¬
siduale Form).
Epikrise: 13jähr. Knabe erkrankt plötzlich mit allgemeinen Hirn- und menin-
ge&len Erscheinungen bei erhöhter Temperatur. Bulbäre Sprache, degenerative
Atrophie der Zunge und der Lippen. Schluck- und Phonationsstörungen. Parese
Z.L d. g. Neor. u. Psych. XCIII. 17
258
M. S. Margulis:
des weichen Gaumens und der Gaumenbogen. Fehlen des Rachenreflexes. Um¬
fang und Kraft der Bewegungen in den Fingern beiderseits vermindert. Gewöhn¬
liche Zwangslage der Extremitäten: Arme in den Ellenbogengelenken halb gebeugt.
Hand in Geburtshelferlage; die Knie sind aneinandergezogen und wie auch
die Füße etwas nach innen gewandt. Der Umfang der aktiven Bewegungen ist
in den unteren Extremitäten nur in den Füßen beschränkt; Beugecontractur beider
Füße. Keine Rigidität bei passiven Bewegungen in den Extremitäten. Begrenzte
Beweglichkeit der Wirbelsäule. Rigidität der Rückenmuskulatur. Sehnen- und
Hautreflexe erhalten. Maskenförmiges ausdruckloses Gesicht, monotone Sprache.
Keine pathologischen Reflexe. Keine Störungen der Sensibilität und der Sphinc-
teren. Keine Atrophie der Extremitätenmuskeln. Stationärer Zustand der Krank¬
heitssymptome ungefähr 2 Jahre.
Wir haben also hier Residuen eines akuten Prozesses, den der Kranke 2 Jahre
vor seinem Eintritt ins Krankenhaus durchmachte. Ein Weiterschreiten der
nervösen Erscheinungen während dieser 2 Jahre wie auch während des Aufent¬
halts im Krankenhaus wird nicht beobachtet.
Die Lokalisation des Prozesses wird in diesem Fall durch das ausschließliche
Befallensein des verlängerten Marks erklärt. Von den Bulbuskernen sind haupt¬
sächlich die Kerne des Nn. XII und X geschädigt, was klinisch sich in folgenden
Erscheinungen ausdrückte: Schluck- und Phonationsstörungen, Parese des weichen
Gaumens und der Gaumenbogen, Parese der Kaumusklen, Dysarthrie, degenerative
Atrophie der Zungen- und Lippenmuskulatur. Das Fehlen von Atrophien und
Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit in den paretischen Extremitäten¬
muskeln spricht für eine Entwicklung der Parese durch Unterbrechung der Leitungs¬
bahnen, als Folge eines Überganges des entzündlichen Prozesses auf die motorischen
bulbären Leitungen. Die Atrophie der Lippenmuskulatur weist auf eine Läsion
der unteren Zweige des Facialis. Die Zwangshaltung des Körpers und der Extremi¬
täten, das maskenförmige und ausdrucklose Gesicht, die monotone Sprache, die
Rigidität der Rückenmuskulatur erinnert sehr an analoge Erscheinungen bei
Paratysis agitans; es fehlt nur die für letztere charakteristische Rigidität der
Muskulatur, der Extremitäten, obwohl die Bewegungen der Wirbelsäule dank
der Rigidität der Rumpf muskulatur beschränkt sind.
Der Prozeß kann in der Brücke bei seiner Verbreitung in cerebraler Richtung
lokalisiert werden, oder, was jedoch weniger wahrscheinlich ist, man kann einen
2. Herd in der Regio subthalamica und im Nuc. lenticularis voraussetzen. Bei der
differentiellen Diagnose unseres Falles kann ein progressiver chronischer Prozeß
in den Kernen ausgeschlossen werden, da seine Entwicklung und Verlauf — akuter
Beginn und stationärer Zustand im Laufe von mehr als 2 Jahren — dagegen
sprechen. Die Verbreitung des Prozesses, der zentrale Charakter der Paresen der
Extremitäten und die anderen klinischen Symptome, Amimie, Zwangslage der
Glieder und des Körpers, wie auch das Fehlen ätiologischer Momente sprechen
gegen multiple Neuritis der bulbären Nerven. Der anfängliche fieberhafte Verlauf,
spricht auch gegen eine Gefäßläsion.
Von ätiologischen Momenten kann Syphilis ausgeschlossen werden. Der
Charakter und die Entwicklung der Erkrankung sind in diesem Fall infektiöser
Natur.
Fall 4. 46 jähr. Kranke , 'plötzlicher Beginn , allmähliches Anwachsen der Krank -
heitssymptome; völlige Anarthrie , Aphonie y Störungen der Atmungs - und Herztätigkeit,
Lähmung der Zunge und Schluckmuskulatur , Bewegungsataxie eines Armes. Krank¬
heitsdauer 1 Monat .
Ust. Schew., 46jähr., trat in die Nervenabteilung des Alt-Ekatherinenkranken-
hauses am 19. VIII. 1921.
Rhombencephalitis.
259
A namnese: Erkrankte vor 6 Tagen, plötzlich wird der Mund nach recht« ver¬
zogen, nach 2 Tagen hört sie zu reden und schlucken auf, das Atmen wird er¬
schwert. Nach Angaben der Angehörigen hatte sie in dieser Zeit Fieber. Bis zur
augenblicklichen Erkrankung war sie gesund; Syphilis, Alkohol werden negiert.
Die Kranke gebar 9 Kinder. Keine Aborte.
Status praesens: Die Kranke atmet schwer, sie schnarcht die ganze Zeit;
nimmt keine Speise zu sich, schluckt nicht. Die Zunge kann sie nicht aus dem
Mund herausstrecken. Parese der unteren Zweige des linken Facialis. Lähmung
der Gaumenbogen und Stimmbänder. Völlige Anart hrie, die Kranke versteht
alles. Mydriais. Pupillenreaktion auf Licht, Akkommodation und Konvergenz gut.
Keine Paresen der Extremitäten. Patellar und Achillesreflexe lebhaft. Sphincteren
in Ordnung. Puls regelmäßig 84 in der Minute. Geht gut, taumelt nicht.
20. VIII. Abends 39,2°. Linke Nasolabialfalte etwas verstrichen; der Mund
wird mit Mühe und nicht mit einemmal geöffnet; die Masseteren und Temporalis
sind gespannt. Die Zunge wird nur wenig herausgestreckt, Zungenmuskulatur
weich; Phonieren unmöglich. Keine Bewegungen des weichen Gaumens, der Gau-
nienbogen, kein Rachenreflex. Bewegungsataxie des linken Arms; geht gut;
schluckt wenig und verschluckt sich dabei. In den Lungen zerstreutes trocknes
Rasseln. Herzgrenzen normal, Töne rein. Puls 88 in der Minute, regelmäßig mitt¬
lerer Füllung. Leber, Milz nicht vergrößert.
21. VIII. Temperatur 37,5 bis 38,6°. Parese des linken Facialis (unterer
Zweig). Mund wird mit Mühe geöffnet. Dank der Anspannung der Kaumuskulatur
bleibt der Mund nicht geöffnet, sondern schließt sich allmählich selbst. Unter¬
kieferreflex auslösbar. Keine Rigidität der Nackenmuskulatur, Kraft der Hals¬
muskeln gut. Keine Augenmuskelstörungen. Kraft der Bewegungen in den Ex¬
tremitäten völlig genügend. Sensibilität aller Arten erhalten. Bewegungsataxie
im linken Arm. Patellar- und Achillesreflexe lebhaft. Kein Babinsky. Stertoröse
Atmung. Puls 104 in der Minute, regelmäßig. Klagt, daß sie schlecht hört.
Atmung 48 in der Minute. Starker Kopfschmerz. Links hinten von der Mitte
des Schulterblattes beginnend Dämpfung: kleinblasiges und krepitierendes
Rasseln.
22. VIII. 37,4 bis 37,2°. Kann den Mund nicht schnell öffnen, keine Parese
der Kaumuskeln. Parese des linken unteren Facialis. Steckt die Zunge etwas
weiter heraus, öffnet den Mund etwas mehr. Geringe Bewegungen der Gaumen-
bogen; kann keinen Laut hervorbringen, versteht jedoch alles. Bewegungsataxie
des linken Armes. Keine Paresen der Extremitäten. Lungen unverändert. At¬
mung 40 in der Minute besser.
23. VIII. 37,1 bis 36,6° . Spricht nicht. Keine statischen Störungen, keine
Paresen in den Extremitäten, Zungenmuskulatur weich. Elektrische Erregbarkeit
für beide Ströme vermindert. Geringe Bewegungen der Gaumenbogen. Puls
regelmäßig, schwach. Atmung 40 in der Minute. In der linken Lunge hinten
feuchtes groß- und mittelblasiges Rasseln. Lumbalpunktion: Es werden 10 ccm
Cerebroepinalflüssigkeit, die bei mittlerem Druck ausfließen, entnommen. Der
Liquor ist durchsichtig, farblos.
25. VIII. 37,7 bis 37,9°. Der Mund wird besser geöffnet; sie beginnt etwas
zu phonieren; spricht einige unartikulierte Laute; geringe Bewegung der Gaumen-
bogen; die Stimmbänder sind beweglich. Kehlkopf unverändert.
26. VIII. 37,0 bis 36,8°. Der Mund wird normal geöffnet. Zunge wird gut
hervorgestreckt. Weiche Speise wird gut geschluckt; versucht zu sprechen, doch
ist die Sprache sehr unverständlich, von bulbärem Charakter mit stark nasalem
Beiklang. In der linken Lunge hört man noch Rasseln, jedoch in geringerem
Maße. Starker Husten, Atmung tiefer. Puls regelmäßig.
17*
260
M. S. Margulis:
28. VIII. Temperatur normal. Verkürzung der Gaumenbogen bedeutend
besser. Bulbäre Sprache mit nasalem Beiklang. Bewegungsataxie im linken
Arm. Keine Lähmungen. Sensibilität erhalten. Gang unverändert. Rasseln in
der Lunge fast verschwunden. Atmung normal.
Untersuchung der Cerebrospinalflüssigkeit: Eiweiß 0,9 % 0 . Nonne-Apelt-
Phase I positiv. In 1 cmm frisch entnommenen Liquors 12—15 Zellenelemente.
Im Sediment Lymphocyten, einzelne Leukocyten und endotheliale Zellen. Wasser¬
mann im Blut und Liquor völlig negativ.
Augenuntersuchung: Normale Bewegungsfähigkeit der Augen nach allen
Richtungen. Comealreflex beiderseits lebhaft. Pupillen gleichmäßig, reagieren
gut auf Licht, Akkommodation und Konvergenz, Augenhintergrund beiderseits
normal.
30. VIII. Mund wird gut geöffnet, Verkürzung des weichen Gaumens be¬
deutend besser. Sprache hat noch bulbären Charakter mit nasaler Phonation.
Sonst keine Paresen weder der Himnerven noch der Extremitäten.
2. IX. Sprache bedeutend besser. Gaumenbogen verkürzen sich gut, geht gut.
5. IX. Spricht besser. Ataxie bei Bewegungen des linken Armes noch vor¬
handen.
8. IX. Spricht noch besser. Bewegungen der Gaumenbogen normal. Rachen¬
reflexe auslösbar; keine Paresen, keine Ataxie im linken Arm. Patellar- und
Achillesreflexe lebhaft. Sphincteren in Ordnung. Kein Babinsky.
12. IX. Allgemeinziistand besser. Keine Ataxie, keine Paresen. Bulbäre
Sprache mit nasalem Beiklang, Sprachstörung bedeutend geringer. Zunge wird
gut herausgestreckt. Geringe Atrophie der seitlichen Teile der Zunge. Schluckt gut.
19. IX. Sprache noch besser. Allgemeinzustand gut. Die Kranke wird ge¬
bessert ausgeschrieben. Krankheitsdauer ungefähr I Monat.
Klinische Diagnose: Akute bulbäre Encephalitis. Während des Aufenthalts
im Krankenhaus werden Injektionen mit Chinin und Antipyrin, intravenöse Injek¬
tionen von Elektrargol und Jodpräparate angewendet.
Epikrise: 46jähr. Kranke ohne Syphilis und Alkohol in der Anamnese er¬
krankt plötzlich mit erhöhter Temperatur. Parese des linken Facialis. Im Laufe
der nächsten 2 Tage entwickeln sich völlige Anarthrie, Dysphagie und Atmungs¬
störungen. Bei der Aufnahme erschwertes stertoröses Atmen, Lähmung der Zunge,
der Schluckmuskulatur, der Gaumenbogen und Stimmbänder. Völlige Aphonie
und Anarthrie. Fehlen des Rachenreflexes. Parese des unteren Zweiges des linken
Facialis. Spannung der Kaumuskeln. Keine Lähmungen, keine Sensibilitäts¬
störungen der Extremitäten. Sphincteren in Ordnung. Bewegungsataxie im
linken Arm: keine statische Ataxie. Temperaturerhöhung. In den folgenden
Tagen linksseitige katarrhalische Pneumonie. Untersuchung des Liquors ergibt
Hyperalbuminose, mittlere Pleocytose, hauptsächlich Lymphocytose. Wasser¬
mann im Blut und Liquor negativ. Bei der Entlassung ist die Dysarthrie bedeutend
geringer, der bulbäre Charakter der Sprache bleibt jedoch noch; geringe Atrophie
der Zunge; schluckt gut; alle anderen Erscheinungen verschwunden. Krankheits¬
dauer 1 Monat. Das klinische Bild besteht also in diesem Fall aus Lähmung und
Atrophie der Zunge, Schlucklähmung, Aphonie, Anarthrie, Atmungsstörungen.
Parese des unteren Zweiges des linken Facialis, Bewegungsataxie des linken Armes.
Die oben angeführten Ausfallserscheinungen bestimmen völlig die Lokalisation
der Schädigung; die untere Grenze der Läsion ist der Hypoglossuskem, alle anderen
Symptome erklären sich durch Läsion deB Vagus und der Accessoriuskeme; die
einseitige Parese des Facialis von cerebralem Typus wird durch einen kleinen Herd
in der Brücke über dem Kern dieses Nerven, möglicherweise im Gebiet des moto¬
rischen Trigeminuskerns hervorgerufen. Die Bewegungsataxie des linken Arms
Rhombencephalitis.
261
wird durch Läsion der aufsteigenden Kleinhirnsysteme hervorgerufen. Bei der
Differentialdiagnose müssen wir die Möglichkeit in diesem Fall von Gefäßerkran¬
kungen in Betracht ziehen. Gegen eine Hämorrhagie sprachen der zu begrenzte
Bezirk der Läsion, das Fehlen von Insulterscheinungen bei erhöhter Temperatur.
Gegen Thrombose spricht das Fehlen von ätiologischen Momenten — Syphilis,
Alkoholismus und die Entwicklung des Krankheitsprozesses. Embolische Prozesse
müssen ausgeschlossen werden, da Ursachen für eine Embolie fehlen. Infektiöse
Granulome und Neubildungen wurden durch Verlauf und Ausgang der Erkran¬
kung ausgeschlossen. Die allmähliche Entwicklung und das Anwachsen der
Krankheitssymptome bei erhöhter Temperatur, die Liquoruntersuchung — Hyper-
albuminose und Pleocytose mittleren Grades, die sich ausschließende Lungenent¬
zündung — bestimmen völlig in diesem Fall das Vorhandensein eines akuten ent¬
zündlichen Prozesses, und zwar einer bulbären Encephalitis.
Fall 5. 20jähr. Frau erkrankt plötzlich mit Fieber und allgemeinen Hirnsym-
ptomen , Nystagmus, Parese der Kaumuskeln , Anästhesie des rechten Trigeminus ,
cerebeüare Ataxie , Bewegungsataxie eines Annes , Hyperalbuminose, Pleocytose ,
erhöhter Druck der Cerebrospinalflüssigkeit . Genesung . Dauer der Erkrankung
7 Wochen .
A. P. K—owa. 20jähr. Studentin, wird in die Nervenabteilung des Alt-Eka-
therinenkrankenhauses am 11. V. 1919 mit Klagen über Kopfschmerz und Kopf-
sch windel auf genommen.
Anamnese: Erkrankte am 1. V. vor ihrer Ankunft in Moskau. Sie hatte hohes
Fieber und Stechen in der rechten Seite. Auf dem Weg nach Moskau wurde ihr
sehr schlecht: Kopfschwindel, Übelkeit, Parästhesien in der rechten Gesichts¬
hälfte. Vom 2. V. an starkes Erbrechen; 2 Tage vor ihrem Eintritt ins Krankenhaus
hörte das Erbrechen auf. Die ganze Zeit über bestand Verstopfung. Syphilis,
Alkoholismus werden negiert. Narcotica benutzte sie nicht. Sie war überhaupt
niemals krank.
Status praesens: Pupillen gleichmäßig, Reaktion auf Licht, Akkomodation
und Konvergenz lebhaft. Bewegungsfähigkeit der Augen nach allen Richtungen
gut. Bei äußersten Lagen der Augäpfel starker Nystagmus. Augenhintergrund
normal. Bedeutende Schwächung des Conjunctival- und Cornealreflexes beider¬
seits. Rechte Nasolabialfalte verwischt. Obere Äste des Facialis in Ordnung.
Die Zunge weicht beim Herausstrecken nach rechts ab, der Unterkiefer beim Mund¬
öffnen gleichfalls. Gaumenbogen verkürzt sich rechts fast nicht. Kraft der Kau¬
muskeln beiderseits geschwächt, kaut schlecht, gibt an, daß die Kiefer schwach
seien und daß sie das Zahnfleisch und die Wange rechts nicht spürt. Anästhesie
aller Sensibilitätsarten in der rechten Gesichts- und Kopfhälfte. Die Schleimhaut
des Mundes, des Zahnfleisches und der Zunge ist rechts anästhetisch. Schwächung
des Rachenreflexes. Schlucken nicht gestört. Keine Extremitätenlähmung. Be¬
wegungsataxie im rechten Arm, in den unteren Extremitäten keine Ataxie. Muskel¬
silm überall erhalten. Die Kranke sitzt mit Mühe im Bett, nach kurzer Zeit fällt
sie in die Kissen zurück, stellt sich auf die Füße, doch schwankt sie stark, kann
ohne fremde Hilfe nicht gehen, Gang unsicher. Subjektiv starker Kopfschwindel.
Keine Rigidität der Extremitäten. Patellarreflexe lebhaft, kein Klonus, keine
pathologischen Reflexe. Keine Sensibilitätsstörungen in den Extremitäten und
im Rumpf. Sphincteren in Ordnung. Keine meningealen Erscheinungen. Psyche
normal. Linke Herzgrenze auf der Linea mammilaris, systolisches Geräusch an
der Herzspitze. Puls 64 in der Minute regelmäßig. Röntgenuntersuchung: Ver¬
größerung des Herzens nach links auf lV,cm. Sämtliche innere Organe ohne Be¬
lang. Es wurden 20 ccm Cerebrospinalliquor unter bedeutendem Druck abgelassen.
Liquor durchsichtig; Eiweiß 0,6°/ 00 ; in 1 cmm frisch entnommenen Liquors 15 Zellen-
262
M. S. Margulis:
elemente hauptsächlich Lymphocyten. Im Sediment Lymphocyten und einzelne
Leukocyten, endotheliale Zellen. Temperatur 37,0 bis 37,2°. Nonne-Apelt-Phase I
positiv.
17. V. Temperatur normal. Kein Kopfschmerz, sitzt noch schlecht, geht
etwas besser.
23. V. Parese des rechten Facialis fast verschwunden, Ataxie im rechten
Arm völlig verschwunden, geht bedeutend besser, schwankt weniger, Kopfschwindel
subjektiv geringer. Die Temperatur schwankte in den vergangenen Tagen zwischen
36,8 bis 37,4, 37,5°. Vom heutigen Tage ist die Temperatur normal.
4. VI. Beim Gehen schwindelt ein wenig der Kopf und die Kranke taumelt
Beide Nasolabialfalten sind fast gleich. Der Unterkiefer weicht bei Bwegung fast
nicht seitwärts ab. Keine Bewegungsataxie in den Extremitäten. Sensibilität in
der rechten Gesichtshälfte etwas abgeschwächt.
Alle angeführten Krankheitserscheinungen verbessern sich allmählich. Am
20. VI. wird die Kranke fast gesund entlassen. Krankheitsdauer gegen 7 Wochen
Klinische Diagnose: Akute Encephalitis der Brücke.
Epikrise: 20j ähr. Mädchen erkrankt plötzlich mit allgemeinen Himerschei¬
nungen und erhöhter Temperatur. Ausgesprochener Nystagmus. Schwächung
der Conjunctival- und Comealreflexe beiderseits. Parese des rechten Facialis
und Hypoglossus von cerebralem Typus, Parese der Kaumuskulatur beiderseits.
Parese der Gaumenbogen rechts, Schwächung des Rachenreflexes. Anästhesie
aller Sensibilitätsarten in der rechten Gesichtshälfte und der Mundschleimhaut.
Bewegungsataxie im rechten Arm. Stark ausgedrückte statische Ataxie von
cerebellarem Typus beim Sitzen und Gehen. Cerebrospinalflüssigkeit fließt unter
erhöhtem Druck ab, Hyperalbuminose, 0,6°/ 00 Nonne-Apelt-Phase I positiv, Pleo-
cytose, hauptsächlich Lymphocytäre. Wassermann im Blut und Liquor negativ.
Allmähliche Besserung und fast völlige Wiederherstellung aller Ausfallsymptome.
Krankheitsdauer gegen 7 Wochen.
Während des Aufenthaltes in der Nervenabteilung erhält die Kranke intra¬
venös eine Elektrargollösung, Einläufe aus 5% Kollargol zu 100,0 täglich, Chinin¬
injektionen.
Bei der Diagnose dieses Falles muß Himsyphilis, Embolie und Tuberkel
in Betracht gezogen werden. Syphilis fehlt in der Anamnese, W'assermann und
die anderen klinischen Symptome (Liquor cerebrospinalis, fieberhafter Verlauf
usw.) sprechen gegen Himsyphilis, der allmähliche und fieberhafte Verlauf gegen
Embolie. Die schnelle Entwicklung der Symptome und ihr Zurückgehen mit
Ausgang in Genesung sprechen gegen Tuberkel. Die Untersuchung des Liquors,
die Entwicklung, der Verlauf und Ausgang der Erkrankung lassen mit Sicherheit
die Diagnose einer akuten bulbären Encephalitis mit hauptsächlicher Lokalisation
in der Brücke annehmen.
Fall 6 . S. A. Kon—w, Tagelöhner, 52jähr., wurde in die innere Abteilung des
Alt-Ekatherinenkrankenhauses am 30. V. 1910 auf genommen.
Anamnese: Erkrankte 2 Tage vor seinem Eintritt ins Krankenhaus bei voller
Gesundheit. Die Krankheit begann mit starkem Erbrechen, Durchfall und Krämp¬
fen in den Beinen.
Status praesens: Der Kranke macht einen schweren Eindruck; eingefallene
Augen; klagt über beständige Schmerzen im Leib, Erbrechen. Herztöne dumpf,
linke Herzgrenze auf der Linea mammilaris. Puls klein und oft, 120—130 in der
Minute. In den Lungen keine Veränderungen. Bauch auf getrieben, schmerzhaft
auf Druck. Im Ham Eiweiß 0,9%o, übrige innem Organe in Ordnung. Allgemeine
Schwäche, klare Besinnung, auf Fragen antwortet er richtig. Krämpfe in den
Beinen; erbricht oft Mageninhalt. Durchfall. Stuhl dünnflüssig mit weißem Sedi-
Rhombencephalitis. 263
ment. 17 Stunden nach der Aufnahme stirbt der Kranke bei Erscheinungen von
Herzschwäche.
Obduktion (Prosektor A. Sinew): Darminhalt flüssig, blutig mit Beimengung
von Schleim. Mikroskopisch im Darminhalt viel abgefallenes Epithel; von Bakterien
Bacterium colli und große Anzahl von Diplokokken. Vibrionen werden nicht ge¬
funden. Die Darmschleimhaut ist gequollen, diffus hyperämisch, stellenweise
kleine Blutergüsse. Hyperplasie der Lymphdrüsen. Unter dem Peritoneum des
Magens an der großen Kurvatur sieht man kleine geschwulstartige Bildungen.
Eben solche Geschwülste liegen zerstreut im Omentum. Oedema levis cerebri.
Haemorrhagia pontis Varolii. Emphysems pulmonum. Degeneratio parenchyma-
tosa myocardii. Hyperaemia venosa hepatis, lienis, renum. Diagnosis anatomica:
Gastritis acuta, Enterocolitis ac. Die bakteriologische Untersuchung ergab keine
Choleravibrionen.
Bei mikroskopischer Untersuchung findet man im Pons Varolü eine große
Anzahl miliarer und auch größere Blutergüsse unter dem Boden des 4. Ventrikels
wie auch auf dem übrigen Teil des Schnittes in der grauen und weißen Substanz.
Alle Blutergüsse sind frisch mit gut erhaltenen roten Blutkörperchen. Große
Hyperämie und Injektion der Gefäße mit Blut. In den perivaskulären Räumen
«ieht man oft Blutergüsse, in anderen Stellen sieht man in ihnen Ansammlungen
von Zellenelementen, größtenteils Lymphocyten, auch ausgezogene und Platten¬
zellen mit runden chromatinreichem Kern. Zwischen den Blutergüssen sieht man
eine Proliferation der Gliakeme, die stellenweise sich zu Gruppen sammeln. In
einigen Gefäßen sieht man weiße destruktiv-proliferative Thromben. Auf der
Schnittfläche sieht man zerstreute und in kleinen Gruppen gequollene Achsen¬
zylinder der Nervenfasern. Die Nervenzellen der Brückenkeme sind entweder
völlig vernichtet oder befinden sich im Zustand einer schweren Tigrolyse. Die
weichen Hirnhäute des Stammes sind dicht hauptsächlich mit Lymphocyten in¬
filtriert. Lymphocytäre Infiltration der weichen Hirnhäute. Im tiefer, zu den
hämorrhagischen Herden in der Brücke liegenden verlängerten Mark und in den
höher liegenden Vierhügeln sind die Veränderungen dieselben, so daß man ge¬
meinsam sie besprechen kann. In erster Linie stehen die Hyperämie der Gefäße
speziell des capillären Netzes, miliare Blutergüsse, weiße Thromben von destruktiv-
proliferativem Charakter; zuweilen sieht man rote Thromben; vorherrschend ist
die Infiltration der Gefäßwände mit Lymphocyten, obwohl proliferative Erschei¬
nungen auch gut ausgedrückt sind. Die perivaskuläre und diffuse Proliferation
des Gliagewebes ist beträchtlich ausgedrückt. Das Gehirn dieses Falles ist leider
abhanden gekommen. Bakterien wurden in den Schnitten nicht gefunden.
Epikrise: In diesem Fall wird mikroskopisch ein hämorrhagischer Encephalitis¬
herd in der Brücke bei einem Kranken beobachtet, der an akuter hämorrhagischer
Entzündung des Magendarmkanals erkrankt, in welchem in großer Anzahl Bak¬
terium colli und Diplokokken gefunden werden. Bei mikroskopischer Untersuchung
findet man im Stamm das Bild einer exsudativ-proliferativen Entzündung und
eine seröse Entzündung der weichen Gehirnhäute. Das Primäre ist die Darm¬
erkrankung. Die Quelle der Infektion des Organismus ist der Darm (gemischte
Infektion mit Diplokokken und Bac. colli).
Fall 7. 21 jähr. Mann Abdominaltyphus. Linksseitige Lähmung am 24. Krank -
Keitstag . Obduktion: Entzündlicher Erweichungsherd im verlängerten Mark.
X. P. Ko—n, 21 jähr., wird am 21. VIII. 1902 in die Nervenabteilung des Alt-
Ekatherinenkrankenhauses aufgenommen.
Anamnese: Der Kranke trat in die innere Abteilung am 3. VIII. ein, am 10.
Krankheitstag eines Abdominaltyphus. Am 24. Tag entwickelt sich plötzlich eine
linksseitige Hemiplegie. Lues wird negiert, mäßiger Alkoholismus.
264
M. S. Margulis:
Status praesens: Der Kranke ist von mittlerem Wuchs, sehr schlechtem
Ernährungszustand. Bewußtsein getrübt, Dysarthrie von bulbärem Typus.
Schluckstörungen. Schluckt fast nicht. Erschwertes Atmen. Pupillen reagieren
auf Licht gut, Parese aller Zweige des linken Facialis. Die Zunge wird aus dem
Mund mit großer Mühe und nur wenig herausgestreckt. Gaumenbogen gelähmt.
Volle linksseitige Hemiplegie, mit Verminderung des Muskeltonus. Babinski
und Fußklonus. Des getrübten Bewußtseins wegen konnte die Sensibilität
nicht geprüft werden. Patellarreflexe lebhaft. Incontinentia urinae. Am Kreuz
beginnender Dekubitus. In den Lungen zerstreutes trocknes Rasseln, im
rechten unteren Lappen klingendes Rasseln. Im Harn Eiweiß. Am 2. Tag nach
Überführung des Kranken in die Nervenabteilung wurde der Puls schwächer,
es treten Ecchimosen und Blutunterläufe an Druck unterworfenen Stellen auf.
Exitus letalis.
Obduktion: Ulcera typhoea intestini, ilei in stadio cicatrisationis; infiltratio
gland. mesenter, Infarctus pyaemicus multiplic. pulmonis utriusque; offuscatio
parenchymatosa myocardii et hepatis, Abscessus miliaris renum; tumor lienis
acutus. Ramollitio later, dextr. medul. oblong. Hyperaemia cerebri. Diagnosis
anatomica: Typhus abdominalis in exitus, pyaemia; ramollitio med. oblongatae.
Diagn. clin,: Typhus abdominalis. Hemiplegia sin. ex encephalitide. Pyämische
Metastasen in den Lungen und anderen Organen.
Die Himhemisphären bieten makroskopisch außer Blutfülle und geringem
ödem nichts Besonderes. Im verlängerten Mark auf der Höhe der X., XI. und
XII. Nervenkerne findet man Erweichung der Nervensubstanz mit grau-roten
Herden im zentralen Teil und in der rechten Hälfte des verlängerten Marks. Ma¬
kroskopisch zieht sich der Herd von der Höhe des Vaguskernes bis zum kaudalen
Ende der Brücke. Thrombose der großen Gefäße wird nicht beobachtet. Auf
einem Präparat im Gebiet des Vaguskemes findet man mikroskopisch Erweichung,
Zerklüftung und wabenförmiges Ausfallen des Gewebes. Die Achsenzylinder im
Gebiet der Erweichung und an ihrer Peripherie sind fast alle sehr gequollen. Die
Markscheiden um solche Achsenzylinder fehlen entweder oder befinden sich in
einiger Entfernung und färben sich schlecht. Im Erweichungsgebiet sieht man
viel mit Blut injecierte Capillaren und präcapillare Gefäße. Die Adventitia der
Gefäße ist an der Peripherie des Herdes meistenteils mit lymphoiden Elementen
infiltriert. In den weiter von der Erweichung liegenden Gefäßen sieht man pro¬
liferative Erscheinungen von Seiten des Endoperitheis. Die Vermehrung der Glia-
keme ist hauptsächlich stark etwas entfernt vom Erweichungsherd ausgebildet.
Man findet kleine perivaskuläre Blutergüsse, seltener im Hirngewebe. Auf der
Höhe der Kerne der hinteren Bündel sieht man zerstreute gequollene Achsen-
zy linder, Gefäß Vermehrung, ihre Injektion mit Blut, Infiltration der Adventia
mit Lymphocyten; außerdem sieht man in den perivaskulären Räumen in be¬
deutender Zahl ausgezogene Zellen mit großem lymphocytähnlichem Kern — Fibro¬
blasten ,^ epitheloide Zellen und in verhältnismäßig geringer Zahl Plasmazellen.
Zwischen den obengenannten Proliferationselementen des Endoperitheis sieht
man in großer Anzahl granulierte Kugeln. Auf dieser Höhe findet man schon keine
Erweichung des Hirngewebes. Das Gliagewebe proliferiert stark diffus wie auch
um die Gefäße; man findet, wenn auch selten, Knötchenbildungen und bedeutende
Ansammlungen von Gliagewebe um die Gefäße.
In den Nervenzellen sieht man gewöhnliche tigrolytische Veränderungen;
von seiten des fibrillären Zellapparats Veränderungen von allgemeinem Charakter.
Auf der Höhe des ventralen Akustikuskernes, im Gebiet des Raphe einzelne ge¬
quollene Achsenzylinder. Gewebserweichungen nicht vorhanden. Exsudativ-
proliferative Erscheinungen in den Gefäßwänden, miliare Blutergüsse hauptsäch-
Rhombencephalitis.
265
lieh um die Gefäße. Degeneration der Fasereysteme im Rückenmark und Medulla
oblongata wird nicht gefunden. In den weichen Hirnhäuten des Großhirns be¬
obachtet man entzündliche exsudativ-proliferative Erscheinungen, wobei lympho-
cytäre Proliferation vorherrscht. In der Hirnrinde außer Tigrolyse der Nerven¬
zellen keine Veränderung.
Epikrise: Bei einem 21jähr. Kranken entwickeln sich am 24. Krankheitstag
plötzlich eine linksseitige Hemiplegie, bulbäre Sprache, Schluckstorungen. Bei
der Sektion Abdominaltyphus mit pyämischen Metastasen in der Lunge und anderen
Organen. Im verlängerten Mark auf der Höhe der X., XI. und XII. bulbären
Nervenkeme Erweichung der Hirnsubstanz von entzündlichem Charakter. Der
Herd liegt hauptsächlich im Zentrum der angeführten Stelle und in seiner rechten
Hälfte. Von der Erweichung sind ergriffen: Die rechte Pyramidenbahn, die untere
Olive, das Gebiet der Schleife und die Raphe. Kaudalwärts wird die Erweichung
durch die Pyramidenkreuzung begrenzt, cerebralwärts reicht sie bis zur Höhe des
ventralen Akustikuskemes.
Eine linksseitige Lähmung während eines Abdominaltyphus bei einem jungen
Menschen bei Fehlen anderer Ursachen für eine Lähmung, bei Vorhandensein
von bulbären Symptomen gibt genügenden Grund für die klinische Diagnose einer
bulbären Encephalitis.
In unseren Fällen lokalisierte sich der Prozeß hauptsächlich im
Gebiet der Kerne der X, XI und XII Himnerven. (Fälle 1, 3, 4, 7).
In den Fällen 5 und 6 war hauptsächlich eine Läsion der Brückenkeme
vorhanden. Schädigung des Hypoglossuskems wird im 1., 3., 4., 7. Falle
konstatiert und drückt sich durch Zungenlähmung verschiedenen
Grades aus: in einigen Fällen ist die Zunge fast bewegungslos, in anderen
sind die Bewegungen besser. Die Zungenmuskulatur ist zuweilen weich.
In älteren und zum Tode führenden Fällen (3 und 4) beobachtete man
Atrophie, fibrilläre Zuckungen in der Zunge, verminderte elektrische
Erregbarkeit. Einseitige Parese der Zunge von cerebralem Typus wird
im 5. Fall beobachtet. Für ein Erhaltenbleiben in diesem Fall des
Hypoglossuskems spricht das Fehlen einer Atrophie und einer Änderung
der elektrischen Erregbarkeit. Eine einseitige Kemläsion des Hypo-
gloesus findet sich bedeutend seltener (Leyden). In einem von unsem
Fällen (2) waren die Bewegungen der Zunge völlig erhalten. Letzteres
findet man in der Literatur der akuten bulbären Lähmung nur in ein¬
zelnen Fällen.
Parese des Orbicularis war nur in 2 Fällen (3 und 4) ausgedrückt ;
im ersten von ihnen war außerdem eine Atrophie der Lippenmuskulatur
zu beobachten.
Der Schluckakt, der in seinem ersten Teil willkürlich ist, erfordert
beim Durchgang des Bissens durch den Rachen ein normales Funktio¬
nieren der Zunge und der Lippen, da sonst Schwierigkeiten beim Durch¬
gehen der Speise aus der Mundhöhle entstehen, wie das im 3. Fall mit
ausgedrückter Atrophie der Lippen und der Zunge beobachtet wurde,
wo der Kranke den Mund mechanisch reinigte. Doppelseitige Lähmung
des weichen Gaumens und der Gaumenbogen war im 1. und 4. Fall, eine
266
M. S. M&rgulis:
Parese im 3. Eine einseitige Lähmung des weichen Gaumens und der
Gaumenbogen war im 2., 5. und 7. Fall. Klinisch drückte sie sich durch
Änderung der Phonation aus — nasale Phonation (1., 2., 3., 4. Fall).
Die Parese des weichen Gaumens und der Gaumenbogen wirkt auch auf
den Schluckakt : die Kranken verschlucken sich sogar beim Schlucken
des Speichels. Der Rachenreflex fehlt in den Fällen 1, 2, 3 und 4 und ist
im 5. Fall geschwächt. Der Rachenreflex fehlte also in Fähen vollständi
ger Lähmung des weichen Gaumens.
Die Schluck- und Artikulationsstörungen bilden in unseren Fällen
das Hauptsymptom des ganzen Symptomenkomplexes. Die Schluck¬
störungen schwanken zwischen völliger Unmöglichkeit zu schlucken
(Fälle 1, 2, 4 und 7) bis zu leichten Schluckstörungen. In einem Fall (5)
war das Schlucken nicht gestört. Für einen normalen Schluckakt ist
die Integrität der Zunge, Lippen, Kaumuskulatur, des weichen Gaumens
und der Gaumenbogen notwendig. Eine Schädigung der genannten Teile
stört sogar bei erhaltener Möglichkeit des reflektorischen Schluckens
den Schluckakt, wie wir es im 3. Fall beobachten, wo der Kranke dank
der Atrophie und Parese der Zunge, der Lippen und des weichen
Gaumens den Bissen nicht aus dem Rachen in die Speiseröhre führen
konnte, trotzdem das reflektorische Schlucken erhalten war. Am Kau¬
akt ist auch die Zunge beteiligt, weshalb eine Störung seiner Funktion
auf das Kauen wirkt. So wurden im 3. Fall, bei Erhaltensein der Kau¬
muskulatur, Störungen des Kauens dank der Atrophie und Parese der
Zunge beobachtet. Kaustörungen werden im 5. Fall durch Parese der
Kaumuskeln hervorgerufen. Anästhesie der Mundschleimhaut erschwert
auch den Kauakt (5. Fall). In einem von unseren Fällen (4. Fall) be¬
obachten wir Spannung der M. m. masseteres und temporales, einen
leichten Trismus, der sich durch begrenztes öffnen des Mundes und
Unmöglichkeit, auch auf kurze Zeit den Mund offen zu halten, äußerte,
da der Unterkiefer sich langsam und unwillkürlich schloß. Trismus findet
sich bei akuter bulbärer Lähmung, worauf Leyden hinweist, selten.
Ein Parallelismus zwischen Schlucklähmung und Parese der Zunge
wird nicht beobachtet. So bestand im 2. Fall völlige Schlucklähmung
bei unveränderter Kraft und Umfang der Bewegungen der Zunge. Ein
umgekehrtes Verhältnis kommt nicht vor, da für einen normalen Schlu߬
akt es notwendig ist, daß Zunge und Lippen richtig funktionieren.
Dysarthrie wurde im 1., 3. und 4. Falle beobachtet, im letzten Fall
kam es zur Anarthrie. In 2 Fällen fehlte Dysarthrie (2, 5). Der Cha¬
rakter der Dysarthrie ist bulbär, viele Buchstaben werden überhaupt
nicht ausgesprochen oder sehr undeutlich, wie z. B. Lippen-, Gaumen-
und Zungenlaute. Änderung der Sprache war im 3. Fall: heisere,
monotone, modulationslose Stimme. Im 4. Fall war völlige Aphonie
vorhanden. Die Änderung der Phonation in diesen Fällen hängt von
Rhombenceph&litis.
267
einer Parese bzw. Lähmung der Stimmbänder ab, Paresen der unteren
Zweige des Facialis waren im 2., 4. und 5. Fall; im 6. Fall war Parese
aller Zweige des Facialis; im 3. Fall werden die Bewegungen der Naso-
labialfalten langsam ausgeführt und bleiben einerseits etwas zurück,
was für eine doppelseitige Parese des Facialis spricht.
In 2 Fällen konstatierten wir einen stark ausgedrückten rotatorischen
Nystagmus (2, 5). Mydriasis wird im 3. und 4. Fall beobachtet. In
3 Fällen waren stark ausgedrückte Atmungsstörungen, im 1. Fall er¬
schwerte unregelmäßige, krampfhaft beschleunigte Atmung (36 in der
Minute) mit Cyanose der Lippen und Schaum vor dem Mund.
Im 4. Fall erschwertes, stertoröses, mit Trachialrasseln beschleunigtes
Atmen. Im 6. Fall Kurzatmigkeit.
Die Häufigkeit des Pulses war verschieden: in einigen Fällen ist der
Puls beschleunigt ; im 1. Fall 116 — 136 in der Minute, arythmisch, im
4. Fall 104, regelmäßig, im 2. Fall war er anfangs von normaler Häufig¬
keit, später begann er häufiger zu werden (bis 116 in der Minute).
Motorische Ausfallerscheinungen werden im 1. Fall beobachtet
(völlige, langsam sich entwickelnde Lähmung aller 4 Extremitäten) und
im 7. Fall linksseitige Lähmung. Der Charakter der Lähmung ist der
gewöhnliche von zentralem Typus; im 3. Fall wurde Parese der Finger
und der Zehen und Contractur der Füße beobachtet. Störungen der
Bewegungskoordination in Form von Bewegungsataxie wird im 2. Fall
beobachtet. Ataxie der linken Extremitäten im 4. Fall, Bewegungs¬
ataxie der linken Hand im 5., Ataxie der rechten Hand, statische
Ataxie beim Gehen und Sitzen im 2. und 5. Fall. Sensibilitätsstörungen
waren im 2. Fall: dissozierte Sensibilitätsstörungen in der rechten
Hälfte des Kopfes, des Körpers und der Extremitäten und im Gebiet
der 1. und 2. Zweige des linken Trigeminus. Im 5. Fall war Anästhesie
aller Sensibilitätsarten im Gebiet aller 3 Zweige des rechten Trigeminus.
Maskenähnliches, ausdrucksloses Gesicht und Zwangslage des Körpers
und der Extremitäten mit Spannung der Rückenmuskeln wird in einem
unserer Fälle beobachtet (3). Sehnenreflexe fehlen in einem Fall (1)
im schweren agonalen Zustand, in den anderen Fällen waren die Sehnen¬
reflexe erhalten oder lebhaft. Babinsky und Fußklonus waren in einem
Fall von Hemiplegie (7), in den anderen Fällen waren keine patholo¬
gischen und reflektorisch-spastischen Erscheinungen zu beobachten.
Der Conjunctival- und Comealreflex sind im 5. Fall auf der Seite der
Trigeminusanästhesie vermindert. Sphincteren in Ordnung. Hyper-
albuminose, mittlere Lymphocytose und erhöhter Druck des Cere¬
brospinalliquors. Der Beginn der Erkrankung ist in allen Fällen akut,
in den primären Fällen fieberhaft mit plötzlicher Temperaturerhöhung
(1, 3, 4 und ö). In einem Fall (2) fehlte Temperaturerhöhung. Kopf¬
schwindel wurde in 2 Fällen beobachtet (2, 5), Erbrechen im 3. und 5.
268
M. S. Margnlis:
Fall, Kopfschmerzen im 3., 4. und 5., Schmerzen in der Brust, Gelenken
und Muskeln im 1. Fall. In einigen Fällen war ein insultförmiger Beginn
der Erkrankung (2, 4, 5 und 7), in den anderen ein allmähliches An¬
wachsen der Symptome zu beobachten.
Wenn wir die Hauptsymptome des klinischen Bildes der angeführten
Fälle resümieren, so sehen wir, daß sie sich in Schluck-, Artikulations-,
Phonation-, Atmungs- und Herzstörungen und motorischen und sen¬
siblen Ausfallerscheinungen und Störungen der Bewegungsataxie
äußern. Den Kern des Symptomenkomplexes bilden Dysphagie, Dys¬
arthrie, Dysphonie; ihnen schließen sich, in verschiedenem Maße aus¬
gedrückt, die anderen Komponenten des klinischen Bildes an. In 2
von unseren Fällen (2, 4) ist die Schlucklähmung ein fast isoliertes
Herdsymptom. Dank der Begrenzung der Läsion in den oben an¬
geführten Fällen kann der Ausfall der genannten Funktion mit einer
Erkrankung einer bestimmten Stelle des Himstammes näher ver¬
bunden werden.
Die Schluckstörung im 1. Fall (2) beginnt beim Durchgang des
Bissens aus dem Rachen in den oberen Teil der Kehle, weshalb die Speise
in den Nasenrachenraum, teilweise in den Kehlkopf kommt. Die weitere
Bewegung des Speisebissens in die Speiseröhre, die von der Verkürzung
der Rachenmuskulatur abhängt, ist dank der Lähmung dieser Muskeln
völlig unmöglich. Im 2. Fall (4) beginnt die Schluckstörung schon im
Mund dank der Lähmung der Zunge und des weichen Gaumens. Die
Frage der genannten Lokalisation des Schluckzentrums im verlängerten
Mark ruft bis in die letzte Zeit noch verschiedene Meinungen hervor.
So lokalisiert Schröder v. d. Kolk das Schluckzentrum in den Neben-
oliven, Kesteven und Möser in den unteren Oliven, v. Oordt , Reinhold
und Wallenberg im ventralen Vaguskem (Nucl. ambiguus), Bechterew
im dorsalen kleinzelligen Vaguskem.
Die Lokalisation des Schluckzentrums in den Neben- oder unteren
Oliven muß fallen gelassen werden. Es gibt viele Fälle, wo völlige
Schluckparalyse bei Erhaltensein oder geringerer Schädigung der Oliven
beobachtet wurde. Die Fälle von Leyden , Cruvelhier y Lichtheim u. a.,
die von Möser als Beweis für eine Lokalisation des Schluckzentrums
in den unteren Oliven angeführt werden, sind nicht genügend, da
außer den Oliven auch andere Teile der Medulla oblongata, die nahe
Beziehung zum Schluckakt haben, und zwar das Gebiet der Kerne
und der Wurzeln des Vagus, lädiert sind. Weiter können die Fälle
Leydens , Senators und Eisenlohrs angeführt werden, wo Schluck¬
lähmung bei unveränderten unteren Oliven bestand. Außerdem ge¬
statten die anatomischen Zusammenhänge der unteren Oliven mit
dem Kleinhirn ihre Beziehung zur Bewegung und zum Gleichgewicht
( Bechterew) vorauszusetzen.
Rhombenceph&litis*
269
Zur Feststellung der topischen Lokalisation des Schluckzentrums
sind anatomische Untersuchungen von Fällen völliger Schlucklähmung
bei einseitiger Läsion des verlängerten Marks, wichtig (unser 2. Fall).
Wenn wir solche Fälle vergleichen, so sehen wir, daß hierbei immer
der ventrale Vaguskem (Nucl. ambiguus) geschädigt ist; der dorsale
Vaguskem dagegen, seine Wurzeln und die anderen Teile des ver¬
längerten Markes sind nicht beteiligt.
Auf Grund analoger pathologisch-anatomischer Befunde nehmen
Reinhold , v. OorcU , WaUenberg eine Lokalisation des Schluckzentrums
im Nucl. ambiguns des N. vagus an. Wenn wir die Fälle Reinholds und
Wallenbergs einerseits, v. Oordts und unsere Fälle 2 und 4 andererseits
vergleichen, so können wir schließen, daß der motorische Kern des
X. vagus, der sich in den unteren zwei Dritteln des verlängerten Marks
lokalisiert, nicht nur als Schluckzentrum, sondern auch als Innervations¬
zentrum für die Kehlkopfmuskulatur dient. In den Fällen Reinholds
und besonders Wallenbergs ist hauptsächlich letzterer geschädigt, im
Falle Oordts und in unserm 2. dagegen war die Schädigung ausschlie߬
lich auf das Schluckzentrum beschränkt. Im 4. Fall fand sich eine
fast gleich starke Läsion des Schluckzentrums und des Innervations¬
zentrums für die Kehlkopfmuskulatur. Wallenberg lokalisiert das Schluck¬
zentrum im frontalen, teilweise im medialen Teil des N. ambiguus.
Das Innervationszentrum für die Kehlkopfmuskulatur lokalisiert sich
in den lateralen Teilen des caudalen Endes des Nucl. ambiguus. Im
2. Fall sind das frontale und mittlere Drittel des Nucl. ambiguus lädiert .
Klinisch machte sich der Ausfall dieser Teile durch völlige Schluck¬
lähmung und Lähmung des weichen Gaumens bemerkbar.
Die experimentellen Untersuchungen Kosakas und Jagitas an Tieren
bestätigen die Angaben Wallenbergs und unsere. Kosaka und Jagita
kommen zum Schluß, daß der Ambiguuskern mit seinem caudalen Ende
(lose formation) die Kehlkopfmuskulatur derselben Seite versorgt,
mit seinem frontalen Teil die quergestreifte Muskulatur des Rachens,
der Speiseröhre und die M. m. cricothyreoidei innerviert.
Die experimentellen Untersuchungen und die Pathologie des Men¬
schen stimmen also überein. Eine ausführliche Individualisation der
physiologischen Bedeutung einzelner Teile des Ambiguuskems, wie es
Wallenberg tut, ist verfrüht, da in dieser Beziehung noch ausführlichere
Untersuchungen notwendig sind.
Es ist richtiger, im Ambiguuskern nicht 2 Zentren, wie es Wallen -
berg tut, sondern 3 zu unterscheiden. Das 3. dient zur Innervation
des weichen Gaumens und befindet sich zwischen den ersten beiden,
augenscheinlich im unteren Teil des mittleren Drittels des Ambiguus¬
kems. WaUenberg meint, daß die Innervation des weichen Gaumens
vom Schluckzentrum aus geschieht, obwohl oft Fälle von gleich-
270
M. S. Margulis:
zeitiger Läsion der Kehlkopfmuskulatur und des weichen Gaumens
sich finden (in 32 Fällen von Lähmung des weichen Gaumens fand
N. S. Iwanow in 26 eine einseitige Läsion der Stimmbänder), was
für eine nähere Beziehung des Innervationszentrums des weichen Gau¬
mens zum Innervationszentrum der Kehlkopfmuskulatur als zum höher
gelegenen Schluckzentrum spricht. Für eine Selbständigkeit des Inner¬
vationszentrums des weichen Gaumens sprechen jene Fälle, in welchen
letzterer gelähmt ist ohne gleichzeitige Läsion der Kehlkopfmuskulatur.
Wenn wir also das Schluckzentrum im frontalen und teilweise im me¬
dialen Drittel des Ambiguuskerns lokalisieren, müssen wir seine Doppel-
seitigkeit annehmen, da völlige Schlucklähmung bei Läsion des Ambiguus-
kems, unabhängig davon, welche Hälfte des verlängerten Marks durch den
Prozeß ergriffen ist, sich findet. Einseitige Läsion des Schluckzentrums
ruft, wie im 2. Fall, eine völlige Schlucklähmung durch Zerstörung des
reflektorischen Zentrums derselben Seite und des Koordinationszentrums
der gegenüberliegenden Seite hervor ( v. Oorclt).
Die in 3 unserer Fälle beobachtete Dysarthrie wird durch Parese
der Sprachmuskulatur hervorgerufen; dabei wird hauptsächlich die
Artikulation und in geringerem Maße die Phonation gestört. Die
Läsion verschiedener Muskeln des Sprachapparates wird durch Aus¬
fall oder Veränderung der Artikulation einzelner Buchstaben oder
einer Reihe von Buchstaben ausgedrückt. Bei voller Entwicklung
dieser Störungen wird die Artikulation unmöglich: Anarthrie. In 2 von
unseren Fällen (2, 4) waren nur Phonationsstörungen ausgedrückt,
die durch Lähmung des weichen Gaumens bei Erhaltensein der
Artikulation hervorgerufen waren. Diese Fälle bestätigen die Selb¬
ständigkeit des Innervationszentrums des weichen Gaumens. Das
Fehlen von Schluckstörungen im 5. Fall gibt Anlaß, das Zentrum
des weichen Gaumens vom Schluckzentrum abzusondem.
Atmungsstörungen (1, 5) die sich in Atemnot, beschleunigter, ober¬
flächlicher und erschwerter Atmung ausdrücken, waren durch Läsion
der Atmungszentren des verlängerten Marks und der Vaguskeme her¬
vorgerufen. Ihre Läsion rief auch Unregelmäßigkeiten der Herztätigkeit
und des Pulses hervor — Beschleunigung, Arythmie.
Der Übergang des entzündlichen Prozesses auf die langen Leitungs¬
bahnen des verlängerten Marks ruft motorische und sensible Ausfalls¬
erscheinungen in Form von Hemiplegie (Fall 7), Quadraplegie (Fall 1),
Paresen einzelner und einiger zuweilen symmetrischer Extremitätenteile
(3) hervor. Später können sich spastische Esscheinungen anschließen,
zuweilen Muskelcontracturen durch Parese einzelner Muskelgruppen.
Die Sensibilitätstörungen waren in unseren Fällen vonzweierlei Art :
in einem Fall (2) waren dissoziierte Sensibilitätsstörungen, im anderen
Anästhesie aller Sensibilitätsarten im Gebiet des Trigeminus einer Seite.
... J
Rhombencephalitis.
271
Der 2. Fall ist seiner Begrenzung wegen für die Frage des Verlaufs der
sensiblen Leitungsbahnen im verlängerten Mark sehr wichtig, um so
mehr, als die Zahl solcher Beobachtungen sehr gering ist.
Senator und Goldscheider lokalisieren die Leitungsbahnen für ther¬
mische und Schmerzreize in den lateralen Teilen des Formatio reticu¬
laris. v. Oordt meint, daß die genannten Bahnen für die Hautsensibilität
in der gekreuzten Formatio retic. in ihrem ventralen Teil verlaufen,
im medialen Teil ziehen die Bahnen für die tactile Sensibilität. Seine
Auffassung sucht v. Oordt durch Hinweis auf die Fälle Remalcs und
Kahler8 zu bekräftigen. Im 1., wo der Herd lateral gelegen war,
waren Tast-Muskel und stereognostischer Sinn völlig erhalten. Im
2. (Kahler und Pick) lag der Herd an der Raphe; im Beginn war nur
Ataxie ohne Sensibilitätsstörungen vorhanden, darauf kamen auch
Abschwächung des Tast- und Drucksinns zum Vorschein. Die Resultate
der Arbeiten von Henneberg , Mann , Jolly u. a. über die Leitung ver¬
schiedener Sensibilitätsarten im Rückenmark gestatten einen Schluß
über die Lage der sensiblen Leitungsbahnen im verlängerten Mark zu
machen. Im Rückenmark gehen die Leitungsbahnen für Schmerz- und
Temperatursinn durch die Wurzelfasem, die im Gebiet der Gowerschen
Bündels und im vorderen Teil der Seitenstränge (fasciculus spino-
thalamicus und spino-tectalis) liegen. Eine Läsion dieser Bahnen im
Stammteil zieht einen Ausfall derselben Sensibilitätsarten nach sich
( Wallenberg, Rossolimo).
In unserem 2. Fall zerstörte der Herd fast die ganze Formatio reti¬
cularis mit Ausnahme ihres medialen Teiles, gleichzeitig wurden auch
die angeführten langen Bahnen (fase, spino-thalamicus und spino-
tectalis) lädiert.
Auf Grund der angeführten Arbeiten, die eigentlich alle die
Lokalisation des Schmerz- und Temperaturleitungsbahnen im Gebiet
der Substantia reticularis des verlängerten Marks annehmen, wie
auch auf Grund unserer Fälle, schließen wir, daß der fase, spino-
thalamicus und spino-tectalis als Leitungen der genannten Sensibili¬
tätsarten dienen. Die Thermo und Analgesie in der linken Gesichts¬
hälfte im Gebiet des 1. und 2. Zweige des Trigeminus (2. Fall) erklären
sich durch Zerstörung der ventralen Teile der auf steigenden Wurzeln
des linken Trigeminus. Wallenberg weist darauf hin, daß bei Läsion der
dem Herd entsprechenden spinalen Trigeminuswurzeln eine Beschrän¬
kung der Schädigung, hauptsächlich auf das Gebiet des ersten und
weniger des zweiten Zweiges, beobachtet wird. Die Erscheinungen
erklärt Wallenberg durch Erhaltenbleiben der frontalen und besonders
der dorsalen Teile der aufsteigenden Wurzeln; das letztere war auch
in unserem 2. Fall zu beobachten, der auch die Beobachtung Wallen -
btrgs bestätigt. Die Anästhesie derselben Sensibilitätsarten im Ge-
272
M. S. Margulis:
biet des rechten Trigeminus hängt davon ab, daß das frontale Ende des
Herdes augenscheinlich die zentrale Fortsetzung der rechten spinalen
Wurzelfasern des Trigeminus berührte. Die Fasern ziehen ins Großhirn
direkt und gekreuzt (Troschin). Diese letzteren ziehen in Form der
Fibrae arcuatae inter. durch die Naht (Raphe) in die Substant. retic.
der gegenüberliegenden Seite und sammeln sich hier dorsal und seit¬
wärts von der medialen Schleife gemeinsam mit den zentralen Fasern
des Glossopharingeus und Vagus (Darkschewitsch) . Die Anästhesie
aller Sensibilitätsarten im Gebiet aller drei Zweige des rechten Trige¬
minus hängt von einer Läsion des sensiblen Kerns dieses Nerven ab.
Koordinationsstörungen wurden im 2. und 4. Fall beobachtet (sta¬
tische Ataxie) im 4. Fall war nur Bewegungsataxie einer Hand. Im
2. Fall konnte der Kranke überhaupt nicht gehen und stehen, er saß
mit Mühe, im 5. Fall sitzt die Kranke kurze Zeit mit Mühe: sie fällt
auf die Kissen zurück, geht nur mit fremder Hilfe. In beiden Fällen
(2, 5) war außerdem Bewegungsataxie; im 2. der linken Extremitäten,
im 5. einer Hand. Die Bewegungsataxie wurde sowohl bei offenen, als auch
geschlossenen Augen beobachtet; im 2. Fall war die Tendenz, auf die
Seite des Herdes zu fallen. In beiden Fällen (2 und 5) hatten die Kranken
Kopfschwindel. Der klinische Charakter der Ataxie in den angeführten
Fällen, und zwar ihr Vorhandensein bei Bewegungen mit offenen Augen
und bei Integrität des Muskelsinns, das Fehlen von Sensibilitätsstörungen
in den ataktischen Extremitäten, durch welche die motorischen Koor¬
dinationsstörungen erklärt werden könnten, die statischen Störungen
und die Tendenz, auf eine Seite zu fallen (Fall 2), geben Anlaß, diese
Koordinationsstörungen dem cerebellarem Typus zuzuzählen.
Oppenheim weist bei Besprechung der akuten entzündlichen Prozesse
im verlängerten Mark darauf hin, daß hier sich akut eine Ataxie der
Extremitäten mit bulbären Erscheinungen oder ohne dieselben, jedoch
mit Ausfallerscheinungen in den motorischen und sensiblen Gebieten
entwickeln kann; Diese bulbäre Ataxie kann, wie Oppenheim meint,
den Charakter einer cerebellaren oder motorischen Ataxie haben. Da
wir es in unserem anatomisch untersuchten Fall (2) mit einer Läsion der
direkten Kleinhimbahnen, des Oower sehen und des olivo-cerebellaren
Bündels und eines Teils der unteren Olive zu tun hatten, so nehmen wir
einen Zusammenhang der Koordinationsstörungen mit der Läsion dieser
Bahnen an. Eine analoge Entstehung der statischen Ataxie haben wir
im 5. Fall. Im 2. Fall war die motorische Ataxie auf der Seite des Herdes.
Eine homolaterale motorische Ataxie bei Herden in diesem Gebiet ist
von Wallenberg , Rossolimo , Breuer und Marburg , L. Müller beschrieben
und wird, wie auch im 2., 4. und 5. Fall, durch Unterbrechung der auf¬
steigenden spino-cerebellaren Systeme hervorgerufen. Man kann auch
in unserem Fall an Unterbrechung der cerebellofugalen Bahnen denken
Rhombencephalitis.
273
( Lewandowsky ), die in caudaler Richtung von den Kernen des Tegmenten
beider Seiten in das Gebiet des verlängerten Marks ziehen, wo sie in den
Zellen der Substantia reticularis (Tr. cerebello-tegmentales bulbi) enden.
Man kann nicht gänzlich in der Pathogenese der bulbären Ataxie die
Bedeutung der Läsion der fibr. arcuat. int. abstreiten. Die letzteren
waren in unserm Fall (2) teilweise geschädigt, außerdem gibt es in der
Literatur Fälle mit in der Mitte gelegenen Herden und ausgesprochener
motorischer Ataxie (Fälle von Kahler und Pick),
Die Neigung, auf eine Seite zu fallen, ist vielfach bei Herden im ver¬
längerten Mark als Symptom einer Läsion der unteren Kleinhimstiele,
und zwar der sie bildenden direkten Kleinhirn und olivo-cerebellaren
Bündel, beschrieben worden. Der in 2 Fällen als beständiges und sub¬
jektiv schwer empfundenes Symptom auftretende Kopfschwindel wird
durch Läsion der Acusticuszentren im verlängerten Mark und der Brücke,
wie auch der Bahnen, die diese Zentren mit dem Deiterschen Kern,
dem Labyrinth und dem Kleinhirn verbinden, hervorgerufen.
Der Prozeß blieb nicht streng in den angeführten Grenzen lokalisiert,
sondern ging auf anliegende Teile des Stammes in auf und absteigender
Richtung über (Fälle 1, 2, 3, 4). Anatomisch könnte man das früher
Gesagte feststellen: im 1. Fall, wo Augenmuskelstörungen und Sensi¬
bilitätsstörungen fehlten, fanden wir ausgesprochene entzündliche
Veränderungen in der Brücke und im Hirnstiel. Im 7. Fall war der
Prozeß hauptsächlich im Gebiet der Kerne der drei unteren Him-
nerven lokalisiert, verbreitete sich jedoch cerebral bis zur Höhe des
ventralen Acustucuskems; im 6. Fall verbreitete sich der Prozeß auf
die Vierhügel.
Wir können also in unseren Fällen nur von einer vorzugsweisen,
jedoch nicht ausschließlichen Lokalisation des Prozesses im Gebiet
dieser oder jener bulbären Nerven sprechen. Klinisch ist jeder Fall
das Resultat der topischen Läsion. Von diesem Standpunkt müssen wir
die Symptomenkomplexe, die die Läsion des verlängerten Marks und
der Brücke bieten, betrachten.
In der Literatur finden wir zwei Gruppen von Fällen, die der unteren
Poliencephaiitis zugerechnet werden. Zur 1. Gruppe gehören Fälle von
diffuser Schädigung des Himstammes, zuweilen mit Beteiligung der
motorischen Augennerven (Fälle von Etter , Oppenheim und Uthoff ,
Bruns , Meyer).
Bei dieser Form beobachtet man eine Verbreitung des Prozesses
nach oben und unten. In einigen Fällen erhält man das Bild einer auf¬
steigenden Landryschen Paralyse (Fall Huismans). Wie H. Vogt
bemerkt, besteht das klinische Bild dieser Fälle auf der Höhe ihrer
Entwicklung aus kombinierten Symptomenkomplexen der obern und
untern Poliencephaiitis und Poliomeylitis.
Z. f. d. g. Neur. u. P*ych. XCIII.
18
274
M. S. Margulis:
In der 2. kleinen Gruppe von Fällen findet man eine ausschlie߬
liche Läsion der Kerne. Solche Fälle sind von Pflüger , Salonumsohn und
Wolff beschrieben, obwohl im Fall von Wolff Zeichen einer Sensibilitäts¬
störung vorhanden sind. In Fällen von bulbo-pontiner Encephalitis
ist der diffuse Charakter des Prozesses, der sich in polymorphen
klinischem Bild äußert, das in Leitungs- und Kernsymptomen besteht,
die Regel. Eine ausschließliche Läsion der grauen Substanz des 4. Ven¬
trikels kann sich nur zufällig finden.
Aus der pathologisch-anatomischen Untersuchung unserer Fälle
des bulbo-pontinen Symptomenkomplexes ersehen wir, daß sein ana¬
tomisches Substrat ein der Encephalitis der Hemisphären analoger
akuter entzündlicher Prozeß von alterativem und exudativ-poliferativem
Typus ist. Die Läsion des verlängerten Marks und der Brücke müssen
also als besondere bulbäre Lokalisationen der akuten Encephalitis an¬
gesehen werden.
In den von uns beschriebenen klinischen Fällen von bulbärer En¬
cephalitis (3, 4, 5) sprechen das jugendliche Alter, das Fehlen von Ge¬
fäßveränderungen (Arteriosclerosis) und anderer ätiologischer Momente,
wie Alkoholismus, Syphilis, gegen einen Bluterguß oder Erweichung
des verlängerten Marks. Das Fehlen von Traumen in der Anamnese
spricht gegen die Annahme einer späten Apoplexie.
Abscesse in der Brücke und im verlängerten Mark, die überhaupt
sehr selten sind, können in unsem Fällen ausgeschlossen werden, da
Quellen für eine Eiterung im Organismus fehlen (eitrige Prozesse, eitrige
Ohrenentzündung usw.).
Man muß eine bulbo-pontine Encephalitis von Neubildungen in diesem
Gebiet unterscheiden (Gumma, solitärer Tuberkel, Gliom). Die Er¬
kennung dieser Erkrankungen gründet sich auf Erhöhung des Him-
drucks (Stauungspapille), auf das Vorhandensein von Tuberkulose oder
Syphilis, auf den Verlauf und die Entwicklung des Krankheitsprozesses.
Letzterer erreicht in unsern Fällen von bulbo-pontiner Encephalitis ein
gewisses Maximum und beginnt dann zurückzugehn, bei Neubildungen
dagegen ist der Verlauf lawinenmäßig anwachsend und evtl, tödlich.
In unsem Fällen wurde Ausgang in teilweise und mehr oder weniger
völlige Genesung beobachtet. Man muß den bulbo-pontinen Sympto-
menkomplex der akuten Encephalitis von Polyneutritis der bulbären
Nerven unterscheiden.
Die Kemläsion bei bulbärer Encephalitis ist meistenteils asymmetrisch,
bei Polyneutritis der bulbären Nerven dagegen öfters symmetrisch. Das
Vorhandensein in unsem Fällen eines bulbo-pontinen Komplexes von
Herdsymptomen und oft auch allgemeiner Hirasymptome spricht gegen
Neuritis, im selben Sinn spricht auch ein günstigerer Ausgang bei
Polyneuritis der Bulbämerven.
Rhombencephalitis.
275
Bei myasthenischer Lähmung, die bei der differentiellen Diagnose
der bulbo-pontinen Encephalitis in Betracht gezogen werden muß,
werden gewöhnlich partielle Lähmungen nicht beobachtet, außerdem
verbreiten sich die myasthenischen Erscheinungen oft auf die Musku¬
latur des ganzen Körpers, bei bulbärer Encephalitis ist das dagegen nicht
der Fall.
Pseudobulbäre Lähmungen können mit der bulbo-pontinen Ence¬
phalitis auf Grund der verschiedenen Krankheitsentwicklung (wieder¬
holte Insulte, beiderseits), der psychischen Störungen und anderen
cerebralen Symptomen, die diese Fälle von bulbären unterscheiden,
nicht verwechselt werden.
Auf Grund des angeführten pathologisch-anatomischen und kli¬
nischen Materials kommen wir zu folgenden Schlüssen:
1. Der bulbo-pontine Symptomenkomplex der akuten Encephalitis
besteht aus Schluck-, Artikulations-, Phonations-, Atmungsstörungen,
Storungen der Herztätigkeit und der motorischen Koordination und
motorischen und sensiblen Ausfallerscheinungen. In einigen Fällen
schließen sich Kopfschwindel, Erbrechen, Singultus, Kopfschmerzen,
Schmerzen in der Brust und den Extremitäten an.
2. Alle oben angeführten Elemente des bulbo-pontinen Symptomen-
komplexes stellen Herdsymptome dar, die von der topischen Lokali¬
sation des Prozesses und der direkten Schädigung der entsprechenden
Zentren abhängen.
3. Die einseitige Läsion des cerebralen und medialen Drittels der
Ambiguns und Vaguskeme rufen völlige Schlucklähmung hervor; die
Läsion des caudalen Drittels des Ambigunskems ergibt Lähmung des
Innervationszentrums der Kehlkopfmuskulatur. Das Zentrum für
Innervation des weichen Gaumens befindet sich im untern Teil des
mittleren Drittels des Nucl. ambiguus.
4. Das Schluckzentrum, die Zentren für die Kehlkopfmuskulatur
und des weichen Gaumens können isoliert geschädigt werden.
5. Bei unversehrtem reflektorischem Schlucken, können Schluck¬
störungen von Lähmungen der Zunge, der Lippen, der Kaumuskulatur
und des weichen Gaumens abhängen.
6. Dysarthrie wird durch Parese des Sprachapparates, dank Läsion
der Kerne im verlängerten Mark und der Brücke hervorgerufen.
7. Atmungsstörungen werden in Fällen von bulbo-pontinem Sym¬
ptomenkomplex durch direktes Übergreifen des Prozesses auf die
Atmungszentren im Gebiet der Format, retic. medul. oblong., teilweise
durch Funktionsstörungen der Kehlkopf muskulatur hervorgerufen.
8. Störungen der Herztätigkeit und Vasomotoren werden durch
Kendäsion des Vagus und der vasomotorischen Zentren der Medulla
oblongata hervorgerufen.
18*
M. S. Margulis:
276
9. Störungen der motorischen Koordination sind ein beständiges
Element des bulbo-pontinen Symptomenkomplexes.
10. Die bulbäre Ataxie hat den Charakter einer cerebellären, mo¬
torischen und gemischten Ataxie.
11. Die bulbäre Ataxie wird durch Läsion der direkten Kleinhirn-
bahn, der Go wer sehen und olivo-cerebellaren Bündel hervorgerufen;
die Beteiligung in der Pathogenese der bulbären Ataxie der Fibr. arcuat.
inter. ist nicht ausgeschlossen.
12. Sensibilitätsstörungen beim bulbo-pontinen Symptomenkom*
plex sind zweierlei Art: dissoziierte Sensibilitätsstörungen von gekreuz¬
tem Typus. (Hemianaesthesia alternans) und Anaesthesien im Gebiet
der sensiblen Nervenkeme der Oblongata und der Brücke.
13. Die dissoziierten Sensibilitätsstörungen hängen von einer Läsion
des Fase, spino-thalamicus und spino-tectalis im Gebiet der Formatio
retic. des verlängerten Marks ab.
14. Die Bahnen für Schmerz- und Temperaturempfindungen gehen
gesondert von den Bahnen für sensible Empfindung.
15. Die Läsion eines begrenzten Bezirks des dorso-lateralen Teiles
einer Hälfte des verlängerten Marks im Gebiet der obern zwei Drittel
des Ambiguns und Vaguskeme, ruft Schlucklähmung hervor; wenn
eine Läsion des caudalen Drittels des Ambiguuskems hierzu kommt, so
entsteht auch Phonationslähmung; in beiden Fällen wird dissoziierte
Hemianästhesie auf der entgegengesetzten Seite und Hemiataxie auf der
Seite des Herdes, Störungen der Atmung und Herztätigkeit beobachtet.
16. Motorische Ausfallerscheinungen entstehen im bulbo-pontinen
Symptomenkomplex durch Übergang des Prozesses auf die langen
motorischen Leitungsbahnen und drücken sich durch Mono-Hemi-Para-
Quadraplegien zuweilen durch alternierende Lähmungen aus. Die
Lähmungen sind schlaff oder spastisch; in Residualfällen kommen
Muskelcontracturen vor.
17. Kopf Schwindel und Erbrechen sind Herdsymptome des verlän¬
gerten Marks. Der Kopfschwindel wird durch Läsion der Acusticuszentren
und Bahnen, die letztere mit dem Deiterschen Kern, Labyrinth und
Kleinhirn verbinden, hervorgerufen. Das Erbrechen wird durch Läsion
des entsprechenden Zentrums im verlängerten Mark hervorgerufen.
18. Meningeale Erscheinungen sind klinisch im bulbo-pontinen
Symptomenkomplex beobachtet und im selben Fall auch mikroskopisch
konstatiert worden.
19. Der bulbo-pontine Symptomenkomplex entwickelt sich als
klinische Erscheinung der akuten Encephalitis insultförmig oder all¬
mählich mit Temperaturerhöhung (letztere kann fehlen), entzündlichen
Veränderungen der Cerebrospinalflüssigkeit und regressivem Verlauf
des Krankheitsprozesses.
Rhombencephalitis. 277
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1. Thromb.; der Art. cerebelli inf. posterior. Moskau 1911; ref. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psychiatrie 4 .
Über die Wege des Liquorabflusses bei Spontandurchbruch
infolge Hirntumors.
Von
Wilhelm Hingen.
Mit 4 Textabbildungen.
(Eingegangen am 25. Mai 1924.)
Über die sog. Selbstheilung bei Hirntumoren ist ein kasuistisches
Material von rund 25 Fällen zusammengetragen. Bekannt ist, daß bei
sehr langsam wachsenden oder im Wachstum stillstehenden Tumoren
nach jahrelangem Bestehen des erhöhten Schädelbinnendrucks es zu
einer Spontanperforation des Liquors, und zwar ausschließlich in die
Nase und damit zu einer Druckentlastung kommen kann. Die genaue¬
ren Verhältnisse der Abflußwege des Liquors sind nur in wenigen
Fällen eingehend studiert worden. Der nachfolgend auf geführte Fall
zeigt neben den bereits in der Literatur niedergelegten Befunden Eigen¬
arten, die seine genauere Beschreibung rechtfertigen.
Rechteanwalt F., geboren 9. IV. 1882. — Vorgeschichte: Vater gesund. Mutter
nervös, ebenso alle Geschwister. Normale Entwicklung, guter Jurist. — Man
1912 immer Kopfschmerzen, besonders nach geistigen Anstrengungen, Mangel
an Konzentrationsfähigkeit. Herbst 1912 Schwindelanfälle; es war ihm oft schwarz
vor den Augen, er fühlte Unsicherheit beim Treppensteigen und Gehen über
Plätze. Druckgefühle im Kopf. Juni 1913 wurde das Sehen links schlechter
als rechts. Befund bei der Aufnahme in die Nervenklinik Halle am 6. VII. 1913:
Subjektive Stirnkopfschmerzen, leichter Schwindel, Sehstörung auf dem linken
Auge von wechselnder Intensität. — Objektiv: Kräftiger Mann von gesundem
Aussehen, in der Ruhe Zittern des ganzen Körpers, besonders des Kopfes von
wechselnder Stärke. Schädelumfang: 59,75 cm. Linke Stirn etwas klopfempfind¬
lich, Bulbi beiderseits prominent, Lidspalten gleich. Augenbewegungen frei, kein
Nystagmus; Pupillen gleich, rund, auf Licht und Nahesehen prompte Verengung.
Visus r. 5/5; 1. wechselnd bis zu 5/10. zeitweise nur Fingerzählen in l / 2 m Ent¬
fernung. Beiderseits Stauungspapille; Papillenhöhe r. -f4D.; 1. + 7 D. Retina
r. und 1. + 2D. R. Papille hyperämisch, Grenzen etwas verschwommen. Venen
leicht geschlängelt, nur mäßig dilatiert. L. starke, auffallend blasse Stauungs¬
papille mit geschlängelten und diktierten Venen. Gesichtsfeld r. leicht ein¬
geengt, 1. stärkere Einengung mit starker nasaler Einbuchtung.
Bei Lidschluß starkes Zittern der Lider. Hirnnerven und Sinnesorgane o. B.
Zunge zeigt etwas Tremor.
Brust- und Bauchorgane o. B.
Freie aktive Motilität, Koordination ungestört, grobe Kraft gut, Haut- und
Sehnenreflexe lebhaft, Sensibilität intakt. Lebhafter Tremor der Hände und der
erhobenen Beine.
W. Ilinsen: Über die Wege des Liquorabflusses bei Spontandurchbruch usw. 279
Zur chirurgischen Klinik verlegt, wurde am 8. I. 1913 in Lokalanästhesie
der Balkenstich vorgenommen. Dabei entleerte sich unter ziemlichem Druck
klarer Liquor, von dem 20—30 ccm abgelassen wurden. Dann pulsierte das
Gehirn.
Gute Wundheilung. Nach Rückverlegung zur Nervenklinik zunächst geringe
meningitische Erscheinungen, nach deren Rückbildung der objektive Befund
unverändert ist bis auf eine geringe Verschlechterung des Augenbefundes. Der
J. Opticus wurde schon etwas atrophisch befunden. Da weder subjektiv noch
objektiv eine Veränderung eintrat, wurde am 15. IX. 1914 auf Veranlassung von
Anton und E. v. Hippel eine Trepanation an der r. Schläfengegend vorgenommen,
über die genauere Angaben nicht mehr zu erhalten waren.
Die folgenden Angaben verdanke ich Herrn Dr. David s, Münster, der den
Patienten jahrelang augenärztlich behandelte und beobachtete.
Anfangs 1915 warR.S. = < 0,8; die Papille ein wenig geschwollen. L. geringer
Lichtschein. Ende 1916 hatte sich beiderseits eine Atrophie nach Stauungspapille
herausgestellt. R.S. = Finger in 2 l / 2 m. Gläser bessern nicht. L. Amaurose.
An der Trepanationsstelle hat sich ein starker Prolaps herausgebildet.
Während in der Folgezeit das Sehvermögen des r. Auges nur langsam weiter
verfiel, wurde das Allgemeinbefinden sichtbar immer schlechter. Der Prolaps
trat immer stärker hervor. Beiderseits bestand leichte Protrusio bulbi. Das
Gesicht war leicht cyanotisch, der Körper stark abgemagert, der Gang langsam,
schlürfend mit gebeugten Knien. F. konnte nur noch kurze Ausgänge machen, war
zeitweilig bettlägerig, hatte Schmerzen in den Beinen, Zittern in den Händen,
war leicht erregt, dann wieder deprimiert, litt an Ohnmachtsanwandlungen und
an epileptiformen Anfällen derart, daß mit seinem Ableben gerechnet wurde.
Diese Verschlechterung des allgemeinen Zustandes und des Augenbefundes hielt
an bis Mitte 1919. Zu dieser Zeit trat ein starker Abfluß von Flüssigkeit aus der
Nase ein und zugleich eine erheblich fortschreitende allgemeine Besserung. Die
Flüssigkeit wurde untersucht und erwies sich nach ihrem chemischen Verhalten
als Liquor cerebrospinalis. Ende 1919 betrug R.S. = < 0,3 mit Gläser korrekt ion.
L. Amaurose. — Im Laufe des Jahres 1920 besserte sich das Allgemeinbefinden
weiter. Es bestand keine Protrusio bulbi mehr, der Prolaps war stark abgeflacht, die
epileptiformen Anfälle hatten aufgehört, Gang und Haltung waren straffer ge-
worden und F. konnte ohne Beschwerden 30—40 km gehen. Auch der Augen-
befund hatte eine wesentliche Besserung erfahren: S.R. = 0,9 —1,0 mit Gläsern.
L. unbestimmter Lichtschein und unsichere Reaktion der Pupille auf Licht.
K. normales Gesichtsfeld, temporale Farbenhemianopsie. Im Spiegelbild neu«
ritische Atrophie, Papillen grauweiß, 1. stärker als r. Grenzen verschwommen,
Arterien 1. ganz dünn. — Im Röntgenbilde keine Abweichungen, besonders auch
nicht an der Sella turcica.
Der anfänglich starke Liquorabfluß hatte sich auf ein geringeres Maß zurück«
gebildet, bestand aber ziemlich regelmäßig fort, das Körpergewicht stieg von
•>3 kg auf 71 kg. F. fühlte sich frischer und nahm seine Tätigkeit als Rechts¬
anwalt wieder auf.
Den Angehörigen waren jedoch gewisse Abweichungen gegen früher auffällig.
Blondere zeigte F. in den letzten Jahren mangelnde Merkfähigkeit für neuere
Ereignisse, z. B. neue Gesetze und empfand das selbst als quälend. Er suchte
Trost im Alkohol und war oft betrunken. Auch sonst zeigte er sich reizbarer als
früher. Er ärgerte sich über Nichtigkeiten und hat einmal sogar seine Haus¬
wirtin, eine hochbetagte Dame, geschlagen. Dabei war er oft eigenwillig und
>törrisch. Anfangs 1922 verlor er das Geruchs vermögen, was er auf die Wirkung
einer über die Nase laufenden Mensurnarbe bezog. Zeitweilig stellten sich auch
280
W. Hinsen:
Zustände von Verstimmungen ein, in denen er epileptische Anfälle mit Zungen¬
biß und Einnässen hatte. Diese Zustände sollen sich besonders dann eingestellt
haben, wenn der Liquorabfluß aus der Nase stockte. Er befand sich dann in einer
Art Dämmerzustand, der zu seiner Einlieferung ins Krankenhaus wiederholt
Veranlassung gab. Bei der letzten Einlieferung wurde er delirant, war erregt,
zerschlug Geschirr und wurde daher am 28. XII. 1922 der Provinzialheilanstalt
Münster übergeben.
Hier macht er anfänglich einen benommenen Eindruck, ist unorientiert.
Nach längerem Eindringen wird er reger und gibt seinen Lebenslauf richtig an.
bittet um Aufklärung über die Umgebung, die er im großen und ganzen rieht in
auf genommen hat. Habe jetzt keine Klagen, sonst von Zeit zu Zeit wegen Schwin¬
dels und Kopfschmerzen das Krankenhaus aufgesucht. Ist gut orientiert über
seinen bisherigen Krankheitsverlauf, glaubt aber, daß bei der Trepanation ein
Weg für den Liquor in die Nase geschaffen sei. — Sich selbst überlassen, dämmert
er vor sich hin, redet leise mit sich selbst, näßt ein. Angesprochen, ist er anfäng¬
lich unorientiert, nach einigen Minuten meist klar, aber doch nicht so den Ein¬
drücken geöffnet, wie ein gesunder Mensch. Zeigt Sinn für Humor, ißt gut.
Der 175 cm hohe, gut genährte Mann zeigt am ganzen Körper geschundene
und blutunterlaufene Stellen. Unsicherer, schlürfender Gang; verschwommene
Gesichtszüge. Leichte Protrusio bulbi beiderseits. Die Augenbewegungen sind
frei, doch weicht in jeder Blickrichtung das 1. Auge nach außen ab. Beim extremen
Blick nach r. horizontaler Nystagmus, dessen schnelle Komponente nach r. schlagt.
Die 1. Pupille ist entrundet, etwas exzentrisch gelagert, starr auf Lichteinfall
und fast starr auf Konvergenz. Die r. Pupille ist ebenfalls nicht ganz rund und
exzentrisch gelagert. Sie zeigt eine wenig ausgiebige, aber prompte Lichtreaktion,
bei der 1. eine geringe konsensuelle Reaktion auftritt.
Gehör gut, Klagen über Hellhörigkeit auf beiden Ohren. Geschmack un¬
gestört. Facialis, Hypoglossus, Trigeminus o. B. Sprache etwas unscharf, aber
nichts Typisches. Geruchs vermögen erloschen.
Aus beiden Nasenlöchern entströmt in ständigem Tropfenfall eine klare
Flüssigkeit, die Pat. selbst als Liquor bezeichnet. Wenn er den Kopf in den Nacken
lege, komme es nicht mehr aus der Nase, sondern fließe in die Halsmuskulatur
(offenbar in den Rachen, ein Gefühl, dem eine falsche Deutung unterlegt wird).
Die aktive Beweglichkeit ist frei, doch mangelt die sichere Eleganz der Be¬
wegungen. Besonders der Gang ist breitspurig mit leichter Fallneigung nach 1.
Beim Romberg leichtes Schwanken. Die Sehnenreflexe sind lebhaft, die Bauch¬
deckenreflexe nicht sicher nachzuweisen. Der r. Muscul. cucullaris. befindet sich
dauernd in einem Spannungszustande wie bei aktiver Innervation. Anfänglich
nur an der r. Hand, nach längerer Untersuchung an beiden Händen Tremor.
Keine ausgesprochene Koordinationsstörungen. Sensibilität für alle Qualitäten
intakt.
Behaarung und Fettyp männlich, Genitale regelrecht, nicht atrophisch. Die
Nachprüfung und Abrundung der neurologischen Untersuchung wurde dadurch
verhindert, daß am folgenden Tage die Zeichen einer croupösen Pneumonie des
r. Unterlappens sich zeigten. Dazu traten am nächsten Tage Nackensteifigkeit,
kahnförmige Einziehung des Leibes, stärkere Benommenheit mit Flockenlesen,
positiver Kernig und Brudzinski. Dabei Auf hören des Liquorabflusses aus der
1. Nase.
Exitus nach 4 Tagen.
Sektionsbericht: Leiche eines gut genährten Mannes in Totenstarre. Toten¬
flecken, zudem zahlreiche kleinere subcutane Hämatome und Schürfungen an
Rumpf und Extremitäten. Es w r urde nur die Erlaubnis zur Eröffnung der Schädel-
Über die Wege d. Liquorabflusses bei Spontajidurchbrueh infolge Hirntumors. 281
höhle erteilt. Das knöcherne Schädeldach zeigt auf der Höhe etwas r. von, der
Mittellinie im vorderen Teile des Scheitelbeins ein von einer derben Membran
ausgefülltes Loch von fast Pfennigstückgröße. Nach innen bestehen hier Ver¬
wachsungen mit der Dura, die scharf gelöst werden müssen. Die gleiche Ausfüllung
und Verwachsung findet sich in einem halbmondförmigen, etwa querfingerbreiten
Knochengraben, der die untere Grenze eines etwa fünfmarkstückgroßen Knochen¬
stückes bildet, daß nach vorne und hintenzu mit dem übrigen Schädeldach ver¬
wachsen ist, über dessen Niveau es mit der Oberfläche etwa um 4 mm emporragt.
Es liegt diese Formation im oberen hinteren Teile der r. Schläfenbeinschuppe,
übergreifend auf den unteren Teil des r. Scheitelbeins. Sonst ist das Schädeldach
massig. Die Dura läßt sich, abgesehen von den beiden beschriebenen Stellen,
überall glatt vom Knochen lösen; mit den weichen Hirnhäuten bestehen keinerlei
Verwachsungen. Der Längsblutleiter ist o. B. Die weichen Hirnhäute der Kon¬
vexität sind zart und ungetrübt, ihre Gefäße stark blutgefüllt. Die Hirnwindungen
sind kaum abgeplattet. An der Trepanationsstelle an der r. Schläfe ist das Hirn
sogar so weit zurückgesunken, daß die Arachnoidea sich als bauschige, mit Liquor
nefüllte Blase abhebt. Die 1. Hemisphäre ist deutlich kleiner als die r.
Beim Anheben des 1. Stirnpols zeigen sich zarte Verklebungen mit der Gegend
der 1. Siebbeinzellen, bei deren Lösung mit dem Finger plötzlich ein Strom rahmigen
Eiters dem 1. Stirnhirn entquillt, in dem eine sternförmige Öffnung entstanden
ist, durch die der Finger in eine Höhle gelangt. Beim Abtasten dieser Höhle
bricht der Finger an der hinteren Wand wiederum durch zundriges Gewebe tiefer
ein unter gleichzeitiger Entleerung eines neuen Eitergusses. Sonst läßt sich das
Gehirn von der Schädelbasis gut abheben.
Das Hirn zeigt an seiner Basis, soweit sie in der mittleren und hinteren
Schädelgrube liegt, einen dicken fibrinös-eitrigen Belag, der sich auch auf das
Kleinhirn und das verlängerte Mark erstreckt. Durch diesen speckig-eitrigen
Belag ist die Topographie der Hirnbasis undeutlich geworden; insbesondere die
Gebend vom Chiasma, das selbst deutlich atrophisch erscheint, ist bis zu den
Hirnstielen in eine homogene eitrige Masse verwandelt, die ohne Verletzung der
darüberliegenden Teile nicht zu lösen ist. Das Hirn wird zunächst in Formalin
gehärtet. Die mittlere Schädelgrube zeigt den gleichen eitrigen Belag wie die
Himbasis. Die vordere Schädelgrube ist völlig frei von Eiter. In der r. vorderen
Schädelgrube, etwa 1 cm seitlich der Crista galli, liegt in Stecknadelkopfgröße
rauher Knochen frei. Es führt ein haarfeiner Gang in die Tiefe. Beim Versuche
der Sondierung bricht trotz des zarten Tastens der Knochen ein wie ein Stück
Papier. Auf der anderen Seite an der entsprechenden Stelle finden sich 2 zarte
Fäden vom Aussehen der Arachnoidea, die sich in die Siebbeinzellgegend ein¬
senken und hier festhaften; es sind die erwähnten Verwachsungen des 1. Stirn¬
pols. Der übrige Knochen der vorderen Schädelgruben erweist sich ebenfalls
papierdünn und brüchig. Durch das Dach der 1. Augenhöhle schimmert, beginnend
in der Nähe der Stelle, wo die Verwachsungen mit dem 1. Stirnpol bestanden,
eine wurmförmige, quer zur Längsachse gestellte, etwa 1 / 2 cm breite, 4 cm lange,
rutlichblaue Stelle durch. Beim Durchstoßen dieser Stelle zeigt sich eine dunkle,
rötlichbraune, breiige Masse. Dieselbe Masse entleert sich beim Durchstoßen
der Siebbeinzellen aus der Nase. Uber die topographischen Verhältnisse am Gehirn
selbst orientieren am besten die beigefügten Abbildungen der Frontalschnitte
durch das formolgehärtete Gehirn.
Der Tumor selbst ist von der Größe und Gestalt eines kleinen Hühnereies
mit abgeplatteten Polen. Er ist in eine derbe, mit Gefäßen versehene Membran
eingehüllt und selbst von derbbröckeliger Konsistenz und grüngelblicher Farbe.
Er ist völlig homogen, nur in seinem hinteren Teile findet sich eine dunkelrote
W. Hihson
Steife, .clie 7 cb einer Blut mig • hmniferi,.;.. 'Ö*r Tumor liegt mit «ciuer Langs&cfe»*-
genau in der Mk-tellihie. tinti zwar so, daBar den BödeJfi de» 3. Vmtri&el* .rtäelr
oben- und hinten, die BosalgaiipHe«- seilvcartv- .^cdtuekt hot, während- er uhvJ»
vorne ? a \ anf da* Chiasrna drückt. l)er Boden den ;L Ventrikels ist daher «iue< k
jgs($
Ahb. I. lüe r. Hemiapirän* idt dijntlk'ii ^frOßot als »Ile T anrli auf allcu töfeftnxfeo fcdteri
«» kidrfcit Ut, JI. ist .der - 'Seiteuvwittik«! «hea geMnrrt. L. i»t «1er Ventrikel cüneU die -wo
Vit^ir c]nrclisf‘‘*li»Hu zweit* Seiiridtnmrui umie<it|i»!h zu srlu*ii bei A., Lateral davon b.xe ■ <:••
Hoble, in die df-r Kinper zunächst gelangte »bei B\
den Turner auf eine sehr dünne Ltirnelle «uVezogeii, die nur in den hinteren Partien
hoch aus clem aUen verkjampten tfewebe ahzusondeni ist. DV normalen *utah>-
rni.se tieri Fornmiioncrs -jlw VentrikelIrodens sind daher nicht zu erkenn*m, W>
Balken ist stark atrophisch: der Fhrnix isi leicht verdrautrt und nicht Iw^hadfeV
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Ahb. 2. DreKelbö' frMHjittptidt* von der .buvajou S.eK*d ohr r Veutrikid - tit .•»türk 'erfteited
iirrfrt* AVafltip ebe'nkrv \vip iiib des linken n.ftr T&hfrie nicfähixtm
‘difr ; \V!'»jt! ifivni förnittlrnj/eflebruiuiiilen Kit er j?i M. IfiH» sfoiiztjtettK *renijo> >f*iithkd-
prv*i’><rriini- : aiuu'lirta v»kn VsiitnkH <Ufc rnvobnte tUVhtc
Hie 'Hypophyse ist ^hikro^k^jnH'l» oU»nsv>ar-nio \rröndert> «de du* »Soll» iurtdea,
denn Knochen dimdiaus von m-noahr j »i* !•.<• eir»d. ider lf\c>phytud>sü«‘; hx«. da*
Tuber i.imb'iijn ist io de» fibrinr* »Minim Anfh^cnanir nicht Cr kenn hör.
-Für * Jfe. Ikijvh ftthmnu der '*niktoskonfaöheh FntcT*Midt(uikMn ich Herrn
Professor lh\ Hfel&kauUilft zu für/liehmu Ihitikr vciptlichtef f ifei- Hirfitüiiiör ist
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raäasVn augffujlr. 1. ebeftAii, aii&wÜrWdiifrtft Imu!<*- dtöir flehte.
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derselben UeH. v hiithn>b<iC »vir, der in dex Ufer uiebt mit SidicK-hhit-
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ija* Chia<inj)'7.«‘joT eilt* Atrophie. JiiiU.lerett Cradr**'.. .
Li*: Wtuiiiung di r im i. Sfcjrnbi.ru bestelle m« tüton u&irl-eärn
hk der sirb ui t : ler Avtdiftj'eiv Vn\iix kt.j tu Alhmdiin !i iahtet umi »« t nobi^den
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Kzh-\
284
W. Hinsen:
mehrt und deren Wandungen, besonders in der Intima und Adventitia, stellen
weise stark verdickt. In dem Gliafilz selbst sind neben vielen freien Fasern auch
noch sehr zahlreiche große Astrocyten vorhanden. Nach dem Lumen der Höhle
hin ist das Gewebe der Wandung an einzelnen Stellen im Zerfall und bildet hier
eine zerklüftete, mit Fetzen in das Lumen hineinragende Masse. Außerdem ist
die innere Oberfläche der Cyste an vielen Stellen von Lymphocyten und poly-
nucleären Leukocyten bedeckt. Die Kommunikation der Cyste mit dem Ventrikel¬
hohlraum besteht in einem engen, kurzen Spalt. Die Scheidewand zwischen
Cyste und Ventrikel ist sehr dünn und nur von wenigen Millimetern Durchmesser.
Die Ventrikel sind von einer eitrigen Schicht bedeckt, und es lassen sich bereits
lebhafte reaktive Erscheinungen am Ependym und an der subependymären
gliösen Randschicht in Form von Gliaproliferation und Capillarsprossungen
nachweisen. Auch das Nachbargebiet der Ventrikel ist von lymphocvtären Ele¬
menten bald mehr, bald weniger infiltriert.
Zusammenfassung: Bei dem Rechtsanwalt F. bilden sich unter
allgemeinen nervösen Beschwerden Zeichen eines schweren Hirndrucks
heraus, ohne daß Herdsymptome genug vorhanden gewesen wären,
um den Tumor zu lokalisieren. Um der Gefahr der Erblindung infolge
Stauungspapille vorzubeugen, wird zunächst 1913 ein Balkenstich
vorgenomitien, 1 Jahr später wegen Unzulänglichkeit des Balkenstichs
aus gleicher Indikation Palliativtrepanation. Hirnprolaps. Gleichwohl
nach anfänglicher Besserung Verschlechterung des Allgemeinbefindens
und des Sehens bis Mitte 1919, als der Liquor sich einen Weg in die
Nase gebahnt hatte. Der Hirnprolaps bildet sich zurück; die Seh¬
schärfe, die unter Stauungspapille und sekundärer Opticusatrophie
links auf völlige Amaurose, rechts auf Fingererkennen in 2,5 m gesunken
war, bessert sich, um nach \ l j 2 Jahren links einer unbestimmten Licht¬
wahrnehmung, rechts einer Sehschärfe von 0,9—1 bei normalem Ge¬
sichtsfelde und temporaler Farbenhemianopsie Platz zu machen. Da¬
mit gleichzeitig Besserung des Allgemeinbefindens bis zu einem leid¬
lichen Grade von Berufstüchtigkeit. Zeitweilig treten mit Stockung
des Liquorabfliisses Dämmer- und Erregungszustände mit epilepti-
formen Anfällen auf, wie sie auch in der Zeit vor dem spontanen
Durchbruch des Liquors in die Nase bestanden. Im Begriffe, mit
Wiederabstrom des Liquors aus einem solchen Zustande aufzuwachen,
erkrankt F. an einer eitrigen Meningitis, der er in wenigen Tagen er¬
liegt, zumal sie von einer kroupösen Pneumonie des rechten Unter¬
lappens begleitet war.
Die Erklärung für den Krankheitsverlauf haben wir aus dem Sek¬
tionsbefunde zu entwickeln: Am Boden des 3. Ventrikels bildet sich
ausgehend von den Hypophysengangszellen eine Geschwmlst, die
langsam wachsend zu immer stärkerer Raumbeengung des Schädel¬
inhaltes führt. Er drückt den 3. Ventrikel bis auf ein minimales Lumen
zusammen und beengt auch wohl seine Verbindung mit den Seiten¬
ventrikeln, oder verlegt sie ja zeitweise. Es bildet sich ein Hydro*
Über die Wege d. Liquorabflusses bei Spontandurchbruch infolge Hirntumors. 285
cephalus internus. Der Tumor wächst in seinen äußeren Schichten,
die vaskularisiert bleiben. In die innen gelegenen verkäsenden Massen
hinein erfolgen Blutungen, die zu einer gelbgrünlichen Verfärbung
führen. Der Tumor zeigt keinerlei infiltrierendes Wachstum, ist also
als gutartig zu bezeichnen. Er war nicht sicher zu lokalisieren, wurde
aber wegen der temporalen Farbenhemianopsie in den letzten Jahren
in der Gegend des Chiasmas vermutet. Der Balkenstich hilft nicht,
die Trepanation nur vorübergehend etwa 2 Jahre, dann Verschlechte¬
rung bis zum Spontandurchbruch des Liquors in die Nase.
Die Wege des Liquors weist die Sektion nach: Die stecknadelkopf¬
große Öffnung in den rechten Siebbeinzellen und die Öffnung in den
linken Siebbeinzellen, in denen die Verwachsungsstränge festsitzen.
Es ist nun nachweisbar, daß die nach vorn und außen vom Vorderhorn
des linken Seitenventrikels gelegene Höhle, die immittelbar an die Ver¬
wachsungen angrenzt, eine direkte Verbindung zwischen Seiten¬
ventrikeln und den Öffnungen in den linken Siebbeinzellen darstellt,
und zwar durch den Weg, den die eitrige Meningitis genommen hat.
Der Liquorabfluß aus der linken Nase hört in den letzten Tagen auf,
die Abflußwege waren also offenbar durch die entzündlichen Vorgänge
verlegt. Auf den Wegen des Liquorabflusses durch die linken Sieb¬
beinzellen ist die Entzündung emporgekrochen und durch die erwähn¬
ten Verwachsungsstränge direkt in die beschriebene Höhle und von
dort in den linken Seitenventrikel eingewandert. Diese Verbindung
zwischen Höhle und Seitenventrikel ist aber nur sehr eng gewesen
und ließ den rahmigen Eiter nur spärlich von dem Ventrikel in die
Höhle entleeren. Erst die Durchstoßung der zundrigen Scheidewand
durch den tastenden Finger läßt den Eiter im Schwall hervor brechen.
Vom linken Seiten Ventrikel ist die Eiterung weitergekrochen in die
übrigen Ventrikel und wohl seitlich vom Tumor, der den Boden des
3. Ventrikels nicht nur gedehnt, sondern auch wohl usuriert hatte,
an die Basis und von hier aus bis auf das Kleinhirn und die Medulla
gelangt. Nur so ist es möglich, daß die vordere Schädelgrube, in der
doch die Infektionspforten liegen, von jeglicher Eiterung verschont
blieb. Für diese Annahme spricht auch der Umstand, daß die Ven¬
trikelwände heftigere Entzündungserscheinungen und stärkeren Eiter¬
belag auf weisen als die Hirnhäute.
Es erscheint weiterhin höchst wahrscheinlich, daß dieser Abflu߬
weg des Liquors durch die Höhle nicht nur in der letzten Zeit vor dem
Tode bestanden hat, sondern sich offenbar schon in derselben Zeit
gebildet hat, als der Liquorabfluß aus der Nase einsetzte. Leider ist
bei den früheren Untersuchungen nicht darauf geachtet worden, aus
welchem Nasenloch der Liquor zuerst abfloß. Es ist jedoch ebenfalls
wahrscheinlich, daß der Abfluß aus der rechten Nase sich erst in späteren
286
W. Hinsen:
Zeiten gebildet hat. Die beiden Annahmen lassen sich wahrscheinlich
machen durch den Umstand, daß die linke Hirnhälfte kleiner ist als
die rechte. Anfänglich hat offenbar der Tumor nicht nur eine stärkere
linksseitige Stauungspapille, sondern auch einen größeren linksseitigen
Hydrocephalus internus hervorgerufen, der zu einer Gesamtatrophie
der zugehörigen Hemisphäre führte, während die rechte Hemisphäre
durch die Trepanation und die damit geschaffene Möglichkeit des Aus-
weichens in Form des Himprolapses nicht einem so starken Drucke
ausgesetzt war. Mit Einsetzen des Spontanabflusses des Liquors nahm
das Ventrikellumen ab, und die verkleinerte Hemisphäre ließ in der
rechten einen größeren Hydrocephalus internus entstehen, teils ex vacuo,
teils deswegen, weil dem rechten Seiten Ventrikel kein direkter Abfluß
zur Verfügung stand und der Weg zum 3. und zum linken Seitenventrikel
durch den Tumor behindert war.
Wann der Tumor seine endgültige Größe erreicht hat, ist schwer zu
sagen; wahrscheinlich aber ist, daß er in den letzten Jahren nicht
mehr wesentlich gewachsen ist, wohl aber in denselben immer noch
Blutungen stattfanden, von denen eine relativ frische bei der Sektion
aufgefunden wurde. Ob durch diese Blutungen eine Druckzunahme
stattfand, die vorübergehend vielleicht die Liquorabflußwege kompri¬
mierte und so zu den epileptoiden Zuständen führte, wird schwer zu
sagen sein. Es ist ebensogut möglich, daß diese Abflußbehindening
durch entzündliche Vorgänge in der Schleimhaut der Siebbeinzellen
geschaffen wurde.
Einer besonderen Erklärung bedarf die Tatsache, daß offenbar von
den so wichtigen nervösen Gebilden in den Wänden des 3. Ventrikels,
in denen Zentren für den Wasser- und Zuckerstoffwechsel, für die Fett¬
bildung, für die Trophik des Genitals und für den Geschlechtstyp in
der Behaarung ebenso wie für den Sympathicus angenommen werden,
keinerlei Symptome in die Erscheinung traten. Offenbar ist auch der
Hypophysenstiel abgedrückt gewesen, ohne daß Hypophysensymptome
aufgetreten wären, die ebenfalls bei der gutbegründeten Annahme
einer Sekretfortleitung aus der Hypophyse durch ihren Stiel in das
Hirn hätten auftreten müssen. Offenbar hat der langsam wachsende
Tumor nur allmählich mit seinem zunehmenden Drucke diese Zentren
zerstört, und bei den vielen Kompensationsmöglichkeiten innerhalb
des vegetativen und des endokrinen Systems hat der langsam zunehmende
Ausfall durch andere Organe ausgeglichen werden können.
Klinisch beachtenswert ist, daß der Spontandurchbruch des Li¬
quors sich als eine entschieden wirksamere Druckentlastung erwies als
Balkenstich und Trepanation, denn er bewirkte neben der Wiederkehr
des fast erloschenen Sehvermögens auf dem rechten Auge ein relatives
Wohlbefinden mit leidlicher Berufstüchtigkeit für die Dauer von
Über die Wege d. Liquorabflusses bei Spontandurchbruch infolge Hirntumors. 287
2 j / 2 Jahren. Man darf jedoch wohl annehmen, daß F., wenn er nicht
frühzeitig trepaniert worden wäre, wahrscheinlich schon früher an
seinem Himleiden gestorben oder wenigstens völlig erblindet wäre.
Während für den Abflußmechanismus, wie ihn der Fall F. auf der
rechten Seite zeigt, in der Literatur mehrere Parallelbefunde sich vor¬
finden — in einem Teil der wenigen zur Sektion gelangten Fälle war
der Befund auch vollkommen negativ —, ist ein gleicher Abfluß des
Ventrikelliquors direkt in die Nase nur in einem Falle von WoUenberg 1 )
berichtet. Die wesentlichsten Stellen aus dem Sektionsberichte seien
kurz angeführt:
„An der Spitze des rechten Vorderhorns findet sich eine scharfrandige Per¬
foration der Wand in der nächsten Nachbarschaft einer dort verlaufenden Vene.
Die Öffnung hat einen Durchmesser von etwa 3 nun und führt basalwärts in den
zusammengesunkenen und an der Oberfläche zerrissenen Orbitalteil des Stirn¬
lappens. Mittels einer in die Perforationsöffnung des Vorderhorns eingelegten
Sonde gelangt man demgemäß in der Richtung nach vorn unten durch den Orbital¬
teil hindurch an die Oberfläche. Dies ist die Stelle, an welcher bei der Heraus¬
nahme des Gehirns die gegen die Knochen der vorderen Schädelgrube ziehenden
Fortsätze achtlos abgerissen wurden. L. findet sich an der gleichen Stelle ein
ebenso großes Loch, welches in 2 röhrenförmige Defekte der 1. Stirnlappenbasis
und gleichfalls bis zur Oberfläche führt.
Die mikroskopische Untersuchung zeigte deutlich, daß die Kontinuitäts¬
trennungen der Vorderhomwandung nicht etwa Kunstprodukt waren; es fanden
sich auf Schnitten, die durch den betr. Teil des linken Stimlappens in frontaler
Richtung gelegt waren, neben einem kreisrunden Loch ein unregelmäßig ge¬
stalteter, ziemlich quer gestellter Spalt, der sich bei mikroskopischer Betrachtung
mit einer Fortsetzung des Ventrikelepithels ausgekleidet erwies und sogar eine
deutliche Granulierung zeigte. Das daneben liegende kreisrunde Loch war ganz
scharfwandig und von einem stellenweise kleinzellig infiltrierten, zum Teil auch
freies Blut enthaltenden Gewebe begrenzt. Auch in weiterem Umfange zeigte
die umgebende Marksubstanz kleine Anhäufungen von Rundzellen und in einer
Partie einen kleinen, durch auffallend starke Gliawucherung und reichliche
Spinnenzellen ausgezeichneten Herd. Die Blutgefäße boten vielfach das Bild
einer kleinzelligen Infiltration der Adventitia.“
Von besonderem Interesse ist in Wollenbergs und meinem Falle die
Bildung eines Ganges bzw. einer Höhle im Stimlappen. Im Falle
WoUenbergs wurde leider nur der eine Stimlappen mikroskopisch
untersucht und der beschriebene Spalt mit teilweisem Ependymbelag
sowie eine etwa parallel dazu verlaufende Gewebslücke festgestellt.
Es ist nun wahrscheinlich, daß dieser röhrenförmige Defekt die Ent¬
stehungsart der Ventrikelverbindung mit der Nase am reinsten zur
Anschauung bringt, während der Spalt ursprünglich wohl ein ganz
gleiches Gebilde darstellte, in das bei seiner Annäherung an den Seiten¬
ventrikel infolge des erhöhten Druckes im Ventrikel eine sackförmige
Ausstülpung der Ependymauskleidung vorgetrieben wurde, die sich dann
nach Platzen der Ausstülpung den Wänden des Spaltes anlegte. Die
*) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 31 . 1898.
288
W. Hinsen:
Natur der Spalt- bzw. Höhlenbildung im Stimlappen scheint in beiden
Fällen dieselbe zu sein. Es handelt sich zweifellsohne um malacische
Herde, die unter dem Einfluß des erhöhten Himdrucks in der Sub¬
stanz des Frontallappens entstanden sind. Während wir jedoch im
Wollenberg sehen Falle in guter Übereinstimmung mit den klinischen
Daten aus dem mikroskopischen Befunde auf ein geringes Alter dieser
Herde schließen dürfen, haben wir im Falle F. nach den vorausge¬
schickten Ausführungen ein Bestehen der Höhle von mindestens
2 1 / 2 jähriger Dauer anzunehmen; daher finden wir hier auch einen aus
geprägten narbigen Gliafilz mit vermehrten Gefäßen, die in der Intima
und Adventitia stellenweise stark verdickt sind.
Wir haben demnach im Falle F. anzunehmen, daß auf der linken
Seite vom Seitenventrikel durch die malacische Höhle der Liquor in
die Arachnoidalzotten gelangt ist und durch dieselben hindurch filtriert
wurde, während auf der rechten Seite die Filtrierung offenbar nur aus
den liquorgefüllten Arachnoideamaschen der Stimhimrinde stattfand.
Diese Filtrierung bei einer im wesentlichen unversehrten Arachnoidea
verbürgt die Femhaltung von Infektionen. Offenbar ist es infolge
der zu starken Durchpressung von Liquor schließlich doch zu Substanz
defekten in der weichen Hirnhaut auf der linken Seite, wo die in feine
Knochenkanälchen eingepreßten Arachnoideazotten wahrscheinlich auch
unter ungünstigen Ernährungsverhältnissen gelitten haben, gekommen.
Durch diese Defekte ist dann die tödliche Infektion emporgekrochen.
Theoretisch wichtig ist noch die Frage, warum die Liquorabflußwege
bei Spontanperforationen gerade im Bereiche der vorderen Schädel¬
grube entstehen, wo die Nähe der Nase und ihrer Nebenhöhlen eine er¬
giebige Liquorableitung ermöglicht. Bezüglich der Usurierung und
Perforation des Knochens könnte man annehmen, daß bei diesen an
sich schon dünnen Knochen, welche kaum je äußere Einwirkungen mit
reparatorischen Vorgängen zu beantworten haben, die Möglichkeit eines
ausgleichenden Wachstums zum mindesten geringer ist, als bei den
Knochen des Schädeldaches, die in manchen Fällen von erhöhtem
Hirndruck nachgewiesenermaßen Ausgleichswucherungen zeigen. Mit
dieser Annahme läßt sich jedoch die Entstehung der malacischen
Höhlen, welche ausschließlich in den Stimlappen beobachtet wurden,
nicht erklären. Wir haben daher wohl zu vermuten, daß gerade am
Boden der vorderen Schädelgruben bei raumbeschränkenden Prozessen
im Schädel der Druck sich stärker auswirkt als sonstwo, innerhalb
des Schädels und zwar wohl ohne Rücksicht auf den Sitz des Tumors.
Zunächst sind offenbar die Seitenventrikel prall mit Liquor gefüllt,
dessen Druck ursprünglich gleichmäßig nach allen Seiten ausstrahlt.
Der Druck der Hemisphären auf das Schädeldach, der in etwa auch
durch die elastischen und liquorgefüllten Arachnoideamaschen abge-
Über die Wege d. Liqaorabflusses bei Spontandurchbruch infolge Hirntumors. 289
federt ist, laßt offenbar entsprechend der frontalen und vertikalen
Richtung des größten Teiles der Fasersysteme der Hemisphären die
Himsubstanz nach den vorderen und hinteren Himpolen ausweichen.
Der Hinterlappen ruht jedoch auf dem derben und elastischen Ten-
torium, während der Stimlappen mit seiner relativ wenig gegliederten
Oberfläche auf den Knochen der vorderen Schädelgrube scharf aufge¬
preßt wird, so daß es schließlich bei genügend langem Bestehen eines
solchen Druckes zu malacischen Herden in der Substanz der Stirn-
himlappen kommen kann. Damit ist auch die Tatsache vereinbart,
daß es im Falle F. auf der trepanierten und daher offenbar in etwa
druckentlasteten Seiten nicht zur Entstehung von malacischen Herden
gekommen ist.
Zusammenfassung:
Beschrieben wird ein Fall von benignem Hypophysengangtumor,
der nach 5 1 / t jährigem Bestehen Spontanperfojation des Liquors in die
Nase zeigte bei einer erheblichen klinischen Besserung bis zu einem
leidlichen Grade von Berufsttichtigkeit für die Dauer von 2 1 / a Jahren.
Tod an Meningitis. Nach dem Sektionsbefunde muß angenommen
werden, daß der Liquor rechterseits aus den Arachnoideamaschen durch
ein in die Siebbeinzellen führendes feines Loch im Knochen hindurch¬
filtriert wurde, während auf der linken Seite der Liquor des Ventrikels
durch eine infolge des erhöhten Himdrucks in der Substanz des linken
Stimlappens entstandene malazische Höhle in Arachnoideazotten hinein¬
gepreßt wurde, die sich in feine Knochendefekte über den linken Sieb¬
beinzellen vorgestülpt hatten und den Liquor in die linke Nase durch¬
filtrierten. Aus dem Befunde läßt sich mit Wahrscheinlichkeit schlie¬
ßen, daß bei raumbeschränkenden Prozessen im Schädel der Druck
auf dem Boden der vorderen Schädelgrube am stärksten ist.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCI1I.
19
Ein Fall extrapyramidaler motorischer Insuffizienz 1 ).
Von
Prof. Dr. M. Gurewitseh.
(Aus der Psy choneurologischen Kinderklinik des Medico-Pädologischen Instituts
zu Moskau.)
Mit 1 Textabbildung.
(Eingegangen am 14. Juni 1924.)
Die wichtigsten größeren Arbeiten, welche die extrapyramidalen
Störungen behandeln (Strümpell , Wilson , C. und 0. Vogt , Förster , Loevy }
Boström , A. Jacob u. a.) beziehen sich auf Fälle mit schweren, krassen
Läsionen entsprechender Systeme; was aber solche Fälle anbetrifft,
bei denen die durch Entwicklungshemmungen oder krankhafte Pro¬
zesse verursachten Eigentümlichkeiten und Alterationen der extrapyra¬
midalen Mechanismen mehr feinerer Art sind, so haben wir in der Lite¬
ratur nur einige wenige Hinweise darauf ( K. Jacob 2 ). Die Erforschung
derartiger Besonderheiten und Veränderungen der Bewegungsfunktionen
ist aber zweifellos außerordentlich wichtig, und zwar nicht nur vom
pathologischen Standpunkte aus, sondern auch zwecks einer exakten
Bestimmung der extrapyramidalen Komponente in den normalen Be¬
wegungen. Da eine Sammlung entsprechender Kasuistik durchaus not¬
wendig und wichtig ist, gestatten wir uns die Veröffentlichung eines
Falles, bei welchem, unseres Erachtens, die extrapyramidale motorische
Insuffizienz, als eine sehr deutlich ausgesprochene anzusprechen ist.
Vorgeschichte. Elias A., lP/ijähr. Stark ausgesprochene erbliche Belastung:
Mutter psychopathisch, schwindsüchtig; in der Verwandtschaft mütterlicherseits:
Tuberkulose, Krebs, Psychosen, Epilepsie; Vater — Psychopath, starb an Fleck¬
typhus, deren Verlauf durch eine Meningitis kompliziert wurde; bei den Verwandten
des Vaters: Tuberkulose, Krebs, Geisteskrankheiten; die männlichen und weib¬
lichen Geschwister des Kranken leiden an Tuberkulose; sehr viele abwegige Per¬
sönlichkeiten im Kreise der Verwandtschaft.
Geboren wurde der Kranke rechtzeitig, jedoch war es ein schwerer Partus,
Asphyxie. Im Alter von 3 Monaten bekam er Krampfanfälle (3 Anfälle im Laufe
1 ) Nach einem in der Moskauer Neurologisch-psychiatrischen Gesellschaft
gehaltenen Vortrage (18. IV. 1924).
2 ) Diese Zeitschrift 89.
M. jEi'u FßJl e-xtrapyramidaJer notorischer 291
titm ein Anfall war ho schwer, daß das Kind dem "lV>de nähe <var‘ ob eine
:lVtnpetttt‘iirsK-ii^fijiog vorhanden war, ist piebt zu ermitteln. Dfc Anteile wieder*
•ho^a-«ißhr : öiöhi‘öiiebjr,‘i , öi Ansciiittö an «ie steiiteii sich aber
: teiirforwjtijgz* FüßcpntataÄtnt, Wii&k&\iyp*rtMi& in den Armen.
Spater haben «ich diese Erscheimmgen bis auf den 8tr^bis*tm«V a.Urgegh'rlieri
uUe Ze>t.. w.ani> bleibt unbelwinnt}. Laufen und Sprühen lernte
3 ÄteOv Stritt Äftiohnete er sich durah dne &n oöe in
dcü Bowgrilig’T'O aua^ konnte nie lachen. Eniw-ai» bis in dag 9. ..JÄjbr{.*?,» würde
außerdem aufh SisdeheifbtÖ beobachtet.
Vm und Schrribvo erlernte ei mit ÖrTuhren fet ohne fremde Hilfe;
^•iiähr. baiF? er tur >Sc}ndev mußtet aber schoti na^lv ; ;%^«hr £<m dort. «pge?rUii-
Jiotto&liigkeit «nd rm^bfedeuer unerwarteter Handlungen entfernt werden,
Ji. XI, 192 1 io die Klinik' Aufgeoormnen.
J&atu« 1 }; lilemvrueUjiig, kr«tt2e gjßte^ritatenV und dißke Hand r und
F&Öftnger; die HWÄ Füße ■cyÄnotiscK
Die Wirbefetile : ; nWbt--^qiigeitd standhaft, Lotdo^e
in der : J^iiö idmbaÜ^ Fupi/Ion-X i StratoftmusomE
v^gt'ita; Au^.'tüiintofgnind*NY; ekktriachc JVfusiaderreg--
batkek-H.:: .Waasenuarin-N.; Abriet*t\abb/m keine Dy«-
ihtikilon endokriner Drüsen. Röntgen i nichts beamt^
an der Khädelkapsel und an den übrigen VSfeetett-
t*iteskesne Paresen und Paraiyse/iv k^iiio Hyperkim^Mn
nirgends Rigiditäten* keine Ataxie Der Kranke ist
vin IJrik&iiätufer. Haltung pytbekoid, jbst«^iondecv
höim Oeliea i,trotz der Lordose). Sebnen- und Haut
Ätlexe normal, Pathologische Reflexe (Babinsky*
Opjfcmheim^^ fehlen. Die
&tn£ibüitüt (jeder Art) ist, den AuritwottPti des Kranken
iiiicAge, erhaiteoi v jxmn hekoituhf abrr wegen eingt tü-
sttffhdttsat. ; der Ab^t«cre.Obx^- dett Eindruck, e Ln o b m
*ieh um eine ^nsibilitat^herab^t^u^’.g (ittfbesemdere
hei dem. Schmerzgefühlei handelt; der K.r£inke n‘agiert
last. gar idrhti aül Striche, aiehi z. II i.Ue Hand nicht
iiulick, gibt akr &ul Fragen %nm richtige /Antworten, _
iie atii $fea Vorhände?^ röher-^
ieiirtsrt? Untersidjcidungen Äii t.r.efbin v hui weiten; dergleichen auch bei der thüt-
fliehen Sensibilität. Die Hautreize werdyd rfchtig lokÄHsitniv
Die Abwehr iwid St*tiutzreflexe sind /^rk;-bHrabgös<^zr: . d*ri» Kf&ida* bleibt
ruhig bei schmerzhafter* Heizen,. bei plötzlich^ fewrgUTigen doa Ihitersnehere
m der Richtung gegen die .Augen dt*.Kranken, %viirn Mtdrnv Unter},, ibsgegend u. dgL
Ep fehlen {odersind ganz schwach o.u-sgedruckt) dir; 3tir-
hewegu.iigen dw Arme büioi Orhun, der Artü^ • tbptij.' d«?^- "BtJuVr; • Drekutig äte
Rumpfes, beim Fallen, bcüfu SchhioHOtten und Aufstehen. ferner die fVtiqntieruiigs-
und Eirtatelit>ewegurigen der Gesichts- und IlalttnuiskrtlÄfcut: Ix t (ibr Fixierung der
AufmerksÄmkeit; hurt der Kranke das Vorh\*m einer anderen fVm>n 4i*> Ai* er-
^hemt et völlig üinaüfineikjsani, blickt zur Seite. — •KöfttfüJHi c 4k^ 1 ',^-ifgiht
es Bich ^b€*r, daß er all<?s, Wört für Wort-, aufgefi>Ut hat,' Aiivl er xtr ist
«eine Antwort» rein worrmäßig, f'ntsprvvhende EinsteIhrogen d^. ivof%^ des Oe*
«iehtö urtd.der Adgoti fehlen voilkornmen,., ' ' f] : V^
‘‘z;:V 1 •>' ? »**• * *** ' ^sf • > • * * *-d ‘ ’• ••'■' . ,4 * ' . '»* •* • .’.• ’ v <* , v • • ' • .* ’ ‘ \
E*»s 4 ^'r/'v .V*)\'V •(' E'*:-//- * i <y % ;•/ 4 v . 4*; ^4: r “•: ‘ • : * > V*y.. • ; i r > VX’» ; VV-^A/*,
') Ahfatig 1924 auigenommen; im ZüatancLtf des Kranken wtiftni im La)i|b
tfe» gBiiztm Aufetithalies In der Klinik keine wesentlichen Änderungen e.ing»\tn-:teri.
’ v : ;‘
292
M. Gurewitsch:
Das Gesicht ist maskenartig, es fehlt jeder Ausdruck; Lachen und Lächeln
sind ihm völlig unmöglich; Weinen und Gähnen macht er; irgendwelche Gebärden
macht er nie. Die Gefühle (abgesehen von dem Weinen, welches übrigens sehr
selten vorkommt) haben keinen mimischen Ausdruck; manchmal schlägt der
Kranke plötzlich auf jemanden los, aber es erscheint plötzlich und unerwartet,
da es seiner Umgebung, wegen der Unbeweglichkeit seines Gesichts, entgangen
ist, daß er sohon längst gereizt und böse ist, daß also sein Angriff begründet war,
daß er durch einen Affekt hervorgerufen war, welchen niemand wahrgenommen hat.
Die Sprache äußerst ausdrucklos, monoton; die Aussprache richtig; Wort¬
schatz durchaus genügend. Der Gang imgeschickt, unrhythmisch, Gangtypus aus¬
gesprochen flexorisch; laufen ist ihm fast vollkommen unmöglich. Äußerst un¬
geschickt in den Bewegungen. Er ist unfähig, auf einem Beine zu stehen (oder zu
hüpfen); das Sich-an- und -ausziehen macht ihm Schwierigkeiten; alle Bewegungen
sind langsam, äußerst ungeschickt und wenig differenziert (kann z. B. das eine
Auge unabhängig von dem anderen weder schließen, noch öffnen u. dgl.); ist je¬
doch fähig, sich mit Hilfe der Arme auf den Kopf zu stellen. Nach der metrischen
Stufenleiter 1 ) der motorischen Begabung ist er einem 4jähr. Kinde gleichzusetzen
(die Zurückgebliebenheit entspricht also fast 8 Jahren). Genügende grobe Kraft
der Arme und Beine.
Psyche. Intellektuell ist er gut entwickelt, was, seinem äußeren Habitus
nach, schwer zu erwarten wäre; die Prüfung nach Bi net ergibt keine Zurück¬
gebliebenheit; bei der Prüfung nach Rossolimo gibt er sehr gute Antworten auf
Fragen, welche Kombinations- und Urteilsfähigkeit erfordern; etwas schlechter
steht es mit der Aufmerksamkeit und mit dem Gedächtnis für Zahlen. Seine Kennt¬
nisse sind im ganzen durchaus genügend. Das Lesen geht sehr gut, das Schreiben
etwas schlechter wegen der Ungeschicktheit der Bewegungen; hat Interesse für
Naturkunde. Hat feste Überzeugungen: seine Familie gehört zu Tolstois Nach¬
folgern — er nimmt nur vegetarische Kost zu sich, tut es ganz bewußt und gibt
ganz gescheite Erklärungen darüber, warum er es für unrichtig hält, Fleisch zu
essen. Er ist ziemlich gesellig, wird von den anderen Kindern geachtet; ist aber
reizbar, und zwar des öfteren; seine Aggressivitäten und seine anderen Ausschrei¬
tungen, sein Starrsinn, seine Unfolgsamkeit gegenüber der Disziplin machen ihn,
trotz des guten Intellekts, für das normale Kindermilieu ungeeignet.
Die Dysharmonie der intellektuellen und motorischen Fähigkeiten, die Disso¬
ziation zwischen den Affekten und ihrem motorischen Ausdruck, zwischen der
Aufmerksamkeit und den mit ihr verbundenen motorischen Einstellungen, der
Mangel an normalen Automatismen, die Undurchdringlichkeit der maskenartigen
Physiognomie, die Plumpheit der pythekoiden Figur, die Ungeschicklichkeit aller
Zweckbewegungen — alle diese Besonderheiten verleihen der Persönlichkeit des
Kranken die Charaktere des Sonderbaren, des Ungewöhnlichen.
Zusammenfassung.
Wir haben vor uns einen Knaben mit normalem Intellekt, mit ge¬
wissen Abweichungen auf dem Gebiete der Affektivität und einer deut¬
lich ausgesprochenen motorischen Insuffizienz bei völligem Mangel aller
Hinweise auf das Vorhandensein pyramidaler Läsionen. Die starke Herab¬
setzung der Mimik und Pantomimik, der Abwehr- und der assozierten
1 ) Eine besondere vom Assistenten unserer Klinik Dr. N. Oseretzky , verfaßte
Stufenleiter für motorische Begabung, die wir bei der Kinderuntersuchung an-*
wenden.
Ein Fall extrapyramidaler motorischer Insuffizienz.
293
automatischen Bewegungen weist ohne Zweifel auf eine Störung der Funk¬
tionen der extrapyramidalen motorischen Systeme hin. Dem Ausfall
der extrapyramidalen Bewegungskomponente entspricht auch das Vor¬
handensein der Ungeschicktheit, der Langsamkeit der Bewegungen, der
Schwäche der Rückenmuskulatur und des pythekoiden Haltung. Der
bessere funktionelle Zustand der Arme (die Fähigkeit zu schreiben, auf
dem Kopfe, mit Hülfe der Arme, zu stehen und dgl.), im Vergleiche zu
der Schwäche der Rumpfmuskulatur und zu der Gangveränderung kann
entweder mit somatotopischen Eigentümlichkeiten der Läsion oder auch
noch durch den Umstand erklärt werden, daß der Ausfall der extrapyra¬
midalen Bewegungskomponente, seinem Wesen nach, mehr am Rumpfe
und den unteren Extremitäten sich ausdrücken muß, als an den oberen
Extremitäten, weil in der Innervation dieser letzteren die erhaltene
corticale Komponente eine größere Rolle spielt. Interessant ist in un¬
serem Falle die Gangalteration im Sinne des Dominierens der Flexions¬
mechanismen, was ebenfalls durch den Ausfall der extrapyramidalen
Innervation erklärt werden kann; nach Scherrington bezieht sich diese
letzte hauptsächlich auf die Extensoren; wir können also die Gangstö¬
rung in unserem Falle als Folge einer gewissen Alteration des „walking
reflex“, auf Grund der extrapyramidalen Insuffizienz, ansehen.
Die Besonderheiten der Bewegungsfunktionen, die bei unserem
Kranken vorhanden sind, lassen sich also durch eine Läsion extrapyra¬
midaler Mechanismen erklären, welche Läsion in diesem Falle, als ziem¬
lich rein und isoliert ausgesprochen, sich darstellt.
Bei der Kompliziertheit der extrapyramidalen Systeme und ihrer
gegenseitigen Beziehungen ist eine exaktere Lokalisation ohne Autopsie
kaum möglich. Die Frage nach der Ätiologie ist sehr schwierig. Die
Möglichkeit des heredo-degenerativen Ursprungs des Leidens erscheint
keinesfalls vollkommen ausgeschlossen (die schwere Belastung des
Kranken könnte darauf hinweisen), aber wenn wir den Krankheits¬
anfang berücksichtigen (Anfälle mit anschließend sich entwickelnden
neurologischen Symptomen, welche sich nachher teilweise, dank den
Kompensationsfähigkeiten des wachsenden Organismus, ausgleichen), so
wird es schwer sein, das exogene Moment in Abrede stellen zu wollen. Wir
sind geneigt zu vermuten, daß unser Fall zu den partiellen infantilen
Sklerosen des Striatum im Sinne von S. ChoUz l ) gehört, welcher Autor
in der Ätiologie dieser Affektionen u. a. den exogenen Faktoren eine
Bedeutung zuschreibt.
*) Diese Zeitschrift 88.
Über hereditäre cerebellare Ataxie in Verbindung mit
Pigmentdegeneration der Retina (Retinitis pigmentosa) und
Degeneration des N. cochlearis.
Von
Dr. med. Otto Clau£.
(Aus der Universitäts-Klinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten Tübingen. —
Vorstand: Prof. Dr. Oaupp.)
(Eingegangen am 26. Juni 1924.)
Die hereditären degenerativen Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems zeigen bekanntlich häufige Übergänge untereinander; es scheint
deshalb bei vielen Autoren die Neigung zu bestehen, nur Trennungen
ihrem Wesen nach deutlich unterschiedener Krankheitseinheiten be¬
stehen zu lassen. Mindestens gilt dies von der Friedrichschen Krank¬
heit und der Hörödoataxie cöröbelleuse (P. Marie ), die schon im Hand¬
buch von Lewandowsky 1911 unter dem Begriffe der ataktischen Here-
dodegenerationen, sonst auch andernorts unter dem der heriditaren cere-
bellaren Ataxie gemeinsam auf geführt werden; Mischformen dieser
beiden Unterarten sind in der Literatur ja oft genug verzeichnet worden,
ebenso auch ihr Vorkommen nebeneinander — manchmal in nur rudi¬
mentärer Anlage — in den gleichen Familien. Allen heredo-degenera-
tiven Systemerkrankungen gemeinsam ist die Vergesellschaftung der
einigermaßen begrenzten Formen mit Erkrankungen anderer nervöser
Einheiten, von denen jeweils behauptet oder auch bestritten wird, daß
sie zum „typischen Bild“ gehören, und die sozusagen als Zutaten in
wechselnder Seltenheit in Erscheinung treten. Bei der heriditären
Kleinhirnataxie werden so beispielsweise angeführt: Optikusatrophie,
Nystagmus, Blicklähmung, Drehschwindel, Sprachstörung, Schluck¬
lähmung, Muskeldystrophie, Myotonie, Sensibilitätsstörung, Sphinkter¬
störung, Epilepsie, Idiotie und psychische Störungen verschiedener
Art. Wenn die P. Marie sehe Form an für sich schon so selten ist,
daß nach Curschmann 1 ) die Veröffentlichung jedes neuen Falles ange¬
zeigt ist, dann gilt dies wohl besonders auch dort, wo eine Erweiterung
des eigentlichen Krankheitsbildes durch Beteiligung anderer nervöser
Einheiten am degenerativen Prozeß statt hat. In der deutschen, fran¬
zösischen und der dort genannten ausländischen Literatur finde ich nur
0. Clauß: Über hereditäre cerebeUare Ataxie«
295
wenige Fälle von heriditärer cerebellarer Ataxie im Verein mit Pigment¬
degeneration der Retina und solche mit Hörstörungen. Frenkel und
Dide 1 ) beschreiben 3 Schwestern, die an Kleinhimataxie, Retinitis
pigmentosa und Atrophie der Papille, sowie an psychotischen Erschei¬
nungen litten. Lenoble und Aubineau*) berichten von 2 Fällen einer
Mischform Friedreich-Marie, beide mit Retinitis pigmentosa, der eine
mit, der andere ohne Atrophie der Papille. Variot und Bonniot 4 ) teilen
die Krankengeschichte eines Kindes mit, bei dem Kleinhimataxie und
Schwerhörigkeit im Alter von 10 Jahren auftraten. Klippel und DuranU 5 )
erwähnen 2 Glieder einer Ataxiefamilie, bei denen Hörstörungen vor¬
handen waren. Daß deutsche Autoren bisher keine ähnlichen Kombina¬
tionen anführen konnten, mag mit der verhältnismäßig größeren Sel¬
tenheit der hereditären degenerativen Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems in Deutschland Zusammenhängen.
In unserer Klinik kam neuerdings ein Fall der Marie sehen Form der
hereditären Kleinhimataxie zur Beobachtung, der sich durch die bis¬
lang nicht beschriebene Verbindung mit typischer Pigmentdegeneration
der Retina und Degeneration des N. cochlearis auszeichnet.
Die 42jährige ledige Wilhelmine W. aus Denkendorf bei Eßlingen stammt
aus einer Bauemfamilie und ist das dritte von 3 Geschwistern aus der zweiten Ehe
des Vaters; die beiden anderen Geschwister starben im Säuglingsalter (unbekannter
Ursache). Aus erster Ehe leben 3 gesunde Stiefgeschwister, 1 Stiefschwester
starb an Magengeschwür. Der Vater starb mit 67 Jahren 1904 an „Alter-
schwäche“; die Mutter, 77 Jahre alt, hört schwer seit Jahresfrist, ist sonst gesund.
Die Mutter des Vaters, geborene Lang (1807—1867), soll ein ähnliches Leiden wie
W. gehabt haben; von ihr hieß es im Dorfe: „Sie sieht net gut und hört net gut
und kann net weidle ( = weidlich) laufen/ 4 Meine vielfachen Erkundigungen in
der Gemeinde, gerade auch bei den älteren Leuten, ergaben eine offenbare Be¬
stätigung dieser Mitteilung: die Großmutter der W. war „lange Jahre augenleidend
und hörte schon frühzeitig recht schwer“; in jüngeren Jahren habe man „beim
Gehen nichts bemerkt“, später habe sie „kaum mehr das Haus verlassen können 44
und sei so wenig leistungsfähig gewesen, daß eine Haushälterin eingestellt werden
mußte — in bäuerlichen Verhältnissen wohl eine gewiß nur aus zwingenden Gründen
erfolgte Maßnahme. Sonst kamen in den Familien beider Eltern keine Erkran¬
kungen vor, die etwa für die Frage der Vererbung in Betracht zu ziehen sind.
W. hatte mit 6 Jahren Scharlach; schon vorher war aufgefallen, daß sie schlecht
hörte. In der Schule mußte sie wegen der Schwerhörigkeit in der vordersten Bank
sitzen; im Laufe der Jahre nahm diese langsam noch weiter zu, so daß man seit
längerer Zeit sich nur noch durch Schreien mit ihr verständigen konnte. In den
30er Jahren ließ die Sehkraft mehr und mehr nach; seit ungefähr 2 Jahren kann
W. nicht mehr lesen und keine Personen mehr erkennen. Vor 7—8 Jahren wurde
der Gang „unsicher und schwerfällig“; auch diese Störung nahm langsam zu.
Immerhin konnte W., die seit ihrer Schulentlassung in der elterlichen Landwirt¬
schaft mithalf, noch bis vor 2 Jahren auf dem Felde arbeiten. Ebensolange als die
Gehstörung reicht eine gewisse leichte Blasenstörung (Urinverhaltung) zurück.
Seit 4 Monaten hat sich das Gehen rasch verschlechtert, so daß W. ohne fremde
Hilfe oder Festhalten an Möbeln sich nicht mehr im Zimmer fortbewegen konnte;
Treppensteigen sei eher noch möglich gewesen als Gehen auf ebenem Boden:
296 0. Clauß: Über hereditäre cerebeU&re Ataxie in Verbindung mit Pigrnent*
Sie habe geschwankt wie eine Betrunkene. Eine Abnahme des Gedächtnisses und
der Merkfähigkeit wurde von den Angehörigen nicht wahrgenommen; dagegen
fiel in den letzten 5 Jahren eine Verminderung der geistigen Regsamkeit auf:
„Sie tut nicht, sie redet nicht, sie deutet nicht.“ Eine gewisse Empfindlichkeit
und Rührseligkeit wurde in letzter Zeit bemerkt. Die Periode verläuft noch regel¬
mäßig, ist etwas stark.
Die Untersuchung ergab:
Körperlich: mittelgroß, etwas untersetzt, guter Ernährungszustand. Innere
Organe o. B. Temperatur, Urin o. B.
Pupillen übermittel weit, r. = 1., 1. nicht ganz zentriert, etwas queroval;
reagieren nicht auf Licht (Konvergenzprüfung nicht möglich, da nicht fixiert
wird). Leichter Strabismus div. links, kein Nystagmus.
Augenhintergrund (Dr. Schürer , Univ.-Augenklinik): Visus: Handbewegungen
in 20 cm. Lichtschein wird allerseits nur in etwa 5—10° vom Fixierpunkt wahr¬
genommen. Typische Retinitis pigmentosa, zahlreiche Pigmentflecke bis in die
Nähe der Papille (Form zusammengeilossener Knochenkörperchen). Papille
wachsfarben. Gefäße schmal.
Gehör und Bogengangsystem (Dr. Steurer , Univ.-Ohrenklinik): Trommelfell
beiderseits getrübt. Flüstersprache beiderseits am Ohr gehört. Umgangssprache:
r. 2—2 l / a m, 1. 3 m. Rinne beiderseits +. Knochenleitung beiderseits verkürzt
( r - 1* 8 lu")' Untere Tongrenze beiderseits C 2 gehört, obere Tongrenze G*.
Bei der calorischen Prüfung beiderseits nach 25 ccm lebhafter Nystagmus und
subj. Schwindelgefühl. — Es besteht also Innenohrschwerhörigkeit (Cochlearis-
degeneration) ziemlich starken Grades bei erhaltener (eher gesteigerter) Vestibulär-
reaktion. ... Sitz des degenerativen Prozesses mit Wahrscheinlichkeit nicht
im peripheren Apparat, sondern im Cochlearisstamm ...
Sprache: auffallend langsam, monoton, doch gut artikuliert.
Übrige Hirnnerven o. B.
Arme: o. B. Reflexe lebhaft. Keine deutliche Adiadochokinese.
Bauchdeckenreflexe fehlen beiderseits.
Beine: Grobe Kraft nicht nachweisbar herabgesetzt; keine Atrophie. Patellar-
refl. r. = 1. gesteigert, von Tibia aus auslösbar; erschöpfbarer Klonus. Adductoren-
refl. r. = 1. schwach +• Achillessehnenrefl. r. = 1. gesteigert; erschöpfbarer
Fußklonus. Babinski beiderseits -f-f; keine anderen pathol. Reflexe. Beiderseits
Hypertonie der Muskulatur, r. = 1. Keine deutliche Ataxie bei Kniehacken-
und Zeige versuch. Keine Zeichen der Asynergie cöröbelleuse (Babinski) bei Auf*
richten des Rumpfes aus Rückenlage.
Gang (nur mit Unterstützung möglich): Beine dabei spastisch-steif, die Gro߬
zehenballen schleifen am Boden, Neigung der Großzehen zur Stellung in Dorsal¬
flexion; der Rumpf wird vor den Beinen nach vorwärts gebracht, ist mangelhaft
fixiert und befindet sich zu den Beinen nicht in der zugeordneten Gleichgewichts¬
lage, so daß ein Torkeln wie beim Betrunkenen zu entstehen droht und bei der
Unmöglichkeit rascher Korrektur durch die Beine das Umfallen aufgeh<en
werden muß; auch beim Stehen mit offenen und geschlossenen Augen fällt der
Oberkörper zur Seite oder vornüber.
Hautsensibilität und Tiefensensibilität: Störung nicht nachweisbar.
Wassermannsche Reaktion im Blut: negativ, im Liquor cerebrospin. (aus¬
gewertet nach Hauptmann): negativ. Lumbalpunktion: Druck 110/65 mm.
Nonne-Apelt: leichte Opalescenz. Keine Eiweißvermehrung, keine Zellvermehrung
(Fuchs- Rosenthal: ®/ 4 Lymphocyten).
Psychisch. Die zur Vorgeschichte gemachten Angaben der Angehörigen
bestätigen sich im wesentlichen. Ein Ausfall intellektueller Fähigkeiten ist nicht
degeneration d. Retina (Retinitis pigmentosa) u. Degeneration des N. cochlearis. 29 7
nachweisbar; Gedächtnis und Merkfähigkeit sind erhalten. Ein Mangel an geistiger
Regsamkeit ist deutlich; W. liegt ziemlich apathisch zu Bett, äußert kaum Wünsche,
ist von einer geradezu rührenden Geduld und Bescheidenheit. Der Umgang mit ihr
ist durch ihre Schwerhörigkeit erschwert; aus ihr erwachsen der W. keine Be-
eintrachtigungsideen. Ihre Stimmungslage ist gleichmäßig gelassen, nicht gedrüokt;
eine gewisse euphorische Ergebenheit in das Schicksal scheint in der psychischen
Veränderung, nicht etwa in religiösen Gedankengängen zu wurzeln.
Die P. Marie sehe Form der Kleinhirnataxie zeigt in dem vorliegen¬
den Falle durch die spastischen Symptome der unteren Gliedmaßen
einen gewissen Übergang zu den sogenannten spastischen Herodegene¬
rationen, wie denn überhaupt die „ganz reinen Formen“ eher seltener
sind als Mischformen der verschiedenen Arten.
Die beschriebene Vergesellschaftung degenerativer Veränderungen
des Zentralnervensystems weist auf die Frage der ursächlichen Entste¬
hung hin.
Für die Pigmentdegeneration der Retina, auch in ihrem typischen
Bild ohne Beteiligung der Chorioidea, wird von manchen Autoren 6 )
hereditäre Lues, selbst von 2—3 Generationen zurück, verantwortlich
gemacht; und auch die Bilder Friedrich&chev und Marie scher Ataxie
sind von Schob 1 ), QianeUi 8 ), Pon$e de Leon 9 ) u. a. m. bei hereditärer Lues
beschrieben werden. Die besonderen Untersuchungen ergaben jedoch
bei W. keinen Anhaltspunkt für solche Ursache des Leidens. Von Kon-
sanguinität unter den Vorfahren ist nichts bekannt. Wenn auch die
Angaben über die schon 1867 verstorbene Großmutter der W. nur einen
bedingten Wert besitzen, so ist doch die hereditäre Belastung dorther
wahrscheinlich. Dieser Stammbaum ließe einen indirekten, wahrschein¬
lich rezessiven Vererbungsmodus (von der kranken Großmutter über
den gesunden Vater auf eine kranke Enkelin) erkennen; dies entspricht
allerdings nicht den früheren erbbiologischen Beobachtungen 10 ), die bei
der einfachen, nicht mit anderen Degenerationen vergesellschafteten
Kleinhimataxie einen direkten domimanten Vererbungstypus verzeich¬
nen; bei der Pigmentdegeneration der Retina ist bisher schon Rezessi-
vität festgestellt worden. Es erhebt sich demnach die Frage, ob es sich
bei der genannten Kombination mehrfacher degenerativer Prozesse
des Zentralnervensystems um eine besondere genotypische Erkrankung
handelt, die von der einfachen erblichen Kleinhirnataxie in konstitutio¬
neller Hinsicht verschieden ist: die Entscheidung darüber muß natürlich
einem größeren Material überlassen bleiben.
Bei all dem mm ist mit der Beschreibung des eigenartigen Falles nur
ein Beispiel einer offenbar besonders seltenen Vergesellschaftung here-
ditär-degenerativer Krankheitsprozesse im Zentralnervensystem ge¬
geben; zu der noch immer dunklen Frage der eigentlichen und letzten
Entstehungsweise der Heredodegenerationen ist kein Beitrag gebracht.
298
0. Clauß: Über hereditäre cerebeüare Ataxie.
Literaturverzeichnis.
l ) Cursckmann, 27., Zur Kenntnis der hereditären cerebellaren Ataxie. Dtech.
Zeitschr. f. Nervenheilk. 1922 S. 225. — s ) Frenkd et Dide, Rätinite pigmentaire
avec atrophie papillaire et ataxie c^belleuse familiales. Rev. neurol. 1913, Nr. 11,
S. 729. — *) Lenoble et Avbineau, Maladie nerveuse familiale intermediaire entre
la maladie de P. Marie et la maladie de Friedreich. Rev. neurol. 1901, S. 393. -
4 ) Variot et Bonniot, H6r6doataxie cer^belleuse pr6coce avec troubles auditife.
Rev. neurol. 1907, S. 298. — B ) Klippel et Durante, Rev. de m&L 1892, zit. nach
Variot et Bonniot 4 ). — Ä ) Leber , Handbuch der ges. Augenheilkunde VII 2, S. 1154.
7 ) Schob, Über der Friedreichschen Erkrankung ähnliche Krankheitabilder bei
hereditärer Lues. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 15 , H. 1 u. 2. 1913.—
8 ) Gianeüi, Beitrag zum Studium der hereditären Lues (Friedreichsches Syndrom)
Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 3 #, H. 1.1911. — •) Pon$e de Leon, Friedieich-
scher Symptomenkomplex bei einem hereditär Luetischen. Soc. de pediatr. Monte¬
video, 23. X. 1920. — 1# ) Lenz, F.,in: Menschliche Erblichkeitslehre (Baur-Fischer-
Lenz). 1923. S. 275.
Zur Frage des archaisch-primitiven Erlebens und Denkens
ln der Schizophrenie.
Von
Dr. Albrecht Langelfiddeke.
(Aus der Psychiatrischen Universitätsklinik und Staatskrankenanstalt Hamburg-
Friedrichsberg. — Direktor: Professor Dr. W. Wcygandt.)
(Eingegangen am 20. Juni 1924.)
In letzter Zeit sind mehrere Arbeiten 1 ) erschienen, die den Beweis
zu führen suchen, daß das akute Erleben und Denken der Schizophrenen
mit jenem primitiver Verbände identisch oder zum mindesten ihm sehr
ähnlich sei. Mir schien es angebracht, die Bedenken, die ich dieser Be¬
weisführung gegenüber habe, kurz auseinander zu setzen.
Zwei Fragen sind es, die uns dabei vornehmlich zu beschäftigen
haben: 1. Wie weit ragt in unser heutiges entwickeltes Denken primi¬
tives 2 ) Denken hinein und 2. wie sind primitive Vorstellungen einerseits
und schizophrene andererseits entstanden und welche Unterschiede
finden sich zwischen beiden?
Die erste Frage wird auch von Bychowski*) angeschnitten; er er¬
innert an den Aberglauben und an unsere religiösen Dogmen. Gerade
das letzte Gebiet scheint mir besonders wichtig, weil sich hier auch
Gebildete, ja sogar Gelehrte von Anschauungen nicht frei machen
können, die jedem logischen Denken widersprechen. Nur einige wenige
Beispiele, die zum Teil auch von Bychowski 4 ) angeführt sind: das christ-
a ) A. Storch , Über das archaische Denken in der Schizophrenie. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psychiatrie 18, S. 500. — Derselbe, Das archaisch-primitive Erleben
und Denken der Schizophrenen. Berlin: J. Springer 1922. (Diese Arbeit von
Storch ist ausschließlich zitiert.) — 0. Bychowski , Metaphysik und Schizophrenie.
Berlin: S. Karger 1923. — Von Domarus , Prälogisches Denken in der Schizophrenie.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 87, S. 84.
Ä ) „Primitiv“ bedeutet in dieser Arbeit immer ein im phylogenetischen Sinne
Früheres.
*) Bychowski, a. a. 0. S. 126ff.
4 ) Bychowski, a. a. O. S. 130 f.
300
A. Langelüddeke:
liehe Dogma lehrt die Existenz eines persönlichen, allgegenwärtigen
Gottes; beide Eigenschaften sind logisch miteinander nicht vereinbar,
da der Begriff „Persönlichkeit“ eine Begrenzung voraussetzt, die durch
die gleichzeitig geforderte Allgegenwart wieder aufgehoben wird. Ebenso
steht die Vorstellung von der Dreieinigkeit Gottes mit den logischen
Gesetzen durchaus im Widerspruch. Der Versuch, diese Dogmen philo¬
sophisch zu begründen, hat ihre logischen Möglichkeiten nicht ver¬
bessert. Sind diese Vorstellungen immerhin erst neueren Datums,
so lassen andere doch den primitiven Ursprung deutlich erkennen.
Die Taufe, das Fegefeuer sind aus den primitiven Lustrationsriten
entstanden 1 ). In der Gestalt der Engel klingen Reste der uralten Vor¬
stellung des Seelenvogels und anscheinend auch eines Tierkultes an 2 ).
„Der Kultus“ schließlich, „der sich gelegentlich etwa dem einzelnen
Muttergottes- oder Heiligenbild zuwendet, und die Wunderwirkung,
die ihm beigemessen wird, sie tragen offenbar alle Merkmale des echten
Fetischismus an sich, ohne daß die nebenhergehende Anlehnung an
die höhere Religionsform einen wesentlichen Unterschied begründet 2 )“.
Diese kurzen Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, wie wenig reli¬
giöse Vorstellungen dem Verstände unterliegen. Mehr als anderswo
gilt hier, daß das Alte geheiligt sei, und den meisten Gläubigen kommt
überhaupt erst gar nicht der Gedanke, daß sich in dem, was sie glauben,
Widersprüche finden; ihr Glaube ist für sie durchaus nichts Wunder¬
bares, sondern etwas ganz Selbstverständliches, das für sie außerhalb
der Diskussion liegt.
Ähnlich ist es mit einem zweiten Gebiete, dessen Bedeutung fast
ebenso groß ist, ja in manchen Gegenden vielleicht noch größer als die
der religiösen Vorstellungen: ich meine den Aberglauben. Glaube und
Aberglaube sind oft miteinander verbunden. In der Tat haben sie auch
viel Gemeinsames; der Glaube an den bösen Blick und jener an die
Wunderkraft des Zeugfetzens von irgendeinem Heiligen unterscheiden
sich nur dadurch, daß der letztere durch die Kirche sanktioniert
ist, der erste nicht. Nun spielt ja der Glaube an Vorzeichen,
Kartenlegen usw. auch in den Kreisen Gebildeter noch immer eine
nicht imbeträchtliche Rolle, worauf auch Bychowski 4 ) hinweist; doch
ist er bei ihnen in der Regel nur potentiell vorhanden und pflegt
doch den Entschluß nicht wesentlich zu beeinflussen. Ganz anders
bei der ungebildeten Bevölkerung! Der Glaube an Hexen, Gespenster,
an die Wirkung von Zaubersprüchen usw. kommt nicht nur in zahl-
*) W. Wundt , Völkerpsychologie 4 (2), S. 413 und 418.
2 ) W. Wundt , Völkerpsychologie 4 (2), S. 160.
3 ) W . Wundt , Völkerpsychologie 4 (2), S. 313. Auch Bychowski weist auf den
primitiven Ursprung des Heiligenkultes usw. hin.
4 ) Bychowski , a. a. 0. S. 128f.
Zur Frage des archaisch-primitiven Erlebens und Denkens in der Schizophrenie. 301
reichen Gebräuchen und Sitten, deren eigentlicher Sinn oft verloren
gegangen ist, noch zum Ausdruck, er gehört vielmehr noch zur festen
Überzeugung dieser Menschen, die ernsthaft mit Andersdenkenden
darüber diskutieren, ihre Ansicht zu beweisen suchen und sich durch
die besten Gründe nicht von ihrem Glauben abbringen lassen. Eine
Zusammenstellung dessen, was an abergläubischen Vorstellungen und
Gebräuchen vornehmlich noch im deutschen Volke vorhanden ist,
hat Wvüke 1 ) gegeben. Nur wenige Beispiele, deren primitive Ent¬
stehung besonders schön zutage tritt: in Tirol gewinnt der Jäger ein
scharfes Auge und Mut in Gefahren, wenn er Adlerflaum am Hute
trägt; dieser wird daher teuer bezahlt 2 ). Bei Feuersbrunst wendet
man den Wind, indem man einen Backtrog mit der hohlen Seite auf die
Windseite des brennenden Gebäudes setzt und ihn dreimal herumdreht;
das wird in der Lausitz, dem Erzgebirge, in Böhmen, Schlesien und
in der Oberpfalz geglaubt 3 ). Die Beziehung zum Analogiezauber ist
hier ebenso unverkennbar, wie bei der durch ganz Deutschland gehenden
Sitte, sich zu bestimmten Zeiten gegenseitig mit Wasser zu begießen;
die ursprüngliche Absicht, dadurch Regen zu bewirken, hat sich noch
heute in Ostpreußen erhalten, wo die letzte von der Ernte heimkehrende
Magd mit einem Ährenkranz geschmückt und an der Tür des Hauses
von dem anderen Gesinde über und über mit Wasser begossen wird 4 ).
In dieser Magd dachte man sich ursprünglich einen Vegetationsdämon
verkörpert 5 ). In Franken verschluckt man, um den Geliebten an sich
zu fesseln, eine Muskatnuß ganz, pulvert sie, wenn sie wieder abge¬
gangen ist, und mischt sie dem Geliebten ins Essen; in Böhmen mischt
man zum gleichen Zwecke männlichen Samen der Speise oder dem Trank
der Geliebten bei 6 ). Eine große Rolle im modernen Aberglauben
spielen die Haare. Achselhaare dienen in Böhmen als Liebesmittel,
indem sie — gepulvert und in Brot gebacken — denjenigen, der davon
ißt, unlösbar an den Spender ketten 7 ); um einem Hunde das Fortlaufen
A ) A . Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart, dritte Bearbeitung
von E. H. Meyer. Berlin: Wiegandt und Grieben 1900. Dort finden sich auch
Hinweise auf andere Werke, von denen namentlich die „Deutsche Mythologie“
von Jac. Grimm und die verschiedenen Arbeiten von W. Mannhardt , Germanische
Mythen (1858), Die Götterwelt der deutschen und nordischen Völker (1860), Der
Roggenwolf und Roggenhund (1865), Die Komdämonen (1868), Wald- und Feld¬
kulte, 2 Bdc. (1875 und 1877) und Mythologische Forschungen (1884) erwähnt
seien.
*) Wuttke, a. a. O. S. 453. Ich darf hier der Kürze halber auf ein weiteres Ein¬
gehen verzichten.
8 ) Wuttke , a. a. O. S. 443.
4 ) Wuttke, a. a. O. S. 93 und 424; Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1, 214.
ft ) Wundt , Völkerpsychologie 4 (2), 549.
•) Wuüke, a. a. O. S. 336.
7 ) Wuttke , a. a. O. S. 366.
302
A. Langelüddeke:
abzugewöhnen, zieht man ihm im Oldenburgischen drei Haare aus
und legt sie unter ein Tischbein in der Küche 1 ). Wenn ein Kind
Krämpfe hat, so reißt ihm in Waldeck der jüngste Pate ein Haar
aus und wirft es ins Feuer. Ähnlich vergräbt man einen Büschel
Haare und einige Nägel des Kranken in die Erde, um die Krankheit,
besonders Fieber, zu bannen [in Franken und Oldenburg 2 )]. Die
Zauberkraft des Blutes, namentlich von Hingerichteten, gilt als be¬
sonders groß: „Bei der Hinrichtung eines Raubmörders in Hanau 1861
stürzten viele Menschen auf das Blutgerüst und tranken von dem
rauchenden Blute“ und in Berlin erhielten die Scharfrichtergehilfen
für jedes in das Blut von 2 Mördern getauchte Schnupftüchlein
2 Taler 8 ). Wuttke sieht in diesen Erscheinungen mit Recht die Reste
des einstigen Menschenopfers 4 ). Diese wenigen Beispiele ließen sich
beliebig vermehren.
Was sieht man daraus ? Primitives Denken reicht nicht nur in spär¬
lichen Resten in unsere Zeit hinein; es beherrscht vielmehr noch weite
Gebiete innersten Fühlens und Erlebens und greift dadurch kräftig
auch in solche Kreise geistigen Lebens hinein, in denen eigentlich nur
der Verstand herrschen sollte. Das zeigt, um nur auf einzelnes hin¬
zuweisen, der Prozeß, den man 1633 Galilei machte, weil er die ketze¬
rische Behauptung aufstellte, die Sonne stehe still und die Erde bewege
sich; das zeigt in der neuesten Zeit die Ablehnung, die der Darwinsche
Entwickelungsgedanke vielfach in kirchlich-religiösen Kreisen gefunden
hat. Und auf dem Lande macht noch immer die weise Frau, welche die
Krankheiten der Kühe und Menschen bespricht, dem Tierarzt wie dem
Menschenarzt erfolgreich Konkurrenz; beide wissen das und rechnen
damit.
Obwohl nun bei vielen religiösen Anschauungen sowohl wie beim
modernen Aberglauben der primitive Charakter klar zutage liegt,
so steht es doch außer allem Zweifel, daß alle diese Vorstellungen nicht
schizophren sind. Will man also zugeben, daß das schizophrene Denken
ebenfalls primitiv sei, so müssen notwendig zwischen normal-primitiven
und schizophren-primitiven Gedankengängen erhebliche Unterschiede
angenommen werden. Mit Recht spricht daher Gruhle 5 ) von „äußer¬
lichen Ähnlichkeiten“. Beide Denkarten würden sich dann ebenso
dem gemeinsamen Oberbegriff des primitiven Denkens unterordnen,
wie etwa ein Hering und ein Zitterrochen sich jenem der Fische sub-
x ) Wuttke, a. a. 0. S. 433.
2 ) Wuttke, a. a. 0. S. 331.
8 ) Wuttke , a. a. O. S. 138.
4 ) Wuttke , a. a. 0. S. 136.
6 ) Gruhle , Die Psychologie der Dementia praecox. Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
u. Psychiatrie 78, 470.
Zur Frage des archaisch-primitiven Erlebens und Denkens in der Schizophrenie. 303
summieren lassen. Und die Aufgabe, die Unterschiede zwischen nor¬
malem und schizophrenem Denken herauszuarbeiten, würde nur auf
eine tiefere Denkstufe verschoben.
Damit kommen wir zur Frage nach der Entstehung schizophrener
und primitiver Gedankengänge. Krüger l ) sagt: „Bei seelischen Tat¬
beständen jeder Art bleibt eine bloß morphologische Zerlegung im besten
Falle unvollständig. Je zusammengesetzter aber die zu begreifenden
Vorgänge sind, je mehr sie früheres Erleben voraussetzen, um so mehr
bedarf es ausdrücklicher Fragestellung, methodischer Vergleichung
und begrifflicher Verknüpfung im Sinne von Notwendigkeiten der
Entwicklung, soll auch nur das in einem einzelnen Bewußtseinsquer¬
schnitt wirklich Enthaltene ermittelt und brauchbar beschrieben
werden...“ Diesen Satz hätte Storch m. E. sehr beachten müssen;
denn er begeht fast in sämtlichen von ihm angeführten Beispielen den
grundlegenden psychologischen Fehler, daß er nur den morphologischen
Tatbestand berücksichtigt. Psychologisch gesehen ist aber a nicht = a;
ein Totschlag im Affekt ausgeführt ist etwas anderes als ein mit
Überlegung ins Werk gesetzter Totschlag, für den deshalb ja auch
die Sprache ein anderes Wort hat. Ist daher schon bei in der Gegen¬
wart liegenden psychologischen Tatbeständen die genetische 2 ) Frage¬
stellung eine Bedingung, ohne die wir nicht zu einer der Wirklichkeit
angenäherten Erkenntnis kommen können, so wird sie zur unabweis¬
baren Notwendigkeit, wenn es sich um Gedankengänge handelt, die
unter so verschiedenen inneren und äußeren Bedingungen zustande
gekommen sind.
Wenn daher ein Kranker Storche?) sich mehrfach in auffälliger
Weise aus dem Bett fallen läßt und dieses Verhalten mit den Worten
begründet: „Um die Welt in Umwälzung zu bringen, daß das Rad
seinen Schwung erhalte,“ und wenn Storch dieses Verhalten in Be¬
ziehung setzt zu dem Priesterkönig auf Neuguinea, der sich nicht be¬
wegen darf und sogar sitzend schlafen muß, um so für einen gleich¬
mäßigen Zustand der Atmosphäre zu sorgen, so mag bei beiden der
Gedanke zugrunde liegen, „daß das eigene Körpergeschehen magisch
ins Kosmische wirkt“; durch die Art der Entstehung sind aber
doch beider Gedankengänge himmelweit voneinander verschieden. Wie
kommt denn der Priesterkönig zu seinem Verhalten? Einmal müssen
wohl schon naturmythologische Vorstellungen in hohem Grade daran
*) Zit. bei Storch , a. a. O. S. 5.
*) Ich bin mir wohl bewußt, daß ich hier den Ausdruck „genetisch“ in zwei
verschiedenen Bedeutungen angewendet habe; aber insofern unsere Motive auch
historisch geworden sind, glaubte ich, jenen Ausdruck in einem allgemeineren
Sinne anwenden zu dürfen.
*) Storch , a. a. O. S. 8.
304
A. Langelüddeke:
beteiligt sein; dann aber ist eine solche Erscheinung nur dort möglich,
wo dem einzelnen im Gegensatz zur großen Menge ein so großer Einfluß
auf das Weltgeschehen zugetraut werden kann, und das kann nur dort
geschehen, wo sich einzelne aus der großen Masse herausheben, wo also
ein Herrscher vorhanden ist. Schließlich aber müssen wir gerade bei
den ozeanischen Inselstämmen daran denken, daß Tabugebräuche an
der Entwicklung dieses Verhaltens beteiligt sein können, was um so
näher liegt, als die Tabuvorschriften gerade bei den polynesischen Ver¬
bänden sehr ausgedehnt sind. Sie verdanken diese Ausdehnung der
hier schon eingetretenen Ständescheidung, mit der sie zugleich einen
Motivwandel insofern erfahren haben, als das Bestreben namentlich
des Adels, sein Eigentum gegen Eingriffe zu sichern, in den Vorder¬
grund tritt 1 ). Die Entwicklung des Tabu bei den Polynesiern wie bei
den ihnen benachbarten Melanesiern hat andererseits durch die vorzugs¬
weise Anwendung auf die Höhergestellten selbst wiederum die Bildung
verschiedener Stände und namentlich auch die Entwicklung der Häupt¬
lingsschaft begünstigt; zugleich aber ist das Tabu vielfach auch zu
einer unerträglichen Fessel geworden, wo es streng gehandhabt wurde:
„Der Häuptling auf Hawaii durfte nicht selbst die Speise in den Mund
führen, weil er tabu war und durch seine Berührung mit der Speise
auch diese tabu wurde. Er mußte sich also von einem Diener füttern
lassen; die Gegenstände die er berührte, wurden für alle anderen tabu.
Kurz, er wurde zum Gegenbild eines despotischen Herrschers, zum
Sklaven einer despotischen Sitte 2 )/ 4 Wenn, wie hier, schon das ge¬
wöhnliche Verhalten des Häuptlings durch Tabugesetze so eingeengt
ist, so dürfen wir auch wohl annehmen, daß ihnen an dem merk¬
würdigen Verhalten jenes Pristerkönigs ein nicht unbeträchtlicher
Anteil zukommt. Jedenfalls entspringt dessen Verhalten nicht einer
Laune, auch nicht der Denktätigkeit eines einzelnen, sondern es
ist das Ergebnis einer überaus komplizierten überindividuellen Ent¬
wicklung, abhängig von der sozialen Gliederung, von Sitte, Gesetz
und religiösen Anschauungen. Diesen überindividuell entwickelten Ge¬
bräuchen und Anschauungen steht das Einzelerlebnis des Schizophrenen 8 )
*) Waitz-Gerland , Anthropologie der Naturvölker €, 343, und Wundt, Völker¬
psychologie 4 (2), 396.
*) Wundt , Elemente der Völkerpsychologie, 2. Aufl., S. 194.
s ) Übrigens sind m. E. die angeführten Beispiele durchaus nicht alle schizo¬
phren, namentlich scheint mir das, was Storch über Strindberg sagt (S. 43ff.),
obwohl ich wie er von der Schizophrenie Strindbergs überzeugt bin, durchaus noch
normalverständlich zu sein, wenn man annimmt, er habe seine Erlebnisse in ein
dichterisches Gewand gekleidet; seine Geruchs- und Geschmacksempfindungen
stehen möglicherweise auf derselben Stufe, wie manche auch beim Normalen noch
anzutreffenden Übergangssensationen, wie sie beispielsweise Hugo von Hofmanns-
thal im „Tod des Tizian“ zur Darstellung bringt.
Zur Frage des archaisch-primitiven Erlebens und Denkens in der Schizophrenie. 305
gegenüber; dort eine durch Überlieferung und Gewohnheit selbst¬
verständlich gewordene Vorschrift, hier ein überwältigendes Neues,
Unbekanntes, das äußerlich ähnliche Erscheinungen hervorbringt.
Und wenn Storch (S. 15) die Mischgebilde aus menschlichen und
tierischen Bestandteilen in Zeichnungen und Halluzinationen Schizo¬
phrener mit theriomorphen Götterdarstellungen primitiver und an¬
tiker Völker in Zusammenhang bringt, so darf man doch an unserer
Engelvorstellung, auf deren primitiven Charakter ich bereits hin¬
gewiesen habe, nicht Vorbeigehen. Gerade hier ist der verschiedene
Gefühlswert, der unseren normalen Engelvorstellungen und auf der
anderen Seite jenen schizophrenen Bildungen zukommt, besonders
deutlich.
Angenommen nun, Storch hätte trotz alledem recht mit seiner An¬
nahme, das schizophrene Denken sei ein Rückfall in primitivere Denk¬
gewohnheiten, so wäre zum mindesten notwendig, daß man sich klar
würde über die Art, in der ein solcher Rückfall sich zu vollziehen pflegt.
Da zeigt es sich nun — Wundt weist immer wieder darauf hin 1 ) —,
daß gerade die primitivsten Vorstellungen die bei weitem größte Be¬
harrlichkeit haben, und zwar wiederum in ihren einfachsten Formen.
Totemistische Anschauungen sind im modernen Aberglauben nur sehr
spärlich vertreten; dagegen stimmen „in ihren letzten Grundlagen
beide, der Animismus der Kulturlosen und der animistische Aber¬
glaube der Kulturvölker völlig überein; sie trennen sich nur in den
mannigfachen Nebenvorstellungen und in den besonderen Äußerungs¬
formen, die sie unter dem Einfluß ihrer Umgebung annehmen“ 2 ). Das
zeigen auch die oben angeführten Beispiele modernen Aberglaubens
zur Genüge.
Das zeigen weiterhin auch jetzt noch im Volke vorhandene,
den primitiven Tabugebräuchen ähnliche Anschauungen, in denen
sich, wie einige Beispiele zeigen mögen, noch der Gedanke des Un¬
reinen, Gefährlichen, das der Wöchnerin anhaften soll, in seiner
ganzen Einfachheit erhalten hat. Die Wöchnerin darf in Baden,
Thüringen, Schlesien, Franken und Bayern nicht an den Brunnen
gehen, sonst würde dieser vertrocknen oder unrein werden. Sie
darf nicht über die Beete im Garten gehen, sonst wächst nichts
mehr darauf (Erzgebirge); wo sie hinkommt, bewirkt sie Unfrieden
(Böhmen) 3 ).
Daraus muß als weitere Folgerung abgeleitet werden: Wenn wirklich
irgendwo einmal — auch bei Schizophrenen — ein Rückfall in primi¬
tivere Denkgewohnheiten stattfindet, so werden diejenigen Vorstellungen
D Wundt , Völkerpsychologie 4 (2), 247f., 300, 390, 492, 547.
2 ) WuruÜ , Völkerpsychologie 4 (2), 247.
3 ) Wuttke, a. a. O. S. 379.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCI1I.
20
306
A. Langelüddeke:
zutage treten, denen die größte Beharrlichkeit zukommt, also in der
Regel nicht die totemistischen, sondern die einer noch früheren Zeit
angehörigen, oder aber die in der Entwicklung am nächsten zurück¬
liegenden. Weiterhin werden wir äußerlich ähnlichen Gedankengebilden,
wie den oben angeführten, mit dem größten Mißtrauen hinsichtlich
ihrer Gleichheit oder auch nur Ähnlichkeit gegenübertreten müssen;
es wäre geradezu merkwürdig, wenn ein in Deutschland lebender
Schizophrener, der in primitivere Denkgewohnheiten zurückfällt,
ausgerechnet all jenes von sozialen, kulturellen und anderen Zufällig¬
keiten bedingte Beiwerk hervorbringen sollte, dem ein Priesterkönig
in Neuguinea unterliegt. Ein Rückfall kann nur für das Denken an
sich in Frage kommen ; die äußeren Zutaten müssen dagegen den sozialen
und sonstigen Gegebenheiten entnommen werden , unter denen der Rück-
fallende lebt .
Ein weiterer Unterschied zwischen primitivem und schizophrenem
Denken liegt in der Sprache begründet. „Alles sinnvolle Denken,*
sagt Krüger 1 ), „ja alles gegliederte Erleben des entwickelten Menschen
überhaupt ist durch den Besitz der Sprache tatsächlich mitbestimmt.
Was wir bisher über psychologische Notwendigkeiten des Denkens
wirklich wissen, das haben die Herder , Humboldt und ihre Nachfolger
bis Wundt vornehmlich an sprachlichen Materialien erarbeitet.“ Wenn
Wundt die Verschiedenheiten romanischer und germanischer Kultur im
wesentlichen aus der Eigenart der ihnen zugrunde liegenden Sprachen,
und zwar nicht sowohl der Volkssprachen, als jener der Wissenschaft
und der höheren Bildung, hervorgehen läßt 2 ), so muß natürlich zwischen
dem Denken der Naturvölker mit ihrer unentwickelten Sprache und
dem der modernen Kulturvölker eine gewaltige Lücke klaffen. Aber
diese Lücke ist viel weniger durch verschiedenartige Anlagen als eben
durch die Unterschiede in der Entwicklungshöhe der Sprache zu er¬
klären: man bringe ein „Naturkind“ in eine moderne Umgebung, und
es wird ebenso wie unsere „Kulturkinder“ begrifflich denken lernen.
Daher ist das anschauliche Denken der Naturvölker etwas Selbst¬
verständliches, Naturnotwendiges, weil ihre Sprache anschaulich ist
und Begriffe höchstens in unentwickelter Form kennt Der Schizo¬
phrene dagegen hat dieselbe hochentwickelte Sprache wie wir anderen:
wenn er trotzdem in Bildern denkt, so tut er das nicht, weil ihm,
wie dem Primitiven, eine begriffliche Sprache nicht zur Verfügung
stände, sondern er läßt dieses hochentwickelte Werkzeug unbenutzt
liegen.
Auf die einzelnen Beispiele bei Storch und Bychowski einzugehen,
1 ) F. Krüger , Arbeiten zur Entwicklungspsychologie 1 , 98. 1915.
2 ) Wundt , Völkerpsychologie 10, 176ff.
Zur Frage des archaisch-primitiven Erlebens und Denkens in der Schizophrenie. 307
erübrigt sich; sie kranken fast alle an der „recht summarischen“ 1 )
Abstraktion von sozialgenetischen und sprachlichen Bedingungen 2 ).
Wenige Worte noch über die bereits angeführte Arbeit von v. Domarus !
Sie gipfelt in einem Schema, nach dem Vorstellungen „hypointen¬
siven, -emotionellen, -motorischen“ Charakters z. B. Anthropoiden,
Hebephrenen und dem schizophrenen Stupor zukommen sollen,
während „hyperintensive, -emotionelle, -motorische“ Vorstellungen
dem primitiven Menschen sowie dem schizophrenen Denken im
engeren Sinne eigen und „normalintensive, -emotionelle, und -moto¬
rische“ Vorstellungen ein Kennzeichen des entwickelten normalen
Denkens sein sollen. Dieses Schema ist ebenso kühn wie falsch.
Daß die Vorstellungen von Anthropoiden alles andere sind wie
„hypomotorisch“, zeigt die schöne Arbeit von Köhler*)\ die Vor¬
stellungen eines in Gedanken versunkenen, gesunden, entwickelten
Menschen sind „hypomotorisch“, können aber zugleich „hyperintensiv“
und unter Umständen auch „hyperemotionell“ sein; das gleiche gilt
vom katatonen Stupor.
Fassen wir noch einmal zusammen: Zwischen primitivem und
schizophrenem Denken bestehen erhebliche Unterschiede, die sich aus
der Entstehungsweise beider ergeben; dieses entspringt individuellem
Erleben, jenes ist das Ergebnis einer überindividuellen Entwicklung.
Der Primitive denkt ferner bildhaft, weil er vermöge seiner unentwickel¬
ten Sprache nicht anders denken kann ; der Schizophrene hingegen läßt
ein hochentwickeltes Werkzeug unbenutzt liegen: er bedient sich —
bildlich gesprochen —, um einen Nagel einzuschlagen, statt des bereit
liegenden Hammers der Faust.
Bei aller Berechtigung einer Forschungsrichtung, welche das Denken
primitiver Völker vergleichsweise heranzieht, ist daher zu fordern,
daß mehr als es bisher geschehen ist, die sozialgenetischen und sprach¬
lichen Bedingungen berücksichtigt werden, unter denen krankes Denken
einerseits, primitives andererseits stehen. Von beiden muß abstrahiert
werden; aber es muß in der Weise abstrahiert werden, daß man den
Kern herausschält und ihn von allem Beiwerk befreit, nicht aber, daß
man, wie Storch es getan hat, gerade jenes Beiwerk vielfach als wesent¬
lich hinstellt. Nicht das Gedachte kann verglichen werden, sondern nur
der Kern des Gedachten, das Denken.
*) F. Krüger , a. a. O. S. 98.
2 ) Es geht u. E. nicht an, daß Storch , der eine Ansicht Levy-Briihls über den
Sinn des Verbums „Sein“ zitiert (S. 62), diese Ansicht ohne weiteres von den
Bororö, von denen Levy-Brühl spricht, auf die Inder überträgt; die Art des Zitierens
legt den Schluß nahe, als ob Ltmj-Brühl seine Behauptung über die Inder aufgestellt
hätte.
3 ) W. Köhler , Zur Psychologie der Schimpansen. Psychol. Forschung I, 2.
20*
308 A. Langelüddcke : Zur Frage d. archaisch-primitiven Erlebens u. Denkens usw.
Weiterhin aber dürfen jene großen Gebiete primitiven und „prä-
logischen* ‘ Denkens, die uns im Aberglauben und in den religiösen
Vorstellungen der Jetztzeit gegeben sind, nicht vernachlässigt werden.
Wir müssen, sollen unsere Bemühungen wirklich fruchtbar sein, die
Scheuklappen des Interesses und der Voreingenommenheit 1 ) nach
Möglichkeit ablegen, wie das für die vergleichende Betrachtung von
kindlichen und naturvölkischen Kunsterzeugnissen und ebenso für ihre
Sprache bereits vielfach geschehen ist 2 ).
*) Bychowski sagt a. a. O. S. 71: „So wird aus der Wirklichkeit nur das erwählt
und berücksichtigt, was mit der momentanen affektiven Einstellung im Einklang
steht, während alles andere im Schatten bleibt.“
2 ) Wundt, Völkerpsychologie 3 , 138ff. und 161 f. und t, 313.
Bemerkungen zu dem vorstehenden Aufsatz Langelüddekes.
Von
Alfred Storch,
Asuztenzarzt der Nervenklinik Tübingen.
(Eingegangen am 27. Juni 1924.)
In den Ausführungen von Langelüddeke zu meiner Arbeit: „Das
archaisch-primitive Erleben und Denken der Schizophrenen“, kann ich
einen ernstlichen Einwand gegen den Gedanken, daß bei Schizophrenen
infolge der Störungen der höheren Funktionssysteme genetisch frühere
Erlebnis- und Denkstufen wieder hervorbrechen, nicht entdecken.
Langelüddeke äußert Bedenken methodischer und sachlicher Art. Sach¬
lich betont er, daß die überindividuell entwickelten Gebräuche und An¬
schauungen der Primitiven mit den individuellen Erlebnissen der Schizo¬
phrenen direkt nicht vergleichbar seien, methodisch fordert er Berück¬
sichtigung der sozialgenetischen und sprachlichen Bedingungen, unter
denen krankes Denken einerseits, primitives andererseits stehen, um
dann durch Abstraktion von diesen Bedingungen den Kern des Er¬
lebens und Denkens herausschälen zu können. Nun glaube ich, daß ich,
wenn ich auch diese Methodik nicht in jedem Einzelfall explizite durch¬
führen konnte, doch im allgemeinen gegen die Gesichtspunkte Lange -
lüddekes nirgends verstoßen habe. Gerade in dem von ihm herange¬
zogenen Beispiel von dem katatonen Kranken, dessen Verhalten mit
dem des Priesterkönigs aus Neuguinea verglichen wird, habe ich ja
nicht bloß die verglichenen Tatbestände summarisch nebeneinander
gestellt, sondern den Vergleichspunkt deutlich herausgehoben. Er liegt
in der — natürlich nicht rational durchdachten — Idee einer magischen
Wirkung des Körpergeschehens ins Kosmische, die in beiden Fällen das
Handeln beherrscht. Von der primitiven Gesamtatmosphäre, in der
jene Gedankeneinstellung erwächst und sich auswirkt, wurde also, wie
Langelüddeke es wünscht, soweit dies erforderlich war, abstrahiert. In
anderen Fällen mußte zunächst mit Rücksicht auf die Anschaulichkeit
der Darstellung das primitive Vergleichsmaterial in seiner ganzen Kom¬
plexität noch unanalysiert dargeboten werden, doch wurde — und das
kommt in den Zusammenfassungen, sogar schon in den Kapitelüber¬
schriften deutlich zum Ausdruck — überall versucht, von allem „Bei¬
werk“ abzusehen und zum gemeinsamen „Kern“ des Erlebens und
Denkens vorzudringen. Daß es dazu weitgehender Abstraktion meist
310 A. Storch: Bemerkungen zu dem vorstehenden Aufsatz Langeltlddekes.
nicht bedurfte, liegt daran, daß sich tatsächlich nicht erst Einzelbe¬
standteile, sondern ganze Gesamtkomplexe in beiden Erscheinungs¬
reihen decken. So viel zu dem methodischen Bedenken Langelüddelces ;
aber auch sein hauptsächliches sachliches Bedenken kann ich nicht gelten
lassen. Die Behauptung, daß das schizophrene Denken dem individu¬
ellen Erleben entspringe, während das primitive das Ergebnis von über¬
individuell entwickelten Gebräuchen und Anschauungen sei, gibt meines
Erachtens den Sachverhalt unvollkommen wieder. Sofort erhebt sich
nämlich die Frage: wie entstehen denn jene primitiven Gebräuche und
Anschauungen ? Wurzeln nicht auch sie in Erlebnissen und Verhaltungs¬
weisen einzelner schöpferischer Persönlichkeiten ? Zwar mögen zaube¬
rische Handlungen, tabuistische Riten u. dgl. oft genug zu seelen¬
losen Manipulationen entartet sein, und gewiß kann man eine tradi¬
tionell zur Formel erstarrte magisch-tabuistische Glaubensüberzeugung
nicht mehr mit dem lebendigen Wahnerlebnis einer akuten Schizophrenie
vergleichen wollen. Aber die ursprüngliche Erlebnisgrundlage, aus der
jene Glaubensüberzeugung erwuchs, zeigt weitgehende Übereinstimmung
mit den Erlebnisfundamenten schizophrener Wahngebilde, indem beiden
Erlebnisgebilden z. B. das erlebte Verstricktsein in einen Komplex un¬
heimlicher Kraftbeziehungen gemeinsam ist. Also gerade dann, wenn
man, wie dies Langelüddeke fordert, über die bloß ,,morphologischen
Ähnlichkeiten“ zum Ursprung des Erlebens zurückgeht, wird die von
Langelüddeke bezweifelte Übereinstimmung erst recht deutlich. Daß
beide Erscheinungsreihen trotzdem nicht einfach identifiziert werden
können, glaube ich deutlich betont zu haben. Da auch Jaspers in der
neuen Auflage seiner Psychopathologie einen besonderen Mangel der
Vergleichsuntersuchungen in der bisher noch ungenügenden Berück¬
sichtigung der Unterschiede findet, weise ich nochmals auf die Ab¬
weichungen hin. Der wesentliche Unterschied liegt meines Erachtens
darin, daß die primitiven Funktionsweisen, die in der Schizophrenie
infolge der Störung der höchsten Funktionsschichten wieder herrschend
werden, nur selten „rein“ zur Auswirkung gelangen, sondern meist
durchmischt mit stehengebliebenen Resten höher entwickelter Funktions¬
komponenten. In besonders grotesker Aufdringlichkeit zeigte sich mir
das Durcheinanderwirken der verschiedenen Begriffsstufen jüngst bei
einem schizophrenen Studenten, der den Ursprung seiner mystischen Er¬
höhung ins Göttliche und seiner magischen Befähigung zur Schicksals¬
bestimmung in einer erbgesetzlichen „Mutation“ erblickte, die in ihm
als erstem Menschen jene Fähigkeiten geweckt hätte. Die nähere Unter¬
suchung der Durchmischung der entwicklungspsychologisch differenten
Erlebnisschichten ist allerdings noch kaum in Angriff genommen, sic
bildet eine Zukunftsaufgabe entwicklungspsychologischer und phäno¬
menologischer Forschung.
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Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen*
Von
ßt F. J. Stuurman (Santpoort, Holland).
(Eingegangen am 11. Mai 1924.)
In einer großen Irrenanstalt werden oft mehrere Personen aus der¬
selben Familie auf genommen. Ich habe mich im letzten Jahre für diese
Fälle interessiert. In unserer Anstalt hat man seit 1908 Statistikkarten
aller hier verpflegten Kranken angefertigt, so daß es ziemlich leicht
war herauszufinden, ob die seit 1908 hier Verpflegten Verwandte in
unserer Anstalt hatten oder gehabt hatten.
Ich habe mich bei dieser Forschungsarbeit auf die nächsten Ver¬
wandten (Eltern und Kinder, Geschwister) beschränkt, weil die weiter
entfernten Verwandten in Fragen der Erblichkeit, der viel kompli¬
zierteren Verhältnisse wegen, schwierig zu verwerten sind.
Ich habe auf diese Weise unter etwa 4000 Verpflegten bis jetzt
fast 200 Familien gefunden, von denen 2 oder mehrere nahe verwandte
Glieder in unserer Anstalt verpflegt wurden oder zur Zeit noch verpflegt
werden. Darunter sind 89 Elter-Kindserien und 102 Geschwister¬
paare c. q. Reihen von 3 oder 4 Geschwister. Ich habe sämtliche Kran¬
kengeschichten derselben studiert und weil ich seit mehr als 10 Jahren
an der Anstalt tätig bin, habe ich auch viele dieser Kranken selbst
beobachten können. Über die andern habe ich bei den älteren Kollegen
und Oberpflegerinnen, welche die betreffenden Kranken persönlich
gekannt haben, Erkundigung eingezogen, so daß ich glaube, in den
meisten Fällen genügend über die Psychosen dieser Fälle orientiert
zu sein.
Ich möchte jetzt einige Mitteilungen machen über diejenigen
Familienserien, von denen ein oder mehrere Glieder an Schizophrenie
litten, d. i. an der Krankheit, der wir Irrenärzte am häufigsten be¬
gegnen und die in bezug auf die Erblichkeitsfragen gegenwärtig das
größte Interesse hat. Ich werde diese Familienserien in zwei Gruppen
teilen: eine 1. Gruppe derjenigen Serien, deren beide (casu quo alle)
Glieder an einer deutlichen, ausgesprochenen Schizophrenie erkrankt
waren, und eine 2. Gruppe von Familienserien, bei denen nur ein Glied
das ausgesprochene Krankheitsbild der Schizophrenie zeigte, indem
das andere Glied (casu quo Glieder) eine ganz andere Psychose hatte
Z. 1. d. g. Neur. u. Pgych. XCIII. 21
312
F. J. Stuurman:
oder an einer schwer zu klassifizierenden psychischen Krankheit litt,
welche vielleicht etwas mit der Schizophrenie zu schaffen hat oder in
irgendeine Verbindung mit der Schizophrenie zu bringen ist, jedoch
gewiß nicht eine deutliche Form der Schizophrenie zeigte, wie die meisten
Psychiater sie auffassen.
In bezug auf die 1. Gruppe kann ich bei der Besprechung kurz sein.
Es kommen in Betracht 18 Elter-Kindserien und 25 Geschwisterserien.
Wahrscheinlich ist es ganz zufällig, daß unter den 18 Eltern 11 Mütter
und nur 7 Väter waren; unter den Kindern waren Söhne und Töchter
ungefähr in gleicher Anzahl vorhanden. Das Alter, in dem die Erkran¬
kung auftrat, war bei den meisten Eltern bedeutend höher als bei den
Kindern; es bestand also bei den meisten Elter-Kindserien eine deut¬
liche Anteposition; nur in 4 Elter-Kindserien war das Alter, in dem die
Erkrankung auf trat, beim Elter und beim Kind ungefähr dasselbe.
Die Symptomatologie der Psychose hatte bei vielen Elter-Kind-
serien eine bemerkenswerte Übereinstimmung und Ähnlichkeit, jedoch
waren auch Unterschiede zu bemerken; im allgemeinen hatten die
Eltern, in Übereinstimmung mit dem späteren Auftreten der Erkran¬
kung, eine größere Affinität für die paranoide Form der Schizophrenie,
die in jüngerem Alter erkrankten Kinder hatten öfter die hebephrene
Form.
Bei den 25 zu dieser Gruppe gehörenden Geschwisterserien waren
Brüder und Schwestern in ungefähr gleichem Maße betroffen; ebenso die
älteren und die jüngeren Kinder der Familien. Das Alter des Erkrankens
war bei den beiden (casu quo allen) Gliedern einer Geschwisterserie,
meistens ziemlich dasselbe; jedenfalls fand ich keine deutliche Ante¬
position des Erkrankens bei den jüngeren Kindern, wie sie Moser (Arcb.
für Psychiatrie u. Nervenkrankh. 1922) bei seinen Geschwisterserien
angibt.
Die Übereinstimmung in bezug auf die Symptomatologie und den
Verlauf der Psychose war bei den Gliedern einer Geschwisterserie im
allgemeinen noch viel größer als bei denjenigen einer Elter-Kindserie.
Nicht selten waren die Krankheitsbilder der Geschwister einander
photographisch ähnlich. Hierauf ist auch von verschiedenen Autoren
schon früher hingewiesen.
Interessanter ist die 2. Gruppe derjenigen Familienserien, bei denen
nur ein Glied eine deutlich ausgesprochene Schizophrenie hatte. Die
Psychose, an welcher das andere Glied dieser Familienserien litt, war
bei den Elter-Kindserien 2 mal manisch-depressives Irresein, 2 mal
Epilepsie, lmal präsenile Dementia, lmal senile Dementia; bei den
Geschwisterserien: 4 mal manisch-depressives Irresein, 2 mal Imbe-
cillitas, 3 mal Epilepsie, 1 mal Dementia paralytica und 1 mal Tumor
cerebri.
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 313
Insoweit diese verschiedenen Psychosen als hereditär zu betrachten
sind, sind wir genötigt, in diesen Familien 2 verschiedene Erbanlagen
anzunehmen. Ich habe speziell bei den Manischdepressiven und Epilep¬
tikern in dieser Richtung geforscht, jedoch eine doppelte Heredität
bei weitem nicht in allen Fällen feststellen können. Hierbei ist aber
zu bedenken, daß die Familienanamnesen oft ungenügend in den Kran-
kenblättem aufgezeichnet waren und deshalb für die älteren Fälle
nicht mehr zu verwerten waren.
Unter den Epilepsiefällen befanden sich 2 Fälle von organischer
Epilepsie nach Encephalitis; diese haben also mit der hereditären,
genuinen Epilepsie nichts zu schaffen. Die anderen Fälle waren: 1 Vater
mit Epilepsie und Alkoholismus, der eine hebephrene Tochter hatte;
1 schizophrene Mutter, die eine epileptische Tochter hatte; und 1 Schwe¬
ster mit Hysteroepilepsie, deren Bruder Katatonie hatte.
Merkwürdig ist der Fall von präseniler Dementia:
Faü 1 . A. B. (Nr. 11 711), geboren 1859, ohne Heredität. Er war immer ein
gesunder, tüchtiger Mann, Wagenbauer, vermählt, hatte 14 Kinder; weder Alkoho-
lisraus noch Syphilis. Er wurde im Jahre 1912 allmählich vergeßhaft und unruhig.
Februar 1913 in unserer Anstalt: desorientiert, duselig, inaktiv, aber dann und
wann erregt, zeigt er starke Störungen der Aufmerksamkeit, der Merkfähigkeit,
des Gedächtnisses sowie Affektivität, Personenverwechslung, Konfabulation,
Pcrseverieren usw. Schnell fortschreitende Dementia. Er wird unrein und sehr
mager. Keine neurologische Störungen. Juni 1914: Exitus letalis. Obduktion
ergibt starke, isolierte Atrophie des Frontalhirns.
Sein ältester Sohn (Nr. 10 858), geboren 1886, war ein kluger Knabe. Im
Jahre 1910 wurde er apathisch, inaktiv, hatte hypochondrische Sensationen, Be¬
ehrt räch tigungs- und Verfolgungsideen, schrieb verworrene Briefe. Interniert in
unserer Anstalt (1911) ist er schnell verblödet; er ist jetzt ein grimassierender,
negativistischer, mutistischer Katatoniker.
Wenn man, wie heute einzelne Autoren annehmen, bei der Schizo¬
phrenie als Ursache eine Degeneration und Atrophie bestimmter Faser¬
systeme im Gehirn vermutet, ist vielleicht an einen Zusammenhang
zwischen der Krankheit des Vaters und der des Sohnes zu denken.
Ich möchte hier kurz eine andere Familienserie mitteilen, um zu
zeigen, wie eine organische degenerative Gehirnkrankheit im Anfänge
der Erkrankung Symptome verursachen kann, die der Schizophrenie
ähnlich sind.
Faü 2. W. S. (Nr. 9427), geboren 1859. Mutter ist an „allgemeiner Paralyse“ (?)
gestorben, weiter keine Heredität. Er war immer gesund; wurde Beamter im Ge¬
meindedienst, verheiratete sich, bekam 4 Kinder aus dieser Ehe. Seit 1898 wurde
er reizbar, närrisch, querköpfig, mißtrauisch; er sonderte sich ab, er bekam Wut-
anfälle, in einer Aufwallung des Zornes sprang er ins Wasser. Interniert im Jahre
1902, war er in der Anstalt ziemlich ruhig, jedoch verworren; später wurde er
negativistisch und mutistisch. Als Zeichen organischen Hirnleidens traten erst
choreatische Mitbewegungen auf, später eine allgemeine Muskelrigidität.
Seine Tochter (Nr. 13 412), geboren 1890, war als Kind gesund und tüchtig.
Vermählt im Jahre 1912, bekam sie ein Kind. Seit etwa 1917 oder 1918 trat eine
21 *
314
F. J. Stuurman:
Änderung ihres Charakters ein; sie wurde sehr reizbar, hatte Wut- und Angst-
anfälle. Zu gleicher Zeit traten auch schon Sprach- und Bewegungsstörungen auf;
ziemlich rasch entwickelte sich ein Krankheitsbild, das bei ihrer Internierung im
Jahre 1920 als eine multiple Sklerose aufgefaßt wurde, später mehr einer Wilson-
schen Krankheit ähnlich war. Die Kranke starb im Oktober 1922. Bei der Sektion
wurde ein sog. Status fibrosus des Striatums gefunden wie bei der Chorea Hun-
tingtonii. (Dr. Gans wird diesen Fall ausführlich beschreiben.)
Ein zweites Kind von W. S., der im Jahre 1884 geborene Sohn , wurde im Jahre
1923 hier interniert (Nr. 1023, S). Dieser Sohn war gesund bis etwa 1919. Dann
wurde er ganz wie damals sein Vater, reizbar, närrisch, querköpfig und mißtrauisch.
Er meinte, daß seine Mutter ihn bestahl. Bei der Aufnahme in unserer Anstalt war
die Diagnose des Familienarztes „Schizophrenie“. Der Kranke zeigte hier deut¬
liche neurologische Störungen (choreatische und myoklonische Bewegungen,
geringe Ataxie und Muskelrigidität, langsame Sprache, maskenartiges Gesicht,
eigenartige Körperhaltung), daneben Kritiklosigkeit, verworrene Ideen, geringe
Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen, Verschrobenheit, wahrscheinlich Hal¬
luzinationen. Er wurde infolge des W 7 unsches seiner Mutter nicht geheilt entlassen.
Ich komme jetzt zu der Besprechung derjenigen Familienserien,
bei denen ein Glied an Schizophrenie litt, das andere an einer schwer
zu klassifizierenden Psychose, die meines Erachtens hinsichtlich der
Erblichkeit wohl in irgendeinem Zusammenhänge mit der Schizophrenie
steht. Bei den hierzu gehörenden 22 Elter-Kindserien war in 19 Fällen
das Kind an Schizophrenie erkrankt, nur in 3 Fällen war der Elter das
schizophrene Glied der Serie. In fast allen Fällen bestand eine deutliche
Anteposition; das Kind war in einem bedeutend jüngeren Alter er¬
krankt als der Elter. Die beiden Geschlechter waren ungefähr in der¬
selben Anzahl vorhanden, sowohl unter den Eltern wie unter den Kin¬
dern.
Die nicht ausgesprochen schizophrenen Krankheitsbilder waren oft
einer atypischen Melancholie, Manie oder dem zirkulären Irresein
ähnlich, weiter 2 mal der Paranoia, insbesondere bei einigen Frauen
glich die Psychose dem Krankheitsbild der Amentia; bei 2 Serien,
bei denen die Mutter an Schizophrenie litt, war die Tochter eine hy¬
sterische oder schizoide Psychopathin.
Es seien einige Beispiele dieser Elter-Kindserien hier mitgeteilt.
Fall 3 . E. M. (Nr. 13 336), geboren im Jahre 1859, Milchverkäufer, hatte immer
einen reizbaren, lästigen, dünkelhaften und eigensinnigen Charakter. Im Ok¬
tober 1918 starb seine Ehefrau. Im Sommer 1919 wurde er unruhig, ängstlich, er
konnte seinen Handel nicht mehr recht treiben, fürchtete Erwerbsschwierigkeiten,
machte ein Tentamen suicidii. Im Dezember 1919 kam er in unsere Anstalt; er
war ganz recht orientiert, zeigte keine Störungen der Merkfähigkeit und des Er-
innerns; er war stark deprimiert und ängstlich, klagte einem jeden seine Not; er
meinte, all sein Geld wäre verschwunden, seine Kinder litten Hunger; alles wäre
seine eigene Schuld. Er hatte Visionen: nachts sah er seine verstorbene Frau vor
Gottes Throne stehen, um ihn anzuklagen. Der Kranke wurde hier immer mehr
gehemmt und inaktiv, indem seine Angst geringer wurde. Nach einigen Monaten
äußerte er nihilistische Wahnideen: alles wäre verschwunden, die Häuser ver¬
brannt, seine Familie und alle Menschen getötet; er selbst wäre auch tot. Hier
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 315
wäre alles nur Schein, wir wären keine echten, wirklichen Menschen. Er wollte
nicht aufstehen, nichts tun; er meinte blind und gelahmt zu sein. Dieser Zustand
blieb ungeandert bis zum Sommer 1922 bestehen; dann wurde er etwas aktiver;
stand auf und fing einen Tag an Kartoffeln zu schälen, später beschäftigte er sich
einige Zeit mit Mattenflechten und jetzt arbeitet er im Garten. Er ist seitdem
immer lebhafter geworden, er ist jetzt meistens sogar in einer maniakalen, hilären
Stimmung, aber er hat seine nihilistischen Ideen behalten: er selbst ist tot, gleich¬
wie seine ganze Familie; derjenige, der hier herumläuft ist ein anderer, der mit
seinem Namen angesprochen wird. Er spaziert hier frei in der Umgebung, liest
weiter die Zeitungen, hat aber im übrigen sehr geringe Interessen, namentlich für
seine Familie; er will nicht aus der Anstalt entlassen werden.
Seine Tochter Marie (Nr. 11 766), geboren 1887, Lehrerin an einer Volks¬
schule, unvermählt, wurde hier im Jahre 1913 aufgenommen. Sie war das erste
Kind der Eltern, lernte sehr gut, hatte einen liebenswürdigen, freundlichen, jedoch
etwas eigensinnigen Charakter. Sie war vor kurzem unruhig und melancholisch
geworden; äußerte Selbstanklagen: alles wäre durch ihre Schuld fehlgegangen in
der Welt; sie selbst könnte nicht sterben dieser Schuld wegen; sie sollte ewig
Schmerzen leiden und nie mehr zur Ruhe kommen. Sie war hier meistens gehemmt,
sprach spontan wenig, fragte nur ein einziges Mal törichte Dinge. Die Hemmung
wurde stärker, sie zeigte Negativismus, und dementierte schnell. Jetzt ist sie eine
verschrobene, verworrene Schizophrene, die oft ihre Kleider zerreißt, mit Faeces
und Harn beschmiert, sich selbst mutiliert und periodisch gehemmt und exalt iert ist.
Fall 4. J. d. G. (Nr. 13 466), geboren im Jahre 1849, Gemüsehändler, hatte
einen sanften aber hochmütigen Charakter. Mit seinem Vater, der gleichfalls
ziemlich eigensinnig war, hatte er sich kurz vor dessen Tode gezankt. Darüber fing
er an zu grübeln, er wurde unruhig und ängstlich und kam im Jahre 1891 nach
einem Selbstmordversuch zum ersten Male in unsere Anstalt. Er war hier ebenso sehr
ängstlich, er meinte, daß ein böser Geist in ihm wohnte, der zu ihm sprach und ihn
zwang, ungewünschte Dinge zu tun. Er betrachtete dies als eine Strafe Gottes:
der Geist saß wie ein Faden durch seinen ganzen Körper. Er machte allerlei
Zwangshandlungen und sprach viel in sich selbst mit dem Geist. Im übrigen war
er besonnen und gut orientiert. Nach 4 Monaten wurde er ruhiger; die Depression,
die Halluzinationen und Wahnideen verschwanden und er konnte geheilt ent¬
lassen werden.
Er blieb aber immer ein eigenartiger Mann. Im Jahre 1919 bekam er wieder
große Angst; er machte einen Selbstmordversuch, der beinahe geglückt wäre. Bei
der zweiten Aufnahme war er wieder ganz gut orientiert und besonnen, hatte
noch keine Störungen der Merkfähigkeit und der Erinnerung, war aber sehr ängst¬
lich und deprimiert und hatte wieder verschiedene Halluzinationen und Wahn¬
ideen. Er sah und hörte Gott und Teufel, hatte unangenehme körperliche Sen¬
sationen (seine Himpfanne wurde auf gelichtet, sein Gehirn wurde in der Him-
höhle herumgedreht usw.). Der böse Geist verfolgte ihn, um ihn zu strafen. Er
erzählte all diese Empfindungen und Wahnideen ziemlich ruhig, auch jetzt noch,
indem er selten mehr ängstlich ist. Er ist hier sehr zufrieden, ist immer freundlich
und höflich, jedoch etwas manieriert, spricht auch etwas affektiert, salbungsvoll.
Sein Sohn (Nr. 9172), im Jahre 1872 geboren, Eierhändler, vermählt, wurde
seit 1897 melancholisch, apathisch, gehemmt, fremdartig und versuchte sich während
eines Angstanfalles zu ertränken. Darauf in unserer Anstalt (1901) interniert. Er
war hier auch deprimiert, apathisch, inaktiv, hatte Beeinträchtigungs- und Ver¬
folgungsideen, Gefühlshalluzinationen. Im folgenden Jahre konnte er etwas ge¬
bessert entlassen werden, kehrte jedoch schon nach 6 Monaten wieder zurück.
Die Halluzinationen und Wahnideen werden seither immer stärker, er bekam auch
316
F. J. Stuurraan:
Größen Wahnideen (er wäre Justizminister, Gott selber); er beklagte sich oft, daß
sein Gehirn „bewirkt“, seine Sprache festgehalten wurde. Dann trat schnell ein
geistiger Verfall ein; er wurde sehr verworren, autistisch, sogar negativistisch,
sprach fast nie und saß stundenlang in katatoner Haltung. Er starb im Jahre 1921
an Carcinoma Hepatis.
Fall 5. A. W. (Nr. 4159), geboren im Jahre 1843, Kellner, vermahlt, war bei
der Aufnahme im Oktober 1877 schon seit 5 Monaten depressiv und gehemmt,
Nahrungsverweigerung, starke Schlaflosigkeit, Mutismus. In der Universitäts¬
klinik zu Amsterdam war er mit einer Morphiumkur behandelt worden, wie jetzt
eine Somnifenkur (Dauernarkose nach Kläsi) bei derartigen Kranken oft gemacht
wird. Hier war der Kranke unruhig, ängstlich, er sprach nur einzelne Worte mit
Flüsterstimme, war unrein, nicht ganz orientiert. Er wurde bald noch viel unruhiger
und verwirrter. Er entkleidete sich, zerriß Kleider und Bettzeug, machte schmierig,
war impulsiv und aggressiv. In diesem Zustande blieb er mehrere Monate. Dann
wurde er ruhiger, blieb aber autistisch, verworren, gleichgültig, wollte gar nichts
arbeiten. Ziemlich plötzlich trat Anfang 1879 eine Besserung ein; der Kranke
zeigte wieder Interesse für seine Familie, fing an zu arbeiten und konnte im Juni
geheilt entlassen werden. Nach späteren Mitteilungen war er zu Hause noch immer
etwas hemdartig, war oft arbeitslos, trank viel Alkohol und starb im Jahre 1893,
angeblich infolge einer Apoplexie.
Seine Tochter H. W. (Nr. 13 827), geboren 1886, ledig, wurde im August 1922
in unsere Anstalt aufgenommen. Sie war damals schon seit etwa 10 Jahren geistes¬
krank; sie wurde von 1913 bis 1918 in einer anderen Irrenanstalt verpflegt wegen
einer katatonen Exaltation, gefolgt von einem Hemmungszustand. Von 1918—1922
konnte sie zu Hause bleiben. Hier ist die Kranke eine apathische, inaktive Kata-
tonica, sitzt immer in einer katatonen Haltung, ohne etwas zu arbeiten; sie hat
gar kein Interesse, ist nachlässig und gleichgültig, bisweilen sogar unrein.
Fall 6 . W. V. (Nr. 13 235), geboren 1855, Bankbeamter, vermählt. Vater
von 7 Kindern. Er war immer ein nervöser, reizbarer Mann, litt an Schlaflosig¬
keit, konnte schlecht außergewöhnliche Beschäftigung ertragen, hatte jedoch nie
melancholische oder manische Phasen. In den späteren Jahren wurde er immer
ängstlicher und unruhiger, er konnte seine Arbeit nicht mehr fertig machen, wes¬
halb er pensioniert winde. Anfang 1919 nach einer Hernienoperation traten
schwere hypochondrische Ideen auf; er meinte sterben zu müssen, verweigerte
Nahrung und Arzneien. Bei der Aufnahme im Juni 1919 sehr erregt, ängstlich,
fortwährend jammernd: all sein Geld sei verschwunden, seine Familie müsse
sterben, alles sei seine Schuld, er selbst soll mit dem Tode gestraft werden. Dauer¬
badbehandlung und Sondenfütterung sind nötig. Nach 5 Tagen bekam der Kranke
eine Pneumonie, an der er starb.
Sein jüngerer Bruder D . V. (Nr. 13 344), geboren 1859, gleichfalls Bankbeamter,
vermählt und Vater von 4 Kindern, wurde in demselben Jahre 1919 gleichfalls
hier aufgenommen. Er war auch ein nervöser Mann, der ein unglückliches eheliches
Leben mit seiner Frau geführt hatte. Seit einigen Jahren war er melancholisch,
interesselos, inaktiv geworden; er vernachlässigte sich selbst, so daß er in einem
ganz verschmutzten Zustande in die Anstalt kam. Hier ist der Kranke seither
immer depressiv und sehr inaktiv; er hat sehr wenig Interesse, vernachlässigt seine
Familie, war bei der Nachricht von dem Tode seiner Ehefrau ganz gleichgültig,
ist gegen seine Schwester sogar feindlich gesinnt. Er ist im ganzen ziemlich auti¬
stisch und affektlos, äußert sich sehr wenig über seine depressiven Wahnideen.
Eine Tochter dieses letztgenannten Kranken A. V. (Nr. 11 715), geboren 1894,
ledig, wurde im Februar 1913 in unsere Anstalt aufgenommen. Sie lernte in der
Volksschule ziemlich schlecht, war nicht imstande, in der Realschule zu folgen.
Di© Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 317
Kurz vor der Aufnahme war sie apathisch und inaktiv geworden. Hier war sie
anfänglich ziemlich ruhig, jedoch gleichgültig, scheu, kritiklos, von wechselnder
Stimmung, oft weinerlich, etwas negativistisch, sie machte den Eindruck einer
Imbecillen. Sie geriet hier jedoch schnell in geistigen Verfall, wurde sehr autistisch,
negativistisch, mutistisch, unrein; beschmutzt öfters, zereißt Kleider und Bett¬
zeug, masturbiert, ist ganz und gar ungesellschaftlich. Die Diagnose „Schizo¬
phrenie“ ist jetzt nicht mehr zu bezweifeln.
Fall 7 . L. d. V. (Nr. 7605), geboren 1826, Zimmermann, war immer ein ge¬
sunder tüchtiger Mann, hatte aber einen eigensinnigen, dünkelhaften Charakter.
Seit 1893 wurde er mißtrauisch, ängstlich, fürchtete sich vor dem Tode. Er bekam
depressive Wahnideen, meinte, daß die verschiedenen Familienmitglieder und
Nachbarn ihm das Leben nehmen wollten, daß sie ihm seine Güter stehlen würden
usw. Er wurde so ängstlich, daß er einen Selbstmordversuch machte, indem er ins
Wasser sprang, daher wurde er im November 1895 in unsere Anstalt auf genommen.
Hier war der Kranke ziemlich ruhig; er erzählte lächelnd seine Wahnideen, sein
Tentamen suicidii; er ist ganz gut orientiert und zeigt weder Merkfähigkeits- noch
Gedächtnisstörungen. Sein Benehmen ist so fremdartig und so wenig melancholisch
in engerem Sinne, daß der damalige Arzt glaubte, eine Dementia senilis incipiens
annehmen zu müssen, obgleich der Befund bei der Untersuchung der Merkfähigkeit,
des Gedächtnisses und des Urteilsvermögens sowie sein ganzer physischer Habitus
dagegen sprach. Der Kranke blieb immer in demselben Zustande; dann und
wann geriet er mehr unter den Einfluß der depressiven Ideen, war ängstlich, mei¬
stens aber war er ruhig und äußerte seine Wahnideen ohne Affekt. Er starb im
März 1897 plötzlich infolge gestörter Herztätigkeit.
Seine Tochter C. d. V . (Nr. 12 817), geboren 1869, vermählt, Mutter von
2 Kindern. Nach der zweiten Entbindung war sie einige Zeit nervös und ängst¬
lich. Im übrigen war sie immer gesund. Seit 1910 wurde sie energielos, hatte Wein¬
krämpfe, schlief schlecht, vernachlässigte ihre Haushaltung. In der Universitäts¬
klinik wurden hysterische Symptome beobachtet. Im April 1913 kam die Kranke
in unsere Anstalt. Sie war leicht deprimiert, klagte über fremde körperliche Sen¬
sationen, war bisweilen ängstlich. (Diagnose: Melancholie?) Sie konnte nach
5 Monaten gebessert entlassen werden. Nach späteren Nachrichten war die Kranke
jedoch zu Hause niemals mehr ganz normal. Sie wurde nach 3 Monaten in die
Universitätsklinik aufgenommen. Im September 1917 kam sie in unsere Anstalt
zurück, in einem starken Exaltationszustand. Sie war ganz verwirrt, sang, schrie,
war aggressiv. Auch als sie nach einigen Monaten ruhiger wurde, blieb sie verwirrt,
hatte erotische Wahnideen und Halluzinationen. Sie ist jetzt eine ganz verschro¬
bene Schizophrene, sprachverwirrt, mit Gefühls- und Gehörshalluzinationen, sie
ist vollkommen ungesellschaftlich, impulsiv, aggressiv und zu keiner Arbeit taug¬
lich.
Faü 8. C. E. (Nr. 8744), geboren 1832, wurde im Jahre 1899 in unsere Anstalt
aufgenommen. Er war wahrscheinlich schon seit vielen Jahren geisteskrank. In
Amsterdam irrte er in den Straßen umher, verdiente bettelnd sein Brot, einer dieser
vielen halbverrückten Straßen typen, wie man sie in einer Großstadt findet. Wegen
eines Deliktes kam er ins Gefängnis. Dort wurde seine Geisteskrankheit erkannt
und deshalb wurde er hier interniert. Er zeigte sich als ein verworrener Paranoiker;
er hatte verwirrte Größenideen, meinte ein Graf und sehr reich zu sein. Er sammelte
allerlei Gerümpel und Lumpen, mit denen er sich schmückte. Er entwendete oft
auch den anderen Kranken ihre Sachen. Bisweilen tat er die fremdartigsten Dinge
in seine Speisen. Seine Stimmung war wechselnd, am meisten gehoben, bisweilen
deprimiert. Dieser Zustand blieb ungefähr unverändert bis zu seinem Tode im
Januar 1908.
318
F. J. Stuurman:
Seine Tochter W. E. (Nr. 9503), geboren 1878, ledig, wurde im Jahre 1904 in
unsere Anstalt aufgenommen. Sie soll in der Volksschule gut gelernt haben, war
jedoch nervös und reizbar, bis zum Ausbruch ihrer Krankheit war sie in Stellung
als Dienstmädchen. Sie war bei der Aufnahme schon mehr als 2 Jahre krank und
kam zu uns aus einer anderen Irrenanstalt. Sie war dann sehr erregt, desorientiert,
ganz verwirrt, halluzinierte, zeigte einen stereotypen, monotonen Bewegungs¬
drang. Als sie später ruhiger wurde, blieb sie verworren, autistisch, negativistisch,
impulsiv und aggressiv und ist jetzt eine verblödete Schizophrene, sprach verwirrt,
oft noch halluzinierend; sie beschmiert, zerreißt Kleider, ist unrein, muß oft im
permanenten Bade verflegt werden.
Fall 9 . B. A. (Nr. 3987), geboren im Jahre 1832, verheiratet, Mutter von
5 Kindern. Ihr Vater wurde während seines Lebens als ein Schwachsinniger be¬
trachtet. Sie selbst war eine tüchtige Frau, bis sie 1809 in puerperio psychisch
erkrankte. Sie war erregt, verwirrt, halluzinierte, konnte jedoch zu Hause ver¬
pflegt werden. Bei der folgenden Entbindung im Jahre 1876 wurde sie wieder ver¬
wirrt; diesmal mußte sie in die Anstalt aufgenommen werden. Sie wurde hier
schnell ruhig, blieb aber apathisch, inaktiv, zurückgezogen und hörte auch noch
Stimmen; sie wurde jedoch den Wünschen ihrer Familie gemäß nach 7 Monaten
als gebessert entlassen. Nach späteren Berichten blieb sie zu Hause immer etwas
sonderbar.
Ihr kurz vor ihrer Aufnahme im Jahre 1876 geborener Sohn K. K. (Nr. 9484)
lernte in der Volksschule gut und wurde wie sein Vater Zimmermann. Er hatte
immer einen eigensinnigen Charakter. Er arbeitete mit seinem älteren Bruder im
Geschäft des Vaters; beide Brüder zankten oft miteinander. Im Jahre 1902 wurde
unser Kranker apathisch, inaktiv, er vernachlässigte seine Arbeit und war sehr
reizbar und impulsiv. Dann bekam er Gehörs- und Gefühlshalluzinationen und
hypochondrische Wahnideen. Bei seiner Aufnahme im April 1904 wurde die
Diagnose: „Hebephrenie“ unmittelbar gestellt. Der Kranke ist seitdem immer mehr
verblödet, er ist jetzt ein dementer Schizophrene, schmutzig und unrein, der
ohne jedes Interesse automatisch seine Arbeit als Karrenschieber verrichtet.
Fall 10. M. R. (Nr. 13 981), geboren im Jahre 1874, verheiratet, Mutter von
7 Kindern. Nach der Entbindung ihres 7. Kindes im August 1902 wurde diese
Kranke zum ersten Male hier aufgenommen. Sie war etwa 2 Monate nach der Ent¬
bindung akut geisteskrank geworden. Hier war sie im Anfänge ängstlich und ver¬
wirrt, desorientiert, halluzinierte stark. Später wurde sie gehemmt, mutistisch;
äußerte sich nur selten, um mit Flüsterstimme zu fragen: „Werde ich gestraft
werden?“ Die Diagnose war „Melancholia attonita“. Nach einigen Monaten trat
Besserung ein; sie blieb jedoch noch einige Zeit kindisch, kritiklos, ohne Krank¬
heitseinsicht. Im Juli 1903 wurde sie als geheilt entlassen. Zum zweiten Male
wurde diese Kranke im Oktober 1920 hier auf genommen. Sie war ohne bekannte
Ursache wiederum plötzlich verwirrt geworden. Sehr erregt, ganz verwirrt und
desorientiert, mußte sie anfänglich im Dauerbade verpflegt werden. Dann wurde
sie wieder ruhiger und gehemmt; sie war jedoch auffallend wenig deprimiert oder
ängstlich. Die Diagnose wurde doch auf manisch-depressives Irresein gestellt. Nach
2 Monaten trat eine schnelle Heilung ein. Im Dezember 1920 wurde sie entlassen.
Im Juli 1923 wurde sie zum dritten Male hier aufgenommen, nachdem sie
wiederum plötzlich ohne bekannte Ursache verwirrt geworden war. Der Ver¬
lauf war derselbe wne die früheren Male; im September 1923 wurde sie geheilt
nach Hause entlassen. Dieses Mal wurde als Diagnose „Hysterie“ eingetragen,
weil die Kranke während des Stuporzustandes mehrmals psychisch beeinflußt
werden konnte und einmal in der Anstalt einen hysterischen Anfall mit Are de
cercle zeigte.
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 319
Ihr Sohn C. B. (Nr. 12 999), geboren 1896, war ein tüchtiger Knabe bis 1917.
Er war damals im Militärdienst und wurde, nachdem er vielmals seines sonderbaren,
undisziplinierten Benehmens wegen bestraft worden war, als dienstuntauglich
erklärt. Seine Kameraden und seine Familie meinten, daß er dieses Benehmen nur
simuliert hatte, um vom Militärdienste loszukommen. Anfänglich benahm er sich
zu Hause nach seiner Entlassung ganz normal. Im folgenden Jahre aber wurde er
plötzlich ohne bekannte Ursache ganz verwirrt. Er halluzinierte stark, meinte
Gott zu sein, lief nackt auf die Straße. Bei seiner Aufnahme in die Anstalt zeigte er
eine ausgesprochene katatone Erregung, auf die katatoner Stupor folgte. Nach
etwa einem halben Jahre wurde er allmählich lebendiger, blieb aber apathisch und
inaktiv. Er ist jetzt ein gleichgültiger, kindischer Schizophrene, der als Karren -
Schieber arbeitet, kein Interesse hat, meistens hilär gestimmt ist und oft impulsive
Freveltaten betreibt.
Das folgende Beispiel betrifft einen Mann mit einer atypischen
Psychose (Spätkatatonie?), dessen 2 Töchter vorübergehend psycho¬
tisch wurden und von dem ein Neffe an Schizophrenie erkrankte.
Fall 11. H. K. (Nr. 7540), geboren 1834, war ein sehr tüchtiger Mann, der sich
aus dem Arbeiterstande zum Ladenhändler und Schankwirt emporgearbeitet hatte.
Anfänglich sehr mäßig im Gebrauch von Spitituosen, trank er in den späteren
Jahren viel Alkohol. Im letzten Winter vor seiner Aufnahme wurde er nervös,
reizbar, aß und schlief schlecht und trank immer größere Mengen Schnaps. Pfing¬
sten 1895 wurde er verwirrt, halluzinierte stark und war während einiger Tage ganz
desorientiert. Obschon er seither keinen Tropfen Alkohol mehr zu sich nahm, be¬
kam er im August wieder einen solchen Verwirrtheitsanfall. In unserer Anstalt
interniert, w r ar er sein* erregt, halluzinierte, entkleidete sich, masturbierte; war
ganz desorientiert und verwirrt. Das Krankheitsbild stimmte nicht mit dem damals
schon gut bekannten des Delirium tremens (u. a. bestand kein Tremor). Als Dia¬
gnose wurde eingetragen: Mania acuta atypica. Der Kranke wurde allmählich
ruhiger, hatte sogar stuporöse Phasen, blieb jedoch verwirrt, affektlos, autistisch;
stand oft stundenlang in derselben Haltung, wodurch er Fußödemc bekam; war
dann und wann wieder erregt, entkleidete sich, beschmierte, mußte dann isoliert
werden. Nie war er wieder imstande, mit den anderen Kranken gesellschaftlich zu
verkehren oder etwas zu arbeiten oder zum Vergnügen zu tun. Er starb 3 1 /* Jahr
nach seiner Aufnahme. Die Todesursache ist in dem Krankenblatt nicht ange¬
geben.
Seine Tochter O . K . (Nr. 5322), geboren im Jahre 1865, verheiratet, wurde
3 Tage nach ihrer ersten Entbindung im Jahre 1886 geisteskrank. Sehr erregt
und verwirrt, wurde sie hier aufgenommen. Sie schrie und sang, halluzinierte, ent¬
kleidete sich, äußerte verworrene Wahnideen: sie würde vergiftet, bezaubert, fahre
zur Hölle; sie wäre der Engel Gabriel. Sie war desorientiert und unrein. Nach etwa
4 Wochen wurde sie allmählich ruhiger; sie blieb noch lange leicht verwirrt, reiz¬
bar, unzufrieden, mißtrauisch, sowie gleichgültig und schmutzig. Nach 8 Monaten
bekam sie Krankheitseinsicht und konnte als geheilt entlassen werden.
Eine andere Tochter von H. K., war gleichfalls zweimal vorübergehend geistes¬
krank; sie wurde jedoch in einer anderen Anstalt verpflegt.
Ein Sohn einer Schwester von H. K., ein gewisser J. K. (Nr. 11 504), geboren
1869, verheiratet, Metzgergeselle, lernte in der Volksschule gut, war ein ordent¬
licher braver Mann, bis ungefähr 1908. Dann wurde er mißtrauisch, vernachlässigte
seine Arbeit und fing an Schnaps zu trinken. Er hatte Beziehungswahnideen,
Verfolgungs- und Eifersuchtswahn, war sehr reizbar und drohte seiner Frau und
anderen Personen mit einem Revolver. In der Anstalt war er ziemlich ruhig, sehr
320
F. J. Stuurman:
apathisch, kritiklos, er protestierte nur schwächlich gegen seine Internierung.
Seine Wahnideen waren nicht systematisiert. Nach einer anderen Irrenanstalt
verlegt, ist er dort schnell verblödet, so daß die Diagnose der Dementia paranoides
nicht bezweifelt werden kann. Dieser Kranke war jedoch auch von väterlicher Seite
erblich mit Geisteskrankheit belastet. Sein Vater selbst war ein roher, jähzorniger
Mann, Potator, der durch Selbstmord endete.
Als letztes Beispiel dieser Elter-Kindserien möchte ich folgende
Serie mitteilen, bei der die Mutter an einer ausgesprochenen Form
von Schizophrenie litt, die Tochter jedoch eine Psychopathin war.
Fall 12. J. J. (Nr. 10 760), geboren 1861, verheiratet, Mutter von 9 Kindern,
wurde hier im Jahre 1909 aus einer anderen Irrenanstalt auf genommen. Sie war
damals schon seit 1904 nach der Geburt ihres jüngsten Kindes geisteskrank.
Nach ihrer ersten Entbindung im Jahre 1884 war sie auch vorübergehend geistes¬
krank gewesen. Bei ihrer Aufnahme hier war sie schon ganz verworren; sie sprach
vielen Unsinn, schrie und sang, halluzinierte stark, war unrein, schmierte; kurz, sie
war eine für die Verpflegung schwierige lästige Schizophrene. Sie starb hier im
Jahre 1916 an Influenza.
Ihre zweite Tochter C. L. (Nr. 13 662), geboren 1887, ein lediges Dienst¬
mädchen, konnte genügend lernen, war aber ein schwer zu erziehendes Kind,
besuchte die Volksschule nicht zu Ende, und litt viel an Kopfschmerzen. Sie hatte
keine Freundinnen. Seit ihrem 25. Jahre (1913) ist sie nervös, reizbar, oft depri¬
miert, ängstlich ratlos. Verschiedene Male wurde sie in die Universitätsklinik zu
Amsterdam aufgenommen, einmal nach einem ernstlichen Selbstmordversuch: sie
war aus einem Fenster gesprungen und hatte ein Bein gebrochen. Im Januar 1920
wurde sie hier zum ersten Male aufgenommen. Sie war ganz besonnen und gut
orientiert, war aber ängstlich, unruhig, hatte schwere Wutanfälle, zeigte hysterische
Symptome (Are de cercle) und machte verschiedene Versuche, sich selbst zu ver¬
stümmeln. Nach einigen Monaten war sie etwas ruhiger und es wurde ihr eine
Stellung als Dienstmädchen verschafft. Dieser Versuch, sie wieder zu beschäftigen,
mißlang aber rasch und die Kranke kam in unsere Anstalt zurück. Ihr Zustand ist
seither wenig geändert. Sie ist immer unzufrieden mit sich selbst und mit der
ganzen Welt, weiß nicht, was sie will, ist oft mehr oder weniger deprimiert, ängst¬
lich, unruhig, macht dann die verschiedensten Selbstmordversuche; so hat sie
schon allerlei verschluckt: Steck- und Haarnadeln, Nägel, Glasscherben usw. Ob¬
gleich sie besonnen und gut orientiert ist und keine Merkfähigkeit- oder Gedächt¬
nisstörungen hat, ist sie kritiklos in ihrem Denken und liebt es sehr, allerlei pseudo¬
philosophische Betrachtungen zu halten. Wegen der ständigen Gefahr, daß sie
sich das Leben nimmt oder sich verstümmelt, muß sie immer in dem Observations¬
saal verpflegt werden, wo sie im Bett leichte Arbeit verrichtet.
Von den 24 Geschwisterserien, bei denen nur ein Glied an einer
ausgesprochenen Schizophrenie litt, indem das andere Glied (caso quo
Glieder) eine atypische Psychose hatte, möchte ich ebenso einige Bei¬
spiele geben. Die atypischen Psychosen gleichen in einigen Fällen einer
atypischen Manie, Melancholie oder dem manisch-depressiven Irresein,
in anderen Fällen einer Amentia, der Hysterie, Neurasthenie oder
der Moral insanity. Gleichwie in den Geschwisterserien der ersten
Gruppe, waren bei diesen Serien Brüder und Schwestern in ungefähr
gleichem Maße betroffen; ebenso die älteren und jüngeren Kinder
der Familien. Das Alter, in dem die Erkrankung auftrat, war auch
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 321
in vielen Serien bei den beiden (caso quo allen) Gliedern der Serie
ungefähr dasselbe. Wenn in andern dieser Geschwisterserien wohl
ein Unterschied des Erkrankungsalters bei den beiden Gliedern
bestand, so war meistens das Glied, das an ausgesprochener Schizo¬
phrenie litt, in einem jüngeren Alter erkrankt als das andere Glied.
Also der Geschwister mit der schwersten Psychose war meistens früher
erkrankt als der Geschwister mit der leichteren Psychose, das heißt im
allgemeinen besteht eine Anteposition zum Nachteile des am schwersten
erkrankten Geschwisters.
Es folgen einige Beispiele. •
Fall 13. H. J. (Nr. 3485), geboren 1840, ein lediger Tagelöhner, war gesund
bis 1870. Dann erkrankte er an Variola und seither blieb er körperlich und geistig
kränkelnd. Er wurde gleichgültig, energielos, hatte hypochondrische Beschwerden,
bekam Vergiftungsideen, verweigerte dann und wann Nahrungsaufnahme, schimpfte
oft, wenn man ihn belästigte. Im Juli 1873 wurde er hier aufgenommen. Er war
dann sehr indolent, inaktiv, fast mutistisch, er lag meistens unbeweglich im Bett,
jedoch masturbierte er viel und schamlos. Körperlich zeigte er Oedema pedum,
später allgemeinen Hydrops; im Harn Eiweiß. Er aß und schlief schlecht, wurde
in den folgenden Wochen sehr mager und anämisch und starb im September des¬
selben Jahres. Bei der Sektion wurde außer einer chronischen Nephritis eine
Lymphosarkomatosis (Pseudoleukämie) gefunden.
Sein Bruder D. J. (Nr. 3588), geboren 1846, gleichfalls ein lediger Tagelöhner,
wurde angeblich infolge der Erkrankung des oben genannten Bruders auch geistes¬
krank — mit ungefähr denselben geistigen Symptomen. Im November 1873 hier
aufgenommen, war er sehr gleichgültig, inaktiv, ncgativistisch; er verweigerte oft
Nahrungsaufnahme, war fast mutistisch. Dann und wann war er eine kurze Zeit
erregt und impulsiv. Im folgenden Jahre hatte er sich schon an einfache Arbeit,
wie Holzsägen, gewöhnt und er wurde als ein ruhiger Demens betrachtet. In diesem
Zustande blieb er, bis er im Jahre 1901 nach einer anderen Irrenanstalt verlegt wurde.
Ein anderer Bruder H. J. (Nr. 3883), geboren im Jahre 1848, wurde hier 1876
aufgenommen. Er zeigte dasselbe Krankheitsbild wie sein Bruder D. J., nur war
er stärker gehemmt, so daß die anfängliche Diagnose „Melancholia attonita“ schon
1884 geändert wurde in Katatonie. Dieser Kranke blieb in unserer Anstalt bis zu
seinem Tode im Jahre 1909.
Als vierter Geschwister wurde hier schließlich noch das jüngste Kind dieser Fa¬
milie aufgenommen, die im Jahre 1852 geborene Hel. J., eine ledige Tagelöhnerin.
Sie war in ihrem 46. Lebensjahre zum ersten Male geisteskrank gewesen und
damals während eines halben Jahres in einer anderen Irrenanstalt verpflegt worden.
Angeblich hatte sie dort ein amentiaartiges Krankheitsbild gezeigt. Sie blieb
weiter gesund bis zu ihrem 64. Lebensjahre (1916). Ohne bekannte Ursache wurde
sie dann unruhig, ängstlich, verwirrt. In der Universitätsklinik zeigte sie eine
starke motorische Erregung mit ängstlicher Stimmung. Sie war desorientiert und
verwirrt, machte sogar einen dementen Eindruck. Bei der Aufnahme hier war sie
schon viel ruhiger. Sie äußerte verschiedene Selbstanklagen und hypochondrische
Ideen in monoton jammernder Weise. Die ängstliche, depressive Stimmung ver¬
schwand bald; sie blieb jedoch unzufrieden mit sich selbst; hatte noch viele hypo¬
chondrische Beschwerden. Sie wurde nach einem halben Jahre als genügend geheilt
entlassen.
FaU 14. P. T. (Nr. 8719), geboren 1876, ein lediger Bauergesell, war ein tüch¬
tiger Mann, hatte jedoch immer einen sehr eigensinnigen Charakter. Im Jahre
322
P. J. Stuurman:
1897 bekam er Beziehungsideen und religiöse Wahnideen; er meinte ausgewählt zu
sein, um die Welt zu bekehren; er betete laut stundenlang und predigte in der
Straße; nebenbei exhibitionierte er und masturbierte stark. In unsere Anstalt auf-
genommen, zeigte er dieselben religiösen Wahnideen, versuchte auch hier zu pre¬
digen, gebrauchte dabei viele Neologismen. Er halluzinierte viel, war aber im
übrigen apathisch und ruhig. Anfänglich wollte er hier gar nicht arbeiten, war den
ganzen Tag mit seinen Wahnideen beschäftigt; später machte er einfache Garten¬
arbeiten und verblödete mehr und mehr. Er wurde im Januar 1907 als ein ver¬
wirrter dementer, jedoch ruhiger Schizophrene nach einer anderen Irrenanstalt
verlegt.
Seine Schwester A. T. (Nr. 12 831), geboren 1884, ledig, hatte wie ihr Bruder
einen eigensinnigen starrköpfigen Charakter. Sie wurde im Jahre 1908 zum ersten
Male hier aufgenommen wegen Verfolgungsideen. Sie meinte, von ihrer Familie
schlecht behandelt zu sein; hatte allerlei kleine Beschwerden, sprach darüber mit
großer Geschwätzigkeit, immer dasselbe wiederholend, war dabei oft in ängst¬
licher Erregung. Sie zeigte eine große Kritiklosigkeit und sogar eine leichte Ver¬
worrenheit. Obgleich Halluzinationen nicht bemerkt wurden, wurde die Diagnose
anfänglich doch als Dementia paranoides eingetragen. Die Kranke wurde jedoch
nach etwa 10 Monaten ruhiger, bekam Krankheitseinsicht und konnte als geheilt
entlassen werden.
Im Jahre 1914 kam sie in unsere Anstalt zurück. Sie soll in der Zwischenzeit
dreimal einen leichten Erregungszustand gehabt haben, ohne daß Krankenhaus-
auf nah me nötig gewesen wäre. Die Krankheitsphasen verliefen immer in der¬
selben Weise; erst wurde sie still, mißtrauisch, unzufrieden und dann immer er¬
regter mit denselben Beeinträchtigungsideen. Bei der zweiten Aufnahme hier
war sie wieder sehr erregt, sprach viel und ziemlich verwirrt über ihre Beeinträch¬
tigungsideen und über eine ihr gehörende Erbschaft; zeigte jedoch keine Ideen-
flucht und keine Hypermetamorphose. Ihre Stimmung ist zornig, unzufrieden,
nicht manisch, noch ängstlich. Sie ist gut orientiert, aber sehr kritiklos. Allmäh¬
lich wurde sie auch dieses Mal nach einigen Monaten wieder ruhiger; bei ihrer
Entlassung war sie nur noch etwas mißtrauisch ihrer Familie gegenüber.
>X? Zum dritten Male wurde sie im Jahre 1917 liier aufgenommen. Wieder die¬
selben Symptome: unzufriedene Stimmung, Beeinträchtigungsideen, große Ge¬
schwätzigkeit, Kritiklosigkeit, rohes und grobes Benehmen. Nach 2 l /t Jahren
wurde sie wieder geheilt entlassen.
Fall 15. C. T. (Nr. 11 525), geboren 1888, ein lediger Metzgergeselle, wurde
hier zum ersten Male im Jahre 1905 zusammen mit seinem jüngeren Bruder auf¬
genommen. Beide sind infolge eines heftigen Schreckens geisteskrank geworden. Am
Neujahrs tage 1905 hatte der älteste Bruder dieser Familie bei dem hierzulande
üblichen Neujahrsschießen den Vater durch eine verhängnisvolle Fahrlässigkeit
erschossen. Unser Kranker hatte darüber gegrübelt; er hatte dann Beziehungs¬
ideen, später unbestimmte Verfolgungs- und VergiftungsWahnideen bekommen;
er betrachtete den Unfall als Folge eines Komplottes seiner Mutter und seines
ältesten Bruders. Bei der Aufnahme in die Anstalt erzählte der Kranke hier die¬
selben Wahnideen. Er war sehr erregt, ängstlich, leicht verwirrt, hatte Gehörs¬
und Gefühlshalluzinationen. Nach einiger Zeit wurde er ruhiger, geriet dann in
einen Stuporzustand. Erregungs- und Hemmungsphasen wiederholten sich noch
einige Male, dann wurde der Kranke allmählich ziemlich normal: er hatte Krank¬
heitseinsicht, arbeitete fleißig im Garten, zeigte wieder Interesse für seine Familie,
so daß er Anfang 1912 als genügend geheilt entlassen wurde.
Diese Heilung war jedoch eine sehr kurzdauernde. Nach 2 Monaten kam er
w r ieder in einem Erregungszustände in die Anstalt zurück: er halluzinierte wieder
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 323
stark, hatte wieder verwirrte Verfolgungs- und Vergiftungsideen; er war autistisch
und zeigte inkohärente Ideenassoziationen; oft war er impulsiv und aggressiv
unter dem Einfluß seiner GefühlshaUuzinationen im genitalen Gebiete. Allmählich
trat wieder eine Remission ein; im folgenden Jahre war er ruhig, arbeitete wieder
fleißig im Garten, konnte frei herumlaufen. Er blieb aber autistisch und apathisch
und etwas kindisch. Seit 1918 wieder rückfällig: starke Erregungszustände mit
vielen Halluzinationen wechselten ab mit Hemmungszuständen. Er ist jetzt sehr
verworren, sprachverwirrt, negativistisch, oft aggressiv, ein typischer Katatoniker,
der fast fortwährend im Dauerbade verpflegt werden muß.
Sein Bruder T. T. (Nr. 13 443), geboren 1890, wurde, wie oben gesagt, im Jahre
1905 zusammen mit seinem 2 Jahre älteren Bruder hier aufgenommen. Er hatte,
wie alle Geschwister dieser Familie, in der Volksschule ziemlich schlecht gelernt
und war immer nervös und schreckhaft. Nach dem Verlassen der Schule kam er
in eine Stellung als Laufbursche und vollbrachte anfänglich diese Arbeit zur
allgemeinen Zufriedenheit. In der gleichen Zeit wie sein oben beschriebener
Bruder wurde er fremdartig, vernachlässigte seine Aufträge, verirrte sich, wurde
duselig, später ängstlich, verwirrt und desorientiert; er hatte Beziehungsgedanken,
später auch Gehörshalluzinationen, verweigerte Nahrungsaufnahme. Bei der Ein-
lieferung war er ruhig, apathisch, gehemmt, kataleptisch. Nach einigen Wochen
wurde er wieder erregt: er war ängstlich, hatte Visionen im Zusammenhang mit
dem Tot schießen seines Vaters, war dann plötzlich wieder übermäßig froh, sang,
tanzte, war brutal, machte Bubenstreiche. Diese Erregungs- und Hemmungs¬
phasen wiederholten sich in den folgenden Jahren verschiedene Male. Dazwischen
war er oft Monate lang ziemlich ruhig, aber sehr kindisch, töricht, kritiklos. Seit
etwa 1912 blieb er dauernd ruhig, er arbeitete fleißig im Garten. Schwierigkeiten
beim Unterbringen in der Beschäftigung waren die Ursache, daß der Kranke erst
im Jahre 1915 entlassen werden konnte. Er wurde als Kohlenträger bei einer Gas¬
fabrik angestellt; er benahm sich so gut und arbeitete so fleißig, daß ihm bald
besser besoldete Arbeit auf getragen wurde. Er verlobte sich 1920 mit einem etwas
leichtsinnigen Mädchen; er ging abends oft auf den Tanzsaal und trank viel Al¬
kohol. Nach kurzer Zeit wurde er wieder sonderbar, unruhig, machte närrische
Streiche, sprach verwirrt. Hier zum zweiten Male aufgenommen, war er desorien¬
tiert, verworren; lag meistens ruhig, apathisch im Bett, sprang dann oft plötzlich
auf, warf das Bettzeug aus dem Bette, war bisweilen aggressiv. Schon nach einigen
Tagen w r ar er besonnener und besser orientiert; er erkannte die Umgebung, die
Pfleger und den Arzt, blieb aber noch mehrere Monate leicht verwirrt, töricht,
kindisch; benahm sich und sprach gezwungen, zeigte kein Interesse für seine
Familie. Im folgenden Jahre hatte er noch einmal einen kurzen Erregungsanfall, ge¬
folgt von einer Hemmungsphase. Dann trat eine schnell fortschreitende Besserung
ein und er konnte im Frühjahr 1922 geheilt entlassen werden. Er arbeitet jetzt
noch immer in einer Fahrradreparaturanstalt.
Die Midier dieser beiden Kranken, M. H. (Nr. 12 738), geboren 1852, war eine
nervöse Frau, die angeblich nach ihrer ersten Entbindung kurze Zeit verwirrt ge¬
wesen ist. Sie konnte jedoch damals zu Hause verpflegt werden. Sie gebar 13 Kin¬
der. Seit ihrem 60. Lebensjahre litt sie an Herz- und Nierenbeschwerden. Im
Jahre 1917 wurde sie wegen einer Mitralinsuffizienz mit Ascites in das städtische
Krankenhaus auf genommen. Durch Digitalis- und Koffeinverordnung besserte
sich die Herztätigkeit, der Ascites verschwand; dann bekam die Kranke plötzlich
einen apoplektiformen Anfall mit darauf folgenden psychischen Störungen (Ver¬
wirrtheit, Halluzinationen). Hier aufgenommen war die Kranke sehr erregt, ganz
verwirrt und desorientiert. Die Stimmung war meistens ängstlich, weinerlich. Sie
sprach sehr unzusammenhängend über allerlei Familienangelegenheiten und Er-
324
F. J. Stuurman:
eignisse, sie war fortwährend beschäftigt mit ihrem Bettzeug, warf dieses umher,
versuchte das Bett zu verlassen usw. Sie schlief und aß sehr schlecht. In den
nächsten Wochen wurde sie etwas ruhiger; ihre Stimmung wechselte dann oft:
einmal war sie gut aufgelegt und zufrieden und dann wieder plötzlich gereizt,
weinerlich oder zornig. Sie blieb immer leicht verwirrt und desorientiert. Nach
5 Monaten trat eine Verschlechterung ihres körperlichen Zustandes ein: Herz¬
schwäche, Cheyne-Stokessches Atmen, Bewußtlosigkeit, Exitus letalis.
Fall 16 . A. H. (Nr. 10 179), geboren 1888, ledig, von mütterlicher Seite schwer
erblich belastet. Sie lernte in der Volksschule gut. Seit der Pubertät fremdartig,
zurückgezogen. Sie wurde schon in den Jahren 1903 und 1905 in der Universitäts¬
klinik zu Amsterdam wegen „Hysterie“ verpflegt. Im Februar 1907 wurde sie hier
interniert unter der Diagnose „Amentia“. Sie war erregt, halluzinierte stark, war
ganz desorientiert. Als sie ruhiger wurde, blieb sie verwirrt, autistisch, negativistisch,
zeigte oft einen stereotypen monotonen Bewegungsdrang. Nach einem halben
Jahre hatte sie eine kurze Zeit größere Besonnenheit, gute Orientierung und leb¬
haftes Interesse, dann wurde sie wieder verwirrt, interesselos, autistisch. Jetzt
ist sie eine verblödete Schizophrene, die nicht imstande ist, irgendwelche Arbeit
zu verrichten, um sich her speit, oft unsauber ist und mit ihrem Ham verunreinigt.
Ihre Schwester M. H. (Nr. 12 088), geboren 1895, war ähnlich wie die oben be¬
schriebene Kranke, ein nervöses Kind, hatte einen munteren Charakter und lernte
gut. Im Frühjahr 1914 wurde sie ohne bekannte Ursache unruhig und sonderbar,
sie irrte umher, grübelte, war still und zurückgezogen. Dann wurde sie ängstlich,
erregt. In die Klinik zu Amsterdam aufgenommen, war sie sehr unruhig, schlief
wenig, halluzinierte stark, sprach viel und ganz verwirrt, verkannte die anwesen¬
den Personen. Nach einigen Tagen wurde sie ruhiger, später sogar gehemmt.
Sie tat alles sehr langsam, saß lächelnd in katatoner Haltung, regungslos im Bett,
starrte lange nach einem Punkt, sprach flüsternd zu sich selbst. In diesem Zu¬
stande wurde sie in unsere Anstalt verlegt. Hier wurde sie sehr rasch lebhafter,
zeigte Interesse für ihre Familie, fing an zu arbeiten und konnte schon nach einem
Monate als geheilt entlassen werden.
Fall 17. A. J. (Nr. 13 083), geboren 1881, ein lediger Feldarbeiter, ist von
mütterlicher Seite erblich belastet. Er lernte gut, hatte einen reizbaren, jähzornigen,
aber gutartigen Charakter, war immer etwas zurückgezogen. Im Sommer 1907
wurde er mißtrauisch, still, noch mehr zurückgezogen. Dann wurde er plötzlich
verwirrt und erregt. Er sei der Sohn Gottes und hätte einen Auftrag von Gott
erhalten, die Menschen zu bessern. Bei der Aufnahme im November 1907 war er
ziemlich ruhig und erzählte seine Wahnideen in apathischer Weise. Er war in¬
aktiv, leicht verwirrt. Dann und wann wurde er plötzlich erregt, schrie ganz laut,
offenbar als Reaktion auf seine Gehörshalluzinationen. Bisweilen impulsive
Handlungen (Fensterscheiben zerschlagen!). Allmählich traten diese Wutanfälle
seltener auf. In der Zwischenzeit war er immer sehr ruhig, apathisch, inaktiv,
sprach spontan nur selten über seine Wahnideen. Infolge des Wunsches seines
Vaters wurde er im Juni 1909 „nicht geheilt“ entlassen. Er blieb zu Hause bis
August 1915, als er in unsere Anstalt zurückkam, weil er seiner Schreianfälle
wegen im Dorfe unmöglich geworden war. Hier war er wieder, wie früher, ein
ruhiger, apathischer, inaktiver, kindischer Schizophrene, der gar nicht gegen seine
Internierung protestierte und bald wieder fleißig einfache Gartenarbeiten machte.
Sein Zustand hat sich seither nur wenig geändert. Er ist hier kindisch, leicht ver¬
wirrt und sehr kritiklos. Nur selten hat er noch bisweilen einen alten Schreianfall;
über seine Wahnideen redet er gar nicht mehr.
Sein Bruder J. J. (Nr. 8876), geboren 1883, war ebenfalls ein tüchtiger, jedoch
nervöser und zurückgezogener Knabe. Er wurde im August 1901 mißtrauisch
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 325
und reizbar, zankte viel mit seiner etwas fremdartigen Mutter. Er fing an Alkohol
zu trinken und zu vagabundieren. Plötzlich wurde er ganz verwirrt: er stellte sich
auf einen Heuschober, gestikulierte heftig und predigte verwirrt; er sollte die
Welt und das menschliche Geschlecht vernichten. Dann schlug er ein Kaninohen
tot und fing an, es zu verzehren. Bei seiner Internierung hier war er sehr erregt:
er wollte nicht im Bett bleiben, lief herum, zerriß Kleider und Bettzeug, onanierte
schamlos, sprach dabei sehr wenig und antwortete gar nicht. Nach einigen Tagen
schon wurde er ruhiger und besonnen. Er zeigte sich ganz gut orientiert, erinnerte
sich des Geschehenen, wollte sich aber nicht äußern über die Motive seines eigen¬
artigen Benehmens. Dann wurde er zurückhaltend, lag stuporös im Bett, ant¬
wortete fast nicht mehr, war trübsinnig und negativistisch, bisweilen impulsiv,
zerschlug z. B. plötzlich eine Fensterscheibe oder einen Blumentopf oder warf
seine Fäkalien in sein Zimmer. Dieser Zustand dauerte mehrere Monate; dann
wurde er plötzlich wieder erregt, sprach vielen Unsinn, benahm sich sehr närrisch.
Nach diesem kurz dauernden Erregungszustände wurde er allmählich ruhiger,
zeigte Interesse für seine Familie, fing an im Garten zu arbeiten und konnte im
August 1902 als geheilt entlassen werden. Nach späteren Berichten ist er bis
heute nie wieder geisteskrank geworden; er ist ähnlich wie mehrere seiner Ver¬
wandten, ein stiller, zurückgezogener, scheuer Mann.
Fall 18. J. A. K. (Nr. 9646), geboren 1885, ein lediger Anstreichergeselle,
lernte in der Volksschule genügend, hatte einen nervösen, aber gutartigen, ruhigen
Charakter. Im Jahre 1901 wurde er zum ersten Male erregt und verwirrt, so daß
er einige Wochen in der Universitätsklinik zu Amsterdam verpflegt werden mußte.
Dasselbe wiederholte sich in den beiden folgenden Jahren. Im Februar 1905 wurde
er in unsere Anstalt gesandt. Er war damals in einem Hemmungszustande: er
beantwortete sehr schlecht die gewöhnlichen Orientierungsfragen, machte einen
dementen Eindruck. Nach einigen Wochen trat ein plötzlicher Umschlag ein: er
wurde sehr erregt, halluzinierte stark, zeigte einen großen Bewegungs- und Rede-
drang, war mehr oder weniger manisch (hilär) gestimmt, äußerte verworrene Größen -
ideen. Seither hat dieser Kranke hier regelmäßig Hemmungs- und Erregungs¬
phasen durchgemacht: erstere mit hypochondrischen Wahnideen und Gefühls¬
halluzinationen, letztere mit Größenideen und Gehörshalluzinationen. Die ver¬
schiedenen Phasen dauern ein oder mehrere Monate und sind oft voneinander ge¬
schieden durch eine lichte Zwischenzeit, in welcher der Kranke fleißig als An¬
streicher arbeitet. Er ist auch dann bestimmt nicht ganz normal: er bleibt immer
autistisch und apathisch, hat leicht verwirrte Ideen und eine große Kritiklosigkeit;
er spricht und benimmt sich geziert, so daß er von den verschiedenen Ärzten stets
als an einer zirkulären Form der Schizophrenie leidend betrachtet wurde.
Seine Schivester J. K. (Nr. 13 301), geboren 1878, verheiratet, Mutter von
5 Kindern, wurde im September 1917 zum ersten Male hier auf genommen. Vor¬
her war sie schon 11 mal in der Universitätsklinik zu Amsterdam und in anderen
Irrenanstalten verpflegt worden wegen eigenartiger, depressiver Anfälle, die seit
1895 in unregelmäßigen Zwischenräumen auf traten. Sie hatte jedesmal verschie¬
dene hypochondrische Wahnideen mit großer Angst und vernunftlosem Selbst¬
morddrange. In solch einem Zustande kam sie auch in unsere Anstalt. Sie war
ganz gut orientiert und besonnen, äußerte sich ungern über ihre Wahnideen und
versuchte dieselben anfangs so viel wie möglich zu dissimulieren, drang schon nach
einigen Tagen auf ihre Entlassung. Die Angst war hier verhältnismäßig gering;
die Kranke war eigentlich nicht recht melancholisch, mehr unzufrieden mit sich
selbst und mit der ganzen Welt; sie hatte immer viel zu klagen, hatte allerlei körper¬
liche Beschwerden, namentlich Beklemmungen der Brust in der Herzgegend.
Sie war apathisch und inaktiv, nur wenn ihr etwas nicht gefiel, gereizt und im-
326
F. J. Stuurman:
pulsiv. Weil die Selbstmordgefahr nicht allzu groß erschien, wurde sie nach 8 Mo¬
naten (Juni 1918) infolge des Wunsches ihres Ehemannes entlassen. Zu Hause
war sie anfangs ziemlich ruhig und zufrieden, dann kehrte ihre Unruhe und Rat¬
losigkeit wieder zurück. Im September 1919 wieder in unsere Anstalt auf genommen,
zeigte sie seither immer dieselben Symptome. Periodisch ist ihre Unzufriedenheit,
Ratlosigkeit, Unruhe und Taedium vitae gesteigert; in der Zwischenzeit ist sie
ruhig, apathisch, arbeitet jetzt ein wenig in unserer Buchbinderei, hat immer viel
zu klagen. Noch zweimal wurde sie nach Hause entlassen; diese Versuche, sie wieder
zu beschäftigen, scheiterten vollständig; nach heftigen häuslichen Tumulten und
ehelichen Zänkereien kam sie beide Male bald wieder zurück. Sie hat jetzt ein
großes Mißtrauen gegenüber ihrem Ehemann, den sie der Untreue bezichtigt. Sie
will selbst nie wieder entlassen werden.
FaU 19. P. K. (Nr. 13 366), geboren 1883, Techniker, war in seiner Jugend ein
tüchtiger Knabe, lernte sehr gut, hatte jedoch einen stillen, zurückgezogenen, mi߬
trauischen Charakter. Gegen seine Ehefrau und die Kinder war er despotisch.
Weihnachten 1919 wurde er plötzlich verwirrt, nachdem er die letzten Monate sich
viel mit spiritistischen Studien und Versuchen beschäftigt hatte. Etwa 8 Jahre
vorher soll er angeblich auch einmal nach großer Überanstrengung überspannt
und verwirrt gewesen sein. Dieses Mal war er so erregt, daß er nicht zu Hause
bleiben konnte und hier interniert wurde. Er war desorientiert, hatte Gesichts¬
und Gehörshalluzinationen, meinte, daß er von Gott erkoren wäre, als ein zweiter
Jesus; seine astrologische Konstellation sollte dieselbe wie die von Jesus sein.
Er will die Welt reformieren; er lag hier im Bett verwirrt zu predigen, geziert sich
benehmend, die Anwesenden mit großen Augen anstarrend, um alle zu hypnoti¬
sieren. Nach einigen Wochen wurde er ruhiger; er war dann gut orientiert, pro¬
testierte gegen seine Internierung: er sei nicht geisteskrank. Er hatte teilweise
Krankheitseinsicht für die akute Verwirrtheitsphase; er betrachtete sich jedoch
noch immer als eine besondere Person; er hätte bestimmte Vorzeichen wahr¬
genommen; in jeder Hinsicht sei er sehr begabt; seine ganz einfachen mathemati¬
schen Berechnungen und sein sehr schlechtes Violinespiel betrachtete er als etwas
ganz Besonderes. Er benahm sich autistisch und geziert und wollte hier gar nichts
arbeiten, lief mit großen Schritten in der Abteilung herum. Es machte auf uns
den Eindruck, daß er etwas dissimulierte. In diesem Zustande wurde er dem
Wunsche seiner Frau gemäß entlassen, er kam jedoch schon nach 3 Wochen wieder
in die Anstalt zurück, weil er zu Hause aggressiv auftrat, in der Meinung, daß seine
Frau mit seinen Feinden (den Jesuiten!) sich verschworen hätte; er glaubte sich
von Spionen beobachtet: unser Direktor sollte ein Zimmer gegenüber seiner Woh¬
nung gemietet haben, um ihn radiologisch zu beeinflussen. Hier protestierte er an¬
fänglich stark gegen seine zweite Internierung; schrieb viele Briefe an verschiedene
Behörden; benahm sich stolz und feindselig uns gegenüber und wollte sich über
seine Wahnideen und Halluzinationen gar nicht äußern. Er zog sich ganz zurück,
wollte nicht arbeiten, lief grübelnd umher. Später äußerte er sich dann und wann
mit leichtem Affekt über seine Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen, speziell
im sexuellen Gebiete und allmählich entwickelte sich das ganze Krankheitsbild des
physikalischen Verfolgungswahnes. Er wurde im Sommer 1923 ungeheilt nach
einer anderen Irrenanstalt verlegt.
Seine Schwester B. K. (Nr. 13 680), geboren 1878, verheiratet, kinderlos, wurde
hier zum ersten Male auf genommen im März 1906. Sie war immer eine nervöse,
reizbare Frau, wetterwendisch, flatterhaft, leichtsinnig, unbesonnen und eitel. Ihr
eheliches Leben war unglücklich, obwohl sie einen guten, wohlwollenden, netten,
tüchtigen Mann hatte. Sie war nie schwanger gewesen. Im Januar 1906 fing sie an,
ihren Mann der ehelichen Untreue zu bezichtigen; sie wurde sehr erregt, hatte
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 327
Wutanfälle, zerriß zu Hause Gardinen und Kleider. In der Anstalt war sie bald
beruhigt, leicht zurückhaltend: sie lag regungslos im Bett, antwortete wenig, sagt:
sie könne nicht denken, ihre Gedanken ständen still, ihr Gehirn sei erweicht. Ihre
Stimmung war depressiv. Nach einigen Monaten trat eine schnelle Besserung ein,
obgleich sie noch immer apathisch und neurasthenisch blieb. Sie hatte insofern
Krankheitseinsicht, daß sie das Unrichtige ihrer Wahnideen erkannte; sie meinte,
der Teufel hätte ihr diese Ideen eingeblasen. Sie wurde geheilt entlassen. Ohne
größere Störungen verlief ihr Leben weiter bis 1921; obgleich sie immer eifer¬
süchtig blieb und ihrem Manne ungerecht eheliche Untreue oft vorwarf, hatte sie
wahrscheinlich selbst ein Verhältnis mit einem Offizier gehabt. Sie vernach¬
lässigte ihre Haushaltung und die Pflege ihres in der letzten Zeit schwer erkrankten
Mannes. Im Frühjahr 1921 wurde sie ängstlich erregt; die Familie glaubte infolge
Selbstanklagen. Sie halluzinierte, sah und hörte den Teufel, welcher sie mit schweren
Strafen bedrohte. In der Anstalt war sie anfangs ebenso erregt, machte allerlei ver¬
zweifelte Bewegungen; reagierte offenbar auf ihre Halluzinationen, war sehr ängst¬
lich. Bald wurde sie ruhiger, besonnener und gut orientiert. Sie erzählt affektlos
von ihren Halluzinationen und ängstlichen Wahnideen, die gleichwie die verschie¬
denen körperlichen Sensationen hauptsächlich im genitalen Gebiete sich abspielten.
Sie war gleichgültig, apathisch, inaktiv. Obgleich sie nicht wieder zu ihrem Manne
zurückkehren wollte, machte sie doch einen törichten Fluchtversuch. Allmählich
konnte ihr Interesse für die Familie, Arbeit usw. mehr und mehr erweckt werden;
sie bekam Krankheitseinsicht und wurde im November 1922 als geheilt entlassen.
Da ihr Mann, der inzwischen gestorben ist, ins Krankenhaus aufgenommen worden
war, ging sie zu einer verheirateten Schwester. Es ging ihr dort bis jetzt ziemlich gut.
Fall 20. M. B. (Nr. 5755), geboren 1865, ein lediges Dienstmädchen, hier im
Januar 1889 auf genommen aus einer anderen Irrenanstalt, wo sie seit Juli 1885
verpflegt wurde. Sie war angeblich schon seit 1879 geisteskrank; sie sollte dann
erschreckt sein durch einen Überfall auf einem dunklen Wege; sie wurde deprimiert,
ängstlich, eigenartig, wollte z. B. keinen Tee mehr trinken, sich in Männerkleider
stecken. Sie halluzinierte offenbar. Nach einem Selbstmordversuch wurde sie
interniert. In der Anstalt zeigte sie Gehörshalluzinationen und Vergiftungs- und
Verfoigungsideen, sprach verwirrt, hatte oft Wutanfälle, wurde unrein. Als sie
im Jahre 1889 zu uns verlegt wurde, war sie schon eine verwirrte, verblödete
Schizophrene. Sie halluzinierte noch dann und wann, war im übrigen ziemlich
ruhig, jedoch apathisch, autistisch, inaktiv, unrein; sie war zu keiner Arbeit zu
bringen; saß meistens unbeweglich, in sich selbst lächelnd, im Saale oder im Garten.
Sie starb hier im April 1904.
Ihre Schwester J. B. (Nr. 13 126), geboren 1863, verheiratet, Mutter von 10 Kin¬
dern, war schon in ihrer Jugend nervös, hatte einen gutartigen, sanftmütigen Cha¬
rakter, lernte gut in der Volksschule. Ihre Ehe war glücklich. Obgleich sie immer
sehr nervös war, befand sie sich ziemlich gut bis 1905. Dann wurde sie ohne be¬
kannte Ursache sehr ängstlich, hatte schwere Kopfschmerzen, Zwangsideen,
Selbstmordneigung. Zweimal wurde sie während einiger Monate verpflegt in einer
Amsterdamer psychiatrischen Klinik. Von 1906—1911 war ihr Zustand viel besser,
dann mit dem Beginn des Klimakteriums wieder verschlimmert. Im Dezember
1918 wurde sie hier auf genommen. Sie war gut orientiert und besonnen, aber de¬
primiert und weinerlich, erzählte ausführlich ihre Beschwerden; sie hätte neur-
asthenische hypochondrische Sensationen (Klopfen im Kopfe, Flimmern vor den
Augen, schießende Schmerzen vom Herz gerade aus in den Kopf usw.), Phobien (sie
hätte nicht den Mut, allein auf der Straße zu gehen), Zwangsideen (hätte eine Nei¬
gung, durch das Fenster zu springen). Sie war immer sehr müde, schlief schlecht,
träumte stark, war apathisch und energielos. Im März 1920 wurde sie einigermaßen
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIIL 22.
328
F. J. Stuurman:
gebessert entlassen, kam aber im Mai 1921 wieder in die Anstalt zurück. Ihr Zu
stand hat sich seither nicht geändert: sie ist noch immer klagend, grübelnd, energie¬
los, ist immer müde, kann nichts fertig machen, bleibt am liebsten im Bett.
FaU 21. B. V. (Nr. 10 523), geboren 1852, Witwe und Mutter von 2 Kindern,
wurde im Jahre 1908 in unsere Anstalt verlegt, nachdem sie schon seit Juni 1899
in einer anderen Anstalt verpflegt worden war. Über den Anfang ihrer Geistes¬
krankheit sind keine Einzelheiten bekannt. Als sie hierher kam, war sie schon ver¬
blödet; sie hatte verwirrte Verfolgungs- und Größenideen, worüber sie sich spontan
jedoch nie äußerte. Sie war meistens apathisch und inaktiv, hatte aber dann und
wann Wutanfälle, in denen sie offenbar halluzinierte und heftig schimpfte. Sie
machte einfache Näharbeit, hatte im übrigen kein Interesse, war autistisch und
leicht negativistisch; ihre Stimmung war meistens brummig, mürrisch. Im Laufe
der Jahre verschwanden ihre Wutanfälle; gegenwärtig ist sie eine ruhige, inaktive,
autistische Schizophrene, die nie etwas tut, fast nichts antwortet und gar keine
Interessen hat.
Ihre Schwester W. V. (Nr. 12 564), geboren 1865, eine geschiedene Ehefrau
ohne Kinder, war angeblich in ihrer Jugend ein tüchtiges Mädchen aus einer an¬
ständigen Familie. Sie hatte aber einen leichtsinnigen Charakter, war eitel, prunk
haft. Im 23. Lebensjahre ging sie in eine Stellung als Ladenmädchen. Seither be¬
nahm sie sich sehr schlecht, verkehrte viel mit Studenten, wurde einmal schwanger
und abortierte. Die Familie wollte weiter nichts mehr mit ihr zu schaffen haben,
sie ging nach Deutschland. Dort hat sie geheiratet und wurde wieder geschieden,
sollte mehrmals im Gefängnis und in Irrenanstalten gewesen sein. Durch den
Krieg kam sie im Jahre 1916 wieder nach Holland. Sie irrte in Amsterdam umher
und wurde von der Polizei bei uns interniert, mit der Mitteilung, die Kranke sei
eine dem Trünke ergebene Prostituierte. Hier war sie anfänglich sehr erregt: sie
Bchimpfte mit den gemeinsten Ausdrücken auf die Behörden, ihre Familie, die
Ärzte usw.; sie widersetzte sich der Hausordnung, warf oft das Eßgerät umher oder
beschmutzte mit ihren Fäkalien, um die Pflegerinnen zu ärgern. Sie war gut orien¬
tiert und besonnen, zeigte jedoch bestimmte Beeinträchtigungsideen und leichte
Größenideen: sie meinte sehr reich zu sein, infolge ihrer Verhältnisse mit hoch-
gestellten Personen. Später fügte sie sich etwas besser in die Anordnungen, blieb
aber immer eine eigensinnige, lästige, unlenksame Kranke; periodisch wurde ihre
Stimmung mehr manisch und dann wieder mehr melancholisch: in letzterem Zu¬
stande hatte sie hypochondrische Beschwerden. Im Februar 1918 wurde sie, weil
sie durch ihre Ehe Deutsche geworden war, nach einer deutschen Irrenanstalt
verlegt.
FaU 22. F. T. (Nr. 8031), geboren 1863, Staatsbeamter bei der Kolonialver¬
waltung von Niederl. Ostindien, verheiratet, Vater von 3 Kindern, wurde im
August 1897 in unsere Anstalt aufgenommen. Er war damals schon seit einigen
Jahren geisteskrank. Früher war er ein tüchtiger, ernsthafter, sehr fleißiger Mann,
der außerordentlich gewissenhaft und pünktlich seine Pflicht als Staatsbeamter
(Kontrolleur) tat. Er machte sich selbst dadurch mehr Schwierigkeiten als die
meisten seiner Kollegen. Nach einigen Jahren wurde er mißtrauisch, er meinte,
daß seine Vorgesetzten nicht mit ihm zufrieden waren und ihn beobachten ließen,
um ihn zu Fall zu bringen. Im September 1894 schoß er sich ganz unerwartet durch
den Kopf, weil ein Vorgesetzter eine gewöhnliche Inspektionsreise in seinem Be¬
zirk machte. Nachdem die Schußwunde geheilt war, wurde der Kranke mit Er¬
holungsurlaub in die Heimat geschickt. Die Meeresfahrt beruhigte ihn und anfäng¬
lich ging es in Holland ganz gut. Dann wurde er allmählich wieder mißtrauisch und
depressiv und machte mit seinem Rasiermesser einen zweiten Selbstmordversuch.
Daher wurde er im Dezember 1895 interniert. Seitdem entwickelte sich seine
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen, 329
Krankheit rasch. Bei seiner Aufnahme in der Anstalt im August 1897 wurde er
schon beschrieben als ein typischer Schizophrene (Dementia paranoides). Er war
sehr apathisch, autistisch und inaktiv, benahm sich im Sprechen und Bewegen
geziert, war dann und wann impulsiv oder sogar aggressiv; seine spärlichen Ant¬
worten waren verworren, ebenso wie seine Briefe. Bisweilen saß er stundenlang
typisch schizophrene Notizen in einem Schreibheft machend. Dieser Zustand hat
sich im Laufe der Jahre nur wenig geändert; der Kranke ist nur noch mehr ver¬
blödet. Er ist jetzt vollkommen sprach verwirrt, sitzt in katatoner Haltung, gesti¬
kuliert viel, doch ist er sehr folgsam und nicht unrein.
Sein Bruder J. T. (Nr. 13 494), geboren 1856, war ebenfalls früher ein sehr
tüchtiger Mann, der in Niederl.-Ostindien als Beamter einer großen Kulturgeeell-
schaft ausgezeichnet arbeitete und viel Geld verdiente. Er hatte jedoch einen
eigensinnigen, herrschsüchtigen, hochmütigen Charakter, behandelte* die einge¬
borenen Plantagenarbeiter despotisch und hatte auch mit vielen Kollegen Streit
und Händel. Seine Ehe war ganz unglücklich. Nach seiner Rückkehr nach Holland
stimmte er schließlich der Ehescheidung zu, seine drei schon erwachsenen Kinder
waren ganz auf der Seite der Mutter. Seitdem irrte er umher, von einem Gasthof
zum anderen und verschleuderte große Mengen Geld. Da in der Kriegszeit auch
seine Einkünfte sich verminderten und er sein Vermögen schlecht verwaltete,
kam er finanziell ganz herunter. Zum Schluß hatte er sogar kein Geld mehr für
seinen täglichen Unterhalt; er schlief umsonst in den Aufbewahrungsorten der
Hotels, wo er früher oft logiert hatte und als er bei uns im August 1920 interniert
wurde, war er ganz verschmutzt und seine Kleider waren zerlumpt. Der Kranke
protestierte heftig gegen seine Internierung und schimpfte furchtbar auf die Ärzte,
die Behörden, seine Familie und die ganze Welt; alle anderen seien Idioten und
Verrückte, er selbst sei allein ein echter Gentleman, den man immer betrogen und
bestohlen hätte, weil er zu gutherzig und edelmütig wäre. Er hielt lange pseudo¬
philosophische Betrachtungen, um uns dies deutlich zu machen; er zeigte dabei
nicht allein eine starke Überschätzung seiner Person, sondern auch leichte, doch
phantastische Größenideen in bezug auf seinen Namen und seine Abstammung.
Seine Stimmung war bestimmt hypomanisch; er zeigte auch einen starken Rede¬
drang mit leichter Ideenflucht, jedoch nur geringem Bewegungsdrang. Der Rede¬
drang wurde nach einiger Zeit geringer; er hielt dann seine bekannten Betrachtungen
nur, w r enn er darüber befragt wurde. Er beschäftigte sich hier anfangs nur mit dem
Abschreiben von Zeitungsberichten, in welchen er Beweise für die Schiechtheit und
Verrücktheit der menschlichen Gesellschaft zu finden meinte. Später ist es uns
gelungen, ihn zu einfachen Kopierarbeiten zu bringen, welche er sehr pünktlich
verrichtete. Er blieb aber immer sehr feindlich gegenüber seiner Familie; ihre An¬
näherungsversuche lehnte er immer ab und in bezug auf seinen finanziellen und
gesellschaftlichen Zustand blieb er immer sehr kritiklos, obgleich seine Orientierung,
sein Gedächtnis und seine Merkfähigkeit im übrigen ungestört waren. Unter diesen
Umständen war seine Entlassung, welche mehrmals mit seinen Kindern besprochen
wurde, unmöglich. Er wurde daher im Januar 1924 in die Kolonie Gheel (Belgien)
verlegt, um die Familienpflege zu versuchen.
Obenstehende, so kurz wie möglich mitgeteilte Beispiele dürften
genügen, um zu zeigen, welche Schwierigkeiten sich ergeben in bezug
auf Diagnose und Klassifikation dieser merkwürdigen Krankheitsbilder,
die ich bei meinen Familienserien verhältnismäßig so oft fand.
Die erste Frage, die beantwortet werden soll, ist: haben diese
untereinander so verschiedenen Krankheitsbilder etwas mit der Schizo¬
phrenie, die bei einem sehr nahe verwandten Familiengliede auftrat,
22 *
330
F. J. Stuurman:
zu schaffen? Ich bin geneigt, diese Frage bejahend zu beantworten,
nicht weil ich meine, daß die bei verschiedenen, nahe verwandten
Gliedern einer Familie auftretenden Psychosen immer in erbbiologischer
Hinsicht verwandt sein müssen: ich habe doch im Anfänge die Familien¬
serien mitgeteilt, wobei bestimmt eine ganz andere Psychose (manisch-
depressives Irresein, Epilepsie, Paralyse usw.) neben der Schizophrenie
in derselben Familie vorhanden war; sondern deshalb, weil bei diesen
Krankheitsbildern immer etwas, sei es noch so wenig, mich an die
Schizophrenie erinnerte.
Weiter möchte ich hinweisen auf die Merkwürdigkeit, daß mit wenigen
Ausnahmen bei den Elter-Kindserien immer das Kind an Schizophrenie
erkrankte und der Elter das (bestimmt leichtere) atypische Krankheits¬
bild zeigte. Zweitens fand ich bei den meisten Elter-Kindserien eine
deutliche Anteposition, d. h. das Kind w r ar im früheren Alter er¬
krankt als der Elter. Ich meine hierin einen Hinweis zu finden in Ver¬
bindung mit der Auffassung: die Schizophrenie sei eine erblich degene-
rative Krankheit, daß in diesen Familienserien eine weitergehende
Keimschädigung beim Kinde eine ausgesprochene Schizophrenie ent¬
stehen ließ, während beim Elter noch ein leichteres Krankheitsbild
auftrat.
In den Geschwisterserien fand ich oft eine Anteposition bei dem an
Schizophrenie erkrankten Geschwister, d. h. auch hier trat wieder das
schwere Krankheitsbild in jüngerem Alter auf. Auch dies könnte meines
Erachtens in einigen Fällen für die Auffassung: das leichtere, atypische
Krankheitsbild sei eine unvollkommene Schizophrenie, verwertet
werden.
Aber in den meisten Fällen ist doch das Verhältnis zu der Schizo¬
phrenie nicht so einfach. Obgleich in den letzten Jahren unsere Kennt¬
nisse der Schizophrenie durch die klinischen, psychologischen Studien
Bleulers , durch die erbbiologischen Untersuchungen von Rüdin , Hoff -
wann , Kahn u. a. durch die Arbeit Kretschners über Körperbau und
Charakter sich sehr erweitert haben, so sind doch noch viele Fragen
nicht gelöst und ist eine allgemeine Übereinstimmung über die Klassi¬
fikation vieler atypischer Krankheitsbilder nicht erreicht. Wenn ich
also meine, daß ein Zusammenhang zwischen den oben beschriebenen
Krankheit8bildem und der Schizophrenie bestehen muß, so ist schwer
zu sagen, wie dieser Zusammenhang sich verhält, und wahrscheinlich
ist dieser Zusammenhang in den verschiedenen Fällen ein verschie¬
dener. Wie schon oben gesagt, kann man in einigen Fällen am ein¬
fachsten eine leichte Form der Schizophrenie annehmen, die mit
geringem oder ganz ohne Defekt geheilt ist. Ich habe hieran gedacht
bei Fall 5 (Vater erkrankte im 34. Lebensjahr an einer katatonie¬
artigen Psychose; nach 2 Jahren Heilung, wahrscheinlich mit Defekt —
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 331
Tochter ist eine verblödete Katatonica), bei Fall 9 (Mutter hatte 2 mal
Amentia puerperalis, Heilung mit Defekt, Sohn verblödeter Hebephren),
bei Fall 11 (Vater im 60. Lebensjahr Spätkatatonie, 2 Töchter: Amentia
puerperalis, ein Neffe Dementia paranoides), bei Fall 13 (3 Brüder:
Hebephrenie oder Katatonie, eine Schwester im 46. und im 64. Lebens¬
jahr ein amentiaartiges Krankheitsbild: beide Male Heilung, angeblich
ohne Defekt), bei Fall 16 (die ältere Schwester: eine halluzinatorische
Schizophrenie, die anfangs remittierte und als,,Amentia“ diagnostiziert
wurde; die jüngere Schwester im 20. Lebensjahre eine akute hallu¬
zinatorische Verwirrtheit, die nach einigen Monaten heilte) und bei
Fall 17 (der ältere Bruder eine einigermaßen periodisch verlaufende
halluzinierende Form der Schizophrenie; der jüngere Bruder im 20.
Lebensjahre eine akute halluzinatorische Verwirrtheit; nach etwa
einem Jahre Heilung).
Wenn diese Auffassung richtig ist, so wird man fragen: warum ist
die Krankheit in diesen Fällen geheilt und bei den nahe verwandten
Familiengliedem dagegen nicht? So lange wir die Entstehungsweise
der Krankheit nicht besser kennen, ist diese Frage natürlich nicht mit
Sicherheit zu beantworten. Der Ausgang der Krankheit wird wahr¬
scheinlich bestimmt von verschiedenen, sowohl endogenen (homogenen
und heterogenen) wie auch exogenen Faktoren. Nebst der Anlage zur
Krankheit spielen wahrscheinlich endokrine Störungen und exogene
Schädigungen eine Rolle. Man kann sich vorstellen, daß, wenn die
degenerative Anlage gering ist, die endokrinen und exogenen Schädi¬
gungen von der Heilkraft des Körpers überwunden werden können.
Die Gravidität und Entbindung z. B. wirken, wie bekannt, bestimmt als
schädigende Momente. Wir sehen die gewöhnliche Schizophrenie bei
Frauen oft im Anschluß an eine Gravidität als eine Amentia anfangen
und auch bei den oben beschriebenen weiblichen Fällen fanden wir
oft eine „Amentia puerperalis“, bei der Mutter von Fall 9 sogar 2 mal.
Wenn nun die endogene (erblich-degenerative) Anlage eine ganz
geringe ist, und die exogene Schädigung eine sehr ausgesprochene,
so ist man geneigt, die exogene Schädigung als die alleinige Ursache
zu betrachten. Pojyper hat solche Fälle als „schizoide Reaktion“
bezeichnet. Bei dem mitgeteilten Fall 15 (Mutter die nach ihrer ersten
Entbindung eine Amentia hatte, erkrankte im 65. Lebensjahre wahr¬
scheinlich infolge ihrer schweren Herz- und Nierenstörungen an akuter
Verwirrtheit; ihr älterer Sohn litt an einer von zwei Remissionen
unterbrochenen, progressiven Katatonie; ihr jüngerer Sohn hatte
2 mal einen leichteren, heilenden Anfall von Katatonie) würde man
bei der Mutter von solchen schizoiden Reaktionen sprechen können,
gleichwie vielleicht auch bei Fall 10 (Mutter, die nach ihrer ersten
Entbindung eine akute halluzinatorische Verwirrtheit, gefolgt von einem
332
F. J. Stuurraan:
depressiven Stupor durchmachte, hatte später noch zweimal im 46. und
im 49. Lebensjahre solch einen Anfall, wahrscheinlich in Verbindung
mit dem Klimakterium; ihr Sohn hat eine einmal remittierte Katatonie).
Wie aus obenstehendem sich ergibt, betrachte ich die sog. schi¬
zoiden Reaktionen als nur quantitativ verschieden von den leichteren
heilenden Fällen der Schizophrenie. Ich meine also, daß die schizoiden
Reaktionen etwas prinzipiell anderes sind als die sog. psychogenen Reak¬
tionen (die hysterische, paranoide oder manisch-depressive Reaktion).
Um Mißverständnissen vorzubeugen, wäre vielleicht die von Popper
eingeführte Bezeichnung besser zu vertauschen mit einer anderen,
z. B. „Reaktive Schizophrenie“ oder „Akzidentelle Schizophrenie“.
Bei anderen Serien darf man nicht einfach eine leichtere Form der
Schizophrenie annehmen, es ist bei diesen meines Erachtens neben der
schizophrenen Anlage noch eine andere psychotische Anlage vorhanden,
welche beiden Anlagen das Krankheitsbild bestimmen. Bisweilen
wird die schizoide Anlage überwiegen, ein anderes Mal die manisch-
depressive, paranoide oder hysterische Anlage, und werden nur einzelne
schizoide Züge im Krankheitsbild vorhanden sein. Bei meinen Fällen
hatte die ausgesprochene Schizophrenie des anderen Familiengliedes
dann auch oft eine übereinstimmende (manisch-depressive, paranoide)
Färbung, so daß offenbar auch die andere psychotische (c. q. charaktero-
logische) Anlage vorhanden war.
Bei dem Fall 3 ist der Vater eine schizoide Person, die im 60. Lebens¬
jahre mit manisch-depressiven Erscheinungen erkrankte; seine Tochter
hat eine Schizophrenie, die mit einem depressiven Stadium anfing und
einmal remittierte.
Noch stärker schizoid ist der Vater bei Fall 4, der im 42. Lebensjahre
einen depressiv-paranoiden Anfall mit starkem Halluzinieren hatte;
dann ziemlich gut blieb bis zu seinem 70. Jahre, um wieder dieselben
depressiven ängstlichen Wahnideen zu bekommen. Sein Sohn war ein
ebenfalls depressiv-paranoid veranlagter Schizophrene.
Bei Fall 6 hingegen ist die schizophrene Anlage viel weniger aus¬
gesprochen bei den beiden Brüdern, die beide in der Involutionszeit
depressiv erkrankten. Der ältere wurde hier zu kurze Zeit beobachtet,
um eine Diagnose mit Sicherheit zu stellen, aber der jüngere macht
hinsichtlich der Diagnose, die zwischen seniler Melancholie und Spät¬
katatonie schwankt, uns noch immer Schwierigkeiten. Die Tochter
des letzteren Bruders ist eine typische Katatonica.
Beim Fall 7 steht die depressive Anlage mehr im Vordergrund.
Der Vater erkrankte im 67. Lebensjahre an einer senilen Melancholie;
die Tochter wurde anfangs für eine Melancholica gehalten; erst bei ihrer
2. Aufnahme entwickelte sich ihre Krankheit zu einer schizophrenen
Verblödung.
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 333
Bei dem Fall 8 dagegen ißt der schizophrene Faktor wieder über¬
wiegend. Der Vater wurde in seinen späteren Lebensjahren ein halb-
verrückter Straßentyp, der bei seiner Internierung im 67. Lebensjahre
sehr verwirrte Größenideen zeigte; seine Tochter ist eine in jungem
Alter erkrankte und rasch verblödete Hebephrene.
Beim Fall 14 finden wir neben der schizoiden eine paranoide
Anlage. Der Bruder ist ein jung erkrankter und rasch verblödeter,
paranoider Schizophren; die jüngere Schwester hat Erregungsanfälle
mit Beeinträchtigungsgedanken und leichten Wahnideen, ihre Stim¬
mung ist darum mehr depressiv als manisch. Vielleicht ist bei ihr je¬
doch auch noch eine manisch-depressive Anlage im Spiel, wodurch der
periodische Verlauf, der bei der Psychose des Bruders fehlt, verursacht
wird.
Bei dem Fall 20 haben wir eine Schwester, die in sehr jungem Alter
an einer depressiv gefärbten Hebephrenie erkrankte und eine andere,
die ungefähr seit ihrem Klimakterium an neurasthenischen, hypochon¬
drischen Beschwerden, Phobien, Zwangsideen und einer periodisch
sich verschlimmernden Depression leidet. Hier wird also bei beiden
Kranken neben der schizoiden, eine melancholische Anlage gefunden.
Auch bei dem Fall 18 ist eine manisch-depressive Anlage offenbar
vorhanden. Der Bruder hat eine seit Jahren periodisch und zirkulär
verlaufende Schizophrenie. Abwechselnd ist er hypochondrisch, de¬
pressiv und manisch erregt. In den ruhigen Zwischenzeiten zeigt er
ganz deutlich schizophrene Symptome: Autismus, Apathie, leichte
Verwirrtheit, Kritiklosigkeit. Seine Schwester hat seit ihrem 18. Lebens¬
jahre periodisch depressiv gefärbte Anfälle mit hypochondrischen Ideen,
Angst und Taedium vitae. In den Zwischenzeiten ist sie jedoch auch
nicht ganz normal: ich betrachte sie als eine schizoide Psycho¬
pathin mit (manisch) depressiven Anfällen.
Ich komme mit dieser Kranken zu der Besprechung der letzten Fälle
12, 19, 21 und 22, bei welchen wir nach meiner Ansicht ebenfalls Fälle
von schizoider Psychopathie vor uns haben. Ich meine mit dieser Be¬
zeichnung die leichten psychischen Störungen, die mehr den Eindruck
von Charakteranomalien als von psychischen Krankheiten machen
und die keine Progression zeigen, ohne dabei Partei zu nehmen in der
zur Zeit noch nicht gelösten Frage, ob diese Charakteranomalie eine
angeborene Anlage ist oder die Folge eines im frühen Alter überstandenen
Krankheitsprozesses.
Der Fall 12 ist ein Beispiel der wenigen Elter-Kindserien, wobei einer
der Eltern und nicht das Kind an Schizophrenie erkrankt ist. Die Mutter
dieses Falles hatte nach ihrer ersten Entbindung eine Amentia puer-
peralis. Erst 20 Jahre später nach ihrer letzten Entbindung erkrankte
sie zum 2. Male, um dann schnell zu verblöden. Die Tochter war früher
334
F. J. Stuurman:
ein nervöses, zurückgezogenes schwer zu erziehendes Kind, litt viel
an Kopfweh. Seit ihrem 25. Lebensjahre wird sie fast ohne Unter¬
brechung in Krankenhäusern verpflegt wegen depressiver, unzufriedener
Stimmung, Wut- und Angstanfällen, Taedium vitae, Neigung zur
Selbstmutilation. Sie zeigt daneben verschiedene hyßterische Symptome,
so daß sie eine der Verpflegung viele Schwierigkeiten bereitende Kranke
ist.
Von dem Geschwisterfall 19 ist der Bruder ein paranoider Schizo¬
phren (oder Paraphren). Die Schwester war immer eine nervöse, reizbare
Frau, flatterhaft, unbesonnen, eitel, leichtsinnig. Ihre Ehe war sehr
unglücklich. Ihrem Manne gegenüber war sie eifersüchtig, und mi߬
trauisch, hatte jedoch selbst einmal ein Liebesverhältnis. Sie wurde
zweimal in unsere Anstalt aufgenommen mit einer ängstlichen Ver¬
wirrtheit, Wahnideen und Halluzinationen. Diese Symptome wurden
als hysterische gedeutet.
Bei dem Fall 21 äußerte sich die Psychopathie mehr unter der
Form einer Moral insanity. Geboren als jüngste Tochter einer anständi¬
gen Familie, hatte diese Kranke von Jugend auf einen leichtsinnigen,
eitlen, prunkhaften Charakter. Seitdem sie in Stellung als Ladenmäd¬
chen gegangen war, führte sie sich sehr schlecht, verkehrte mit Stu¬
denten, wurde schwanger, abortierte, sie ging ins Ausland, heiratete
und ließ sich bald scheiden, geriet ins Gefängnis und kam in der Kriegs¬
zeit als eine dem Trünke ergebene Prostituierte wieder nach Holland
zurück. In unserer Anstalt interniert, war sie sehr kritiklos, eigensinnig,
unlenksam; sie rächte sich für ihre Internierung an den Pflegerinnen,
die sie auf alle mögliche Weise quälte. Sie zeigte Beeinträchtigungs-
und leichte Größenideen; daneben einen periodischen Stimmungs¬
wechsel. Ihre Schwester ist eine seit Jahren verblödete, ruhige Schizo¬
phrene.
Zum Schluß noch der Fall 22. Der ältere Bruder ist ein seit langer
Zeit verblödeter, paranoider Schizophren. Der jüngere Bruder hatte
immer einen eigensinnigen, herrschsüchtigen, hochmütigen Charakter.
Als Verwalter einer indischen Plantage herrschte er despotisch und
verdiente viel Geld, hatte jedoch ein sehr unglückliches Eheleben.
Nach seiner Rückkehr in die Heimat ließ er sich von seiner Frau scheiden,
verschwendete sein Vermögen und irrte schließlich wie ein Vagabund
umher. Seine Kinder wollten ihm eine Leibrente geben, mit der Be¬
dingung, daß er sich irgendwo auf dem Lande niederließ. Er wollte
jedoch keine Vernunft annehmen und ließ sich »auf keine Bedingungen
ein. Dann wurde er interniert. In der Anstalt war er anfangs sehr
empört; schimpfte auf alle und alles. Er zeigte eine starke Selbst¬
überschätzung und leichte, doch phantastische Größenideen in bezug
auf seinen Namen und seine Abstammung. Später wurde er ruhiger,
Die Psychosen der nächsten Verwandten einiger Schizophrenen. 335
blieb jedoch sehr eigensinnig, unlenksam, kritiklos; er verweigerte
stets jeden Annäherungsversuch seiner Familie.
Ich hoffe mit dieser Arbeit einen kleinen Beitrag gebracht zu haben
zur Kenntnis der Schizophrenie und zur Beleuchtung dieses Grenz¬
gebietes der Schizophrenie, wo die schizoide Anlage sich mit anderen
psychotischen Anlagen in wechselndem Verhältnis verbindet und ver¬
schiedene schwer zu deutende Psychosen zur Erscheinung bringt.
Ich möchte mich in dieser Arbeit noch nicht über die Frage äußern,
welche anderen psychotischen Anlagen neben der schizoiden zu er¬
kennen sind, namentlich ob außer der manisch-depressiven, auch noch
z. B. die paranoide oder die hysterische Anlage als absonderliche Erb¬
anlagen anzuerkennen sind.
Ich hoffe in einer späteren Arbeit zu dieser Frage Stellung nehmen
zu können.
Zusammenfassend komme ich jetzt zu folgenden Schlüssen:
1. Bei den nächsten Verwandten Schizophrener fand ich als Psy¬
chose bisweilen eine ausgesprochene Schizophrenie, ziemlich selten eine
ganz andere Psychose (manisch-depressives Irresein, Epilepsie, orga¬
nische Psychosen), dagegen sehr oft die eine oder andere atypische Psy¬
chose, die meines Erachtens bestimmt in irgendeinem Zusammenhang
mit der Schizophrenie steht.
2. Bei den Serien mit mehreren Schizophreniefällen waren die For¬
men der Schizophrenie meistens einander sehr ähnlich in bezug auf die
Symptomatologie, den Verlauf und den Ausgang der Krankheit. Im
allgemeinen überwiegen jedoch bei den in jüngerem Alter Erkrankten
mehr die hebephrenen, bei den in späterem Alter Erkrankten mehr die
paranoiden Symptome.
3. Bei den Elter-Kindserien fand sich in der Mehrzahl der Fälle
eine deutliche Anteposition des Krankheitsanfanges; bei den Geschwister¬
fällen war keine Anteposition hinsichtlich der älteren und jüngeren
Geschwister zu finden. Im allgemeinen erkrankte der Geschwister
mit der schwereren, ungünstiger verlaufenden Psychose in jüngerem
Alter.
4. Die obengenannten atypischen Psychosen sind m. E. zu betrachten
teils als leichte, heilende Schizophreniefälle, (darunter Fälle sog. re¬
aktiver Schizophrenie), teils als Mischpsychosen infolge der Mischung
schizoider und anderer Erbanlagen in verschiedenen Verhältnissen
und teils als sog. schizoide Psychopathien.
Uber eine seltene Schlaferscheinung *).
Von
Dr. med. N. Costa (Hamburg).
(Eingegangen am 23. Juni 1924.)
Die Psychopathologie der Schlaferscheinungen ist noch in ihren
Anfängen. Nur einzelne zusammenhanglose Arbeiten sind bis nun er¬
schienen. Die Lehrbücher der Psychiatrie beschäftigen sich mit diesen
Problemen am allerwenigsten. Die einzige Wissenschaft, die auf die
psychogenen, sensorischen und motorischen Äußerungen des Schlafes
exakt einzugehen versuchte, ist die Psychoanalyse , die alle Leistungen
des Unbewußten zu erklären, zu deuten glaubt, und sie in eine Kette
der Kausalität, der psychischen Determinierung bindet. Ohne auf die
biologische oder physiologische Seite des Schlafproblems einzugehen,
genügt uns die Freud sehe psychologische Charakteristik des Schlafes:
das Aussetzen des Interesses an der äußeren Welt, ein Sich-zurück-ziehen
in den praenatalen Zustand, in die Mutterleibexistenz. Gelingt die
Herstellung des fötalen Ruhezustandes nicht, weil die seelische Tätig¬
keit im Schlafe nicht erloschen ist, so entstehen Reaktionen auf einen
den Schlaf störenden Reiz, sei es psycho-sensorischer oder -motorischer
Natur. So entstehen Träume, Schlafsprechen, Schlafwühlen, Schlaf¬
bewegungen.
Der Traum und seine Beziehung zum Schlaf, zum Unbewußten,
zur Neurose, hat seit den aufsehenerregenden und verdienstvollen Ar¬
beiten Freuds und seiner Schüler eine intensive Bearbeitung gefunden,
und die diesbezügliche Literatur weist eine unzählige Menge von Ar¬
beiten auf.
Dagegen ist die Bearbeitung und Deutung der unbewußten moto¬
rischen Äußerungen des Schlafes noch sehr lückenhaft und diese Un¬
zulänglichkeit führe ich auf die mangelhafte Beobachtung der Fälle
und ihre einseitige biologisch-physiologische Einschätzung. Schließlich
wirkt für ihre Erforschung sehr nachteilig die Amnesie für diese Schlaf -
bewegungen oder Schlafstörungen und die Eigenschaft, daß sie nicht
als lästige, krankhafte Erscheinungen zur Geltung kommen.
Die Auffassung Trömmers 1 ), daß motorisch erregbare Gehirne auf
*) Vorgestellt im Ärztlichen Verein am 27. V. 1924.
N. Costa: Über eine seltene Schlaferscheinung:.
337
Reize bekannter oder unbekannter Art mit motorischen Reaktionen
reagieren, ist nicht stichhaltig, da diese Reaktionen, wenn sie auch an¬
scheinend keinen Zusammenhang mit Träumen oder Wacherinnerungen
aufweisen, stehen doch in einer Korrelation mit dem Psychischen und
sind für gewöhnlich Äußerungen eines unbewußten, psychischen Ge¬
schehens. Hierher gehören: Schlafsprechen, Schlafwühlen, Schlaf¬
wandeln, nächtliches Kopfschütteln (Jactatio capitis nocturna), Schau¬
kelbewegungen des Oberkörpers im Schlafe. Eine besondere Gruppe
bilden: das Lutschen, Ludeln (Wonnesaugen) am Daumen, Fingern oder
Zehen; Bettzipfellutschen, Ohrenläppchenreißen, Haarzupfen, schlie߬
lich Enuresis nocturna und Pollutionen.
Alle diese Erscheinungen können am Beginn des Schlafes einsetzen
— als beruhigende, einschläfernde Emotionen, oder sie treten während
des Schlafes auf und wirken dann schlaferhaltend. Es ist ihnen das
Zwangsartige gemeinsam und Oppenheim nennt sie motorische Zwangs¬
neurosen. Im Gegensatz zu dieser rein physiologischen Auffassung
sieht die Psychoanalyse hinter diesen Erscheinungen einen tieferen Sinn,
der auch von Nichtanalytikem „entdeckt“ wurde. Alle diese Erschei¬
nungen stehen im Dienste der Lustgewinnung .
Diese Auffassung von der Lustgewinnung, von der libidinösen Natur
dieser Betätigung hat, lange vor Freud, ein alter Budapester Kinderarzt,
Dr. Lindner, in seiner Arbeit über das Ludeln (1879) vertreten. In der
letzten Zeit wurde diese Ansicht auch auf die „Jactatio capitis nocturna“
von nichtpsychoanalytischer Seite erweitert. Der bekannte Wiener
Forscher auf diesem Gebiete, Zappert , der fast gleichzeitig mit dem
französischen Forscher Curet diese Erscheinung 1905 beschrieben hat,
weist auf die nahen Beziehungen zu Stereotypien der Geisteskranken
und zu den nervösen Angewohnheiten der Kinder, wie Daumenlutschen,
Haarreißen, Nägelkauen hin. Er betont, daß die Kinder zweifellos ein
Lustgefühl empfinden, und daß auch die Fälle, in denen die Bewegungen
ausschließlich im Schlaf vorgenommen werden, offenbar im Anfang
als Willensakte erfolgt sind. Auch Stier 2 ) glaubt, es handelt sich bei
Jactatio capitis nocturna um „Gewohnheitsbewegungen, die mehr oder
weniger zufällig entstehen zum Zwecke der Beseitigung von Unlust¬
gefühlen oder zur direkten Erzeugung eines Lustgefühls ausgeführt
werden, die sich dann fixieren und die Beziehungen zum vollbewußten
Handeln immer mehr einbüßen, die unausrottbar werden und viele
Jahre fortbestehen können. Stier zeigt, wie das Kind zur Gewinnung
von Lustgefühlen und zur Erleichterung des sonst erschwerten Ein¬
schlafens zu der Gewohnheit des Kopfschütteins gelangt ist, manchmal
auf Umwege über eine andere, Lustgefühle schaffende Gewohnheit, die
aus der Situation des Schlafens im Körbchen, in der Wiege, sich her¬
leitet.“
338
N. Costa:
Im Lutschen sieht Freud !*) eine infantile libidinöse Befriedigung, die
erste Stufe der Libidoorganisation, die orale , die Heranziehung des
Mundes als erogene Zone. Der Säugling führt Handlungen aus, die
keine andere Absicht als die des Lustgewinnes haben. „Deutlicher
noch zeigen die aus dem zu intensiven Festhalten an diesen Lustquellen
folgenden ,Kinderfehler* Herkunft und Tendenz dieser Libidobefrie¬
digungen, nämlich das Lutschen einerseits, das Benässen und Beschmutzen
andererseits, wenn sie zeitlich oder ihrer Intensität nach über ein ge¬
wisses Maß hinausgehen (z. B. in dem exquisit „neurotischen** Symptom
des Enuresis nocturna). Vom Lutschen sowohl, wie von der lustvollen
Harnentleerung (Enuresis) führen die von Analyse aufgedeckten Wege
zum ,Kinderfehler*, kat exochen, der genitalen Masturbation (späterer
Ersatz der Enuresis: die Pollution)** [Otto Rank 1 )].
Unser Fall betrifft eine besondere, bis nun in der Literatur kaum
bekannte Erscheinung eines unbewußten nächtlichen Nagens und Kauern
am Bettzipfel manchmal mit einer so starken Intensität , daß auch das
Inlett mitgenagt und mitgekaut wird bis die Daunen das Gesicht bedecken.
Diese Erscheinung tritt während des Schlafes ein, und die Patientin
erwacht, ohne irgendwelche Erinnerung daran zu haben. Daß sie genagt
oder gekaut hat, weiß sie nur aus dem Bilde der Bettzipfel nach dem
Erwachen oder aus den Erzählungen ihrer Mutter, die es nachts manch¬
mal beobachten konnte. Diese ungewöhnliche Schlaferscheinung wieder¬
holt sie nachtnächtlich zwangsartig, unbewußt seit ihrer frühesten
Jugend. Die Patientin (Frl. B.) ist z. Z. 18 Jahre alt, ist lebhaft,
lustig, gesund, ohne irgendwelche bedeutendere Merkmale einer Degene¬
ration. Im ersten Lebensjahre hat sie am Bettzipfel gelutscht, dann
trat Zähneknirschen bei Nacht auf, im 4. Lebensjahre hatte sie all¬
gemeine Zuckungen am ganzen Körper, die durch das Elektrisieren
beseitigt wurden. Seit dieser Zeit kaut und nagt sie an den Bettzipfeln.
Versuche von dieser Angewohnheit, durch Beschmieren der Bezüge mit
Seife oder bitteren und stinkenden Substanzen, wie es die Mutter er¬
zählte, sie abzugewöhnen, nützten nichts, die Patientin suchte dann nach
anderen Zipfeln der Bettdecke, des Leintuches usw. und hat ihre un¬
bewußte Schlaftätigkeit zwangsweise weiter fortgeführt. Manchmal
zupfte sie und nagte auf dem Bauche liegend. Träumte gewöhnlich von
wilden Tieren, vom Erstochenwerden, vom fließenden Blut, von aus¬
gelassenen, wilden Tänzen, Schwimmen. Der oft auftretende algolag-
nische Charakter der Träume findet auch seine Bestätigung im Wachen.
Sie ist oft jähzornig, und dann kratzt sie und beißt sie aus Wut. Eine
ausgesprochene neuropathische Belastung liegt nicht vor. Mutter und
Schwester ein wenig nervös.
Dieser Fall illustriert uns glänzend die analytische Auffassung von
der oralen oder wie Freud sie auch nennt, kannibalischen Entwicklung»-
Über eine seltene Schlaferscheinung. 339
stufe der Libido, auf die das Ich normalerweise zugunsten der sozialen
Anpassung (Erziehung) verzichtet; das Unbewußte gibt jedoch diesen
Ausspruch niemals auf und ist jederzeit bereit, in Zuständen seiner Vor¬
herrschaft (Traum, Neurose) damit hervorzutreten. Die Psychoanalyse
der Neurosen liefert häufig Beweise, daß der Mund seine Bedeutung
als erogene Zone nur im Bewußtsein verloren hat, daß diese im Un¬
bewußten dagegen fortdauert und sich dann durch „neurotisches Sym¬
ptom“ kundgibt. Wir haben hier mit dem Fortbestehen infantiler Triebe
zu tun. In der gesamten analytischen Literatur über die gewohnheits¬
mäßigen „Kinderfehler** dieser Art, wo das Kauen und Nagen beschrie¬
ben worden ist, finden wir nur einen einzigen Fall von Abraham 5 ) be¬
schrieben. Es handelte sich um einen Neurotiker in mittleren Jahren,
der anfangs Daumenlutscher war und durch Abgewöhnungsversuche
zum Saugen und Kauen an einem Zipfel seines Kissens oder seiner Bett¬
decke gelangte und schließlich eine neue Ersatzlust produzierte: abends
zum Einschlafen mußte er die Bettkante (das Holz) benagen. So
befestigte sich bei ihm das Bedürfnis vor dem Einschlafen dem Munde
seine lustvollen Reize zu gewähren.
Man ist berechtigt — sagt Abraham — in derartigen Fällen von
einer oralen Masturbation zu sprechen.
Unsere Patientin hat ihr gewohnheitsmäßiges Kauen und Nagen
des Bettzipfels nicht zum Einschlafen benutzt. Sie tat es, ohne zu
wollen, vollkommen unbewußt während des Schlafes. Ob diese Er¬
scheinung irgendwelche Normen in bezug auf die Dauer, auf die Zeit
auf weist, konnte aus Mangel einen objektiven Beobachtung nicht fest«
gestellt werden. Die libidinöse Natur dieser Handlung war der Patientin
unbewußt.
Diese „Kinderfehler“ sind nur psychotherapeutisch zu beeinflussen.
Entweder hypnotisch oder analytisch. Die medikamentöse Behand¬
lung kann nur dann auf Erfolg rechnen, falls sie gleichzeitig ent¬
sprechend suggestiv wirkt. Die psychotherapeutischen Erfolge bei der
Enuresis sind verblüffend. Dasselbe gilt auch für die Jactatio capitis
nocturna.
Die — für den beschriebenen Fall — von einem Fachkollegen ver¬
tretene Ansicht es handle sich hier um eine endokrine Störung, die nur
medikamentös und nicht psychotherapeutisch zu behandeln ist, habe
ich abgelehnt und habe durch systematische Hypnotherapie (6 Hyp¬
nosen in 4 Wochen) das Symptom beseitigt. Ich habe hier die Hypno¬
therapie der analytischen bevorzugt, weil ich die Meinung vertrete,
daß monosymptomatische Erscheinungen psychopathologischer Natur
auf dem einfacheren Wege der Hypnose zu beseitigen sind und eine
Analyse für den Rückfall oder für die Ersatzsymptombildung Vorbe¬
halten bleibt. Zum Schluß möchte ich es nicht unerwähnt lassen, daß
340
N. Costa: Über eine seltene Schlaferscheinung.
ich angesichts der normalen psychosexueilen Verhältnisse und des
jugendlichen Alters der Patientin Bedenken hatte auf die Probleme
der Sexualität näher einzugehen, und da mir die symbolische Auf¬
fassung des Symptoms genügte, habe ich auf die Analyse vorläufig
verzichtet.
Literaturverzeichnis.
*) Über motorische Schlafstörungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie
4 , 225. 1911. — *) Über das gewohnheitsmäßige, nächtliche Kopfschtitteln der
Kinder. Zeitschr. f. d. gee. Neurol. u. Psychiatrie 90.1924. — *) Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie, 5. Aufl. 1922. — 4 ) Das Trauma der Geburt. 1924. — 6 ) Unter¬
suchungen über die früheste, prägenitale Entwicklungsstufe der Libido. Klinische
Beiträge. 1921.
Experimentell-psychologische Untersuchungen zu Kretschmers
„Körperbau und Charakter“.
Von
Dr. L. van der Hont.
(Aus dem Psychologischen Laboratorium der Universitätsklinik für Gemüts¬
und Nervenkrankheiten, Groningen. — Direktor: Prof. Dr. E. D. Wiersma.)
(Eingegangen am 10. Juni 1924.)
Nachdem vor einigen Jahren Kretschmer bei seinen Untersuchungen
zum Konstitutionsproblem auf einige Typen hinweisen konnte, bei
denen eine deutliche Wechselbeziehung zwischen Körperbau und
psychischem Syndrom für Patienten mit Dementia praecox einer¬
seits und die manisch-depressiven Patienten andererseits festgestellt
wurde, und ich selbst mich in der Tübinger Klinik von der Richtig¬
keit dieser Konzeption wenigstens für die dortigen Patienten zu über¬
zeugen vermochte, lag es nahe, auch in den Niederlanden zu unter¬
suchen, inwieweit es möglich war, diese Körperbautypen hier wieder¬
zufinden und wie groß ihre Frequenz unter den Kranken jeder einzelnen
Gruppe war. Und sind dies wirklich Konstitutionstypen, welche sich
so ganz verschieden manifestieren, dann muß auch durch eine mehr
detaillierte psychologische Untersuchung diese Verschiedenheit auf
die eine oder andere Weise zutage gefördert und bis in das gesunde
Leben hinein verfolgt werden können.
So wurden in der Groninger Klinik hieraufhin 147 Patienten unter¬
sucht, und zwar alle Patienten mit Dementia praecox oder manisch-
depressiver Psychose, die in einem bestimmten Zeitraum in der Klinik
verpflegt wurden.
Kretschmer unterscheidet den asthenischen und athletischen Typus gegen¬
über dem pyknischen. — Die Differenzierung zwischen dem asthenischen und
dem athletischen Körperbau schien mir schwer durchführbar. Daß in der Tat
reine Typen dieser beiden Formen Vorkommen, muß jeder, der sich mit dieser
Untersuchung beschäftigt, zugeben, und namentlich bei weiblichen Personen
besteht ein so auffallender Unterschied, daß man in dem echten asthenischen Bau
eine etwas hypoplatische Konstruktion vermutet, während der athletische an den
starkknochigen muskulösen Bau von Männern erinnert. Praktisch ist es jedoch
nicht leicht, von jeder Körperform, die für diese Gruppe in Betracht kommt,
zu sagen, ob sie asthenisch oder aber athletisch ist. So findet z. B. Olivier 1 ) unter
*) Zeitschr. f. d. gee. Neurol. u. Psychiatrie 8#. 1922.
342 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
seinen 125 von ihm untersuchten Patienten nur 10, die er athletisch zu nennen
wagt (d. i. 8%, während Kretschmer 17,7% Athleten hat), und unter diesen 10
sind dann noch wieder einige mit einem asthenischen Einschlag. Andere Unter*
sucher, wie Sioli und Meyer x ), wagen nicht so weit in dieser Differenzierung zu
gehen und finden unter ihrem Material 7 asthenisch gebaut, 7 athletisch und
18 von gemischtem Bau, d. h. also, daß sie bei viel mehr als der Hälfte der Personen,
welche für diese Gruppe in Betracht kommen, keine nähere Unterscheidung zu
treffen wagten.
In einer seiner unlängst erschienenen Publikationen spricht Kretsch¬
mer von einem leptosomen Körperbau, womit er diese beiden Formen
mit ihrer schlanken Gestalt, magerem Wuchs, schmalem Gesicht,
scharfer Nase und einförmigem Kopf meint; der Ausdruck asthenisch
und athletisch kann dann für die extremen Varianten reserviert werden.
Und da auch bei unserer Untersuchung die Anzahl asthenisch-athle¬
tischer Mischformen um so viel größer ist als diejenige der reinen Typen,
scheint es uns angebrachter, diese drei Gruppen zusammenzufassen
und als den leptosomen Typus zu bezeichnen, und dies mit um so
größerer Berechtigung, weil, wie sich bei der ersten Untersuchung
herausstellte, der asthenische Habitus in seinen wechselseitigen Be¬
ziehungen viel Ähnlichkeit mit dem athletischen Bau zeigt, während
sie zusammen sich leicht von dem gleich zu beschreibenden pyknischen
Typus unterscheiden lassen. Beide, sowohl die rein asthenische als
die athletische Form, haben relativ lange Extremitäten, d. h. lang in
bezug auf die gesamte Körperlänge, beide haben einen eiförmigen
Kopf und eine gutgeformte Nase; der Hals ist lang, die Schulterbreite
beträgt immer mehr als a / 6 des Brustumfanges; der Thorax ist lang,
mit einem scharfen epigastrischen Winkel; beide haben lange, nicht
zugespitzte Finger und Zehen, eine blasse Gesichtsfarbe, starke primäre
Behaarung, Neigung zu Zyanose an Händen und Füßen und ein Körper¬
gewicht, das in bezug auf die Körperlänge im Rückstände bleibt. Diesen
leptosomen Körperbau fanden wir bei 54 Patienten, d. h. daß von den
147 schizophrenen oder zirkulären Psychosepatienten, die im Hin¬
blick auf ihren Habitus geprüft wurden, reichlich */ 3 entweder asthenisch
oder athletisch gebaut war oder eine Mischform zeigte.
Vom pyknischen Typus waren unter unseren Patienten 63. Hier
ist die Schulterbreite kleiner als 2 / 5 vom Brustumfang, das Körper¬
gewicht größer, als es entsprechend der Körperlänge sein sollte, der
Hüftenumfang kleiner als die thorakalen Maße, die unteren Extremi¬
täten wenig größer als die halbe Körperlänge, das Mittelgesicht weniger
hoch; die Haut ist gut injiziert und es ist übermäßige Terminalbehaa¬
rung vorhanden.
Von jeder dieser beiden Gruppen wurde der Durchschnitt der ver¬
schiedenen Maße genommen, wie diese von Kretschmer angegeben sind.
x ) Diese Zeitschrift 80. 1922.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“.
34B
Bei Vergleichung unserer Durchschnittszahlen mit dem aus dem
Kretschmer sehen Material berechneten Durchschnitt fiel es auf, daß
unsere (niederländische) Bevölkerung eine größere Körperlänge hat
als die württembergische (3 cm Unterschied bei männlichen Personen,
4 cm bei weiblichen). Die übrigen Maße sind völlig in Übereinstim¬
mung mit der größeren Länge; hier finden sich auch größere Umfangs¬
maße, aber alle in demselben Verhältnis.
Wie aus den Zahlen schon hervorgeht, sind längst nicht alle Pa¬
tienten unter diese beiden Gruppen unterzubringen. Ein sehr großer
Teil war weder pyknisch, noch leptosom, und sie sind daher völlig außer
Betrachtung gelassen. Obwohl Kretschmer bei seiner Untersuchung
noch verschiedene kleinere Gruppen zu unterscheiden vermochte, die
er als dysplastische Spezialtypen zusammenfaßt, möchten wir uns
lieber auf diese Hauptgruppen beschränken, um die Sachlage vorläufig
nicht kompliziert zu machen und außerdem, weil die dysplastischen
Formen (der Name deutet dies schon an) in ihrer Erscheinung etwas
Pathologisches haben, wodurch sie für eine Konstitutionsuntersuchung,
die sich auch über die Grenzen des klinischen Lebens hinaus erstrecken
will, minder geeignet sind.
Wie sich die Körperformen auf die Schizophrenie und die manisch-
depressive Psychose verteilten, ersieht man aus der folgenden Tabelle.
Dementia praecox Man.-depr. Psychose Insgesamt
Leptosom.
. . 45
9
54
Pyknisch.
. . 2
61
63
Nicht typisch .
. . 22
8
30
Gesamtzahl Patienten . . .
. . 69
78
147
Von den Dementia praecox-Patienten weisen 66% einen leptosomen
Bau auf, und noch keine 4% sind pyknisch. Von den manisch-depres¬
siven Patienten sind 77% pyknisch und 12% leptosom.
Um nun Kranke und Gesunde miteinander vergleichen zu können,
ist es erforderlich, auch eine Anzahl dieser Typen unter Gesunden
zu erhalten und damit dann weiter zu arbeiten. Einfachheitshalber
wählte ich nur männliche Personen. Auf Grund des Augenscheins
war schon eine Wahl getroffen, und daß bei einiger Übung unsere
Augen zuverlässig sind, erhellt schon aus der Tatsache, daß von den
insgesamt 48 Personen, die ersucht wurden, sie messen zu dürfen,
nur 3 derartig zweifelhafte Konstitutionstypen waren, daß sie für die
weitere Untersuchung nicht benutzt werden konnten. Von den übrigen
45 waren 24 leptosom und 21 pyknisch.
Diese beiden Gruppen gesunder Versuchspersonen ergaben in den
verschiedenen Körpermaßen Durchschnittsziffem, welche sehr genau
mit denen der kranken Männer übereinstimmten, oft bis auf 1 mm;
und wo Unterschiede vorliegen sollten, da sind diese doch immer der-
Z. I. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 23
344 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
art, daß sowohl Gesunde als Kranke einer und derselben Gruppe in der¬
selben Ordnung bleiben und niemals in die Größe oder die Verhält¬
nisse der anderen Gruppe übergehen.
Von diesen gesunden Leptosomen und Pyknikern, die also völlig
mit den somatoskopischen Bildern der Patienten übereinstimmten, sind
die durchschnittlichen Maße neben diejenigen der Psychosepatienten
gestellt:
Leptosome Pykniker
Männer
Normale
Patienten
Normale
Patienten
Körpergewicht.
72,6
66,7
79
77,4
Körperlänge.
174,5
173,1
171,3
170,5
Beinlänge.
92,4
91,9
87,3
87,9
Schulterbreite.
40,2
38,6
37,2
37,3
Brustumfang.
91,9
89,5
97,1
97,9
Bauchumfang.
80,9
78,8
87,5
92,3
Hüftumfang.
91,6
90,2
96,4
96,5
Umfang des 1. Unterarmes
26,2
25,4
26,4
26,7
Umfang der 1. Hand ....
21,1
20,9
20,5
20,6
Umfang des 1. Unterschenkels
35,2
33,2
37,9
36,2
Halsumfang.
37,2
35,5
38,0
40,2
Schädelumfang .
57,7
57,2
58,9
57,5
Sagittaldurchschnitt ....
19,6
19,5
19,9
18,9
Frontaldurchschnitt.
15,9
15,6
16,1
15,9
Vertikaldurchschnitt ....
21,1
20,1
21,4
20,5
Gesichtshöhe.
8
8,1
7,9
7,9
4,6
4,5
4,8
4,8
Gesichtsbreite.
14,3
14
14,6
14.3
10,9
10,5
11,5
11,2
Nasenlänge.
5,8
5,9
5,5
5,6
So haben wir also zwei Gruppen gefunden, die als Leptosome und
Pykniker für die weitere Untersuchung nach Korrelation in psychischer
Struktur zwischen den gesunden Leptosomen und Schizophrenen
einerseits und den gesunden Pyknikern und manisch-depressiven
Patienten andererseits verwendbar sind.
Bei einer vergleichenden psychologischen Untersuchung benutzen
wir am liebsten das psychologische Experiment, nämlich die absicht¬
lich unter günstigen Umständen ausgeführte Beobachtung, bei der
wir so objektiv wie möglich Verhältnisse und Zusammenhänge auf¬
spüren. Vorzugsweise möchten wir uns mit denjenigen psychischen
Erscheinungen beschäftigen, welche wir mit den Krankheitsbildem
der schizophrenen und zirkulären Psychose in Verbindung bringen
können und die auch im normalen Leben angetroffen werden.
Heymans und Wiersma 1 ) unterscheiden bei Normalen 8 Tempera¬
mente, und für verschiedene von diesen Typen, die dadurch erhalten
l ) Zeitschr. f. Psychol. u. PhysioJ. d. Sinnesorg. 4 3, 43, 45, 4C, 51 u. €3.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“.
345
sind, daß 3 Paare mit entgegengesetzten Eigenschaften in jeder mög¬
lichen Kombination verbunden werden, weisen sie auf die Krankheits¬
bilder hin, die entstehen, wenn die Verhältnisse untereinander in einen
Schiefstand gebracht werden; eine übermäßige sekundäre Funktion
und starke Emotionalität werden bei Mangel an Aktivität leicht patho¬
logische Zustände verursachen. Es kann sein, daß die Hemmung bei
Personen von diesem Typus (dem „sentimentalen“) stark in den Vorder¬
grund tritt; sie können sich nicht mehr durch ihre Arbeit hindurch¬
finden, halten sich für dumm, können einer Auseinandersetzung nicht
mehr folgen und dies alles durch das Zusammenwirken von mangelnder
Aktivität und einer überwiegenden sekundären Funktion, wodurch
bestimmte unlustvolle Vorstellungen fortgesetzt im Hintergrund des
Bewußtseins bleiben und alle Energie in Anspruch nehmen. Hierdurch
entsteht ein starkes Überwiegen von Unlustempfindungen, während
auch wieder die große Emotionalität mit der starken sekundären Funk¬
tion dazu prädisponiert, Unlustgefühle festzuhalten. Von Jugend an
sind sie grüblerisch und melancholisch, und allmählich können sie im
Lebensstrom an Grund geraten oder auch ein sie plötzlich treffender
Unfall kann das Leben zum Stehen bringen und sie kommen als Melan¬
choliepatient mit Hemmung und Depression in die Klinik.
Da es sich nun als möglich erwies, diese Erscheinungen aus den
Charaktereigenschaften des normalen, sentimentalen Typus entstehen
zu lassen, wollen wir nunmehr eines dieser Symptome, namentlich die
Hemmung, näher betrachten.
Der Melancholiepatient ist langsam in all seinem Tun und Lassen;
er bewegt sich träge, kann schwer konsequent denken und leistet
weniger als ein Normaler. Der Schwellenwert für Eindrücke von außen
ist erhöht; es ist, als ob alles viel länger dauert, ehe es durchdringt
und verarbeitet wird, und es auch mehr Zeit kostet, bevor diese Kran¬
ken zum Handeln kommen. Das ganze Tempo des Lebens ist ver¬
zögert; „behäbig“ nennt sie Kretschmer. Und dies ist nicht allein der
Fall auf psychischem Gebiet, auch der Stoffwechsel sowie die Darm¬
peristaltik und andere physiologische Prozesse scheinen in demselben
Grade beeinflußt. Da diese Trägheit im Leben des Melancholikers so
deutlich hervortritt, lag es nahe, das psychische Tempo zirkulärer und
schizophrener Kranken miteinander zu vergleichen. Unter dem psychi¬
schen Tempo wird dann diejenige Schnelligkeit des Wahmehmens,
Denkens und Handelns verstanden, bei welcher sich die betreffende
Person am behaglichsten fühlt. Und weil diese gerade beim Ausführen
einfacher Handlungen am besten zu messen und zu vergleichen ist,
haben wir unsere Patienten in einem von ihnen selbst zu bestimmenden
Tempo nacheinander dieselbe Bewegung ausführen lassen. Diese
bestand darin, daß sie in ruhiger und bequemer Haltung sitzend, wobei
23*
346 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
der rechte Unterarm und die Hand auf einem Tische ruhen, mit dem
Zeigefinger ein Kupferplättchen niederdrücken. Durch dieses Nieder¬
drücken wird ein elektrischer Strom geschlossen, der mittels eines
Elektromagneten einen Schreibstift herunterzieht. Mit Hilfe eines
Kymographions wird diese Bewegung registriert. Hierbei waren aller¬
lei Unterschiede zwischen den verschiedenen Versuchspersonen zu
bemerken. Bei dem einen dauerte die Zeit zwischen den aufeinander¬
folgenden Handlungen viel länger als die Handlung selbst, wodurch
die nachstehende Kurve entstand:
Bei andern entfiel sowohl auf den Zwischenraum, als auf die Hand¬
lung eine längere Dauer:
Bei wieder andern erfolgte alles schnell:
njn_n_TLTLTLr
Bei allen wurde darauf geachtet, ob die Bewegung stets im selben
Tempo geblieben war. Dies gelang nicht immer, namentlich nicht bei
den Dementia praecox-Patienten, die, nachdem sie einmal begonnen
hatten, eine starke Neigung zeigten, immer schneller zu ticken. Alle
diese kleinen Unterschiede, welche für die Differentialdiagnostik wohl
von Bedeutung sind, wollen wir jedoch ruhen lassen und allein auf
die Anzahl regelmäßiger Handlungen, die innerhalb einer bestimmten
Zeit — in diesem Fall 10 Sekunden — ausgeführt wurden, achten und
diese als Maß für das psychische Tempo nehmen. Mittels einer
Stimmgabel, die mit einem Stiftchen in ein kleines Gefäß mit Queck¬
silber tauchte und hierdurch einen Strom schloß, wodurch ein Schreib¬
stift angezogen wurde, ward die Zeit registriert. Es zeigte sich nun,
daß die Zahl der mit dem rechten Zeigefinger ausgeführten Bewegungen
bei einer und derselben Versuchsperson wenig schwankte. Einige
machten hiervon eine Ausnahme, doch hierüber gleich ein Weiteres.
Auch die Resultate an Versuchstagen, die weit auseinanderlagen,
stimmten überein. So erhielten wir beispielsweise bei einem 32 jährigen
Praecoxpatienten, der nun reichlich 1 Jahr in der Klinik verpflegt
wird und sich dort durchaus ordentlich beträgt, jedoch ab und zu
Briefe schreibt, aus welchen seine schizophrene Störung deutlich hervor¬
geht, immer wieder dieselben Resultate. Jedesmal ließen wir die Ver¬
suchsperson 3 mal 15 Sekunden ticken, während dann die Anzahl
Bewegungen von 10 Sekunden gezählt wurde. Bei diesem Praecox-
kranken waren die Ergebnisse an einem Tage: 17-17-18 und 2 Wochen
später: 17-18-18 und nach abermals 6 Tagen wieder: 17-17-18. Und
nicht nur, daß die Resultate verschiedener Tage bei derselben Ver-
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
347
suchsperson so wenig schwankten, sondern auch die Ergebnisse der
verschiedenen Dementia praecox-Patienten stimmten so gut mit¬
einander überein, daß sie ohne Mühe die Berechnung eines arithme¬
tischen Mittels zuließen.
Fast genau so stimmten die Ergebnisse der manisch-depressiven
Patienten miteinander überein. Nur gab es hier einige, die hiervon
eine Ausnahme machten. Durchschnittlich entfielen bei ihnen 9 Be¬
wegungen auf je 10 Sekunden; nur 3 wichen ab. Der eine war ein Mann,
der sein ganzes Leben lang hypomanisch gewesen war und schließlich,
als er glaubte, große Erfindungen gemacht zu haben und damit seine
Umgebung belästigte, in die Klinik gebracht wurde. Bei diesem wurde
eine Schnelligkeit von 23 konstatiert. Die beiden andern Patienten waren
echte zirkuläre Psychosen, deren ganzes Leben in Phasen verlaufen
war, bald melancholisch, bald maniakal. Diese beiden Kranken ergaben
Zahlen, deren Durchschnittswerte sich nicht bei denjenigen der übrigen
zirkulären einreihen ließen. Der eine erreichte nämlich eine mittlere
Schnelligkeit von 25, der andere von 40. Die übrigen zirkulären Patien¬
ten stimmten untereinander völlig überein und ließen ohne Schwierig¬
keit die Berechnung eines Durchschnitts zu. Hierbei muß jedoch
bemerkt werden, daß es sich hier hauptsächlich um Melancholien
handelte. Man ist bei der Ausführung psychologischer Experimente
bei Psychosen in seiner Wahl nicht frei: ein Manischer würde die Appa¬
rate erheblich beschädigen können; ängstliche Melancholiker können
völlig aus der Fassung geraten, und auch negativistische Schizophrene
sind für die Versuche nicht geeignet. So ist also die verwendbare Anzahl
Manischer gering; aber die vereinzelten hypomanischen Fälle, die
außer den schon genannten 3 eine Untersuchung gestatteten, kamen
ganz in dieselbe Rubrik wie die übrigen Zirkulären.
Stellen wir nun die Resultate einander gegenüber, dann finden wir,
daß unsere Schizophrenen einen Durchschnitt von 19 und die Zirku¬
lären einen solchen von 9 erreichten, welche Größen als Maß für das
psychische Tempo deutlich das „Behäbige“ der zirkulären Gruppe
zum Ausdruck bringen. Von einer der drei hypomanischen Versuchs¬
personen ist noch zu bemerken, daß sie 2 Monate vorher untersucht
war und damals als Resultat 9,5 statt 40 ergab, und wenn wir die beiden
andern Zirkulären, die wir jetzt allein mit solcher hohen Zahl fanden, ein¬
mal in einem einfachen Depressionszustand hätten untersuchen können,
so hätten vielleicht auch sie dann ein ganz anderes Tempo gezeigt.
Aber wenn wir auch diese 3 Fälle außer Betracht lassen, dann ist
doch der Unterschied zwischen den beiden psychotischen Gruppen
wohl derart, daß es seinen Reiz hat, zu untersuchen, wie dieser Versuch
bei den gesunden Versuchspersonen ausfällt, die wir auf Grund ihres
Körperbaues ausgesucht haben. Und hierbei ergaben die Leptosomen keine
348 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
Schwierigkeiten; bei ihnen schwanken die Resultate von 23—29, das will
also besagen, daß sie am liebsten 23—29 Fingerbewegungen in den 10 Se¬
kunden machen. Die meisten waren näher bei 29 als bei 23. Die durch¬
schnittliche Anzahl Bewegungen dieser 24 Versuchspersonen betrug 27.
Bei der pyknischen Gruppe war die Sache wieder nicht so einfach.
Zwar ergaben die Resultate, die einen viel niedrigeren Durchschnitt
hatten als die erste Gruppe; aber unter den 21 pyknischen Normalen
waren 2, die sich wieder abweichend verhielten. Der eine hatte eine
Schnelligkeit von 41, der andere von 36. Rechnen wir jedoch diese
beiden Versuchspersonen nicht hinzu, dann kam das psychische Tempo
dieser Gruppe auf 12.
Lassen wir nun einstweilen die Ausnahmen unter den zirkulären
und den pyknischen Normalen außer Betracht, dann fanden wir also
diese Korrelation, daß das psychische Tempo bei den gesunden Lepto¬
somen 27 beträgt, bei den gesunden Pyknikern 12, ferner bei den
Schizophrenen 19 und bei den Zirkulären 9 1 ). Daß die Schnelligkeit
in den psychotischen Fällen etwas vermindert ist, kann nicht befremden.
Auch wenn der Versuch derart angeordnet ist, daß die Versuchsperson
nicht ermüdet wird, so kostet es doch immer ein gewisses Quantum
Energie, 15 Sekunden lang in einem und demselben Tempo ticken zu
bleiben, und wir können unbedenklich annehmen, daß so gut wie sicher
bei allen Psychosen, aber doch jedenfalls bei Dementia praecox und
der manisch-depressiven Psychose die Kraft, welche den Willenshand¬
lungen zugrunde liegt, geschwächt ist. So ist es begreiflich, daß das
Tempo bei den Leptosomen in ihrer Krankheit von 27 auf 19 sinkt,
bei den Pyknikern von 12 auf 9; aber sie bleiben in derselben Gruppe,
und die Korrelation ist unverkennbar.
Komplizierter wird die Sachlage aber, wenn Ausnahmen vorliegen.
Indessen können wir zunächst in dieser Hinsicht bemerken, daß auch
diese Ausnahmen in derselben Gruppe Vorkommen und sich in der¬
selben Richtung bewegen. Um zuverlässige Schlüsse ziehen zu können,
wäre es besser, eine größere Anzahl zur Verfügung zu haben; aber da
die Übereinstimmung bei Gesunden und Kranken hier so auffallend
ist, müssen wir doch hierbei verweilen. Die 3 Kranken hatten ein
Tempo, welches nicht allein dasjenige ihrer eigenen Gruppe, sondern
auch dasjenige der Schizophrenen weit übertrifft; außerdem waren
diese 3 nicht melancholisch, sondern in der entgegengesetzten Phase.
Die beiden gesunden Pykniker hatten ebenfalls ein Tempo, das weit
l ) Unter diesen Schizophrenen befinden sich, wie aus den auf Seite 343 gegebenen
Daten erhellt, auch Personen mit einem atypischen Körperbau, und ebenfalls
waren unter den Zirkulären apyknische Figuren; machten Körperbau und Psychose
auf die gefunde Korrelation eine Ausnahme, dann waren die Resultate in denjenigen
Fällen, wo die Diagnose feststand, jedesmal im Sinne der Psychose und nicht
entsprechend dem Körperbau.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
349
über den Durchschnitt der gesunden Leptosomen hinausgeht; aber
von einem dieser beiden hatten wir, ebenso wie von einem der 3 mani¬
schen Patienten, eine Periode mit einem Tempo von 14 festgelegt,
d. i. also eine Schnelligkeit, die bei dem pyknischen Typus überwiegend
angetroffen wird; von dem anderen hörten wir später, daß er gerade
unter Menschen und bei den für ihn aufregenden Experimenten förm¬
lich hypomanisch reagierte, während er beim Alleinsein in seinem
Zimmer sehr leicht in leichte Depressionszustände zurückfiel und nach
seiner eigenen Aussage dann die Fingerbewegung niemals in einem
schnelleren Tempo als 12 machen konnte; wollte er es doch schneller
tun, dann war ihm dies sehr unangenehm. Es scheint also wohl, daß
wir hier mit echten zirkulären Typen zu tun haben, die auch in ihrem
psychischen Tempo starke Schwankungen durchmachen und so von 12
auf 36, bzw. von 14 auf 41 springen. Und so dürfen wir also diese
Variationen nicht als Ausnahmefälle betrachten, sondern müssen sie
ab eine charakteristische Erscheinung der pyknischen und zirkulären
Gruppe ansehen.
Da indessen sowohl unter den Gesunden als unter den Kranken so
wenig Versuchspersonen mit einem übermäßig schnellen Tempo ange¬
troffen werden, können wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß die
Pykniker während des größten Teiles ihres Lebens ein langsameres
psychisches Tempo haben ab die Leptosomen, daß aber ab und zu
Zustände Vorkommen, in welchen sie schneller leben als die Asthenen
und Athleten. Abo auch nach Berücksichtigung der scheinbaren Aus¬
nahmen kommen wir zu der Folgerung, daß das Verhältnb zwischen
gesunden Leptosomen und Pyknikern völlig mit demjenigen bei den
Kranken übereinstimmt, was auf eine Gleichheit in der psychischen
Struktur bei Praecoxpatienten und Leptosomen einerseits und manisch-
depressiven Patienten und Pyknikern andererseits hindeutet.
Bei einem derart großen Unterschied im psychischen Tempo lag
es nahe, auch den Unterschied in Reaktionszeiten für dieselben Gruppen
zu bestimmen. Hierbei bt jedoch vorher wohl die Frage aufzuwerfen,
was hierbei erreicht werden könnte. Bei den bbherigen Experimenten
behielt die Versuchsperson ein großes Maß von Selbständigkeit und
stand außerhalb einer direkten Aufforderung. Die Aufgabe bestand
nur darin, regelmäßig eine kleine Feder niederzudrücken. Dies brauchte
nicht schnell, nicht sofort nach einem gegebenen Aufträge zu geschehen;
die Versuchspersonen durften sich so bequem wie möglich hinsetzen,
so daß wir fast bei keinem unserer Patienten Schwierigkeiten hatten.
Wenn nun die Versuchsperson so schnell wie möglich auf einen Reiz
reagieren muß, dann haben wir mit 2 weiteren Momenten, dem Negati¬
vismus und der Sperrung der Schizophrenen, zu tun, und die gefundenen
Zahlen weichen derart voneinander ab, daß ein Durchschnitt nicht zu
350 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
berechnen ist. Und außerdem ist nicht einzusehen, was die so erhaltenen
Zahlen besagen könnten in bezug auf einen möglichen Unterschied
zwischen Dementia praecox und der manisch-depressiven Psychose.
Gesetzt, daß bei beiden die Reaktionszeiten verlängert wären, dann
wird dies bei dem einen auf die Sperrung, bei dem anderen auf die
Hemmung zurückgeführt werden müssen; aber welcher Einfluß am
größten ist, das wird in jeder Kombination von Fällen verschieden sein
können und wechselt auch tatsächlich, wie wir durch Versuche nach¬
gewiesen haben. Diese Ergebnisse sind also von geringem Nutzen.
Anders wird die Sachlage aber, wenn wir die Reaktionszeiten bei
derselben Versuchsperson unter verschiedenen Umständen vergleichen.
Dann finden wir bei der Dementia praecox in allen Fällen die Sperrung
und bei Melancholie die Hemmung . Und die Vergleichung dieser Resul¬
tate könnte vielleicht wohl ersprießlich sein, da Sperrung und Hemmung
doch zwei ganz verschiedene psychische Erscheinungen sind. Die dies¬
bezüglich vorgenommenen Versuche sind mit dem Leuchtbrett ange¬
stellt, wie dieses in der Psychotechnik u. a. bei der Tauglichkeitsprüfung
von Kraftwagen- und Straßenbahnführem benutzt wird.
An einem rechtwinkligen Brett von 114 x 79 cm sind 16 kleine
2-Voltlämpchen angebracht. 12 dieser Lämpchen sind mit gesonderten
kleinen Kupferstreifen verbunden, die an der Peripherie einer hölzernen
Scheibe von 26 cm Durchmesser befestigt sind; vor jedem Lämpchen
befindet sich eine kleine Kupferplatte. Über genannte Scheibe läuft
eine kupferne Feder, und jedesmal, wenn diese über eines der 12 Kupfer¬
plättchen geht, wird ein elektrischer Strom geschlossen, der das Lämp¬
chen kurz zum Aufglühen bringt. Läßt man die kupferne Feder in
14 Sekunden herumdrehen, wie dies in unseren Versuchen geschah,
dann fängt also in 14 Sekunden jedes der 12 Lämpchen nacheinander
an kurz zu glühen, etwa 1 Sekunde lang. Die 4 anderen Lämpchen
sind mit einem gesonderten Akkumulator verbunden. Der Versuchs¬
leiter kann mittels eines Umschalters jedes dieser letztgenannten
Lämpchen einzeln erglühen lassen. Beim Schließen dieses Stromes
fängt zugleich das Chronoskop, das auch in diese Leitung eingeschaltet
ist, an zu laufen. Die Versuchsperson kann mittels eines Morseschlüssels
den Strom unterbrechen, wodurch das Licht erlischt und zugleich das
Chronoskop wieder stillsteht. Die 4 mit dem Akkumulator verbundenen
Lämpchen sind zwischen den andern 12 zerstreut und alle mit einem
roten Glas versehen. Von den 12 Lämpchen sind 4 grün, 4 blau und
4 weiß. Läßt man nun die kupferne Feder über die 12 Kupferplättchen
drehen, dann sieht die Versuchsperson also 12 farbige Lichter, die in
einem Zeitraum von 14 Sekunden in bunter Abwechslung blau-grün-
weiß-grün-weiß-blau usw. aufeinander folgen. Der Versuchsleiter kann
nun in jedem beliebigen Moment eines der 4 roten Lämpchen dadurch
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“. 351
erglühen lassen, daß er mit einer Druckfeder den Strom schließt, und
die Versuchsperson kann dieses rote Licht wieder dadurch zum Ver¬
schwinden bringen, daß sie auf den Morseschlüssel drückt. Die Zeit,
welche dazu erforderlich ist, auf diesen Reiz des roten Lichtes zu rea¬
gieren, wird von dem Chronoskop, das dann läuft, angegeben, und
kann vom Versuchsleiter abgelesen werden. Damit nicht 2 Lämp¬
chen zugleich brennen, ist der Apparat so eingerichtet, daß beim will¬
kürlichen Schließen des Stromes für die 4 roten Lämpchen dieser Strom
auch durch einen Elektromagneten hindurchgeht, der dann eine kupferne
Feder anzieht, wodurch der Strom, welcher die übrigen 12 Lämpchen
versorgt, unterbrochen wird.
Der Versuch geschieht im Dunkeln; die Versuchsperson sitzt in
einer Entfernung von reichlich 1 m mitten vor dem Brett, welches,
etwas nach hinten geneigt, vor sie gestellt wird. Die Versuche wurden
so vorgenommen, daß die Versuchsperson die Farbe des jeweilig auf¬
glühenden Lämpchens angeben muß, während sie auf den Morseschlüssel
zu drücken hat, sobald eines der 4 roten Lichtchen kommt. Wenn auf
diese Weise 10 Reaktionen ausgeführt worden waren, wurden die
12 Lämpchen ausgeschaltet, und wurde also ohne Ablenkung (denn
das Bezeichnen der verschiedenen Farben lenkt ab bei dem Achten auf
Rot) auf ein und dasselbe Rot reagiert, dessen Stelle, wo es erscheinen
sollte, vorher angewiesen war.
Die Reaktion, welche ausgeführt werden muß, ist dieselbe: es wird
rotes Licht ins Auge geworfen; der Patient nimmt dies wahr, weiß,
wie er darauf reagieren muß, und führt eine kleine Handbewegung aus.
Allein im ersten Falle wird er abgelenkt durch andere Lichter, die stets
aufglühen und erlöschen und die er bezeichnen muß; er weiß außerdem
nicht, wo das rote Licht erscheinen wird, während er im letzten Falle
nicht absichtlich abgelenkt wird. Bei der ersten Serie werden also bei
derselben Person die Reaktionszeiten länger sein als in der zweiten
Serie, wie aus den Tabellen hervorgeht.
Patient T. (paranoide Praecox):
Erster Tag Zweiter Tag
1. Serie
2. Serie
1. Serie
2. Serie
mit Ablenkung
ohne Ablenkung
mit Ablenkung
ohne Ablenkung
0,71
0,42
0,74
0,45
0,74
0,44
0,66
0,44
0,70
0,46
0,66
0,47
0,77
0,43
0,69
0,47
0,76
0,49
0,71
0,47
0,64
0,46
0,70
0,41
0,71
0,46
0,65
0,43
0,67
0,46
0,66
0,46
0,67
0,43
0,66
0,45
0,73
0,45
0,67
0,45
Mittl. Dauer: 0,71
0,45
0,68
0,45
352 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
Nachdem wir so die Reaktionsschnelligkeit mit und ohne Ablen¬
kung bei allen Dementia praecox- und manisch-depressiven Patienten
festgestellt hatten, wurden für jede Psychose gesondert die Durch¬
schnittswerte berechnet.
Mit Ablenkung Ohne Ablenkung
Schizophrene 1 ). 0,72 0,45
Zirkuläre. 0,89 0,39
Hierbei fällt es auf, daß bei der Gruppe Versuchspersonen, welche
die einfache Reaktion am schnellsten ausführen, die Reaktionszeit
erheblich länger wird bei Ablenkung.
Es scheint mir, daß dieser scheinbare Widerspruch mit dem Unter¬
schied in den hemmenden Faktoren Sperrung und Hemmung zusammen¬
hängt. Tritt bei einem gesunden Individuum Sperrung auf, dann wer¬
den die Reaktionszeiten, wie oben beschrieben, verlängert werden, doch
beide etwa gleichviel, weil bei beiden die Barrikade, welche wir bei dieser
gleichgestalteten Versuchsanordnung als gleich erachten dürfen, erst
überwunden werden muß. Würde eine normale Person z. B. 0,50 und
0,25 als Reaktionszeiten haben, dann können diese durch Sperrung 0,70
und 0,45 werden. Der Unterschied bleibt also ungefähr gleich und beim
Größerwerden der Zahlen wird sich zeigen, daß sie sich relativ nähern.
Aber die Hemmung, die in demselben Grade wie der Prozeß an
Kompliziertheit und Ausdehnung zunimmt, auch mehr Einfluß hat,
wird gleichsam ein Multiplizieren der Reaktionszeit bewirken. Wenn
diese bei dem Durchschnitt normaler Personen 50 und 25 waren, dann
werden diese Zahlen sich bei den Zirkulären auch verhalten wie 2 : 1
oder wie 70 : 35. Hier wird der Unterschied also immer größer werden.
Das erste, was uns bei dem Experimentieren denn auch auffiel, wai
der merkwürdige Umstand, daß sich die Reaktionszeiten beim Praecox-
patienten viel mehr näherten als beim Melancholiker. Dies was bis¬
weilen so stark, daß wir z. B. bei einem unserer Praecoxpatienten als
Durchschnittsresultate 0,75 und 0,52 bekamen. Stellen wir hiemeben
die Resultate eines unserer am reinsten ausgeprägten pyknischen
l ) Um die Zuverlässigkeit dieser Resultate zu prüfen, haben wir die durch¬
schnittliche Variation und den wahrscheinlichen Fehler berechnet ; denn namentlich
bei Psychosekranken, wo die Schwankungen groß sind und die Anzahl Versuchs¬
personen oft klein ist, kann der wahrscheinliche Fehler groß und das Resultat
der Versuche dadurch wertlos werden. Die mittlere Variation ist berechnet mittels
(m — a) + (m — b) +. (m —n)
der Formel: m. V. =
worin m den Durch¬
schnitt aus den einzelnen Experimenten a, b usw. und n die Anzahl Experimente
bedeutet. Für die Schizophrenen ist die m. V. in der 1. Versuchsreihe 0,07 Sek.
Der wahrscheinliche Fehler wurde berechnet mittels der Formel: w. F. = 0,845
ZV
~ r— —' und betrug für diese Reihe noch keine 0,02 Sek. Bei allen Versuchen
n Y n—1 6
waren m. V. und w. F. von einer Größe, daß sie die Folgerungen nicht beeinflussen
konnten.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
353
Melancholikers, dann finden wir 0,85 und 0,33. Und so waren unter
den Zirkulären noch mehr Personen vorhanden, wo der Unterschied
so groß war, daß die Reaktionszeit bei Ablenkung viel mehr als das
Doppelte derjenigen ohne Ablenkung betrug.
Dieselben Versuche wurden auch mit den gesunden Leptosomen
und Pyknikern ausgeführt, und zwar so, daß nicht erst die Resultate
der Patienten bekannt waren, als wir hiermit anfingen, sondern fort¬
laufend winden Versuchspersonen, die für diesen Zweck in Betracht
kamen, gesunde und kranke, gemessen und untersucht.
Und während wir wochenlang noch nicht sicher waren, ob sich
aus der Vergleichung dieser Experimente wohl irgendein Ergebnis
erzielen ließ, war das Endresultat mehr als befriedigend. Die 24 Lepto¬
somen und 21 Pykniker ergaben bei dieser Untersuchung einen ähn¬
lichen Unterschied. Zwar waren durch frühere Versuche mit normalen
Personen Durchschnittswerte bekannt, aber für eine differentielle
Untersuchung war diese Versuchsanordnung noch nicht angewandt
worden. Auch hier trat ein deutlicher Unterschied zutage. Während
z. B. einer der leptosomen Studenten für die Reaktion ohne Ablenkung
0,38 Sekunden benötigte, reagierte er mit Ablenkung in 0,49 Sekunden
und blieb er dabei, was die Anzahl Fehler betrifft, noch unter dem
Durchschnitt. Aber sein pyknischer Freund führte dasselbe in bzw.
0,27 und 0,68 Sekunden aus. Zwar waren dies 2 der extremsten Ver¬
suchspersonen; aber auch bei der Berechnung der Durchschnitte der
beiden Gruppen erhielten wir einen beachtenswerten Unterschied.
Mit Ablenkung Ohne Ablenkung
Leptosome. 0,58 0,31
Pykniker. 0,62 0,26
Auch hier ergeben die Pykniker also eine kürzere Zeit bei dem
einfachen Versuch, dagegen eine längere Zeit bei der Ablenkung, und
auch hier besteht infolgedessen ein größerer Unterschied in Reaktions¬
zeiten bei den Pyknikern als bei den Leptosomen; denn hier wirkt das
von Natur langsame Tempo in gleichem Maße multiplizierend sowohl
auf den Unterschied, als auf die Zeiten selbst. Vergleichen wir nun
die Durchschnittswerte der Gesunden mit denjenigen der Kranken,
und vermerken wir dabei zugleich die Anzahl Fehler, die durchschnitt¬
lich bei der ersten Serie gemacht wurde (bei der zweiten Serie war
diese Anzahl praktisch gleich Null), dann erhalten wir das folgende
Resultat:
Leptosom
1. Serie Fehler
2. Serie
1. Serie
PyknUch
Fehler
2. Serie
Gesund. 0,58 5,6 0,31 0,62 2,7 0,26
Krank 1 ). 0,72 7,8 0,45 0,89 4,8 0,39
l ) Um die Tabellen übersichtlich zu gestalten, sind die Schizophrenen und
Zirkulären darin als kranke Leptosome bzw. Pykniker vermerkt, also nach dem
Körperbau, der unter ihnen am frequentesten war.
354 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
Auch hier erhellt die Korrelation aus den Ziffern. Es muß derselbe
Faktor sein, der bei gesunden Leptosomen und Schizophrenen bewirkt,
daß die Reaktionszeiten so dicht beieinander bleiben und auch ein
gleicher, obwohl ganz anders gearteter Faktor, der bewirkt, daß der
Unterschied bei gesunden Pyknikern und Zirkulären immer größer wird.
Bei Nachfrage waren die gesunden Leptosomen alle darüber einig,
daß bezüglich der Anstrengung beim Reagieren in der ersten und in
der zweiten Reihe wenig Unterschied bestand. Die Pykniker dagegen
fanden die Reaktion ohne Ablenkung viel leichter. Diesen Unterschied
nun, der in den Zahlen zum Ausdruck kommt, können wir auffassen
als Folge derjenigen Einflüsse, die wir bei den Patienten als Sperrung
und Hemmung 1 ) bezeichnen.
Bei diesen Betrachtungen wird es deutlich, daß der Unterschied
zwischen der ersten und zweiten Serie bei den Pyknikern immer größer
werden kann, während derselbe bei den Leptosomen ungefähr gleich
bleiben muß; denn die Hemmung, die einen multiplizierenden Einfluß
auf die Reaktionszeiten ausübt, hat diesen auch auf den Unterschied
in diesen Zeiten, während die Sperrung, welche die Dauer der Reak¬
tionen um eine gewisse Größe erhöht, den Unterschied unbeeinflußt läßt.
So können wir also durch Einführung der Begriffe Sperrung und
Hemmung auch für die Gesunden die an sich eigentümlichen Resultate
plausibel machen, während außerdem durch diese Betrachtung eine
innige Verbindung in bezug auf den Reaktionsverlauf zwischen den
Schizophrenen und gesunden Leptosomen einerseits und Zirkulären
und gesunden Pyknikern andererseits hergestellt wird.
Beiläufig sei noch bemerkt, daß es für das Prinzip gleichgültig ist,
wenn x unter Umständen negativ ist oder y kleiner als 1. Ist x negativ,
dann lassen sich Zustände erwarten, wie wir sie bei impulsiven Praecox-
patienten finden; ist y kleiner als 1, so erhalten wir die manischen
Reaktionen aus der zirkulären Psychose.
*) Nennen wir diesen Faktor bei den gesunden Leptosomen x und bei den
Pyknikern y, dann ist also bei den Leptosomen eine Barrikade vorhanden, die
den psychischen Verlauf sperrt. Bei den Schizophrenen ist diese nicht mehr x t
sondern x + 14; die Reaktionszeiten vor beiden sind um 14 /ioo Sek. verlängert.
Bei den Pyknikern dagegen besteht diese Barrikade nicht; doch dort ist Hemmung
des ganzen psychischen Lebens vorhanden; bestände diese nicht, dann würden
die Schnelligkeiten mit demselben Faktor multipliziert werden und also die
Reaktionszeiten
0,62
y
sein. Wird dieser Faktor größer, dann werden die
Reaktionszeiten mit derselben Zahl multipliziert, wie dies sich auch in unseren
Resultaten zeigte: Der hemmende Faktor ist hier etwa */ 2 mal so groß wie bei
den Gesunden und kann also auch bezeichnet werden als 3 /a y. Wollten wir also
die Reaktionszeiten ohne Sperrung und Hemmung ausdrücken, dann sind diese:
0,89
0,72 — (x -f 14) und 0,45 — (x + 14) oder auch jj- - und
z Uy *
za Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
355
Daß wir für die anscheinend so launenhaft wechselnden Resultate
bei diesem Experiment in der Sperrung und Hemmung eine richtige
Erklärung besitzen, können wir auch noch auf eine andere Weise zeigen.
In einigen Fällen gelang es nicht, diese Versuche mit den Patienten
vorzunehmen. Aber auch dieses Nichtgelingen des Experiments ging
in einer sehr eigentümlichen Weise vor sich und erwies sich nachträg¬
lich ganz in Übereinstimmung mit dem, was erwartet werden konnte.
Wird die Sperrung zu groß, dann kommt überhaupt keine Reaktion
mehr zustande, weder beim einfachen Versuch, noch bei dem Versuch
mit Ablenkung. Wird aber die Hemmung zu groß, so daß die Reak¬
tionszeit des Versuches mit Ablenkung in eine nicht mehr meßbare
Ordnung (z. B. 2 Sekunden) kommt, dann ist es möglich, daß der
Versuch ohne Ablenkung hier noch brauchbare Resultate ergibt.
In der Tat zeigte sich, daß dies bei unseren Experimenten der Fall
war. Einige Praecoxpatienten reagierten nicht in beiden Fällen. Bei
den zirkulären Versuchspersonen kam dies nicht vor. Wohl waren
2 unter ihnen, die noch sehr gut den nichtkomplizierten Versuch aus¬
führten mit einer mittleren Reaktionszeit von 0,51 und 0,54 (ohne
Fehler), doch bei dem Versuch mit Ablenkung versagten. Ein dritter
Patient unter den Zirkulären benötigte 0,49 Sekunden für den einfachen
Versuch; den anderen konnte er zwar noch ausführen; dabei machte er
jedoch 8 Fehler und hatte eine durchschnittliche Reaktionszeit von 1,27;
es ist der höchste Wert, den wir bei allen Versuchspersonen fanden,
und dies deutet darauf hin, wie bei einem Ernsterwerden der Hemmung
dieser Faktor sich immer stärker geltend macht bei komplizierten Be¬
wegungen, wodurch der Unterschied in Reaktionszeiten sehr groß wird.
Auch diese, obwohl extreme Ergebnisse weisen auf einen deutlich
differentiellen Faktor in der schizophrenen und zirkulären Psyche hin.
Schließlich wollen wir noch kurz auf die Anzahl gemachter Fehler
hinweisen. Es ist im voraus nicht zu sagen, wie diese Verhältnisse
sein werden; es ist möglich, daß der Dementia praecox-Kranke mehr
Fehler machen wird als der manisch-depressive Patient, aber da der
Melancholiekranke durch Präokkupation oft über wenig Aufmerk¬
samkeit verfügt, ist es auch denkbar, daß hier die Anzahl der Fehler
größer ist als in der schizophrenen Gruppe. Dieser Versuch belehrt uns
eines anderen. Zwar muß auch hier wieder berücksichtigt werden, daß
es niemals die schwersten Fälle sind, die für das Experiment in Betracht
kommen. Stuporöse Zustände fielen aus, starke Demenz kam nicht
in Frage. Aber für beide Psychosen galt hier dieselbe Regel: Wenn
der Zustand der Patienten es gestattete, dann wurden sie auch in diese
Untersuchung einbezogen.
Beachtenswert ist es nun, daß sowohl die Praecoxkranken als gesunde
Leptosome in der Fehlerzahl die Pykniker übertreffen. Die Zahlen sind:
356 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
leptosom pyknisch
gesund. 5,6 2,7
krank. 7,8 4,8
Diese Ergebnisse erhalten um so mehr Bedeutung, weil bei einem
ganz anderen Experiment, das wir gleich besprechen werden und bei
welchem auch die Genauigkeit in der Anzahl gemachter Fehler aus¬
gedrückt werden kann, diese Anzahl bei den Leptosomen auch größer
ist als bei den Pyknikern.
So können wir also in Anbetracht der Resultate der nun angestellten
Experimente nicht anders sagen, als daß sie mit Entschiedenheit auf
eine Korrelation im Psychischen der Praecoxgruppe mit den Lepto¬
somen und der zirkulären Gruppe mit den Pyknikern hindeuten. Und
da diese Korrelation gerade in Symptomen liegt, welche für diese Krank¬
heitsbilder so bezeichnend sind, ist es nicht unmöglich, daß wir in
diesen 24 bzw. 21 Normalen einigen Gruppen auf der Spur sind, die in
mikroskopischer Kleinheit den Keim für diese Psychosen in sich tragen.
Aus diesem Grunde wollen wir uns denn nunmehr der Frage zu¬
wenden, inwieweit sich auch noch andere psychische Zusammenhänge
feststellen lassen. Und dann wird es nicht befremden, daß wir gleich¬
sam von selbst an die sekundäre Funktion denken, eine Erscheinung,
die sich durch die Untersuchungen Heymans und Wiersmas 1 ) als so
hoch bedeutungsvoll erwies und die von Schaefer und Wiersma bei
Psychosekranken studiert wurde. Wir wollen also achten auf den
Unterschied in primärer und sekundärer Funktion, d. h. auf den größeren
oder geringeren Einfluß, den das unbewußte Geistesleben auf das be¬
wußte ausübt. Die Erfahrung lehrt, daß etwas, was aus dem Bewußt¬
sein verschwunden ist und als solches nicht mehr primär funktioniert,
doch noch auf das bewußte Leben einwirkt. Dies ist notwendig. Sogar
für das Verstehen eines längeren Satzes ist der Umfang des Bewußt¬
seins zu klein; der erste Teil ist bereits in das Unbewußte herabge¬
sunken, wenn wir den Rest hören; aber durch Einwirkung des Weg¬
gesunkenen können wir doch das Ganze begreifen. Stärker noch ver¬
spüren wir diese Wirkung auf dem Gebiete des Gemütslebens: ein
trübes Erlebnis am Morgen bleibt als trübe Stimmung den ganzen
Tag bestehen. Unser ganzes Denken und Handeln, unser Gemüts¬
leben, Intuition und Takt stehen unter Einfluß früherer Erfahrungen.
Auf diese Nachwirkung früherer Bewußtseinsinhalte wurde zuerst
von Otto Oroß 1902 hingewiesen. Schon 1906 publizierte Wiersma*)
seine Befunde bezüglich dieser sekundären Funktion bei Geistes¬
kranken, wobei hauptsächlich die zirkuläre Psychose untersucht wurde,
und in einem späteren Artikel weist er darauf hin, wie diese elementare
Funktion „für die Beurteilung der großen individuellen Unterschiede
>) 1. c.
2 ) Die Sekundärfunktion bei Psychosen. Journ. f. Psychol. u. Neurol. 8.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
357
normaler Personen von großer Bedeutung und nicht weniger wichtig
für die Würdigung der psychischen Störungen“ ist 1 ).
Es besteht in der Tat, wie von den obengenannten Untersuchem
festgestellt wurde, hinsichtlich des Grades, in welchem die sekundäre
Funktion sich betätigt, viel Verschiedenheit. Bei einigen Personen
überwiegt die primäre Funktion, und zwar bei den Menschen, die dem
Augenblicke leben, bei andern mehr die sekundäre Funktion, wie z. B.
bei den Personen, die alles von der ernsten, schwersten Seite auffassen.
Bei diesen ist fortgesetzt ein relativ konstanter Vorstellungskomplex
vorhanden, der mit dem Alter zunimmt und alle Äußerungen geistigen
Lebens beeinflußt. Durch diesen Komplex im Hintergründe des Bewußt¬
seins wird eine gewisse Einheitlichkeit und Zusammenhang in der
geistigen Existenz herbeigeführt; die sekundäre Funktion wirkt dämp¬
fend, wird vor übereilten Schritten, Oberflächlichkeit und Inkonsequenz
schützen; dagegen wird sie das Verstricken in bestimmte Vorstellungs¬
komplexe, das Grübeln über dieselben Dinge, das unablässige Nachdenken,
namentlich über emotionell gefärbte Ereignisse und das stetige Wieder¬
kehren von Unlustempfindungen fördern. Zumal von den zirkulären
Melancholikern ist es bekannt, daß sie das Leben von der schwersten
Seite auffassen, an alten Ideen haften, sich lange über mit Unlustgefühlen
verbundene Vorfälle grämen, übertrieben sparsam sind und peinlich
scharfe Selbstkritik üben, zuweilen mit Armut und Selbstbeschuldigungs¬
ideen verbunden, psychische Erscheinungen, die zum Teile mit der er¬
höhten sekundären Funktion in Verbindung gebracht werden konnten.
Der Unterschied in sekundärer Funktion ist also ein sehr tiefgehender
und verdient näher betrachtet und experimentell untersucht zu werden.
Die Experimente beruhen alle auf der Nachwirkung einer Vor¬
stellung oder Empfindung. Hierfür sind seitens der genannten Unter¬
sucher verschiedene Versuche erdacht, die alle zu denselben Ergeb¬
nissen führen. So z. B. diejenigen, welche sich auf die blendende Wir¬
kung eines starken Lichtes beziehen. Hierbei handelt es sich um die
Nachwirkung eines früheren Eindrucks. Man bringt die Versuchsperson
in ein dunkles Zimmer, wo sie ein schwaches Licht gerade eben sehen
kann. Läßt man dann einige Augenblicke ein grelles Licht brennen,
dann dauert es danach einige Zeit, ehe die Versuchsperson das kleine
Licht wieder sieht; diese Zeit wird gemessen.
Es ergab sich bei den Patienten ein großer Unterschied. Bei den
Maniekranken war die Nachwirkung des starken Lichtes sofort ver¬
schwunden, bei den Melancholiepatienten dauerte dieselbe 4—5 Minuten.
Diese Versuche wurden auch mit elektrischen Funken vorgenommen,
die bei hinreichend schneller Aufeinanderfolge als eine ununterbrochene
Linie wahrgenommen werden. Läßt man z. B. für diesen Versuch bei
l ) Psych. Nachwirkungen. Zeitsehr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 35. 1917.
358 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
einer Hirschmannschen Maschine die Funken schnell genug von dem
einen Konduktor auf den andern überspringen, dann entsteht eine lücken¬
lose feurige Linie. Auch hier erwies sich die Frequenz, die zum Erhalten
einer nicht unterbrochenen Linie erforderlich war, als sehr verschieden.
Einer anderen Reihe von Versuchen liegt die Mischung von Kontrast¬
farben zugrunde. Läßt man eine kreisförmige, aus Grün und Rot zu¬
sammengesetzte Scheibe schnell drehen, so entsteht Dunkelgrau. Bei
langsamer Drehung sieht man Flackern. Werden die beiden genannten
Farben als Grau wahrgenommen, dann muß also die eine Farbe noch
nachwirken, wenn man die andere sieht. Und auch hier sind die Rota¬
tionsgeschwindigkeiten sehr verschieden. Dieser Versuch erwies sich
wohl als der geeignetste für Psychosepatienten. Allein bei Farben¬
blinden muß man sich auf eine andere Weise behelfen, um experimentelle
Kriteria betreffs der Unterschiede in sekundärer Funktion zu erhalten.
Wir haben uns bei dieser Untersuchung auf diesen letzten Versuch
beschränkt. Auf eine runde, blaugrüne Scheibe von 13 cm Durchmesser
ist ein Sektor von 55° mit rotem Papier geklebt. Die Scheibe wird
mittels eines kleinen Motors in Bewegung gesetzt und die Rotations¬
geschwindigkeit mit Hilfe eines Tachometers, das die Anzahl Um¬
drehungen per Minute registriert, gemessen. Bei den Versuchen wurden
diejenigen Vorsorgemaßnahmen getroffen, auf die in dem ursprünglichen
Artikel Wiersmas 1 ) hingewiesen wird.
Namentlich sei hier betont, daß wir mit allen Versuchspersonen die
Experimente unter genau denselben Umständen ausführten, und zwar
in einem dunklen Zimmer, in welchem die rotierende Scheibe stets von
derselben Lichtquelle beleuchtet wurde und in dem sich sowohl die
Schizophrenen als die Zirkulären immer gleichlange befanden, um sich
vor Anfang der Versuche dem Helligkeitsgrade anzupassen.
So fanden wir bei jeder Versuchsperson zwei Werte: einen, der die
mittlere Umdrehungszahl angibt, wenn sich bei zunehmender Rotations¬
geschwindigkeit die Farben vermengen, und einen, bei welchem die
Farben wieder gesondert gesehen werden, wenn die Scheibe anfängt,
sich langsamer zu drehen.
Als Beispiel bringen wir die Resultate, die bei der Untersuchung
eines Dementia praecox-Patienten (S.) und eines Patienten mit manisch-
depressiver Psychose (D.) erhalten wurden.
Patient S.
Patient D.
1550-1600
820-800
1600-1620
820-800
1550-1600
780-800
1550-1550
770-780
1510-1500
760-800
Durchschnittlich: 1552—1574
790-796
l ) 1. c.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
359
Diese Zahlen dürfen natürlich nicht viel voneinander abweichen,
und in jedem Fall müssen bei einer hinreichenden Anzahl von Versuchen
die Durchschnitte übereinstimmen.
Die zirkuläre Gruppe ergab aber wieder einige Schwierigkeiten,
was im Hinblick auf die Resultate der vorigen Experimente bei Melan¬
cholie und Manie wohl erwartet werden konnte. Aber mit Ausnahme
einiger dieser Gruppe ließen alle Schizophrene und Zirkuläre die Berech¬
nung eines guten Durchschnittes zu, woraus deutlich die überwiegende
sekundäre Funktion bei der manisch-depressiven Psychose erhellt:
Dementia praecox. 1565—1561
Manisch-depressive Psychose .... 777—789
Je kleiner die Anzahl Umdrehungen per Minute ist, desto länger
wird die eine Farbe nachwirken müssen, um sich mit dem Eindruck
der anderen vermischen zu können; bei den zirkulären Patienten erweist
sich nun durchschnittlich diese Umdrehungszahl als erheblich kleiner
wie bei den Dementia praecox-Kranken und ist also die sekundäre
Funktion viel stärker ausgeprägt. Aber es gab 3 Ausnahmen:
Pat. Vr. 1704-1734
Pat. Br. 1620-1680
Pat. B. 1740-1720
Zwei von diesen, den ersten und den letzten, haben wir schon früher
als Ausnahmen angeführt: es sind die Maniekranken mit einem sehr
schnellen, psychischen Tempo. Der dritte Patient, der dort bei jenem
Experiment mit dem psychischen Tempo eine Ausnahme machte, fiel
hier noch in den Bereich des Durchschnitts; trotz der hier vorliegenden
Hypomanie bestand doch eine starke sekundäre Funktion. Die dritte
Patientin, die hier eine so hohe Umdrehungszahl aufwies, hatte einen
sehr ernsten melancholischen Zustand durchgemacht. Sie blieb fast
1 Jahr in der Klinik, wo sich ihr Zustand erheblich besserte und sie
sich in nützlicher Weise betätigte. Nur war sie noch etwas still, sollte
aber doch nach diesbezüglicher Rücksprache mit der Familie entlassen
werden. Einige Tage vor der Entlassung wurde bei ihr, nachdem
man ihr von der letzteren Mitteilung gemacht hatte, die sekundäre
Funktion bestimmt, welche das Resultat 1620—1680 ergab. Sie näherte
sich also sehr der Zahl der Maniekranken. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß die Freude über die bevorstehende Entlassung und über das Wieder¬
sehen ihrer Kinder sie eine Zeitlang die Sorge und das Haften an der
Vergangenheit vergessen ließ und daß sie in ihrem psychischen Ver¬
halten sich mehr dem Bilde der Manie als demjenigen der Melancholie
näherte. Jedenfalls waren die melancholischen Symptome so gut wie
verschwunden.
Fassen wir nun diese drei Fälle zusammen und stellen wir sie mit
den übrigen Zirkulären den Schizophrenen gegenüber, dann können
Z. f. d. g. Nenr. u. Psych. XCIII. 24
360 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
wir sagen, daß die manisch-depressive Gruppe durch eine sehr stark
überwiegende sekundäre Funktion gekennzeichnet ist, daß jedoch
bisweilen Zustände Vorkommen, in welchen die sekundäre Funktion
viel geringer ist und sogar weit unter dem Durchschnitt der Schizo¬
phrenen bleibt; daß diese Ausnahme gerade in der hypomanischen
Phase Vorkommen, aber daß nicht umgekehrt alle Maniekranken eine
schwache sekundäre Funktion zu haben brauchen.
Vergleichen wir hiermit die Durchschnitte der gesunden Lepto¬
somen und Pykniker, die alle wieder in derselben Weise untersucht
wurden wie die Patienten, so finden wir für die gesunden Leptosomen
die Zahlen 1698—1697, welche also reichlich um 125 größer sind als
die Durchschnitte der schizophrenen Versuchspersonen. Dies würde
also bedeuten, daß die sekundäre Funktion bei den Kranken besser
entwickelt war als bei den Normalen. Nun kann man bei einem Begriff
wie sekundäre Funktion nicht nur so ohne weiteres von besser oder
geringer sprechen. Es hängt völlig von der übrigen psychischen Kon¬
stellation ab, ob eine Verstärkung bzw. Abschwächung der sekundären
Funktion wertvoll ist oder nicht. Für das normale Geistesleben ist oft
der Mittelweg der beste. Wir müssen uns damit zufriedengeben, daß in
diesen Experimenten die sekundäre Funktion bei den Patienten größer
ist als bei den normalen Versuchspersonen.
Ob dies auch bei andern Versuchsanordnungen der Fall sein würde,
lassen wir hier dahingestellt. Denn der Begriff sekundäre Funktion
ist wieder aus einer automatischen und einer willenskräftigen Nach¬
wirkung zusammengesetzt, die, wie von Wiersma nachgewiesen wurde,
unter gegebenen Verhältnissen sich wechselseitig hemmen oder ver¬
stärken können. Bei unserer Versuchsanordnung beschäftigen wir uns
hauptsächlich mit der automatischen Nachwirkung, und dann zeigt
sich, daß diese bei den Schizophrenen größer ist als bei den gesunden
Leptosomen.
Und auch unter Pyknikern ist bei den Patienten die sekundäre
Funktion größer als bei den Gesunden. Fanden wir für die Zirkularen
777—789, so ergeben sich für die Gesunden dieses Typus die Zahlen
1136-1152.
Nur bilden auch hier wieder die beiden Versuchspersonen, die sich
bei der Untersuchung nach dem psychischen Tempo abweichend ver¬
hielten, eine Ausnahme. Diese beiden erreichten eine Umdrehungszahl
von 1724—1682 und 1842—1833. Der erste Patient ist derselbe, der bei
den Versuchen starkes Interesse zeigte und in Gesellschaft lebhaft
und angeregt war, während er zu Hause Stunden von Depression und
Angst hatte. Im Laboratorium war sein psychisches Tempo 36; zu
Hause fiel letzteres ganz innerhalb der Breite der normalen Pykniker.
So ist es also sehr wohl möglich, daß sich zu andern Zeiten auch bei
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 . 361
ihm eine viel stärkere sekundäre Funktion konstatieren ließ. Dies wird
um so wahrscheinlicher, wenn wir auf den Fall der zweiten Versuchs¬
person achten. Von dieser war nämlich die sekundäre Funktion schon
bestimmt und ausgedrückt in den Zahlen 1223—1220, was doch ein
sehr befriedigendes Ergebnis ist; sein psychisches Tempo war damals 14.
Als er einige Wochen darauf zurückkam, betrug sein psychisches
Tempo 41 und die sekundäre Funktion wurde durch die Zahlen 1842 bis
1833 ausgedrückt, während nichts an ihm zu bemerken war, was an
Hypomanie erinnerte. Auf die Frage, ob vielleicht etwas passiert sei,
sagte er: „Passiert noch nicht, aber ich muß übermorgen Examen
machen.“ Diese Bemerkung machte alles viel deutlicher. Bekanntlich
können melancholische Patienten, die ängstlich sind, stark primär
reagieren; sie geben flott Antwort, bemerken alles und es besteht bei
ihnen eine geringe Nachwirkung der verschiedenen Bewußtseinsinhalte.
In den Experimenten Wieramas zeigen solche Melancholiepatienten auch
eine bedeutend höhere Tourenzahl als die übrigen Patienten. Es liegt auf
der Hand, in unserem Examinanden, der vor einigen Wochen noch
als ein normaler Pykniker reagierte, das Analogon eines melancholischen
Angstzustandes zu sehen. Offenbar können diese Menschen also leicht
in einen Zustand geraten, bei welchem die starke sekundäre Funktion
verschwunden ist und in das Gegenteil umschlägt; aber der Umstand,
daß 19 von den 21 Patienten ausgesprochen sekundär waren in der
Zeit, wo sie untersucht wurden, legt die Vermutung nahe, daß die
Perioden kräftiger sekundärer Funktion überwiegen.
Aber achten wir nun nicht auf die Ausnahmen, die an sich sehr
verständlich sind, und die Übereinstimmung in psychischer Struktur
bei gesunden und kranken Pyknikern bestätigen, so erhalten wir folgende
Resultate:
leptosom pykniscb
Gesund. 1698-1697 1136-1152
Krank. 1565-1561 777-789
Hieraus geht deutlich hervor, daß der Grad des Einflusses, den das
Unbewußte auf das Bewußte hat, bei den gesunden Leptosomen von
derselben Ordnung ist wie bei den Schizophrenen, bei den Pyknikern
von derselben Ordnung wie bei den Zirkulären. Und ferner, daß die bei
der pyknischen Gruppe doch bereits soviel kräftigere sekundäre Funktion
bei den Zirkulären in viel stärkerem Maße zugenommen hat als bei
der Psychose der leptosomen Gruppe, was völlig mit der Auffassung
übereinstimmt, daß die überwiegende sekundäre Funktion zu einer
der prädisponierenden Erscheinungen der Melancholie gehört.
Und drittens fanden wir sowohl bei den gesunden als den kranken
Pyknikern etwas von dem Zirkulären wieder, das die manisch-depres¬
sive Psychose kennzeichnet, bald hohe, bald wieder sehr niedrige Werte,
24*
362 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
doch diese letzteren weitaus am häufigsten. Theoretisch ist es denkbar,
daß wir auch pyknische Versuchspersonen äntreffen können mit einem
Durchschnittswert, der ungefähr demjenigen der Leptosomen gleich
ist. Daß wir sie nicht finden, weist darauf hin, daß dieser Umschlag
wohl verhältnismäßig schnell vor sich gehen wird. Aber bei einer
größeren Anzahl Versuchspersonen werden sie zweifelsohne Vorkommen.
Das will dann also nicht besagen, daß so jemand eine Ausnahme von
der Regel macht und auch in seinen übrigen Äußerungen mit den
Schizophrenen übereinstimmen muß.
Auch bei dieser Untersuchung haben wir also verschiedene An¬
knüpfungspunkte, die darauf hinweisen, daß die psychische Struktur
bei Praecoxkranken mit derjenigen der Leptosomen und der psychische
Bau der manisch-depressiven Patienten mit demjenigen der Pykniker
übereinstimmt; und im Hinblick auf den Umstand, daß es hier eine
Untersuchung über den Einfluß des Unbewußten auf das Bewußte
galt, der so große Bedeutung im psychischen Leben im allgemeinen
und bei den Psychosen im besonderen hat, können wir vermuten, daß
die Prädisposition für diese Krankheiten bei den Leptosomen und den
Pyknikern vorhanden ist.
Schließlich haben wir noch versucht, den Umfang des Bewußt-
seins für jede dieser Gruppen festzustellen. Nach Kraepelin ist bei
oberflächlicher Untersuchung die Auffassung bei Dementia praecox
nicht gestört; jedoch würden sich bei eingehendem Experimentieren
Umfang und Richtigkeit des Wahrgenommenen als geringer erweisen.
Busch fand bei seinen Versuchen mit Praecoxpatienten, daß Umfang
und Genauigkeit beim Wahmehmen vermindert waren.
Natürlich wird infolge des teilweise erniedrigten Bewußtseins¬
grades bei Präokkupation auch das Auffassungsvermögen von zirku¬
lären Patienten leiden, aber wie sich das eine zum andern verhält,
war nicht bekannt.
Unsere ersten Versuche wurden mit einem Falltachystoskop ange¬
stellt; aber hierbei erwies sich die fallende Guillotine stets als ein
störendes Element. Auch suchten wir mit Bildern, die im Laboratorium
vorhanden waren und eine bestimmte Zeit beleuchtet wurden, den
Umfang zu bestimmen; aber zunächst waren dies emotionelle Figuren;
außerdem war die Beleuchtungszeit zu lang und konnte die Versuchs¬
person nicht zu einer von ihr selbst zu bestimmenden Zeit das Bild
wahmehmen. Um dies alles zu umgehen, wurde ein einfaches Tachysto-
skop konstruiert, das die Versuchsperson selbst in der Hand haben
konnte; hierzu wurde ein Momentverschluß eines photographischen
Apparates benutzt, den die Versuchsperson selbst abdrückte. Die
Zeit, während welcher die verschiedenen Gegenstände beleuchtet
wurden, durfte nicht länger als 0,1 Sekunde sein, weil bei längerer
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“.
363
Zeit die Aufmerksamkeit sich einem andern Objekt zu wenden könnte
und wir somit kein Bild von demjenigen bekommen, was zugleich
umfaßt werden kann, und das meinen wir doch mit dem Umfang des
Bewußtseins. Unsere Versuche wurden daher angestellt mit einer
Beleuchtungszeit von 1 / 1& Sekunden. Ferner mußten die zu reprodu¬
zierenden Gegenstände einigen bestimmten Bedingungen entsprechen;
denn auch die Beschaffenheit des Objektes hat Einfluß auf den Bewußt¬
seinsumfang; die Objekte dürfen nicht kompliziert sein, keine Synthese¬
bildung zulassen, nicht vorher bekannt sein und nahezu keinen Gefühls¬
ton haben 1 ). Daher wählten wir Buchstaben, und zwar Majuskeln,
von 4,5 mm Höhe, die in stets wechselnder Zahl und Anordnung auf¬
gestellt waren, jedoch immer so, daß niemals Wörter gebildet werden
konnten. Insgesamt hatten wir 16 derartige Karten, und zwar 6 mit
5 Buchstaben, 4 mit 6, 3 mit 7, 2 mit 8 und 1 mit 9 Buchstaben, so
daß in 16 Malen 100 Buchstaben beleuchtet wurden, jeder Buchstabe
4 mal (das J war nicht mitgenommen). Die Karten waren auf runden
Holzscheiben von 5,4 cm Durchmesser befestigt, die hinter dem Dia¬
phragma in die Öffnung des Momentverschlusses gestellt werden
konnten. Die Buchstaben waren in ganz verschiedener Anordnung
aufgestellt, z. B.
D X EM
R SP
MG FZ
so daß man nicht vermuten konnte, auf welche Ecke der Scheibe die
Aufmerksamkeit gerichtet werden mußte.
Unmittelbar nach dem Abdrücken reproduzierte die Versuchs¬
person, was sie gesehen hatte. Dies wurde notiert. Außerdem mußte
sie die Stelle anzugeben suchen, wo die Buchstaben standen und dann
noch die Gesamtzahl Buchstaben, die nach ihrer Meinung auf der
Karte gestanden hatten. Ausdrücklich wurde aber gesagt, daß es auf
das Erkennen der Buchstaben ankomme und daß das andere nur als
Nebensache erwähnt werden könne. Diese Experimente wurden ebenso
wie die vorhergehenden sowohl bei den gesunden als bei den kranken
Versuchspersonen vorgenommen. Da sich hier jedoch ein Unter¬
schied zeigte zwischen den normalen Versuchspersonen, welche aus
den Koassistenten gewählt waren, die durch ihr Studium auf das Auf¬
nehmen und Reproduzieren von Buchstaben eingestellt sind, und den
neurologischen Saalpatienten, die der Arbeiterklasse entstammen, sind
die Durchschnitte allein von den leptosomen und pyknischen Studenten
berechnet. In Hinblick darauf jedoch, daß bei Vergleichung dieser
letzteren mit Patienten der dritten Verpflegungsklasse, die überwiegend
keine höhere Schulbildung genossen hatten, kein reines Bild erhalten
l ) Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit.
364 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
wurde, sind diese Patienten nochmals in 2 Gruppen verteilt, und zwar
in solche, welche vorgemerkt waren, um in kurzem als hinreichend
genesen in die Gesellschaft zurückzukehren, und ernste Patienten.
Anzahl Buchstaben Stelle Gesamtzahl
Leptosome Studenten.
richtig
68
falsch
5
richtig
64
falsch
9
Fehler
4
Wieder gesellschaftsfähige De-
mentia-praecox-Patienten . .
34
7
40
1
8
Schizophrene.
21
11
17
15
13
Pyknische Studenten.
76
5
76
5
3
Wieder gesellschaftsfähige manisch-
depressive Patienten.
42
4
42
4
6
Zirkuläre.
23
6
24
5
9
Vergleichen wir nun diese Zahlen, dann sehen wir bei der lepto¬
somen Gruppe einen stets kleiner werdenden Bewußtseinsumfang, je
ausgesprochener die Schizophrenie wird und damit Hand in Hand
eine Zunahme fehlerhafter Wahrnehmungen.
In der pyknischen Gruppe sehen wir dasselbe, doch stets über¬
treffen die Zahlen diejenigen der Leptosomen, wenn es den Umfang
gilt, und sind sie kleiner, wenn sie die falschen Wahrnehmungen aus-
drücken.
Dasselbe fanden wir auch für die neurologischen Patienten, die
wir noch gesondert berechneten, denen wir aber wenig Wert beimessen
können, weil es nur 2 Pykniker und 3 Leptosome betrifft.
Die Durchschnittswerte sind:
Anzahl Buchstaben Stelle Gesamtzahl
richtig falsch richtig falsch Fehler
Leptosom. 38 7 43 2 9
Pyknisch. 47 6 49 4 6
Und nicht nur förderten die Durchschnittswerte diese Unterschiede
zutage, sondern fast für jede einzelne Versuchsperson galt der Satz,
daß der Pykniker größeren Bewußtseinsumfang hatte als sein art-
gleicher Leptosome und außerdem größere Fähigkeit im richtigen
Reproduzieren.
Vergleichen wir den höchstwertigsten und den niedrigstwertigsten
von den leptosomen Studenten mit dem höchstwertigsten und dem
niedrigstwertigsten der pyknischen Gruppe, so finden wir:
Anzahl Buchstaben Stelle Gesamtzahl
Höchster Leptosome ....
richtig
. . 74
falsch
3
richtig
66
falsch
11
Fehler
4
Niedrigster Leptosome . . .
. . 63
3
54
12
6
Höchster Pykniker.
. . 78
8
82
4
0
Niedrigster Pykniker ....
. . 73
2
67
8
7
Hieraus folgt, daß der höchstwertigste Leptosome kaum mehr sieht
als der niedrigstwertigste Pykniker, oder, wenn wir in der Reproduk¬
tionszahl auch die Anzahl der Fehler auszudrücken suchen, dann sehen
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
365
wir bei dem besten Leptosomen, daß er 74 Buchstaben gesehen hat,
aber nicht von allen, sondern nur von 66 den richtigen Platz, die übrigen
8 sind also weniger genau im Bewußtsein gewesen. Wenn wir daher
diese letzteren — es ist eine globale Schätzung, aber für alle Gruppen
dieselbe — von gleichem Wert rechnen wie 4, wovon auch der Platz
angegeben werden kann, so erhalten wir also als Endresultat den
Durchschnitt von 74 und 66, das ist also 70, als Maß für den Bewußt¬
seinsumfang. Bei dem niedrigstwertigsten Leptosomen wird dies dann
59. Der beste Pykniker wußte von 78 Buchstaben, die er richtig sah,
auch den Platz anzugeben. Außerdem gab es noch 4 Buchstaben, die
er nicht gut benannte, z. B. ein (?, das als O reproduziert wurde, aber
dessen Platz er wohl anzugeben vermochte. Auch diese 4 Buchstaben
setzen wir gleich 2 in jeder Hinsicht richtig reproduzierten Schrift¬
zeichen, und so bewegt sich also das Maß, daß wir für den Bewußt¬
seinsumfang bei pyknischen Studenten fanden, zwischen 70 und 80.
Es zeigt sich, daß die Pykniker, solange sie nicht hypomanisch oder
allzu sehr deprimiert sind, auf der ganzen Linie die Leptosomen über¬
treffen; ihre Zahlen bewegen sich zwischen 70 und 80, diejenigen der
Leptosomen zwischen 59 und 70. Hieraus ließen sich wieder die Durch¬
schnitte berechnen, die für die Leptosomen 66, für die Pykniker 76
betrugen.
Vergleichen wir als Kontrolle diese Resultate mit dem, was vom
Bewußtseinsumfang im allgemeinen bei Gesunden bekannt ist, dann
wissen wir, daß nach Versuchen, die von Cattell angestellt wurden, nur
4—5 Gegenstände zugleich im Bewußtsein sein können, falls dazwischen
keine Bindung möglich ist und keine auffallende Einheitsrelation das
Aufnehmen der auseinanderliegenden Teile fördert. Wie schon bei der
Beschreibung der Versuchsanordnung erwähnt wurde, sind alle diese
Vorbedingungen erfüllt worden, mit Ausnahme einer Buchstabenkarte,
wo die Buchstaben in Kreuzform:
C O
N
W I
dargeboten und denn auch weitaus am besten auf genommen wurden.
Aber im allgemeinen dürfen wir somit von diesen Versuchen wohl
sagen, daß sie den von Catiell gestellten Anforderungen entsprechen,
d. h. daß in 16 Wahrnehmungen von gesunden Versuchspersonen
64—80 Gegenstände gesehen werden müssen. Und in der Tat ist dies
der Fall; nur vermochten wir innerhalb dieser Grenzen noch eine
charakteristische Differenzierung wahrzunehmen, wobei die Leptosomen
um einen Mittelwert von 66, die Pykniker um einen solchen von 76
schwankten. Wir können mithin wohl annehmen, daß diese Methode
zufällige Data verschafft über den Bewußtseinsumfang und die Zuver-
366 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
lässigkeit des Wahrnehmens (auch hier ergaben sich, ebenso wie in
dem Leuchtbrettversuch, mehr Fehler bei den Leptosomen), d. h.
für den Grad der Aufmerksamkeit. Und wenn dieser nun bei der Gruppe,
deren psychische Erscheinungen schon soviel Ähnlichkeit mit der¬
jenigen der schizophrenen zeigten, sich um soviel geringer erweist als
bei der anderen, und wir wissen, daß gerade die Praecoxkranken über
Mangel an Konzentrationsfähigkeit klagen, daß sie auch mehr Fehler
machen und unzuverlässiger sind, dann bestärkt auch dieser Befund
uns in der Vermutung, daß eine enge Beziehung in der psychischen
Struktur zwischen den gesunden Leptosomen und den Praecoxkranken
besteht. Stellen wir noch einmal in Durchschnittswerten (in derselben
Weise berechnet, wie oben für die Gesunden angegeben ist) die ver¬
schiedenen Resultate zusammen, dann weisen auch die Zahlen in
diese Richtung.
Leptosom Pykniseh
Umfang
Fehler
Umfang
Fehler
Studenten.
66
4
76
3
Neurologische Patienten.
41
9
48
6
Wieder gesellschaftsfähige Psychosepat.
37
8
42
6
Dementia praecox- u. manisch-depr. Pat.
19
13
23
9
Der größere Bewußtseinsumfang der Pykniker, welcher aus diesen
Zahlen der Studenten und Nichtgebildeten deutlich erhellt, bleibt
also auch im psychotischen Leben bestehen.
Überblicken wir die Resultate der in diesem Aufsatz beschriebenen
Experimente in ihrem ganzen Umfange, dann fanden wir also, daß
auf jedem Gebiet, sei es nun psychisches Tempo, Sperrung und Hem¬
mung, sei es sekundäre Funktion oder Bewußtseinsumfang, stets wieder
eine ausgesprochene Wechselbeziehung zwischen den Leptosomen und
den Dementia praecox-Patienten einerseits und den Pyknikern und
den manisch-depressiven Patienten andererseits bestand, was auf einen
engen Zusammenhang zwischen der psychischen Struktur der Lepto¬
somen und Schizophrenen und eine feste Beziehung zwischen dem
psychischen Bau der Pykniker und der Zirkulären hinweist.
Wir haben hier zwei Konstitutionstypen, die sich psychisch und
physisch deutlich unterscheiden und den Keim für eine eigene Psychose
in sich tragen.
Um dieser Auffassung mehr Stütze zu verleihen und das charaktero-
gene Element in den beiden großen Gruppen der Schizophrenie und der
manisch-depressiven Psychose deutlicher hervortreten zu lassen, haben
wir die Versuchspersonen, welche gemessen und experimentell psycho¬
logisch untersucht wurden, um eingehende Mitteilungen über ihr eigenes
Leben gebeten, und fast alle waren hierzu bereit.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
367
Um den typischen Unterschied zwischen Leptosomen und Pyknikern
zu demonstrieren, werde ich hier verkürzt, doch bisweilen mit ihren
eigenen Worten, erst von einigen Schizoiden und danach von ein paar
Cycloiden die wesentlichsten Punkte mitteilen.
Zunächst möge der Zustand eines primären, nicht emotionellen und nicht
aktiven jungen Mannes beschrieben werden, der gut seine Examina macht, eine
geregelte Lebensweise führt, aber manchmal keine Lust hat, zu arbeiten. „Ich
fühle mich dann elend, bin am liebsten allein und überlasse mich meinen eigenen
Gedanken. Denken tue ich dann eigentlich auch nicht; ich lebe dann nur in mir
selbst, los von anderen/ 4 Dieser Zustand kann einen Tag oder auch wohl länger
dauern. Er spricht dann mit niemand, gibt auf Bemerkungen oder Fragen seiner
Logiswirtin kaum oder gar keine Antwort, ist reizbar und verdrießlich. Mitunter
gelingt es noch zu arbeiten, aber in keinem Fall einen Freund zu empfangen. Dann
ist er mürrisch und schlechter Laune, kann nicht konversieren, bietet automatisch
eine Zigarre an oder sitzt still vor sich hinstarrend. Er findet selbst diesen Zustand
unangenehm, ist froh, demselben wieder entrückt zu sein, aber hat dies nicht selbst
in der Hand. Zuweilen wird er diesem Zustande entrissen, wenn er eine Zeitlang
in einer angenehmen Gesellschaft verweilt und er selbst allmählich in Stimmung
kommt. In der Regel geht er aber allein aus, macht allein Ausflüge oder besucht
ein Caf6, wo ein Orchester spielt, und dann geht dieser Zustand wohl allmählich
wieder vorbei; einige Wochen hintereinander dauert derselbe niemals. Freunde
hat er eigentlich nicht; er ist „auch gerade so gern allein“.
Ein anderer Leptosome erzählte: „Bei meinem Studium wurde ich fast nie
durch äußere Dinge abgelenkt, sondern allein durch meine eigenen, sich auf-
drängenden Ideen.“ Er findet es unangenehm, gestört zu werden; es dauert
dann eine Zeitlang, ehe er sich wieder hineingefunden hat. Er sitzt am liebsten
in einem leeren Zimmer mit weißen Wänden. Er bleibt in seinem eigenen Zimmer,
um zu arbeiten; draußen kann er nicht studieren. Am liebsten beschäftigt er sich
mit psychologischem Studium und liest psychologische Werke; für andere Literatur
hat er kein Interesse. Auch Zeitungen liest er nicht gern, weil die Außenwelt
ihm fern steht und ihn nicht interessiert; wenn er Zeitungen liest, geschieht dies
darum, „weil man wohl etwas davon wissen muß“. Früher hatte er Zeiten, daß
er dem ihn umgebenden Leben völlig apathisch gegenüberstand; er wollte daran
nicht denken und sich nicht damit bemühen, hatte an seinen eigenen Gedanken
genug. Er ist reizbar und schnell verstimmt, aber sagt ausdrücklich, daß er dann
nicht enttäuscht ist; die Verstimmung wirkt sehr lange nach. Er regt sich auf
„um ein Nichts“, ist dann tagelang still und kann nicht darüber hinwegkommen.
Nach dem Tode eines seiner Eltern fiel es ihm schwer, „in den Gemütszustand,
der dabei gehört,“ hineinzukommen; es war, als ob dieses Ereignis sein inneres
Leben nicht berührte. Auch beim Besuchen des Grabes hatte er dasselbe unbefrie¬
digende Gefühl; mit seinem Verstände erfaßte er wohl die Situation; „aber die
Gemütsreaktion wird verdrängt oder bleibt weg“. Er kann dann auch nicht weinen.
„Später wohl, dann kommen Tränen; aber auf einmal kann das Verstandeselement
so überwiegen, daß ich mich vor den Spiegel stelle, um zu sehen, wie ich mit solchem
schmerz verzogenen tränenbedeckten Gesicht aussehe.“ Auffallend ist ferner,
daß er an Synästhesien leidet, beim Hören eines Tones eine bestimmte Farbe sieht.
Noch ein 3. Schizoide mit deutlich leptosomem Körperbau ist sehr über¬
empfindlich; bekommt aber bisweilen Momente, in welchen er ganz anders ist.
Er wird dann, meistens ziemlich plötzlich, unempfänglich für äußere Eindrücke;
man muß ihm dann nicht Zureden; er wird in diesem Zustande durch jedes Wort
und jede Berührung gereizt, würde dann fortlaufen; er fühlt dies alles als eine
368 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
Macht über sich kommen, „findet es gräßlich,“ aber kann sich dem nicht wider¬
setzen, ist dann kalt und kühl bis an die Grenze des Grausamen, fühlt sich innerlich
versteinert, „es ist dann, als ob man an einer anderen Seite des Lebens lebt, als
ob eine Inversion, eine Umschaltung statt hat“. „Ich kann dann bisweilen eine
grundlose Verachtung haben, als ob einen Kälte durchzieht; es ist das Unvermögen
zum Suchen eines Bandes, als ob man außerhalb des Lebens steht.“ „Man erschrickt
dann vor sich selbst; steht dann außerhalb seiner selbst.“ Er hat dann einen harten
Zug im Gesicht. Obwohl er unter gewöhnlichen Umständen zärtlich und gut zu
Kindern ist, empfindet er es dann als einen Genuß, grenzenlos hart zu sein. Dieser
Zustand geht durch Ruhe, und wenn er sich selbst überlassen wird, vorüber.
Schließlich möge noch gekürzt die Skizzierung einer der leptosomen Versuchs¬
personen folgen. Der Betreffende war als Kind still und folgsam, konnte gut lernen,
bekam niemals Strafe, spielte wenig mit anderen Kindern und beschäftigte sich viel
mit Lesen, vorzugsweise phantastischer Erzählungen. Er dachte, daß er wohl ein
großer Mann werden würde, und träumte von Erfindungen und Berühmtwerden.
Oft fühlt er sich müde, dachte, daß sein Herz nicht in Ordnung sei und glaubte,
wohl jung sterben zu müssen. Häufig hatte er Kopfschmerzen und fühlte sich
dann so warm, gerade als ob ihm ein Strom durch Kopf und Rücken floß. Als
er älter wurde, fühlte er sich oft außerhalb des Lebens stehen; er kümmerte sich
wenig um die Umgebung, was er selbst als recht unangenehm empfand. Beim
Sehen eines Unfalles konnte er bisweilen lächeln wegen der komischen Seite
des Falles; er wollte wohl gern anders empfinden und gab sich redliche Mühe,
mitzufühlen, „um das Leben zu erfassen,“ las daher auch die Zeitung, aber ohne
daß das Gelesene zu ihm hindurchdrang und ohne daß er Interesse dafür hatte.
Auch jetzt hat er noch eine starke Neigung zum Objektivieren und Analysieren,
er ist sehr kritisch und neigt zum Aufbauen philosophischer Systeme, in welchen
namentlich das sexuelle Leben als unnatürlich verbannt wird. Er ist still und
zurückgezogen, liest gern psychologische Werke, beschäftigt sich auch viel mit
sich selbst, analysiert die verschiedenen Strebungen und Wünsche, arbeitet an
sich selbst und glaubt, daß er „ein stark entwickeltes tiefes Gefühlsleben hat, das
sich jedoch dem gewöhnlichen Leben entzieht“. Er ist nervös, schüchtern, begibt
sich nur ungern in Gesellschaft, indem er die verschiedenen Situationen erwägt,
die sich dann ergeben können. Falls er sich aber einmal in Gesellschaft befindet,
ist er oft lebhaft, doch übt er dabei ständige Selbstbeobachtung und ist er niemals
natürlich und echt. Manchmal denkt er wohl: „Was bist du doch für ein aufgeblähter
Mensch, was für ein unnatürliches Produkt machst du doch aus dir selbst.“ Gern
geht er mit Menschen um, die ihn überragen; aber „mein Umgang ist niemals echt,
in allem ist Berechnung“. Intellektuelle Spiele, wie Dame und Schachspiel, liebt
er sehr; stundenlang sagt er dann kein Wort. Oft bleiben die dabei benutzten Fi¬
guren „noch lange nach dem Spiele sichtbar; auch stereoskopische Bilder sehe ich
oft noch eine Zeitlang, nachdem sie weggenommen sind“. Er geht gern bei Sturm
und Regen aus, aber besonders darum, „weil dann nicht viel Menschen auf der
Straße sind“. Zuweilen ist er tagelang still, sagt dann kein Wort, ist reizbar, herrscht
jeden an, der in seiner Umgebung mit ihm in Berührung kommt und kann dann
schwer aus diesem Zustand herausgeraten. Vereinzelt gelingt dies durch eine
geschickte treffende Bemerkung aus seiner Umgebung; dann ist es, als ob auf
einmal die Eiskruste schmilzt und die Berührung mit dem Innern wieder möglich
ist. Aber dieselbe Bemerkung kann ihn auch reizen und bewirken, daß er sich noch
mehr verschließt. Er ist ein Noli me tangere; man ist seiner nie sicher, seine Liebe
bleibt verborgen, seine Worte sind unzuverlässig; man hat ihn niemals ganz, er
ist berechnend in allem, er kann freundlich und liebenswürdig sein, aber am nächsten
Tage launenhaft und mürrisch. Stets ist er mit der Zukunft beschäftigt, entwirft
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 41 .
369
Pläne und arbeitet diese bis in Einzelheiten aus, ohne sich deutlich davon Rechen¬
schaft zu geben, ob sie sich verwirklichen lassen. Doch sucht er unbemerkt seine
ganze Umgebung in seinem Sinne zu lenken und seinen Willen durchzufUhren.
Enttäuschungen können ihm kaum etwas anhaben, aus Erfolg schöpft er Kraft,
auf dem eingeschlagenen Wege weiterzugehen und sein ganzes Leben ist ein unab¬
lässiges Arbeiten an der Zukunft.
Nicht alle Leptosomen gaben eine so typisch schizoide Darstellung;
aber bei den meisten bewegte sich dieselbe doch in gleicher Richtung,
während gerade die Pykniker sich so ganz anders äußerten. Ihr rundes
Gesicht und freundliches Auge, ihr gesundes Äußere und ihre vertrau¬
liche Umgangsweise läßt sich nicht vereinigen mit der Gespaltenheit
und Kompliziertheit der schizoiden Personen. Aus den Angaben der
meisten zeigte sich überdeutlich die eyclothyme Natur, das Leben
mit seinem steten Wechsel von frohen und trüben Stimmungen oder
vielleicht noch mehr die Syntonie, das Zusammenklingen mit Um¬
gebung und eigenem Zustand, worin wir dann doch immer in größerem
oder geringerem Grade die endogenen und exogenen Stimmungs¬
veränderungen bemerken werden. So z. B. bei einer der pyknischen
Versuchspersonen unter den neurologischen Patienten, die bei unserer
Untersuchung als gesund betrachtet werden.
Er ist ein fröhlicher, aufgeräumter Mensch, ehrlich und offen; „ich sage, wie
es ist, gebe mich niemals für mehr aus als ich bin; würde dies nicht wagen, aber
kann dies auch nicht bei anderen leiden“. Er ist sehr verträglich, will nicht seinen
Sinn durchsetzen, „aber wenn ich mit Menschen zusammentreffe, die schwatzen,
dann gehe ich weg; die kann ich nicht ausstehen“. Er ist nicht kompliziert; sein
„Ja“ ist ja und sein „Nein“ ist nein. Er ist meistens aufgeräumt; steht früh auf,
ist froh, wenn der Tag anbricht, ist am liebsten im Freien, genießt beim Anblick
der Sonne, ist den ganzen Tag beschäftigt, arbeitet gern, will lieber „5 Gulden
weniger verdienen, wenn ich es nur selbst verdiene; die Unterstützungskomitees
sind ein Übel für unsere Gesellschaft“. Er ist witzig, scherzt gern mit seinen
Kameraden, lebt wie er ist. „An die Zukunft denke ich nicht; dann mache ich
mich besorgt; wie es später wird, das weiß ich nicht.“ Aber jetzt ist er froh und
aufgeräumt. „Allein, wenn meine Krankheit (gemeint ist sein neurologisches
Leiden) so lange dauert, dann mache ich mich bisweilen besorgt darüber; wenn
ich dem Arzt anmerke, daß es wohl noch eine Weile dauern kann, dann kann ich
einen ganzen Tag darüber grübeln; oder auch, wenn auf dem Saal einmal etwas
passiert, was nicht passieren müßte, dann bin ich nicht so froh wie gewöhnlich;
aber ein freundliches Wort von der Schwester, oder wenn man mich etwas er¬
muntert, dann habe ich schnell meine alte Stimmung wieder zurück.“
Eine andere pyknische Versuchsperson zeigte charakteristische Schwan¬
kungen; bald schien ihm das Leben trübe, bald wieder fröhlich. Der Grundton
ist aber ernst und schwermütig. Er beschäftigt sich nicht mit der Zukunft, ist
dann immer geneigt zu denken, daß es wohl schief gehen wird, wagt nicht zu hoffen,
fühlt sich am sichersten bei dem Gedanken, daß ihn wohl doch ein Fehlschlag
treffen wird. So hätte er z. B., als seine Freunde ihm für ein Examen Mut ein¬
sprechen wollten, wohl am liebsten gesagt: „Gönnt mir doch das Vergnügen, zu
denken, daß es schief geht. Dann kann es ja nicht schlechter werden und ist die
Enttäuschung weniger groß.“ Lieber denkt er überhaupt nicht voraus; wohl
über die Vergangenheit. Lebt in allem voll und ganz mit seiner Umgebung mit.
370 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
von der er sich eigentlich niemals ganz abstrahieren kann; auch bei seinem Studium
wird er schnell durch die Außenwelt abgelenkt. Seine Stimmung ist sehr abhängig
von der Witterung, bei Regenwetter fühlt er sich weniger gut. Oft ist er gedrückt,
ohne daß er weiß, warum; „meine Gemütsstimmung ist dann schwarz“. Auch
hängt seine Stimmung viel von der Art der Gesellschaft ab, in der er sich befindet ;
er ist lebhaft und heiter in einer fröhlichen Umgebung und wird ruhig und still
in einem ernsten Milieu. Fühlt er sich irgendwo nicht gemütlich, dann kann er
sich nicht anpassen; er gibt sich entweder ganz oder er gibt sich überhaupt nicht.
Wieder ein anderer repräsentiert einen außerordentlich emotionellen Typus:
dabei ist er sehr expressiv, lacht und weint schnell, ist sofort bewegt und unterliegt
in jeder Hinsicht stark dem Einfluß seiner Umgebung. Er ist am liebsten zwischen
Menschen, kann die Einsamkeit und Stille nicht ertragen, hat Bedürfnis nach
Zerstreuung; bewegt sich gern inmitten der Wirklichkeit, kennt Zustande, in
welchen Depersonalisation auf tritt, aber kämpft dann, um die Wirklichkeit und
sich selbst festzuhalten; kann es nicht vertragen, jeden Halt in seiner Umgebung
zu verlieren, will mitten im Leben stehen, hat seine Ideale, aber nicht in der fernen
Zukunft, lebt in dieser Welt und in dieser Zeit, will nichts von Asketismus und
unwirklichen Theorien wissen, lacht über supranaturelle Betrachtungen, begreift
nicht, wie jemand dafür etwas fühlen kann und ist auch in religiösen Betrachtungen
praktisch und nüchtern. Er hat eine starke Neigung, zurückzudenken, wird bei
seiner Arbeit wenig von seinen eigenen Gedanken, wohl aber durch die Umgebung
abgelenkt, kann jedoch nach der Ablenkung bald wieder in die Arbeit hinein¬
kommen.
Und schließlich noch ein 4. mit cycloider Natur. Er ist eine ruhige Person,
die sich natürlich gibt, nicht besonders höflich ist, aber auf die Dauer im Umgang
angenehmer ist als man anfangs erwartet hätte. Er liest viel, aber hauptsächlich
historische Literatur, und bevorzugt des weitern Schriftsteller wie Felix Timmer-
mans, Dickens und Fritz Reuter. Für Poesie fühlt er nichts, außer derjenigen
Guido Gezelles. Er kann nur studieren in einem sehr gut eingerichteten Zimmer,
das vor allem gemütlich sein muß. Nach Ablenkung arbeitet er sich wieder schnell
ein. In seinem Zimmer hat er allerlei antike Gegenstände zusammengebracht,
wie er in seinem ganzen Leben schon eine starke Neigung zum Sammeln hatte,
die sich gegenwärtig namentlich auf Antiquitäten beschränkt. Er liebt Geselligkeit
und Häuslichkeit. Seine Stimmung wechselt stark, bisweilen ist er fröhlich, durch¬
weg aber gedrückt; „ein sehr vereinzeltes Mal kann ich mich nicht halten und
dann bin ich lebhaft, fast bis an die Grenze des Manischen“. Er faßt das Leben
von der ernsten, schweren Seite auf und denkt stets „es wird wohl verkehrt gehen;
bei diesem Gedanken fühle ich mich ruhiger“. Bei einem solchen Anfluge ernst-
schwerer Lebensauffassung hat er das Gefühl, in einem dunklen, leeren Zimmer
zu sein; ihn verlangt dann nach Zuspruch und sehr stark nach mitfühlenden
Personen; vielleicht würde er nicht gleich auf Zuspruch reagieren; aber nach¬
träglich gibt er seinen Tröstern doch immer Recht, und er hat das Gefühl, durch
ihre Hilfe wieder der Depression entrückt zu sein. Meistens kann er für seine
trübe Stimmung keinen Grund angeben; „es umschwebt mich dann etwas, so daß
ich in einem Zustand der Depression bin, ohne daß ich eigentlich weiß, warum.
Ich finde in diesen Zuständen etwas Anziehendes, gebe mir auch keine Mühe, der
Ursache bewußt zu werden und würde dies auch keine Therapie finden“. Zuweilen
hängt die Stimmung zusammen mit philosophischen und religiösen Bewußtseins¬
inhalten, meistens mit Eindrücken von Leid in der Welt, wie nach einem Gange
durch die Volksviertel oder nach dem Lesen der ausländischen Zustände in der
Zeitung. Er kann nicht verstehen, daß andere so leicht über die Dinge hinweggehen,
da er selbst immer wieder durch das Leid der Menschen erschüttert wird. Er
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“.
371
ist nicht verlobt, aber kann sich sein Leben nicht allein denken; er glaubt bestimmt,
sich einst zu verheiraten und meint erst dann vollwertig zu sein. Er will das Leben
nehmen und genießen wie es sich darbietet, aber denkt im allgemeinen wenig an
die Zukunft. Wohl hat er mehr oder weniger Furcht vor dem Glück, weil danach
doch wieder Enttäuschung kommen muß. Aber im allgemeinen lebt er in der
Gegenwart und resoniert auf Umgebung und eigenen Zustand mit positivem oder
negativem Gemütston, je nach Umständen. Er hat eine ausgeprägte Neigung,
mit anderen mitzuleben, namentlich das Leid anderer zu teilen, nicht so sehr, um
sich mit seinen Gedanken darin zu vertiefen und darüber zu meditieren, sondern
um mitzufühlen, mitzuleiden und auch zu helfen. Häufig wird er betrogen. Gerade
weü er so mitleidsvoll ist, wird oft von seiner Güte Mißbrauch gemacht. Selbst
ist er ehrlich und treu. Dabei gibt er sich ganz natürlich, nicht etwa so, als ob er
ohne weiteres den Wünschen eines jeden offenstehe; aber wenn er sich gibt, tut
er dies ganz. Verstellen ist ihm unmöglich; er handelt, wie er in jedem Moment
glaubt handeln zu müssen; Nebenabsichten kennt er nicht.
Aus diesen Beispielen, denen weitere aus den Angaben der normalen
Versuchspersonen hinzugefügt werden könnten, geht hervor, wie das
psychische Leben der Leptomosen ganz anders wie dasjenige der Pyk¬
niker ist. Der Leptosome lebt geteilt, stellt sich der Welt, seinem
Körper, seinem eigenen Denken und Fühlen gegenüber; er ist gespalten,
kompliziert; es besteht in seinem Innern keine Harmonie; da ist Mangel
an Einheitlichkeit im Streben und Fühlen, Inkonsequenz zwischen
Handeln und Denken; es besteht Spannung in den Gemütsbewegungen
untereinander: Man spricht von intrapsychischer Ataxie bei den
Schizophrenen; etwas hiervon fanden wir bei nahezu allen Versuchs¬
personen mit leptosomem Körperbau. Bei den Pyknikern fanden wir
endogene und exogene Gemütsschwankungen und dabei Einheitlich¬
keit in ihrem ganzen Leben: in ihrem Fühlen und Streben, ihrem
Denken und Handeln reagiert die ganze Person mit allen Kom¬
ponenten als ein Ganzes. Zirkulär und synton, fröhlich oder trübe,
beweglich oder ruhig, stets gutherzig, freundlich und teilnahmsvoll
ist das Leben des cycloiden Menschen.
Es sind also dieselben Erscheinungen, die wir bei den gesunden
Pyknikern und zirkulären Patienten finden, und auch wieder dieselben
Eigentümlichkeiten im psychischen Leben der normalen Leptosomen
und Schizophrenen.
Von einem Streben, im normalen Leben pathologische Erschei¬
nungen zu suchen, ist hier keine Rede. Sowohl bei den oben mitge¬
teilten experimentellen Untersuchungen wie auch bei den hier gegebenen
Beschreibungen finden wir nichts anderes als quantitative Unter¬
schiede für Kranke und Gesunde. Die Frage, ob cycloide Erscheinungen
mehr zum Normalen gehören als schizoide, bleibt außer Besprechung.
Aber wohl können wir bemerken, daß die Möglichkeit, Schizoidie und
Cycloidie beide im normalen Leben wiederzufinden, darauf hindeutet,
daß die Unterscheidung der endogenen Krankheiten in Schizophrenie
372 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen.
und manisch-depressive Psychose nicht spezifisch pathologisch ist.
sondern auf zwei wesentlichen Charaktertypen beruht. Und da wir
weiter, ebenso wie bei den experimentellen Untersuchungen auch nun
wieder sahen, daß gerade die für Dementia praecox bzw. manisch-
depressive Psychose so charakteristischen Erscheinungen zu den
schizoiden und cycloiden Charakteren gehörten, liegt es auf der Hand,
in der eigentümlichen psychischen Beschaffenheit der Schizothymie
und Cyclothymie den Keim der damit korrelierenden Psychosen zu
sehen. Gegen diese Auffassung wird von niemand, soweit es die zirku¬
läre Form betrifft, mehr Ein wand erhoben. Anders ist es mit der
Schizoidie bestellt.
Und von psychiatrischem Standpunkte aus ist dies zu verstehen.
Es ist fast nicht denkbar, eine oft zu so ernster Demenz führende
Krankheit wie die Dementia praecox pathogenetisch mit der eigen¬
tümlichen psychischen Beschaffenheit, wie wir diese bei Schizothymen
finden, in Verbindung zu bringen. Wie wäre es möglich, daß ohne
äußere Ursachen die psychische Entwicklung eines Menschen gehemmt
wurde und in vielen Fällen sogar Abbau stattfand. Es besteht in der
Tat für den teilnahmsvollen und einfühlenden Psychiater ein enormer
Unterschied zwischen dem Leben des normalen Menschen und dem
zerfallenen Seelenleben des Schizophrenen. Der Psychologe aber, der
sowohl das gewöhnliche als das pathologische Leben untersucht, ist
bestrebt, sich all und jeder Wertbestimmung zu enthalten.
Da sich nun aus den psychologischen Experimenten und charaktero-
logisch aus den Mitteilungen der normalen Versuchspersonen ergab,
daß eine enge Beziehung zwischen den schizophrenen und normalen
Leptosomen einerseits und den zirkulären und pyknischen Typen
andererseits bestand, ist es pathopsychologisch besser, es sei denn,
daß sich dies als unmöglich erweist, sowohl für die Dementia praecox,
als die manisch-depressive Psychose den Keim in der eigentümlichen
psychischen Beschaffenheit zu suchen.
Um dies noch eingehender zu prüfen, haben wir aus den Charakter¬
beschreibungen, wie uns diese von Familiengliedem von Psychose¬
patienten gegeben wurden, die konstanten Elemente extrahiert, die
wir somit als Eigentümlichkeiten des schizoiden und des cycloiden
Lebens auffassen können. Diese Gruppen von Eigenschaften wurden
unseren normalen Versuchspersonen vorgelegt, wobei sie sich darüber
äußern mußten, welcher Gruppe sie sich ihres Erachtens am nächsten
verwandt fühlen. Gerade weil der schizoide Typus so geteilt ist, wählten
wir diese Methode. An sich ist es vielleicht vorzuziehen, bezüglich
jeder einzelnen Eigenschaft zu entscheiden, ob sie mehr zu dem schizoiden
oder aber zu dem cycloiden Charakter gehört. So z. B. ist bekannt,
daß stille und zurückgezogene Menschen mehr zu den Schizoiden
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“.
373
gehören. Auch ist es wahrscheinlich, daß erhöhte Emotionalität, ein
warmes Gemüt, für die zirkuläre Psychose prädisponiert. So ist ja
von weiblichen Personen die größere Emotionalität bekannt, und von
ihnen wissen wir auch, daß sie in einer doppelt so großen Anzahl manisch-
depressiv sind als Männer. Und umgekehrt werden wir die Schizophrenen
mithin vorzugsweise unter den Nicht-Emotionellen suchen, was sich
tatsächlich als der Fall erweist, wie dies deutlich aus der Bearbeitung
des Enquetematerials von Heymans und Wi^rsma 1 ) erhellt, wo die
„Stillen und Zurückgezogenen“ in großer Frequenz bei den Amorphen
und Apathen angetroffen wurden, das sind also die nicht-emotionellen
und außerdem nichtaktiven Gruppen, was bei der geringen Aktivität,
die wir bei fast allen Psychosen an treffen, nicht zu wundem braucht.
Aber viel mehr wissen wir noch nicht. Ich habe daher lieber zwei
kurze Umschreibungen aufgestellt und die Versuchspersonen wählen
lassen, wozu sie sich selbt rechnen würden. Auf diese Weise ist es also
sehr gut möglich, daß ein bestimmter Leptosome sich mit einem oder
dem andern Moment, das als schizoide Eigentümlichkeit genannt ist,
nicht vereinigen kann, während er sich trotzdem für diese Qualifikation
entschied, weil er im großen und ganzen damit übereinstimmte.
Im einzelnen wurden folgende Fragen an die Versuchsperson gestellt, ob sie
wären:
im allgemeinen zerstreut, still und zurückgezogen, in Gesellschaft bisweilen
lebhaft, aber geziert und unnatürlich, nicht gesellig, wohl eklektisch gesellig,
schüchtern, nervös, bald überempfindlich, bald wieder gleichgültig und kühl,
reizbar und impulsiv, schwärmerisch, idealisierend, egozentrisch, bisweilen scheinbar
altruistisch, aber in Wirklichkeit sich weniger für die Dinge der Umgebung interes¬
sierend, nicht teilnahmsvoll, im allgemeinen kein Kinderfreund, raffiniert, kompli¬
ziert, zu Abstraktionen geneigt, Freund intellektueller Spiele, viel in der Zukunft
lebend, geneigt zu Träumereien, nicht humoristisch, Freund idealistischer, bizarrer
und phantastischer Lektüre,
oder ob sie wären:
gesellig, gutmütig, freundlich und gesprächig, ruhig und besonnen oder auch
in Gesellschaft beweglich und lebhaft, doch niemals in auffälliger Weise, unge¬
zwungen in ihrem Auftreten, gewöhnlich höflich, nicht Komplimente machend,
natürlich, flott, adäquat in allen Reaktionen, wechselnden Stimmungen unterworfen,
bisweilen schwersinnig, dann mehr leichtlebig, manchmal sparsam, dann wieder
freigebig, nicht geschlossen, ehrlich, unkompliziert, grüblerisch betreffs der Ver¬
gangenheit, oder der Gegenwart lebend, resolut und praktisch, mitleidsvoll, warm
religiös, ein Kinderfreund, humoristisch, gemütlich, nicht starr dogmatisch, ein
Liebhaber der Natur und des Naturlebens, Freund realistischer Bücher, Natur-
und Reisebeschreibungen.
Da für das Wählen zwischen diesen recht komplizierten Zusammen¬
stellungen ein nicht geringer Grad von Selbstkenntnis erforderlich ist,
haben wir nur 34 von den gesunden Versuchspersonen vor diese Wahl
gestellt, und zwar 17 Leptosome und 17 Pykniker, von denen der größte
*) D. Wiersma , 1. c.
374 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
Teil zu den Koassistenten gehörte, die sich an den Versuchen beteiligt
hatten und einige andere zu den entwickelten neurologischen Patienten.
Von diesen 34 Versuchspersonen gaben 29 eine entschiedene Antwort:
12 fühlten sich am besten durch die erste Aufzählung beschrieben,
welche schematisch die Eigenschaften des schizoiden Menschen wieder¬
zugeben sucht, während 17 sich am besten durch die zweite Umschrei¬
bung gekennzeichnet sahen, welche als Schema für den cycloiden
Menschen gilt. Die ersten 12 waren alle Leptosome, von den letzt¬
genannten 17 standen bei unserer Untersuchung 16 auf der Liste der
Pykniker, der 17. war leptosom. Den 5 Versuchspersonen, die sich nicht
entscheiden konnten, auch nicht, nachdem noch einmal die beiden
Umschreibungen vorgelesen waren, kann darum die Wahl schwer ge¬
fallen sein, weil sie weder zu dem einen, noch zu dem andern Typus
gehörten; aber auch ist es möglich, daß sie sowohl von dem einen, als
von dem andern Elemente in sich fühlten und darum keine Wahl trafen.
Aber abgesehen hiervon beweisen diese Resultate auch so noch unzwei¬
deutig für nahezu die ganze Gruppe, was im Vorangehenden für einige
gesondert erwähnt wurde, daß die Leptosomen hauptsächlich schizoide
und die Pykniker cycloide Eigenschaften besitzen.
Der Vorteil dieses letzteren Verfahrens besteht darin, daß sich
die Resultate in Zahlen ausdrücken lassen und daß die subjektive
Meinung des Experimentators nicht denjenigen Einfluß haben kann,
wie dies der Fall bei der Beurteilung von Charakterbeschreibungen ist,
die von den Versuchspersonen selbst gegeben werden. Dann nämlich
ist es möglich, daß der Untersucher das findet, was er zu finden wünscht
und dasjenige schizoid nennt, was auf diesen Namen keinerlei Anspruch
erheben kann.
Noch auf einem anderen Wege haben wir versucht, mehrere objek¬
tive Daten zu erhalten. Wenn es wahr ist, daß Schizothymie und
Schizophrenie Erscheinungsformen einer und derselben Charakteranlage
sind, dann müssen die leptosomen Versuchspersonen die Praecox-
kranken besser verstehen, die Pykniker den manisch-depressiven
Patienten besser nachfühlen können. Um hierüber ein Urteil bilden
zu können, haben wir bei der Untersuchung der Gesunden auch die
Frage an sie gerichtet, welche der beiden genannten Psychosen sie
am besten verstehen könnten. Diese Frage konnte nur an eine kleine
Anzahl Versuchspersonen gestellt werden, weil hierzu Kenntnis beider
Krankheitsbilder erforderlich ist. Von den 21 Versuchspersonen, an
welche diese Frage gestellt wurde, begriffen 12 am besten den manisch-
depressiven Patienten; ihm konnten sie nachfühlen und die Reaktionen
verstehen; 4 Versuchspersonen machten keinen Unterschied; sie wußten
nicht, was mit jenem Einfühlen gemeint wurde, konnten wenigstens
keine zuverlässige Antwort geben, während 5 von ihnen sich besser
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 . 375
in den Geisteszustand des Praecoxpatienten hineinzuversetzen ver¬
mochten.
Einige ergingen sich hierbei in hübschen und treffenden Ausführungen. Ein
Pykniker erzählt, daß er beim Sprechen mit einem Melancholischen sich derart
eins mit letzterem fühlte, daß er alle Reaktionen miterlebte; dann konnte er es
nicht lassen, dem Patienten die Hand auf die Schulter zu legen und ein Weilchen
vertraulich und ermunternd auf ihn einzureden. Aber vor einem Praecoxpatienten
war ihm mehr oder weniger angst. Wenn er mit einem Psychosekranken allein
im Untersuchungszimmer war und vermutete, daß er einen Schizophrenen vor sich
hatte, dann war er unruhig, „jenen verborgenen Gängen und verschlungenen
Pfaden im schizophrenen Leben“ traute er nicht. Dagegen erzählte einer der
5 Leptosomen, welche sich mehr mit Praecoxpatienten verwandt fühlten, daß er
einen Melancholiekranken nicht verstehe und auch nicht mit ihm sprechen könne.
„Daß im Leben Gegenschläge kommen und daß man dann wohl einmal enttäuscht
ist, das ist selbstredend; aber diese verzweifelte unbegründete Depression, das
kann ich nicht fassen.“ Sogar hatte er bei sich selbst gemerkt, daß es ihn reizte,
wenn in seiner Umgebung einer der Hausgenossen durch irgendwelche Verhältnisse
etwas trübe gestimmt war. Und auch die manischen Zustände verstand er nicht;
eigentlich fand er sie „fade und lächerlich“. Ein anderer Leptosome erzählt, daß
er auf einen Fehlschlag nach seinem Empfinden eher mit Autismus und Stupor
reagieren würde als mit Depression, und ein Dritter, daß er, falls er noch einst
psychotisch werden sollte, doch ziemlich sicher mehr für schizophren als für manisch-
depressiv gehalten werden würde. Auf die Frage, ob die Versuchspersonen mit den
Schizophrenen mitfühlen können, ob sie sich in deren psychotisches Leben ein¬
zufühlen vermöchten, antworteten sie jedoch verneinend. Ihr Verstehen ist mehr
ein Sich-Vorstellen-können, daß der Paecoxpatient sich so benimmt, wie er tut;
es ist kein Einfühlen oder Resonieren auf den Zustand, wie dies unter Cycloiden
der Fall ist. Aber lassen wir diesen Unterschied, der an sich völlig mit den Begriffen
schizoid und cycloid übereinstimmt, außer Betracht, dann fanden wir, daß bei
dieser letzteren Untersuchung unter 21 Personen, von denen 11 leptosom und
10 pyknisch waren, 12 sich mehr den Kranken der zirkulären Psychose und 5 mehr
den Praecoxpatienten verwandt fühlten, und zwar so, daß unter jenen 12 alle
die 10 Pykniker waren.
Die Unterscheidung in einfühlbares und nichteinfühlbares Seelen¬
leben oder auch in natürliches und schizophrenes, wie Jaspers 1 ) es
nennt, wird hier nicht weiter besprochen; aber wohl erhellt aus oben¬
erwähnter Untersuchung, daß für einige das schizophrene Leben noch
nicht so befremdend ist, wie dies bei dem ersten Kontakt oft scheint.
Wenn auch das Wort „einfühlbar“ hier vielleicht nicht an seinem
Platze ist, so können doch Gesunde und dann namentlich solche mif
leptosomem Körperbau, wohl etwas verstehen, was zweifelsohne
darauf hinweist, daß hinter derselben äußeren Architektur dieselben
psychischen Verhältnisse vorliegen.
Schließlich haben wir mehr als Stichprobe, als um hierdurch die
Verbindung schizothym-schizophren und cyclothym-zirkulär fester zu
gestalten, auf die Art der Assoziationen bei den gesunden Versuchs¬
personen geachtet. Auf die gewöhnliche Weise wurde ein Reizwort
1 ) Jaspers , Psychopathologie.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XC1II. 25
376 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
genannt, auf welches dann mit dem zuerst einfallenden Wort reagiert
werden mußte. Insgesamt wurden so 75 Assoziationen von jeder
Versuchsperson aufgezeichnet. Darauf wurden sie aufgefordert, noch
einmal auf ein Reizwort zu reagieren, welches noch nicht zuvor genannt
war, das Wort „Winter“, aber nun mit fortgesetzten Assoziationen,
d. h. daß die Versuchsperson stets fortfahren mußte, Wörter zu nennen,
die ihr zuerst einfielen, l 1 ^ Minuten lang. Beim Vergleichen der Asso¬
ziationen der leptosomen Schizoiden mit denen der pyknischen Cycloiden
fiel es auf, daß unter den ersteren viel häufiger dieselben Reaktionen
vorkamen.
So reagierte einer der 1. Gruppe 9 mal mit dem Wort „Arm“, ein anderer
4mal mit dem Wort „anständig 44 . Wenn wir diese Erscheinung unter den Begriff
Perseveration fassen dürfen und wir für beide Gruppen in Prozentzahlen die
Frequenz berechnen, dann finden wir für die Leptosomen 2,2%, für die Pykniker
0,3%. Ferner kamen, wahrscheinlich mit durch diese Neigung zum Wiederholen
eines schon früher genannten Wortes, bei diesen Personen ab und zu Assoziations¬
verbindungen vor, die an sich sinnlos waren. So z. B., um bei dem ersten Beispiele
zu bleiben:
freigebig-arm
Examen-arm
ehrlich-arm
Aber auch, wenn das Wort, mit welchem reagiert wurde, nicht als Wieder¬
holung eines schon früher genannten Wortes aufgefaßt werden konnte, dann
kam es noch vor, daß eine bestimmte Reaktion nicht zu verstehen war. So z. B.
antwortete jemand auf Stolz — Haferflocken und ein anderer Leptosome auf
Kuchen — Mozart. Zählen wir diese sinnlosen Reaktionen, dann kamen sie bei
den Leptosomen in einem Prozentsatz von 0,4%, bei den Cycloiden überhaupt
nicht vor. Ferner fanden wir bei den Leptosomen, obwohl auch in einem sehr
geringen Prozentsatz (0,2%) Wiederholungen des Reizwortes, was bei den Pyk¬
nikern niemals vorkam.
Diese erreichten dagegen in prädikativen Assoziationen eine höhere Zahl,
auf das Wort Mutter reagierten sie mehrmals mit lieb, sanft, gut; die Leptosomen
mit Vater, Frau, Kind 1 ), auf das Wort Examen reagierten die Pykniker mit:
fleißig, Angst, Durchfall, gefährlich, bestanden, nicht schön, die Leptosomen mit:
Professor, Frage, Lehrer, Examinator, um 4 Uhr. Bei den Leptosomen offenbarte
sich wieder mehr die Neigung zu mittelbaren Assoziationen. So wurde z. B. auf
das Wort „Messer“ mit „Oper 44 reagiert; die Verbindung war gegeben via operieren;
auf „Mitleid 44 wurde reagiert mit „fragen“. Es stellte sich heraus, daß die Versuchs¬
person einmal von einem Mädchen gelesen hatte, das ihre Mutter fragte, auf welche
Weise sie doch mehr Mitleid bekommen könne; sie fühlte, daß sie zu wenig Mit¬
gefühl hatte. Dieses Manko an echtem Mitleid hatte die Versuchsperson auch bei
sich selbst wohl einmal bemerkt, und so hatte sich über dem Wege dieser Erzählung
an das Wort „Mitleid“ der Begriff „fragen“ geknüpft. Derartige mittelbare Asso¬
ziationen fanden wir bei den Leptosomen in einem Prozentsatz von 2,7, bei den
Pyknikern von 0,2%.
Nun ist es bekannt, daß Wiederholung des Reizwortes, das Reagieren
in mittelbaren und überwertigen Assoziationen, das Geben von bizarren
*) Siehe in diesem Zusammenhang L. Boumans Assoziationsuntersuchungen
in Sommers Klinik f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Ä. 1907.
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter 11 .
377
und sinnlosen Verbindungen gerade bei Dementia praecox viel mehr
yorkommt als bei der manisch-depressiven Psychose, so daß es nach
allem, was wir bisher von der Einheitlichkeit im psychischen Leben
bei schizophrenen und schizothymen Leptosomen gesehen haben, nicht
mehr verwundern kann, daß auch bei den normalen Schizoiden und
Cycloiden dieser Unterschied, auch wenn derselbe gering ist, noch
nachweisbar war.
Ganz in Übereinstimmung mit demjenigen, was wir jetzt von dem
schizoiden und cycloiden Leben kennen, waren auch ihre fortgesetzten
Assoziationen: bei den ersteren mehr logische und theoretische Bin¬
dungen, mitunter plötzliche Wendungen, Verlust von Einfluß des
ursprünglichen Reizwortes, mittelbare Assoziationen, ein vereinzeltes
Mal Wiederholung, viel Abstraktionen, und bei den letzteren viel
Erfahrungsassoziationen, meistens ein längeres Nachwirken des Reiz¬
wortes, manchmal auqh plötzliche Übergänge, aber dann abgelenkt
durch einen äußeren Eindruck, ferner mehr Prädikative. Als Beispiel
geben wir von jedem normalen Typus einige Reihen, wodurch dies
alles besser verständlich wird.
Erst von den Schizoiden:
Winter: Sommer, Herbst, Jahreszeit, vier, fünf, Sechseck, Kreis, Kugel,
Erde, rund, Radius, Würfel, Geometrie, Algebra, Schule, Lehrer, lernen, Bänke,
Kolleg, Examen, um 4 Uhr, um 5 Uhr, Juni.
Winter: Kälte, Schnee, Hagel, Regen, Wasser, Fluß, Gras, Baum, Ast, Blatt,
Bhime, Sonne, Wind, Regen, Wasser, Land, Eiland, Damm, Kork, Flasche, rund,
schlank, hoch, breit.
Und nun noch ein paar Cycloide:
Winter: Eis, Kälte, Schnee, Regen, Dezember, Weihnachten, Tannenbaum,
lange Abende, wenig Licht, trübe, Kirche, viel arbeiten, unangenehm, dumpfiges
Zimmer, schmutzige Wege, Ferien, zu Hause.
Winter: Sommer, Herbst, Spätherbst, kalt, rauh, Eis, Schlittschuhlaufen,
frisch, Frühling, Lenz, warm, nett, Wind, Sturm, Wasser, segeln, See, kalt, naß,
dunkel, Fahrrad, Haus, Ofen, warm, besser, angenehm, Herbst, Fußball, Sport,
gesund.
Schließlich noch ein Cycloide, der mehr oder weniger hypomanisch war, bei
dem auch die Nachwirkung des Reizwortes viel schneller verschwand, aber der doch
eine ganz andere Reihe gibt als die normalen Schizoiden:
Winter: Sommer, Herbst, Winter, Sonne, Licht, Freude, Zimmer, Teppich,
Kleid, Mantel, Kleiderständer, Teetopf, Gardine, Gemälde, Stein, Kumme,
Pfanne, Mann, Weg, Zeiger, Uhr, Minute, Sekunde, Haar, Kamm, Bürste, Hals¬
binde, Stecknadel, Rock, Kissen, Zucker, Milch, Tee, Butter, Eier, Huhn, Käse,
Hase, Hut, Haube, Mütze, Halsbinde, Klasse, Schule, Kind, jung, froh, Spiel,
Stecknadel, Schuh, laufen, radeln, Autofahren, Knabe, fischen, schwimmen,
herrlich, Sommer.
Die Anzahl der Wörter ist hier größer als bei einem der anderen. Solche
Versuchspersonen finden sogar diese Art Aufgaben recht angenehm; sie verstehen
nicht, daß die l 1 /* Minuten so schnell verstrichen sind, sie würden „noch wohl
lange Zeit damit fortfahren können“. Außerdem fällt die große Anzahl Klang-
assoziationen und ferner das Beschränken auf die Dinge der Umgebung auf.
25*
378 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen
So erweist es sich also als möglich, auf vielerlei Weise die psycho¬
logische Untersuchung fortzusetzen und auszudehnen. Nicht allein
charakterologisch, sondern auch experimentell konnte der enge Zu¬
sammenhang zwischen Schizothymie und Schizophrenie einerseits und
Cyclothymie und zirkulärer Psychose andererseits bestätigt werden,
wie dieser bereits an einer frühreren Stelle dieser Ausführungen ange¬
nommen wurde. Immer wieder sahen wir die beiden Formen in ihrer
Verschiedenheit vor uns:
das Schizoide ein Typus psychischen Seins und psychischer Reaktion,
das sich bei pathologischer Zunahme offenbart als Schizophrenie;
das Cycloide, ein fortwährend in der Mittellage bleibender gesunder
Typus, das bei pathologischer Zunahme des affektiven Rapports mit
der Außenwelt und der endogenen Schwankungen, übergeht in die
zirkuläre Psychose.
Schließlich ist es noch erforderlich, auf einige Einwürfe einzu¬
gehen, die man möglicherweise gegen diese Annahme erheben könnte
und die ich in der Tat schon von einigen Seiten vernommen habe.
Zunächst das schon auf S. 372 Besprochene, daß doch ein Psychiater
nicht so sehr außerhalb des Denkens und Fühlens des Durchschnitts¬
menschen stehen kann, daß er nicht mehr das Anormale des Psychose-
kranken sieht und in dem Dementia praecox-Patienten nur quan¬
titative Veränderungen des gewöhnlichen Seelenlebens bemerkt.
Wir wiesen schon darauf hin, daß diese Bemerkung nicht am Platze
ist bei einem rein psychologischen und pathopsychologischen Unter¬
sucher. Übrigens finden sich ähnliche Verhältnisse in Physiologie und
Pathologie verschiedentlich: so scheint es z. B., daß bei Entzündung
Prozesse auftreten, von denen Analoga unter gewöhnlichen Umständen
im Darmkanal bei normaler Verdauung wahrgenommen werden und
die unter quantitativ geänderten Umständen das so deutlich patho¬
logische Bild ergeben, das wir als Entzündung kennen.
Wenn wir somit diese so echt menschliche Kritik der in dieser
Abhandlung verteidigten Auffassung sehr gut verstehen können, sie
hat mit der Sache selbst nichts zu schaffen und läßt die Data und die
daraus gewonnenen Korrelationen unberührt.
Anders ist es um den theoretisch-logischen Einwand bestellt, daß
wir verkehrte Schlußfolgerungen gezogen hätten. Obwohl sich gleich
zeigen wird, daß auch dieser Einwurf keine Gültigkeit hat, wollen wir
denselben doch einen Moment berücksichtigen. Wir könnten dann
die psychischen Eigenschaften der gesunden Leptosomen mit A y B
und C bezeichnen, während wir bei den Dementia praecox-Patienten
denselben Komplex fanden, vermehrt um die Psychose, welche wir
mit X bezeichnen können. Ebenso finden wir bei den gesunden Pyk¬
nikern die Eigenschaften D , E und F , während bei den zirkulären
zu Kretschmers „Körperbau und Charakter“. 379
Patienten noch außerdem die Psychose hinzukäme, die mit Y benannt
werden möge.
Wir hätten dann zwei große Gruppen von Versuchspersonen; von
der einen besitzen alle die Eigenschaften A, B und C, von der anderen alle
die Eigenschaften Z>, E und F . Von der ersten Gruppe haben einige
außerdem noch X, doch kein einziger Y ; in der zweiten Gruppe finden
wir bei einigen noch Y ; doch kein einziger hat X. Hieraus dürfen
wir als logische Konsequenz folgern, daß A y B und C sich nicht mit Y t
wohl aber unter gegebenen Umständen offenbar mit X kombinieren
lassen. Daß jedoch X notwendigerweise aus A, B und C hervorgeht,
folgt hier nicht. Zwar können wir hieraus ersehen, daß X sich nicht
mit D y E und F vereinigen läßt, während offenbar Y wohl in dieser
Kombination Vorkommen kann. Übertragen auf unsere Konstitutions¬
typen könnten wir also aus den gewonnenen Daten nichts bezüglich
des charakterogenen Entstehens der Psychose folgern, dagegen wohl
betreffs des abwehrenden Elementes, das bestimmte Charaktertypen
für einige Krankheiten besitzen würden. Der Schizothyme würde nicht
prädisponiert sein für Dementia praecox; aber wohl würde diese Anlage
mit ziemlich großer Sicherheit den Menschen vor der manisch-depres¬
siven Psychose schützen und umgekehrt würde die cyclothyme Person
nicht so sehr für das zirkuläre Leiden prädisponiert sein als vielmehr
unempfänglich für schizophrene Affektionen.
Indessen scheint es mir, daß wir in unsera Schlüssen weitergehen
können. Die psychischen Eigenschaften, welche wir untersuchten,
standen nicht lose neben dem Krankheitsbild, sondern wurden soviel
wie möglich in Zusammenhang mit demselben aufgespürt und studiert.
Und finden wir nun bei einer Gruppe gesunder Menschen, die wir aus¬
wählten, weil ihr Körperbau mit Zahlenverhältnissen übereinstimmte,
die wir bei Praecoxpatienten häufig antreffen, dieselbe psychische
Struktur, dann liegt es auf der Hand, hierin einen Hinweis auf die
Psychose selbst zu erblicken. Dasselbe gilt für die manisch-depressive
Psychose und den psychischen Bau bei den zirkulären Patienten und
den gesunden Pyknikern.
So können wir mithin zweifelsohne schon weitergehen, als eine
rein logische Deduktion gestatten würde. Wir wissen nun von zwei
Gruppen Patienten, daß sie in psychischem Tempo, sekundärer Funk¬
tion und Bewußtseinsumfang Übereinstimmung mit Gruppen zeigen,
die wtir auch im normalen Leben auf spüren können; bei der ersten
Gruppe, den Leptosomen, finden wir etwas wieder, das auf die Sperrung
der Praecoxpatienten hinweist, bei der zweiten, den Pyknikern etwas von
der Hemmung der Melancholiker. In Charakteruntersuchung und Asso¬
ziationsversuchen offenbarten sich ebenfalls bei diesen Gesunden dieselben
Eigentümlichkeiten, welche die Schizophrenie und Cycloidie kennzeichnen.
380 L. van der Horst: Experimentell-psychologische Untersuchungen usw.
Es bleibt noch viel zu fragen übrig; wir haben in jeder Gruppe
die Kranken und Gesunden noch längst nicht vollständig miteinander
verglichen; der Zusammenhang der verschiedenen psychischen Eigen¬
tümlichkeiten mit dem Typischen der Psychose ist nicht überall gleich
deutlich. Die Anzahl Versuchspersonen war verhältnismäßig klein.
Aber in Anbetracht des Umstandes, daß in der eigenen Charakter¬
beschreibung und der danach fortgesetzten charakterologischen Unter¬
suchung ebenso wie in den psychologischen Experimenten immer
mehr die Korrelation zwischen gesunden Leptosomen und Praecox-
patienten einerseits und gesunden Pyknikern und zirkulären Kranken
andererseits zutage trat, glaubten wir hierin einen Beitrag zu der Tem-
peramententypik, wie diese von Kretschmer 1921 publiziert wurde,
und eine vollkommene Bestätigung derselben sehen zu dürfen.
(Ans der Nervenklinik des Kasaner Klinischen Instituts. —
Chef der Klinik: Prof. A. W. Favorahy.)
Klinische Beobachtungen über die Wirkung von Pilocarpin
bei Nervenerkrankungen.
Von
Dr. i. J. Russetzby,
Assistent.
(Eingegangen am 24. Juni 1924.)
Das vegetative Nervensystem spielt jetzt eine bedeutendere Rolle
in der Neuropathologie. Die pharmakodynamische Wirkung verschie¬
dener Stoffe auf das vegetative Nervensystem ist bisher nicht systema¬
tisch genug untersucht worden. Die gegenwärtige Arbeit hat zum Ziel,
den physiologischen Effekt des Pilocarpins zu prüfen. Als Material
dienen 50 Protokolle von Pilocarpin versuchen, angewandt im Laufe der
letzten Jahre bei Kranken mit den verschiedensten Nervenerkrankungen.
Es handelt sich um:
Hemiplegia .11
Hyperkinesis cum paresis .... 2
Hemihyperkineeis rhythmica ... 1
Hemiplegia altemans.1
Encephalitis epidemica.8
Tumor cerebri.1
Chorea .1
Ataxia cerebdlaris acuta .... 1
Tabes dorsalis.3
Syringomyelia . ..2
Sclerosis lateralis.1
Sclerosis lat. amyotrophica ... 1
Myelitis . 1
Spondylitis.3
Laesio medullae spinalis.1
Laesio caudae equinae.1
Nevritis n. ischiadici.2
Dystrophia musculorum progr. . . 3
Myasthenia gravis.1
Epilepsia.2
Hysteria.1
Neu rast henia.2
33 Männer und 17 Frauen wurden untersucht. Es wurden verschie¬
dene Dosierungen des Pilocarpins versucht. Die Dosierung nach Eppinger
und Hess (0,01) wurde nur in einzelnen Fällen angewandt, gewöhnlich bei
wiederholten Versuchen zu Zwecken der Diagnostik genügt die Dosis
nach Peiren und Bauer (0,005). Die Untersuchungen der Kranken wurden
systematisch vor und nach der Injektion ausgeführt.
Zum Vergleich dieser Resultate waren 16 normale Personen im Alter
von 20—40 Jahren untersucht wurden. Die Folgerungen dieser Unter¬
suchungen wurden den Pilocarpinuntersuchungen bei Erkrankungen
des Nervensystems gegenübergestellt.
382
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
I . Schweißabsonderung.
Der Reflex der Schweißabsonderung ist noch nicht in allen Einzel¬
heiten festgestellt. Die Anregungen für die Schweißabsonderung erfolgen
im Thalamus ( E . Küppers, 1922) und in den Zentren des Striatums
und Hypothalamus. Von diesen Zentren steigen die efferenten Bahnen
ab und erfahren eine Kreuzung in der Höhe der Varolischen
Brücke ( F . Depisch, 1920). Die Bahnen gehen zum Zentrum der
Schweißabsonderung in der Medulla oblongata und zu den spinalen Zen¬
tren des Seitenhorns (von Dittmar, Langley, Cassirer, Schlesinger ). Vom
Rückenmark gehen sie durch die Rami communicantes zu den Zellen des
Grenzstranges (preganglionäre Fasern) und von diesen zu den Drüsen
(postganglionäre Fasern). Veränderungen der Schweißabsonderung,
abhängig von den Störungen der verschiedenen Teile dieses Reflex¬
bogens, sind systematisch nicht untersucht worden. Es gibt Angaben von
Steigerung der Schweißabsonderung bei Hemiplegia, bei Läsionen der
subcorticalen Ganglien, ebenfalls bei Herpes zoster, Causalgia, Neurosen
(Dejerine) und anderen Erkrankungen. Hyperhydrosis und Anhydrosis
beobachtet man bei Störungen des Rückenmarks (Bing), Myelitis, Syringo-
myelia, Sei. disseminta, poliomyelitis (H. Higier) usw. Nach vielen Autoren
hebt nur die Unterbrechung des Reflexbogens im Gebiete des Rücken¬
marks die Schweißabsonderung auf, während die Unterbrechung des
oberen Reflexbogens eine Steigerung der Schweißabsonderung hervorruft.
Veränderungen der Schweißabsonderung können auch unter anderen Be¬
dingungen eintreten: Veränderung der Blutverteilung und der Lymph-
zirkulation, Bestand des Blutes, lokale Wärmebildung und Wärme¬
abgabe.
Die Untersuchung der Schweißfunktion mittels Pilocarpin bei unseren
Kranken zeigte, daß die Schweißabsonderung nach der 3. bis 28. Minute
nach der Injektion eintrat, im Durchschnitt nach 6—12 Min. Dem all¬
gemeinen Schweißausbruch ging eine lokale Schweißabsonderung aB
der Stelle der Injektion voraus, welche sofort nach der Injektion ein¬
trat. Das Maximum der Schweißabsonderung fällt auf die 10—45. Min.,
am häufigsten auf die 19.—28. Min.
Im weiteren erfolgt im Durchschnitt nach 10 Min. die Verminderung
der Schweißabsonderung, 65 Minuten nach der Injektion hört dieselbe
auf. Die Schweißabsonderung bemerkte man anfangs in den oberen
Körperabschnitten, indem sie allmählich zu den unteren überging. Ge¬
wöhnlich bemerkte man folgende Aufeinanderfolge: Stirn, Nase, Hals,
Brust, Rücken, Achselhöhlen, Bauch, Armoberfläche und dann die Füße.
Die Schweißabsonderung unterschied sich in einigen Fällen je nach den
Körperabechnitten. Die Schweißabsonderung war verschieden stark:
reichlich 10%, mittlere 44%, schwächer 22%, sehr schwach 12%. Bei
12% war gar keine Schweißabsonderung.
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen.
383
Die genannten Angaben von der Schweißabsonderung nach Pilo¬
carpin stimmen ungefähr mit denjenigen überein, welche sich bei der
Untersuchung von 15 gesunden Personen ergaben.
Bei der Untersuchung der einzelnen Gruppen der Erkrankungen war
es möglich, folgendes festzustellen: Die kapsuläre Hemiplegia zeigt
fast immer einige spontane Feuchtigkeit der Hand der gelähmten Seite
zuweilen auch des Unterarmes, des Oberarmes und der unteren Extre¬
mität. Von 11 untersuchten Fällen hatten 9 eine große Feuchtigkeit
der Hand, in 2 Fällen verbreitete sie sich auf den Unterarm, in einem
Falle war eine ausgesprochene Hyperhydrosis der gelähmten Seite und
nur in einem Falle bemerkte man kein Schwitzen. Diese Erscheinung
weist auf eine Vermehrung des Schwitzens auf der Seite der Lähmung
hin, eine Art vegetativer Enthemmung infolge von Störung der Bahnen,
welche von der Großhirnrinde zum Thalamus ziehen.
Die Prüfung mittels Pilocarpin ergab in 10 Fällen entsprechende
Resultate und nur ein Fall eine gleiche Schweißabsonderung wie bei
Gesunden. Dieser letzte Fall hatte vor 5 Jahren eine Haemorrhagia ge¬
habt und man muß eine Wiederherstellung der vegetativen Tätigkeit
annehmen. 10 Fälle aber stellten folgendes Bild dar: In 8 Fällen beginnt
die Schweißabsonderung ausschließlich auf der gelähmten Seite bei
Trockenheit der anderen Seite und erfaßt gewöhnlich die Hälfte der
Brust, des Bauches, seltener des Rückens und in 2 Fällen die Hälfte des
Gesichtes und eine Hand. Solch eine isolierte Schweißabsonderung
währte: in 2 Fällen 1—2 Min., in 3 Fällen 5 Min., in 2 Fällen 18 Min.,
und in 1 Fall — 22 Min. Im weiteren beginnt die Schweißabsonderung
auch auf der anderen Seite, aber bedeutend schwächer als auf der ge¬
lahmten Seite. Nur in 2 Fällen begann die Schweißabsonderung auf
beiden Seiten gleichzeitig, aber mit sichtbarem Vorherrschen auf der
gelähmten Seite. Diese Angaben sprechen für das Erscheinen der
Schweißabsonderung auf der gelähmten Seite bei Hemiplegia, denen
ich die Benennung „vegetative Enthemmung“ gegeben hatte. Die Frage
der hemmenden Fasern für die Schweißabsonderung erscheint bis jetzt
noch nicht endgültig gelöst. Die Arbeiten N. Diedens (1915, 1916,1918)
über die Existenz solcher Fasern in den peripheren Nerven haben bisher
keine Bestätigung gefunden ( J. N. Langley , E. Schilf und J. Mandur, 1922).
Die Frage über die hemmenden Funktionen der anderen Abschnitte
der vegetativen Leitungsbahnen ist noch nicht genügend studiert worden.
Hyperhydrose bei Hemiplegie auf der gelähmten Seite wird von einigen
Autoren betont (Chevalier, Binger und Burg usw.) und von anderen ver¬
neint ( Dieden , Filimonoff). Natürlich ist es möglich, die übermäßige
Schweißabsonderung der gelähmten Seite den Veränderungen der Blut-
und Lymphzirkulation zuzuschreiben. Es fällt aber doch eine erheb¬
liche Inkongruenz der letzteren Erscheinungen und der Störungen der
384
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
Schweißabsonderung auf. Außerdem kann man noch folgendes fest¬
stellen: In unseren 10 Fällen war 4 mal die Schweißabsonderung der
gelähmten Seite sehr reichlich, in 5 Fällen stark, in einem Fall mäßig
(im letzten Fall war überhaupt keine Schweißabsonderung auf der
gesunden Seite vorhanden. Im übrigen beobachteten wir auf der gesunden
Seite in 7 Fällen mäßige Schweißabsonderung und in 2 Fällen sogar eine
sehr mittelmäßige. Diese Tatsache, zusammen mit der Verspätung der
Schweißabsonderung von etwa 2—5 Min. auf der gesunden Seite, spricht
für einen hemmenden Einfluß der vegetativen Zentren der gelähmten
Körperseite auf die der gesunden. Man kann sagen, daß parallel mit
der Enthemmung der einen Seite die Hemmung der gesunden Seite über¬
mäßig stark hervortritt.
Von 3 Fällen rhythmischer Hyperkinesen, welche der Untersuchung
unterlagen, bestanden in 2 Fällen ebenfalls einige pyramidale Symptome.
Diese Kranken hatten beständige klonische Krämpfe, 90—150 mal in
der Minute, die Kranken hatten gewöhnlich eine Hyperhydrosis der
unwillkürlich sich bewegenden Extremitäten. Pilocarpin, welches auf
beiden Seiten zwar eine mehr oder weniger gleichzeitige Schweißabson¬
derung hervorrief, rief doch eine stärkere Schweißabsonderung an hyper¬
kinetischen Extremitäten hervor. Im 3. Fall bestand keine pathologische
Reaktion.
Der folgende Fall, welcher eine caudaler gelegene Stelle betrifft
(Hemiplegia altemans dextra) bietet ein besonderes Interesse.
Patient 37 Jahre alt, 3 Monate vor der Untersuchung Encephalitis; es besteht
Hemiparalysis sinistra mit Lähmung der rechten Nn. III, VI und VH und Hemi-
hypästhesie auf der linken Seite. Der Pilocarpinversuch ergab eine reichliche
Schweißabsonderung auf der rechten Körperhälfte, welche scharf von der mittleren
Schweißabsonderung auf der gelähmten Seite abstach. Ungeachtet der hohen
Dosis von Pilocarpin (0,008) schwitzten Gesicht und Hals nicht. In diesem Fall
bestand also eine übermäßige Schweißabsonderung (verbunden mit Hyperaemia)
auf der der Lähmung gegenüberliegenden Seite, also eine Art Hemiplegia altemans
vegetativa. Es kreuzen die vegetativen Bahnen in der Varolischen Brücke. Der
Unterschied zwischen beiden Körperhälften in der Schweißabsonderung war
weniger ausgesprochen als bei den kapsulären Störungen, es bestand keine isolierte
Schweißabsonderung der rechten Seite, und die Schweißabsonderung auf der
linken Seite war nicht besonders herabgesetzt. In diesem Falle fehlte der scharfe
Kontrast, welcher bei Läsionen der inneren Kapsel besteht.
In 8 Fällen von epidemischer Encephalitis mit Störungen seitens
der subcorticalen Ganglien ergab ungeachtet der ausgesprochenen Er¬
scheinungen seitens des vegetativen Systems z. B. die gesteigerte Tätigkeit
der Speichel- und Talgdrüsen, und in 2 Fällen auch der Schweißdrüsen,
das Pilocarpinexperiment entgegengesetzte Resultate. In 2 Fällen war gar
keine Schweißabsonderung zu erzielen, ungeachtet der hohen Dosierung
(0,01), in 3 Fällen war sie sehr schwach, in einem Falle unter der Norm
und nur in 2 Fällen normal. Von den letzten war ein Fall 3 Monate nach
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen. 385
dem Beginn der Erkrankung mitersucht worden, und diesen Fall konnte
man als einen abortierten ansehen. Im anderen Fall lag die Erkrankung
lange zurück, 1 Jahr 6 Monate. So erhält man den Eindruck, daß Pilo¬
carpin eine Hemmung der Schweißabsonderung hervorruft. Wahrschein¬
lich ist der Grund der Verminderung der Schweißabsonderung nicht in
den Störungen bestimmter vegetativer Gebiete, sondern in der verän¬
derten Pilocarpinwirkung auf die Endapparate infolge der allgemeinen
Störung des Stoffwechsels bei Encephalitis zu suchen. Bei Ergänzungs¬
untersuchungen an 2 Fällen mit Parkinson haben wir eine analoge
Reaktion auf Pilocarpin gefunden.
Ataxia cerebeüaris acuta ergab keine pathologische Pilocarpinreak¬
tion. Ein Fall von Tumor cerebri ergab eine Ermäßigung der Schwei߬
absonderung.
Die Untersuchungen der Läsionen des Rückenmarks gaben folgende
Resultate: Tabes dorsalis ist in 3 Fällen untersucht worden. Die Unter¬
suchungen gaben eine unbestreitbare Herabsetzung der Schweißabson¬
derung. In einem Falle war gar keine Schweißabsonderung, in 2 anderen
war sie sehr schwach und dabei stark vergrößert (25 Min. und 40 Min.). In
einem dieser Fälle war nur auf der Stirn und den Wangen eine Schwei߬
absonderung zu sehen. Für Fälle von initialer Tabes ist das sonderbar,
weil die Schweißabsonderungsfasern durch die vorderen Wurzeln gehen.
Bei Sclerosis lateralis war auch eine äußerst schwache Schweißabson¬
derung vorhanden. Von 3 Fällen der Pott sehen Krankheit mit spasti¬
scher Paraplegie bestand keine Schweißabsonderung an den unteren
Extremitäten. Ein Fall von Schußverletzung des lumbalen Abschnittes
des Rückenmarkes und ein Fall von spastischer Paraplegie auf luetischer
Basis ergaben bei dem Pilocarpin versuch eine Vermehrung der Schwei߬
absonderung an den gelähmten Extremitäten. Ein Fall von Läsion
der Cauda equina ergab eine mäßige Schweißabsonderung des Rumpfes
bis zu einer Linie in der Mitte zwischen Umbilicus und Symphyse und
keine Schweißabsonderung unterhalb dieser Linie. 2 Fälle von Syringo¬
myelie gaben keine Abnormität.
Wir sehen also, man beobachtet bei den Störungen des Rückenmarkes
ein anderes Bild wie bei den Störungen des Großhirns. In einigen Fällen
findet man Erscheinungen von vermehrter Schweißabsonderung, ob¬
wohl in bedeutend gemilderter Form. In anderen Fällen aber, besonders
in solchen mit Zerstörung der Wurzeln (Tabes, Laesio caudae equinae)
beobachtet man eine Verminderung der Schweißabsonderung von meta-
merem Typus, zuweilen sogar Anhydrose.
5 Fälle von progressiver Muskelatrophie ergaben Verminderung der
Schweißabsonderung, weniger scharf als bei epidemischer Encephalitis.
Ein Fall mit schwerer Myastenie gab keine Abweichung. Epilepsia ,
Neurasthenia und Hysteria gaben keine pathologische Reaktion.
386
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
Wenn man alle angeführten Angaben zusammenfaßt, so stellt man
folgendes fest: 1. Als festgestellt kann eine Steigerung der spontanen
Schweißabsonderung bei Läsionen der Capsula interna und besonders
eine solche bei Anwendung von Pilocarpin gelten. 2. Diese Störung tritt in
sukzesive vermindertem Grade auf je caudaler die Läsion liegt; dies
gilt bis zur Varolischen Brücke, wo die zentralen Schweißfasem kreuzen.
3. Die Erkrankungen des Rückenmarks, besonders die der Wurzeln,
werden durch das Ausbleiben der Schweißabsonderungsfunktion charak¬
terisiert. 4. In einigen Fällen der epidemischen Encephalitis und der
progressiven muskulären Atrophie beobachtet man Herabsetzung der
Schweißfunktion.
II. Speichelabsortderung.
Anregungen für Speichelabsonderung entstehen im subcorticalen
Gebiet und der Großhirnrinde und gehen zu den Nuclei salivatorii sup.
und inf. Die efferenten Fasern gehen zu den Speicheldrüsen, welche
außerdem vegetative Fasern vom Ggl. cerv. sup. erhalten.
In unseren 50 Fällen trat der Beginn der Speichelabsonderung
nach Pilocarpin am häufigsten nach 5—9 Minuten ein in 34%, nach
10—12 Minuten in 28% und nach 3—4 Minuten in 16%, nach 13—15 Mi¬
nuten in 12% und über (10%). Das Maximum der Speichelabsonderung
fällt auf die 13. bis 18. Minute nach der Injektion:
Der Rückgang der Speichelabsonderung fällt in 48% nach 25 —30 Mi¬
nuten; in den übrigen Fällen später.
Nach der Quantität des Speichels, welcher sich im Laufe der ersten
30 Minuten nach der Injektion absonderte, wurden die Untersuchungen
auf folgende Weise eingeteilt:
Keine Reaktion .2% 61,0— 80,0 Speichel.26%
5,0—20,0 Speichel.8% 81,0-100,0 „ 6%
21,0-40,0 „ 20% 101,0-120,0 „ 4%
41,0-60,0 „ .34%
Die genannten Ziffern stimmen mit den Ziffern der Untersuchungen
bei gesunden Personen überein.
Die Ermäßigung des Speichels im Laufe von 30 Minuten nach der
Injektion ist beträchtlich und im weiteren tritt ein schnelles Sinken der
Speichelabsonderung auf. Im Laufe der folgenden 15 Minuten sondert
sich gewöhnlich nur 15—25% der früher abgesonderten Speichelmenge
ab, nach weiteren 15 Minuten nur noch 5—10%. Für die verschiedenen
Nervenerkrankungen kann man folgendes bemerken:
Die Hemiplegie zeigte in den meisten Fällen eine verminderte Speichel¬
absonderung. So bestand unter unseren 11 Fällen im ersten Falle gar
keine Speichelabsonderung, in 3 Fällen wurde 5,0 bis 20,0 ccm Speichel
gewonnen, in 4 Fällen 21,0—40,0 ccm und nur in drei Fällen erreicht die
Menge 60,0—80,0 ccm. Die epidemische Encephalitis zeigte im Gegenteil
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen.
387
eine reichliche Reaktion (ein Fall 107,0 ccm, ein anderer 85,0 ccm), nur in
einem Falle erhielten wir 52,0 ccm. Dieser letzte Fall war ein abortiver.
Tabes gab auch in 2 Fällen eine verminderte Speichelabsonderung
(20,0 und weniger). Von den Neurosen ergab die Neurasthenie eine aus¬
gesprochene Reaktion (102,0 ccm, 78,0 ccm). Bei anderen Erkrankungen
bemerkte man keine besondere Speichelreaktion.
III. Tränenab8onderung.
Die Anregungen für Tränenabsonderung gehen zu den Zentren der
Großhirnrinde und des subcorticalen Gebietes. Die nach unten füh¬
renden Bahnen gehen zum Nucl. lacrymalis und von diesem zu den End¬
apparaten der Tränendrüsen. Der Halssympathicus gibt auch Fasern
für Tränendrüse. Es gibt Erhöhung der Tränenabsonderung infolge ver¬
stärkter Anregungen (z. B. Prosopalgia) und Aufhören der Tränen¬
absonderung bei zentraler Läsion des Facialis (sog. einseitiges Weinen).
Bei den Pilocarpinuntersuchungen beobachtete man die Tränen¬
absonderung nur in 19 Fällen. Ihr Erscheinen bemerkte man innerhalb
6—30 Minuten, am häufigsten in 11—25 Minuten. Die Dauer der Tränen¬
absonderung ist sehr kurz — einige Minuten — und nur in 3 Fällen be¬
merkt man eine Periode von 15 Minuten. In diesen 3 Fällen bemerkte
man außerdem eine vermehrte Tränenabsonderung, während in den
anderen Fällen eine schwache Tränenabsonderung vorhanden war.
Diese Erscheinungen stimmen ebenfalls mit den Angaben der unter¬
suchten gesunden Personen überein.
Bei den verschiedenen Erkrankungen kann man konstatieren, daß
bei epidemischer Encephalitis Pilocarpin in einigen Fällen eine erhöhte
Tränenreaktion ergab. Erwähnung bedarf ein Fall von Hemiplegie mit
thalamischen Erscheinungen, in welchem nach der Injektion eine ein¬
seitige Tränenabsonderung nicht auf der gesunden, sondern auf der ge¬
lahmten Seite auftrat. Diese Absonderung begann nach 20 Minuten
und hielt 15 Minuten an. Bei diesem Kranken beobachtete man ohne
Pilocarpin kein einseitiges Weinen.
IV. Vasomotoren.
Zentren der Vasomotoren befinden sich in der Großhirnrinde ( W. M.
Bechterew und N. A . Misslawsky, 1886, E. Küppers , 1922), im subcor¬
ticalen Gebiet und im verlängerten Mark. Die absteigenden Bahnen
gehen im Seitenstrang zu den vasomotorischen Zentren des Seitenhorns
(von Diümar , Langley u. a.). Die Vasoconstrictoren gehen durch die vor¬
deren Wurzeln, die Vasodilatatoren durch die hinteren (Stricker) zu den
Gefäßendapparaten. Die Gefäße haben einen ausgesprochenen peri¬
pherischen Automatismus (Ewald, Ooltz).
Die von mir untersuchten Fälle wurden hauptsächlich studiert:
388
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
1. seitens der Gefäßreaktion auf Pilocarpin und 2. der Veränderungen
des Dermographismus nach der Pilocarpininjektion.
Zuerst erscheint Hyperämie des Gesichts (der Wangen, seltener der
Stirn, Nase) etwa 1—8Minuten nach der Injektion (72% selten später):
Hierzu kommt noch zuweilen Hyperämie des oberen Körpergebietes
hinzu nach 5—10 Minuten, des Ohres nach 8—25 Minuten. In den ge¬
nannten Fällen beobachtete man eine erhöhte Temperatur der Haut
in dem hyperämierten Gebiete. Subjektiv bemerkt der Kranke ein
Gefühl von Hitze im Gesicht, seltener in der Brust. Die Hyperämie des
Gesichtes verstärkt sich im Laufe von 1—2 Minuten und dann vermindert
sie sich nach 2—3 Min. Die Dauer der Hyperämie geht in einigen Fällen
bis zu 25 Minuten. In einzelnen Fällen bemerkt man eine scharfe Rötung
mit Flecken am oberen Rumpfabschnitte. Im weiteren beobachtet man
selten nach 25—40 Minuten Erblassung des Gesichtes mit parallelen
Parästhesien in den Extremitäten.
Bei der mechanischen Reizung der Vasomotoren (Dermographismus)
kombiniert mit chemischer Reizung (Pilocarpin) wurde festgestellt,
daß nur in 4 Fällen der Dermographismus seinen Charakter und seine
Dauer nach der Injektion nicht veränderte. In zwei Dritteln aller Fälle
rief, nach vollständigem Verschwinden aller Spuren des Dermographismus
für das Auge des Experimentators, die Pilocarpininjektion die Zeichen
des Dermographismus wieder hervor. In einem Drittel der Fälle
wurde die Pilocarpininjektion bei noch schwach vorhandenen Spuren
von Dermographismus ausgeführt; man beobachtete eine analoge Erschei¬
nung. Die Dauer betrug in einigen Fällen das 12fache, so in einem Falle
von Encephalitis epidemica.
Denselben Effekt beobachtet man bei wiederholtem Hervorrufen
von Dermographismus, 10—15—20—25—30 Minuten nach der Injek¬
tion. Aber es trat doch eine allmählige Verkleinerung der potentialen
Kraft des Dermographismus zutage. Alle genannten Erscheinungen
beobachtete man auch bei untersuchten normalen Personen, aber in
einer schwächeren Form.
Die angeführten Fakta, nämlich: das Erscheinen des verschwun¬
denen Dermographismus nach Pilocarpininjektion, die Verlängerung
der Standhaftigkeit des Dermographismus, seine Verstärkung einerseits
und die Verstärkung und Verlängerung des wiederholten Dermogra¬
phismus nach Pilocarpin anderseits, erlauben die Folgerung, daß wir
es mit einer Summierung der mechanischen und chemischen Erregungen
der Vasomotoren zu tun haben. Es besteht eine latente Reizbarkeit
der Vasomotoren nach Aufhören der sichtbaren Reaktion — einer Art
Sensibilisation für folgende chemische Reizung.
Die untersuchten Erkrankungen stellen folgende Vasomotoren¬
reaktion dar. Die Hemiplegia zeigt gewöhnlich eine Parese der Vaso-
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen.
389
motoren der gelähmten Seite. Die Pilocarpininjektion ruft eine frühere
oder ausgesprochenere Hyperämie auf der Seite der Lähmung hervor.
Die vorherrschendere Hyperämie der gelähmten Gesichtsseite bemerkte
man in mehreren Fällen. Diese Erscheinung weist darauf hin, daß man
im gegebenen Fall einen doppelten Effekt hat seitens der Vasomotoren:
außer der Parese der Vasoconstrictoren gibt es noch eine Wirkung auf
die Vasodilatatoren, welche auf der gelähmten Seite vorherrschen. Diese
stimmt mit den Arbeiten aus dem Laboratorium Prof. N. A. Misslawsky
(M. Tschalussow, L. Fofanoff) sowie mit den Experimenten von Loewen
vom pressoren und depressoren Effekt bei Störung der Gefühlsfasem
überein. Die epidemische Encephalitis zeigt nach Pilocarpin Hyperämie,
welche sich auf die Brust verbreitete, zuweilen sehr ausgesprochen.
Von den anderen Erkrankungen ist die Epilepsie und Neurasthenie mit
ihrer scharfen Gefäßreaktion auf Pilocarpin zu erwähnen.
V. Herz , Blutdruck .
Die Wirkung von Pilocarpin besteht nach den vorwiegenden An¬
sichten ( Hamack und N. Meyer 1880 u. a.) in Wirkung auf den Hem¬
mungsapparat des Herzens, welche einige Minuten dauert, dann werden
die Herzschläge schneller, die Reizung N. vagi wird wirkungslos bei
bleibender direkter Reizung des Sinus. Die Beschleunigung der Herz¬
tätigkeit unter dem Einfluß von Pilocarpin ist von vielen Autoren an¬
gegeben worden ( Sardemann , Falber u. Schon , Entges , Lehmann , Fried -
berg u. a.).
Bei der von mir ausgeführten Pilocarpinuntersuchung hat sich fol¬
gendes herausgestellt: In allen Fällen, ohne Ausnahme, tritt eine Be¬
schleunigung der Herztätigkeit ein um 6—30 Schläge in 1 Minute. In
80% der Fälle beginnt die Tachykardie in der ersten Minute nach der
Injektion, in den anderen Fällen aber später. Das Maximum der Be¬
schleunigung fällt auf die 6. bis 15. Minute.
Später folgt ein allmähliches Fallen der Zahl der Pulsschläge, welche
in normale übergehen nach 46 —60 Minuten nach der Injektion in der
Mehrzahl der Fälle, selten tritt dies früher ein.
In einigen Fällen bemerkte man eine geringe Verkleinerung der Zahl
der Schläge, und zwar 3—7 Schläge, was bei der Rückkehr zum nor¬
malen Puls eintrat und nach 5—8 Minuten verschwand.
Auf diese Weise erschien als Grundeffekt von Pilocarpin eine aus¬
gesprochene Tachykardie, was das Resultat von der Reizung Nn. acce-
lerantes oder der Hemmung der Funktion N. vagi sein kann. Und nur
als unbeständigen und kurzen Effekt bemerkte man zum Schluß der Wir¬
kung in 10% Fällen eine geringe Erregung des Hemmungsapparates des
Herzens. Die Tatsache der Beschleunigung der Herztätigkeit kann nicht
isoliert besprochen werden außer dem Zusammenhang mit dem Zustand
390
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
des Diameters der Gefäße und des Blutdruckes. Die Hautgefäße, wie
oben gesagt, bildeten Hyperämie auf 4—8 Minuten nach der Injektion,
welche nach 1—2 Minuten ein Maximum erreichten, nach 2—3 Minuten
sich aber verkleinerten. Es versteht sich von selbst, daß die Hautgefäße
nicht als genaue Charakteristik des Zustandes der Gefäße anderer Ge¬
biete dienen können.
Die Wirkung von Pilocarpin auf den Blutdruck zeigt sich im Herab¬
sinken des Druckes der Art. radialis um 12—38 mm (nach Riva-Rocci),
öfters um 12—16 mm. Dieses Herabsinken tritt im Laufe der ersten
10 Minuten ein, erreicht 25—30 Minuten nach der Injektion das Maxi¬
mum und dauerte über eine Stunde. Folglich ist bei der Pulsbeschleu¬
nigung und Vasodilatation der Hautgefäße ein Herabsinken des Blut¬
druckes vorhanden. Wenn man aber die Zeit des Erscheinens jeder
dieser Funktion vergleicht, ihre maximale Entwicklung und das Auf¬
hören, so kommen wir zu folgenden Resultaten:
Beginn nach der
Pilocarpininjektion
Min.
Maximale Ent¬
wicklung
Min. j
Übergang zum nor¬
malen Zustand
Min.
Hyperämie der Hautgefäße .
4-8
5-10
20-30
Tachykardie.
1
6-15
46-60
Hypotensio arterialis ....
o
r-H
1
25-30
60 u. mehr
Diese Ziffern zeigen das Nichtzusammenfallen der genannten Er¬
scheinungen, hauptsächlich ihrer maximalen Entwicklung und ihres
Verschwindens. Man kann annehmen, daß eine Hemmung des vaso¬
motorischen Apparates und Herzapparates zu verschiedener Zeit vor¬
handen ist, verbunden mit Erscheinungen der erhöhten peripherischen
Reizbarkeit (die eigenartige Gefäßreaktion). Charakteristisch ist, daß
das Maximum des Sinkens des Blutdruckes nicht eine folgende reflek¬
torische Reizung des beschleunigenden Apparates hervorruft — Tachy¬
kardie erscheint als Anfangseffekt, welcher sich nicht von den anderen
Bedingungen bemerkbar verändert.
Als einer der Reflexe auf die Herzzentren erscheint der Reflex Dag -
nini-Aschner , welcher von mir in einer anderen Arbeit ausführlich unter¬
sucht ist 1 ). Die Pilocarpininjektion ruft in den meisten Fällen (60%)
keine Veränderung des genannten Reflexes hervor. In anderen Fällen
jedoch beobachtet man eine zeitweilige Verstärkung des Effektes, sie
fällt in den meisten Fällen mit dem Maximum der Tachykardie zu¬
sammen. Der Unterschied zwischen dem Effekt vor der Injektion
und dem Effekt nach derselben beträgt 6—10 Schläge in der Minute,
seltener mehr. Nur in einem Falle wurde nach einer anfänglichen
*) J. J . Russetzky , Vom trigeminovagalen Reflex. Kasanski Medizinski
Journal 11 , Nr. 2. 1922. (Russisch.)
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen.
391
Verstärkung des positiven Reflexes (Verzögerung von 9—12 Schläge)
der Reflex für 25—35 Minuten negativ und geht 45 Minuten nach
Pilocarpin wieder zur Norm über.
VI. Andere Pilocarpineffekte.
Ein Effekt von Pilocarpin auf das Atmen war in den meisten unter¬
suchten Fällen vorhanden, es trat eine Beschleunigung der Atmungsbe¬
wegungen ein in 70% der Fälle, ebenso wie bei den gesunden Personen.
Das Atmen wird schneller und zu gleicher Zeit oberflächlicher. Auf diese
Weise ist der Effekt von Pilocarpin auch seitens des Atemapparates
nicht mit den Reaktionen anderer Apparate verbunden, indem er eigen¬
artige Züge vorstellt.
Die Veränderungen seitens der Pupille, ihre deutliche Verengung
unter Beeinflussung von Pilocarpin war ungefähr in der Hälfte der unter¬
suchten Fälle bemerkbar. Die Untersuchung wurde durch einfache
Beobachtung ausgeführt, ohne Ausmessungsinstrumente. In der an¬
deren Hälfte bemerkte man eine verminderte oder sogar unbedeutende
Wirkung auf die Pupille. Der Anfang des Myosis fällt auf die 15—25
Minuten und dauert gewöhnlich eine halbe Stunde fort. Wenn man die
Fälle mit deutlicher Pupillenreaktion betrachtet, so kann man feststellen,
daß die Myosis gewöhnlich mit der mittleren Reaktion der übrigen ve¬
getativen Apparate zusammenfallen. In einzelnen Fällen aber finden
wir ein anderes Bild. So geht ein deutlicher myotischer Effekt bei
Dystrophia musculorum progressiva parallel mit der verminderten Re¬
aktion der Schweißabsonderung bei scharfer Reaktion seitens der Speichel¬
und Tränendrüsen, in anderen Fällen mit sehr geringen Reaktionen
seitens der anderen Apparate. Zum analogen Schluß kam St. Rueznyak
(1921), welcher die Untersuchung an großem Material durchgeführt
hat (500 Kranke).
Die Wirkung von Pilocarpin auf die quergestreifte Muskulatur wurde
hauptsächlich von zwei Gesichtspunkten studiert: Veränderung der be¬
ständigen Hyperkinesen unter dem Einfluß von Pilocarpin und die Bil¬
dung neuer zeitweiliger Hyperkinesen. Nach einigen Autoren (H . Schaffer
u. a.) erhöhen die parasympathicotropischen Stoffe (zu welchen auch
Pilocarpin gehört) den Tonus der Muskulatur. Bei der Untersuchung
der ersten Frage stellte sich heraus, daß die Hyperkinesen bei extrapyra¬
midalen Störungen, wie auch Hyperkinesen, welche gleichzeitig auch
Pyramidensymptome haben, keine Veränderungen der unwillkürlichen
Bewegungen nach Pilocarpin zeigten. In einem Falle bemerkte man
eine Verminderung der Hyperkinese während 15—35 Minuten nach
der Injektion (Hemihyperkinesis rhythmica sinistra), aber die Er¬
gänzungsuntersuchungen mittels Aufstellung von Miogrammen zeigten,
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCTII. 26
392
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
daß die Kurve nach Pilocarpin dieselben Striche und Perioden hat, wie
auch die Kurve vor der Injektion 1 ).
Charakteristischer für die Wirkung von Pilocarpin erscheint die
Bildung verschiedener zeitweiliger Hyperkinesen, gewöhnlich in Form
von Zittern der Extremitäten, seltener der Zunge, des unteren Kiefers,
des Rumpfes. Ein ähnliches Zittern beobachtete man bei 20% (bei
Gesunden seltener). Es erschien als leichter Tremor auf 2—30 Minuten.
Das Zittern verstärkt sich im weiteren, wird von einer breiteren Am-
plitüde, dauert von 5—25 Minuten.
Indem wir die Fälle mit dem ausgesprochenen Tremor nach Pilo¬
carpin betrachten, bemerken wir, daß dieselben meistenteils zu den
Fällen der mittleren Reaktion seitens der anderen Endapparate gehören.
Es gibt aber auch eine Anzahl von Fällen, wo solch ein Zittern mit ver¬
schiedenen Reaktionen anderer Apparate zusammentrifft. So ist bei
der schwachen Schweißabsonderungsreaktion oder ihrem vollständigen
Wegbleiben und der mittleren Speichel- und Tränenabsonderungs¬
reaktion ein Tremor der unteren Extremitäten vorhanden, oder bei reich¬
licher Schweißabsonderungsreaktion und fehlender Speichel- und Trä¬
nenabsonderung ist ein ausgesprochener Tremor der Extremitäten und
des Rumpfes vorhanden.
Seitens Mm. erectores pilorum war in einem Falle eine scharfe
Cutis anserina bemerkt, ohne Kältegefühl, welche auf 8—15 Minuten
nach der Injektion auf dem Rumpfe und den Extremitäten erschien.
Seitens der anderen Apparate bestand eine mäßige Reaktion.
Seitens des subjektiven Gefühls beobachtete man: das obengenannte
Gefühl der Hitze im Gesicht (auf 4—8 Minuten), seltener in der Brust,
in den Füßen. Bemerkt wurde, daß Parästhesien in den Extremitäten
in der 10. Minute nach der Injektion eintraten und später bis zur 40. Mi¬
nute dauerten. Zuweilen war das Gefühl der Kälte und des Fröstelns vor¬
handen. In einem Falle war Verringerung der Schmerzen bei Neuritis
nach der Injektion von der 7. bis zur 36. Minute vorhanden.
Die objektive Sensibilität war gewöhnlich ohne besondere Verän¬
derung nach Pilocarpin. Bei 10% bemerkte man eine Besserung im all¬
gemeinen Zustande, ein Gefühl der Frische im Kopfe. Es ist notwendig
zu bemerken, daß in einigen Fällen, wie z. B. in den obengenannten,
die ausgesprochene Besserung des Zustandes parallel mit der jedoch
ausgesprochenen Pilocarpinreaktion der anderen Apparate ging. Ander¬
seits bemerkte man einige Verschlechterung des allgemeinen Zustandes
in der Form von Schwere des Kopfes, leichte Kopfschmerzen, Kopf¬
schwindel, allgemeine Schwäche. Die Erscheinungen treten von der
5. bis 45. Minute nach der Injektion ein.
1 ) J . J . Russetzky , Ein Fall von rhythmischer Hyperkinese. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psychiatrie 89, H. 1/3.
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen. 393
Man muß aber auch die Tatsache vermerken, daß auch der ungünstige
Pilocarpineffekt, welcher sich in der Verschlechterung des allgemeinen
Zustandes ausspricht, in einigen Fällen mit ausgesprochener Reaktion
anderer Apparate verbunden ist, im besonderen der Vasomotoren.
In anderen Fällen ist er mit in einer Art „Mosaikreaktion“ verbunden.
So beobachtete man diesen Effekt bei schwacher Schweißabsonderung,
aber ausgesprochener Speichelabsonderung und vasomotorischer Re¬
aktion. Außerdem bemerkte man in den drei Fällen Übelkeit, welche
gewöhnlich im Laufe der ersten 5 Minuten nach der Injektion eintrat.
Alle die so genannten Fälle verliefen mit einer ausgesprochenen Gefä߬
reaktion auf Pilocarpin (Gesichtshyperämie usw.) und anderen ein wenig
geschwächten Reaktionen (schwache Schweißabsonderung). Dieses
gibt die Möglichkeit, die Verschlechterung des allgemeinen Zustandes
(Kopf sch windel, Kopfschmerz, Übelkeit) auf Veränderungen der Blut¬
verteilung des Gehirns zuzuschreiben. Es sind natürlich auch an¬
aphylaktische Erscheinungen möglich.
VII. Folgerungen.
1. Indem wir die erhaltenen Angaben systematisieren, stellen wir
folgende Tabelle auf:
Effekt nach der Pilocarpin-
Injektion
,i
j Anfang der
j| Wirkung
Maximum der
Wirkung
Beendigung der
Wirkung
Dauer der Wir¬
kung
Pulsbeschleunigung....
Ij 1 Min.
10 Min.
53 Min.
52 Min.
Atembeschleunigung . . .
|l 3 ,y
16
»»
29 „
26 „
Gesichtshyperämie ....
|l 6 y,
7
»>
25 „
19 „
Sinken des Blutdruckes. .
7
j 8 -
27
M
über 1 St.
über 1 St.
Speichelabsonderung . . .
16
M
60 Min.
52 Min.
Schweißabsonderung . . .
Erscheinen des verschwun¬
J! 10 „
1
1
22
; 65 „
55 „
denen Dermographismus
11 ”
22
42 „
31 „
Tränenabsonderung . . .
II 18 „
21
M
31 „
13 „
Mit anderen Worten: als erster und anhaltendster Effekt nach Pilo¬
carpin erscheint die Reaktion seitens des Gefäßsystems (Blutdruck,
Puls). Die Erscheinungen seitens der Drüsen treten nach ihnen auf und
erscheinen weniger langwierig.
2. Die Wirkung von Pilocarpin zeigt sich in der Erregung der vege¬
tativen Apparate. Pilocarpin besitzt außer den „parasympathico-
tropischen“ Eigenschaften auch „sympathicotropische“. Außer dem
Effekt seitens der Speichel und Tränenabsonderung gibt es auch Er¬
scheinungen der Schweißabsonderung (eigentlich sympathisches System).
In allen Fällen ist Tachykardie, welche dem Sinken des Blutdruckes
vorausgeht und augenscheinlich mit Erregung des beschleunigten Herz¬
apparates verbunden ist. In den Beobachtungen der Pilocarpinreak-
26*
394
J. J. Russetzky: Klinische Beobachtungen
tionen bestehen die allerverschiedensten Kombinationen von ausge¬
sprochenem Effekt auf einen Apparat und einen mittleren oder
schwachen oder keinen Effekt auf die anderen Apparate. Solche
Reaktionen können mit Recht Mosaikreaktionen genannt werden, da
sie nicht den vorausgesetzten Antagonismus zweier vegetativer Teile
bilden, sondern nur die elektive Pilocarpinwirkung auf einzelne
Apparate in bestimmten Fällen beweisen. So beobachtete man Polypnoe,
ausgesprochene Myosis bei den allerverschiedensten Reaktionen der
übrigen Apparate. Tremor der Finger und Zittern des Körpers besteht
zusammen mit mittlerer Reaktion anderer Apparate, reichlicher Schweiß
ist mit fehlender Speichel- und Tränenabsonderung verbunden oder
sehr schwacher Schweiß mit mittlerer Speichel- und Tränenabsonderung.
Die allgemeine Verschlechterung des Zustandes beginnt gewöhnlich mit
ausgesprochener Vasoreaktion, von den anderen Reaktionen können
nur einige ausgesprochen sein und andere fehlen, oder alle können
ganz fehlen.
3. Die detaillierte Untersuchung der Pilocarpinreaktion mit ihrer
elektiven Wirkung auf einzelne Apparate erhält eine besondere Bedeu¬
tung bei verschiedenen lokalen Störungen des Nervensystems. Einer¬
seits gestatten sie, eine bestimmte Charakteristik des Zustandes des vege¬
tativen Nervensystems für diese Erkrankungen festzustellen und ander¬
seits einige allgemeine Ergebnisse festzustellen. Zu solchen allgemeinen
Ergebnissen kann man auch die Frage von der vorausgesetzten vege¬
tativen Enthemmung für die Schweißabsonderung bei Störung der
oberen vegetativen Bahnen rechnen. Diese „Enthemmung“ geht
zuweilen parallel mit der Herabsetzung der Schweißabsonderung,
Hyphydrose der gesunden Seite (kompensatorische Verstärkung der
Hemmung).
Diese Erscheinung vermindert sich bei den Störungen des Nerven¬
systems von oben (subcorticale Ganglien, Thalamus) nach unten zu
(Medulla oblongata). In einem Falle gestattete der Pilocarpinversuch
die Beobachtung der vegetativen Kreuzung im Gebiete der Varolischen
Brücke.
4. Die Untersuchung der vegetativen Apparate nach Pilocarpin bei
verschiedenen Erkrankungen des Nervensystems, stellte für einige von
ihnen bestimmte Züge dar, welche sich bei der Durchsicht wiederholten.
Hemiplegia zeigt auf der gelähmten Seite: Verstärkung (Enthemmung)
der Schweißabsonderung und teilweise der Vasomotoren, Ermäßigung
der Speichelabsonderung (weniger als 40,0) und Herabsetzung der
Schweißabsonderung auf der gesunden Seite. Encephalitis epidemica
mit seiner gesteigerten vegetativen Funktion gibt nach Pilocarpin eine
gesteigerte Speichel- und Tränenabsonderung, eine scharfe Hauthyper¬
ämie und zu gleicher Zeit eine starke Herabsetzung der Schweißab-
über die Wirkung von Pilocarpin bei Nervenerkrankungen. 395
sonderung. Tabes dorsalis zeigte eine Herabsetzung oder ein Aufhören
der Schweißabsonderung. Progressive Muskelatrophie bot Herab¬
setzung der Schweißabsonderung (weniger als bei Enceph. epid.), scharfe
Myosis, Speichel- und Tränenabsonderung, Gefäßreaktion und Verschlech¬
terung des allgemeinen Zustandes und Übelkeit. Neurasthenia gab
mittlere Schweißabsonderung bei ausgesprochener Speichelabsonderung
und Gefäßreaktion.
5. Bei der Untersuchung wurde eine Summierung der Effekte
einzelner Erregungen — mechanischer und chemischer — auf die
Vasomotoren beobachtet. Die mechanische Reizung gibt nach Pilo¬
carpin eine Gefäßreaktion, welche die gewöhnliche Reaktion an Kraft
und Standhaftigkeit bedeutend (4—*5 mal) übersteigt. Die Periode
der Erscheinungen der Summierung stellt Schwankungen der poten¬
tialen Kraft der Gefäßreaktion vor. Sie hat eine bestimmte Dauer
und kann in der Form einer Kurve mit langsamem Sinken bis zur
25. Minute nach der Injektion und folgendem schnellen Sinken dar¬
gestellt werden.
6. Das Material, welches als Grundlage für die oben angeführten
Ergebnisse diente, erscheint als vollkommen genügend, um die besondere
kritische Betrachtung zu den Begriffen Sympathico- und Vagotonie zu
erklären, welche beim Untersucher, besonders beim Neuropathologen,
existieren muß. Das vegetative System stellt eine Summe von Reflex¬
apparaten vor, welche ausgesprochene peripherische Autonomie besitzen
und untereinander durch vegetative Zentren vereinigt sind (Dience-
phalon, Striatum). Infolgedessen, daß die oberen Abschnitte des Gehirns
bei den höheren Säugetieren eine bedeutend größere Anzahl von centro-
petalen Erregungen hatten als die Rückenteile, so ist die erhöhte Toni-
8ierung dieser oberen Abschnitte ganz begreiflich. Deshalb erscheinen
auch die höheren Säugetiere normal vagotonisierter, oder genauer mit
ausgesprochenem Tonus der oberen vegetativen Abschnitte. Es ist ganz
natürlich, daß jeder vegetative Apparat seinen eigenen tonischen Re¬
flexbogen hat, welcher potential durch die Summe seiner centropetalen
Erregungen bestimmt wird. Der Tonus des vegetativen Nervensystems
erscheint als sich beständig verändernd (L. Müller). Solch ein Wechsel
ist auch charakteristisch für die einzelnen vegetativen Apparate. Die
Erklärung der Erscheinungen besteht wahrscheinlich im Mechanismus,
hervorgehoben von Prof. I. P. Pawloff , für die höhere nervöse Tätig¬
keit, und nämlich: die Richtung des nervösen Prozesses wird durch
ihre Intensivität bestimmt und durch die Bedingungen der Irradiation
und Konzentration. Die Intensivität des nervösen Prozesses für ein¬
zelne vegetative Apparate wird sich beständig verändern, abhängig
von den vorkommenden Reizungen und Veränderungen der äußeren
Bedingungen.
396 J* J- Russetzky: Klinische Beobachtungen über die Wirkung von Pilocarpin.
Jenes bunte Mosaikbild, welches sich bei systematischen Studien
der Fälle ergibt, kann vom Standpunkt der Theorie der Vago- und Sym-
pathicotonie nicht erklärt werden. Es erklärt sich entweder durch to¬
pische Bedingungen der Störungen des vegetativen Systems oder durch
Störung der koordinierenden vegetativen Zentren, welche verschieden¬
artige Kombinationen schaffen können, oder endlich durch die Stö¬
rungen der Funktion der Endapparate, welche besonders gegenüber
den physikochemischen Prozessen im Organismus empfindlich sind.
Bei Erklärung dieser Tatsachen muß man auch in Betracht ziehen die
corticalen und striären Reaktionstypen (Lewy), welche die Ausar¬
beitung der Grundsätze erleichtern.
Die Simultanagnosie — Störung der Oesamtauffassung.
Von
Dr. I. Wolpert.
(Aus dem Sanatorium Schlachtensee in Berlin-Schlachtensee.)
Mit 1 Textabbildung.
(Eingegangen am 20. Juni 1924.)
In seinem Aufsatz „Zum Stande der Aphasiefrage“ (Neurol. Zentralbl.
1909) schreibt Liepmann : „Die ganze Arbeit der Aphasieforscher seit
60 Jahren besteht darin, die „Intelligenz“ zu analysieren und sie auf
Verbindung von Elementen zurückzuführen, derart, daß dieser psy¬
chische Komplex zu dem, was wir über Bau und Verrichtung der ner¬
vösen Substanz wissen, oder wahrscheinlich gemacht haben, in Beziehung
gesetzt werden kann.“ Ich glaube, in dieser Arbeit einen Beitrag zur
Analyse des Begriffs „Intelligenz“ bringen zu können, indem ich auf
eine Störung hinweise, die man bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht
für eine Störung der Intelligenz schlechtweg (beginnende Demenz) hätte
halten können, die aber dadurch, daß sie nur ein Sinnesgebiet (das op¬
tische) betraf, auf eine Störung der Onosie zurückgeführt werden konnte.
Der Patient 1 ), bei dem ich diese Störungen beobachtete, war ein 56 Jahre
alter Kaufmann, der am 16. VI. 1923 zu mir ins Sanatorium kam. Er stammt aus
Polen und lebt seit einigen Jahren in Kopenhagen. Patient hat ein russisches Gym¬
nasium bis zur Tertia besucht und es aus wirtschaftlichen Gründen verlassen müssen.
Er spricht polnisch, russisch, deutsch und dänisch.
In der Jugend und im späteren Alter war er nie ernstlich krank. Er war kräftig
und auffallend dick. Er ist verheiratet und hat 2 Söhne. Lues wird negiert.
Seit 3—4 Jahren ist er nierenleidend, seit etwa 2 Jahren hat er Asthmaanfälle.
Er hat in der letzten Zeit viel an Gewicht verloren und klagt über mehrere Asthma -
anfälle täglich, die er mit Glycirenaninhalationen und Asthmolysininjektionen
bekämpft.
Die Untersuchung ergab folgenden Befund:
Mittelgroßer Mann in etwas reduziertem, aber immerhin noch recht gutem
Ernährungszustände. Mäßige Struma. Tonnenförmiger Brustkorb.
Lungen: Die untere Grenze reicht bis zum 1. Lendenwirbel; tympanitischer
Klopfschall. Brummen und Giemen beiderseits.
Herz: Nach rechts und links vergrößert. Töne leise, Puls: 52 in der Minute,
regelmäßig. Blutdruck: R. R. 140.
1 ) Ich habe ihn am 10. XII. 1923 in der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie
und Nervenkrankheiten demonstriert.
398
I. Wolpert:
Bauch etwas aufgetrieben, sonst o. B.
ödem der Füße.
Nervensystem: Pupillenreaktion vorhanden. Augenbewegungcn frei. Facialis,
Hypoglossus o. B.
Kniephänomene, Achillessehnenreflexe vorhanden. Kein Babinski.
Urin: Albumen vorhanden, l°/oo* Kein Saccharum.
In der ersten Zeit hatte der Patient mehrmals täglich Asthmaanfälle; er
bekam 3—4 Asthmolysininjektionen täglich und inhalierte Glycirenan. Allmähli ch
besserte sich sein Zustand, er verzichtete auf Asthmolysin, und während er in der
ersten Zeit zum Zerstäuben des Glycirenans zuweilen 2 Bomben Sauerstoff täglich
verbrauchte, kam er mit einer Bombe in 3 Tagen aus. Die Eiweißmenge im Urin
ging auf O^/qo und weniger zurück.
Am 22. X. 1923, um V 2 9 Uhr abends, fiel Patient dem Heizer, der zufällig
in seiAem Zimmer war, durch „wirres“ Reden und durch Vorbeigreifen auf. Er
ließ ein Glas, statt es auf den Tisch zu stellen, auf den Fußboden fallen. Als die
vom Heizer hergeholte Schwester kam, fand sie den Kranken bewußtlos auf dem
Fußboden liegen. Das Geeicht war cyanotisch, am Mund war Schaum, die Extremi¬
täten zuckten, die Pupillen reagierten nicht auf Licht. Nach einer halben Stunde
kam er zu sich, war leicht benommen, fiel aber sonst nicht auf. Lähmungen be¬
standen nicht.
Am 25. X., 7,7 Uhr früh, Anfall schwerer Atemnot mit Bewußtseins¬
trübung. Den ganzen Vormittag blieb Patient benommen.
Um 2 Uhr plötzlich Krampfanfall, der von mir beobachtet wurde. Völlige
Bewußtlosigkeit. Cyanose des Gesichts, Schaum vor dem Munde, Dauerkrampf
der rechtsseitigen Gesichtsmuskulatur. Die klonischen Zuckungen befielen zuerst
die rechtsseitigen Extremitäten, dann stellten sich schwächere Zuckungen auch
links ein. Urinabgang. Die Pupillen waren sehr weit und reagierten nicht auf
Lichteinfall. Es bestanden keine Lähmungserscheinungen. Kein Babinski.
Patient blieb noch einige Stunden nach dem Anfall verwirrt. Er erkannte
weder den Arzt noch die Schwester, er schimpfte in polnischer Sprache, wollte
auf stehen und gehen. Nach einem Aderlaß (300 ccm) kam er zu sich und erkannte
wieder seine Umgebung. In den folgenden Tagen fiel es auf, daß Patient beim
Sprechen auf manche Worte nicht kommt, daß er zwischendurch dänische und pol¬
nische Worte gebraucht, und daß seine Merkfähigkeit beeinträchtigt ist. Ferner
klagte er selbst über eine Sehstörung, insbesondere über die Unfähigkeit zu lesen.
Die nach dem 2. Krampfanfall bis zu seiner Entlassung am 26.1. 1924 wieder¬
holt vorgenommenen körperlichen Untersuchungen ergaben:
Pupillenreaktion vorhanden, Augenbewegungen frei. Ophthalmoskopischer
Befund normal.
Visus: Beiderseits S = 4 /joJ — 2,5 D = h j ltb .
Gesichtsfeld: In der ersten Zeit konnte wegen mangelhafter Aufmerksamkeit
eine genaue Prüfung nicht vorgenommen werden. Eine oberflächliche Prüfung
ergab aber, daß eine Hemianopsie nicht bestand. Die am 29. XI. 1923 vor¬
genommene Prüfung am Perimeter ergab eine mäßige konzentrische Einengung
des Gesichtsfeldes. Bei zentrifugaler Prüfung war die Einengung geringer als bei
zentripetaler; sie betrug bei zentripetaler Prüfung höchstens 15°. Die späteren
Untersuchungen bestätigten diesen Befund. Es bestand keine perimakuläre
Amblyopie.
Die Farbenempfindung war die ganze Zeit nicht gestört.
Keine Spasmen an den Extremitäten. Keine Paresen. Reflexe der oberen
Extremitäten vorhanden. Kniephänomene, Achillessehnenreflexe vorhanden,
r. — 1. Zehen beiderseits plantar.
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 399
Keine Sensibilitätsstörung. Keine Ataxie. Keine Astereognoeis. Keine
Apraxie. '
Es bestand eine erhebliche Störung des Gedächtnisses für Namen und Zahlen
und der Merkfähigkeit , die sich in den folgenden Monaten besserte, aber bis zur
Entlassung des Patienten vorhanden blieb. So konnte er am 28. X. nicht sagen,
wo er sich befinde, er wußte angeblich nicht, wie die Anstalt heiße, wem sie gehöre
usw. Er versuchte den Arzt mit allgemeinen Redensarten abzufertigen, wie: „Ich
habe mich niemals darum gekümmert“ oder „Diese Frage hat mich niemals
interessiert“. Auf die Frage: „In welcher Stadt sind Sie jetzt?“ antwortete er
erst nach längerem Zögern: „In Berlin.“ Er war nicht imstande, das Datum zu
nennen, wußte nicht wann er geboren war, wie alt er sei, wann er geheiratet
habe. Dabei versuchte er, diese Gedächtnislücken als etwas durchaus nicht Un¬
gewöhnliches darzustellen. Er behauptete, das niemals gewußt zu haben. Er
habe sich um solche Bagatellen nie gekümmert. Vorgesprochene einfache Wörter
und 38tellige Zahlen vergaß er sofort wieder.
Am 31. X. wußte er, daß er sich im Sanatorium in Schlachtensee befinde.
Die Straße und Hausnummer wußte er dagegen nicht. Die Merkfähigkeit war
unverändert schlecht.
Anfang Januar 1924 gab er richtig den Ort und die Straße an, die Hausnummer
dagegen nicht. Tag und Monat des Datums wußte er, dagegen konnte er niemals
das Jahr richtig angeben. Gewöhnlich antwortete er auf die entsprechende Frage
mit „1905“ oder auch „1915“, „1919“. Sagte man ihm das Jahr, so hatte er es
nach einigen Minuten wieder vergessen. Die Merkfähigkeit war aber insofern
besser, als er 4- und 5stellige Zahlen einige Minuten nicht vergaß.
Für Ereignisse war sein Gedächtnis gut, er erinnerte sich während der
zwanglosen Unterhaltung der verschiedensten Kleinigkeiten aus seinem Leben
oder aus der Geschichte und Politik, er versagte aber vollständig, sobald er nach
dem Datum resp. nach dem Jahr des Ereignisses gefragt wurde.
Sprache .
Es bestand keine Störung der Artikulation.
Das Sprachverständnis erwies sich stets als einwandfrei.
Beim Spontansprechen fiel Wortarmut auf und das Bestreben, fehlende
deutsche Worte durch russische, polnische, dänische oder gar durch Mimik und
Gebärden zu ersetzen. Der Satzbau hatte nicht gelitten, so daß bei oberflächlicher
Prüfung und gewöhnlicher Unterhaltung die Störung gar nicht auffiel. Man hätte
höchstens sagen können, es handle sich um einen Ausländer, dem deutsche Worte
zuweilen fehlen.
Das Nachsprechen war einwandfrei.
Reihensprechen. 31. X.: Wochentage, Monate vorwärts schnell und fehlerfrei,
rückwärts überhaupt nicht möglich. Zahlen rückwärts langsam aber richtig.
6. XI.: auch rückwärts richtig, aber langsam.
Erkennen von Gegenständen und Abbildungen.
Vorgelegte Gegenstände und Abbildungen einzelner Gegenstände wurden
erkannt, aber häufig nicht benannt. Sehr oft wrurden polnische oder dänische
Benennungen statt der vergessenen deutschen gebraucht. Zuweilen Paraphasien.
Protokoll vom 31. X.:
Trichter: „Liek (polnisch: Lejek) . . . Tericht. Zum Eingießen was.“
Ball: „Ich kann mich nicht erinnern wie es heißt, aber ich weiß es.“
Gießkanne: „Ich weiß was es ist. Zum Streichen . . . Zum Gießen, Begießen . . .
Man begießt im Sommer.“
L Woldert
Am fl. Xi; nannte ex <ii«pr^u.*fo4 &$& BrifU Kotier?*».
. Ai« 27. XI. benannte er richtig folgende Gugensf ände* Bleistift. Knüpf, NatfH,
Soltlüsseh ;Stwdihal2, Pttpiemi^^! (h&fch 'Jfe'i3!tiijißt«nnaÖ,
‘LjjneaJ„-' < rint«nfftß. Tinte, Federhahm; ; 3'diacbtftL Kalender, Aaehheete. Kanne,
Flasche,
PerkuM^KniRhananorr , ; Idli weift praa e« ist; ln Gedanken, aber ich kann 9?
nicht ifeHiteri. Bei Gott, ich wfÜ <& nicht. Sagen See m mit. Ich hin reihst neu
gierig. (Auf tte Gnnmii dm : H&nii'iicc> zeigend;.) Daa ist Omnim.“
Ich sage vor; ..Ein .'Ha i . „Bin Hammer.* *'.
Heitpflü^tcrt ,, Zu bi Herau Beleben auf Finger ' .. ich hätte ea Ihnen mit
Vergnügen aber ich weiß'nicht'. ... (Nach inner Mumie:) Pflaster ’*
'fienemien von Abbildungen einzelnerOec enstä nde; Löffel, Trompete, pcitaohe,
Stucke Cabei, Mowr. Zange. Schere. H4 ^bI?^ riöhtjg,
^ Essig ' u?w\. vargeiegr Volk..
Abu. i. Er glaubte stu wichst,
Glocke vor »ich wixabrsi, 1%#
eist nachdem das vgrpoUvji würde, erkannt^ er dfo Abbildurig und *»jm* au *
ivi^isc lit. $ ^Sömiok" (richtig)
Im Id'ircneuis zu dm löaf »ünwfimlfivfoa Erkennen der AbbsJdüngcu ein¬
zelner Cicgma.f ändc hcGaud-da« LdxVermögen, emc Abbildung m erkennen, die eine
tiatidluvti darskilt. Der Jtoiuu mh nur da- i>t : U.iU, die er aber rucht zusammen
fa,wn konnte ihm wuru.-r-. J&wGjiJ.f- Haider yniwh^L und <‘r wunie dabei
üa^t wa> sie &MeJlen.
31; X.; Ein Hirtenknabe^^iijelräitf^tner &balmci: Vor ihm Eh teil - P&tieni
zeigt aut die Entau und den Jungen und &S&ii ,.I>as M eine Ente, das ist ooch viru
EtU*\ t»*,* ist ein Junge/* tW&ä maßht der Junge r) „Er liegt.“ (Was sei- de;-
du'uui: da?) Schweifen.
McX I.: 3>tm t’atieuüm wird Üit* Ansicht eifcei J .Straße von Kopenhagen vorgelftiL
die ct als Einxvnfincj- Ku^.nbag^?öa kennen muü. Auf die Frage, was dieses Bild
dar$rtid!<\ zeigt er auf einem >Iuiid„ dw Uber /iie Stmlk- läuft, und sagt: „J&3 M
eihHunri/'
Jti, X-t.: Bild- aus der Binrh Bohertagbflieü InteÜigenzprüfungs^amroLuwg:
(Siehe Abhildime.)
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung.
401
„Der Junge wird an den Haaren gerissen.“
(Warum?) „Wahrscheinlich hat er ein Geheimnis verraten.“
(Wie kommen Sie darauf?) (Zeigt auf den Jungen, der sich versteckt:) „Weil
er da horcht.“
(Aber das ist doch ein anderer Junge.) „Ja, das ist ein anderer Junge.“
(Warum wird denn der erste an den Haaren gerissen?) „Ich weiß nicht,
ich habe niemals für solche Sachen Interesse gehabt.“
Es wird Pat. ein Bild aus dem „Ulk“ gezeigt, das eine Menschenreihe vor einem
Postschalter darstellt.
(Was stellt dieses Bild dar?) „Figuren.“
(Was für Figuren?) „Na, Kinder, ein dicker Mann, eine Frau. Spielfiguren
wahrscheinlich/ ‘
(Warum stehen die Figuren da?) „Weil sie hingestellt sind. Das sieht aus
wie ein Schüler . .. wie ein dicker Mann. .. wie eine Frau .. . was weiß ich.“
(Was hat dieser Junge in der Hand?) „Dieser Junge in der Hand ... ein
Kuvert ... der hat auch ein Kuvert ... (zögernd:) auf der Post . .. nein?“
Die Bilder wurden Pat. wiederholt vorgelegt. Man erhielt immer ähnliche
Antworten. Einzelne Details wurden erkannt, das Ganze, die Handlung aber nicht
erfaßt.
Ein einfaches Bild, das einen Hafen darstellt, wurde in 8 Teile zerrissen.
Pat. wurde aufgefordert, das Bild wieder richtig zusammenzusetzen, dabei ver¬
sagte er vollständig. Er brachte nichtkorrespondierende Teile aneinander, merkte
das, versuchte es noch einmal, das gelang ihm aber wieder nicht, er wurde müde
und bat, man möchte ihm die Aufgabe erlassen.
Das Erkennen von Spielkarten. Eine am 6. XI. vorgenommene Untersuchung
ergab, daß er einzelne Spielkarten ohne Ausnahme erkannte. Sollte er die Karten
nach ihrem Wert ordnen, so war er nur dann imstande, die Aufgabe auszuführen,
wenn er die Karten auf den Tisch legte und die Kartenbenennungen laut vor¬
sprach. Er sagte: „As . .. König ... Dame .. .“ und nahm die entsprechende
Karte. Dagegen versagte er, wenn man ihm die Karten in die Hand gab und ihm
das Vorsprechen nicht erlaubte. Er hielt die Karten in der linken Hand, nahm
dann mit der rechten Hand irgendeine Karte heraus, hielt sie ratlos und steckte
sie dann wieder zu den anderen Karten in die linke Hand. Dieses Spiel wiederholte
sich ein paarmal, ohne daß das gewünschte Resultat erzielt wurde. Schließlich
sagte er: „Mir schwindelt.“ Obwohl Pat. leidenschaftlicher Pokerspieler war, war
er jetzt nicht mehr imstande, die verschiedenen Pokerkombinationen zu erkennen.
Am 11. XI. war übrigens diese Störung nicht mehr nachweisbar, er erkannte,
wenn auch sehr langsam, die Pokerkombinationen, er konnte auch die Karten
sortieren ohne sie laut zu benennen.
Lesen.
Schon am 25. X., sofort nach dem 2. Anfall, fiel es auf, daß Pat. nicht lesen
kann. Er erhielt einen Brief von seiner Frau und bat, man möchte ihm den Brief
vorlesen. Am 28. X. wurde die erste genauere Untersuchung vorgenommen,
und sie ergab, daß Pat. jeden Buchstaben erkannte. Zuweilen kamen allerdings
Verwechslungen vor, er hielt z. B. ein deutsches h für ein deutsches b, deutsches r
für ein deutsches c, ein deutsches B für ein deutsches V. Sah er sich die Buchstaben
genauer an, so erkannte er sie und korrigierte seinen Fehler. Einen zusammen¬
hängenden Text behauptete er nicht lesen zu können, dabei fragte er erregt: „Sagen
Sie, was ist mit mir los? Bin ich blind? Ich kann nicht lesen.“ Es stellte sich aber
heraus, daß er auch einen zusammenhängenden Text lesen konnte, allerdings sehr
langsam, buchstabierend , wenn man ihn dazu zwang. Er mußte mit seinem Finger
das Wort fixieren, sonst verlor er es. Hatte er die Hälfte des Wortes buchstabierend
402
I. Wolpert:
richtig gelesen, versuchte er, weiter zu erraten. War aber Pat. mit dem Prozeß
des Lesens fertig, so faßte er das Gelesene richtig auf. Am 2. XI. wurde ihm ein
Zettel vorgelegt, auf dem die Frage geschrieben stand: „Können Hunde fliegen?“
Es vergingen 2 Minuten bis er mit dem Lesen fertig war, dann sah er den Arzt an,
lächelte und machte eine Handbewegung, als ob er sagen wollte: „Wozu der
Unsinn?“ Geschriebene Witze verstand er, sobald er sie gelesen hatte. Gelegent¬
lich machte er eine Bemerkung wie „Fauler Witz“ o. dgl.
Am 31. X. fiel bei der Prüfung des Lesens folgendes auf: Gab man dem Pat.
eine Zeitung mit der Aufforderung, sie zu lesen, so las er plötzlich irgendein Wort,
das durch Sperrdruck oder Fettdruck oder aus irgendeinem anderen Grunde seine
Aufmerksamkeit fesselte, richtig, zuweilen aber mit einer anderen Endigung, so
statt Verantwortlichkeit Verantwortung. Unter dem Zwang des Arztes las er
buchstabierend, mühselig, langsam, aber bis auf kleine Fehler, die er selbst korri¬
gierte, richtig. Sobald er etwas schneller zu lesen begann, häuften sich die Fehler;
ließ der Zwang des Untersuchers nach, so begann ein regelloses Lesen mit Auslassen
von Wörtern, Überspringen von Zeilen, Verwechslungen der Endigungen, oder der
Pat. erklärte, überhaupt nicht lesen zu können. An einem Beispiel will ich zeigen,
wie er am 19. XI. frei las. Es handelte sich um eine Zeitungsnotiz aus dem Berliner
Tageblatt (deutsche Schrift), die folgendermaßen lautete:
„Ein abgelehntes Mißtrauensvotum. Auch die Auflösung des sächsischen
Landtags abgelehnt. Der sächsische Landtag stimmte in seiner heutigen Sitzung
zunächst über den kommunistischen Antrag, der Regierung ein Mißtrauensvotum
auszusprechen, ab. Dafür waren Deutsche Volkspartei, Deutschnationale und
Kommunisten, dagegen Sozialdemokraten und Demokraten. Der Antrag verfiel
mit 48 zu 48 Stimmen der Ablehnung. “
Pat. las: „Ein . . . ein ab . . . lehnendes Mißtrauvotum ... ja, Mißtrauvotum —
Auflösung des sächsischen Landtag, Landtag ablehn. Auch Auflösung des säch¬
sischen Landtages, Land. (Hier wird Pat. unterbrochen, er soll das Wort abgelehnt
lesen.) La, was ist denn das? Lein oder Beanlehnung (Arzt: So ein Wort gibt es
doch nicht.) Nein, ich sehe nicht so gut, Landtagsablehnung. Der sächsische
Landtag nimmt an für heute, für heute, heutige Sitzung zunächst, zunächst
komm .. . kommunistische (Arzt: Sie haben hier einige Worte nicht gelesen.)
Ja, ich sehe noch nicht so gut, der sächsische Landtag nimmt an, an, an die heutige
Sitzung zunächst über den Kommunisten, Kommunisten .. . über Antrag, Antrag
ab (Hier ist Pat. eine Zeile tiefer gerutscht. Er wird darauf aufmerksam gemacht
und fängt wieder von vorne an.) Der sächsische Landtag an die heutige Sitzung
zunächst Kommunisten Antrag ... in der heutigen der Regierung .. . ein Mi߬
trauensvotum ab . .. abzurechnen ... aber dafür ... dafür .. . dafür . .. waren
deutsche Volks . . . Volkspartei, Deutschnationale .. . Komm ... Kommunisten_
da, Kommunisten da weg . . . Sozial.. . Sozialdemokraten,, hier steht Sozial¬
demokraten, kommt noch einmal Demokraten .. . Sozialdemokraten und Demo¬
kraten (Hier bricht Pat. ab, spricht einige Worte, findet dann nicht mehr die Stelle
um weiterzulesen, fragt: Wo bin ich eigentlich? Nach längerem Suchen findet
er die Stelle wieder.) Sozialdemokraten ... und Demokraten ... dem Antrag fiel
480 Stimmen ab und . . . ich sehe nicht mehr, es schwindelt mir.
Obwohl diese Leseprobe im Vergleich mit den ersten Leseübungen des Pat.
einen Fortschritt bedeutete, so waren immerhin die Fehler so zahlreich, daß von
einem sinnvollen Lesen nicht die Rede sein konnte. Pat. las mühsam, stockte
oft, ließ manche Worte aus, wiederholte andererseits ein bereits gelesenes Wort
ein paarmal, als ob er Zeit zur Besinnung auf das folgende gewannen wollte. Er
ließ ganze Zeilen aus und konnte, wenn er abgelenkt wurde, die Fortsetzung nicht
finden. Wiederholt kamen Kürzungen vor: Auslassen von Silben, z. B. Mißtrau-
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 403
votum statt Mißtrauensvotum, Weglassen bzw. Änderung der Endigung, z. B.
Kommunisten statt kommunistischen, auch grammatikalische Fehler, Zufügungen,
ablehnendes statt abgelehntes, aber statt ab. Ferner kamen Verwechslungen vor,
z. B. nimmt an statt stimmte in, daweg statt dagegen, abzurechnen statt aus¬
zusprechen . Es kam auch zu sinnlosen Wortbildungen wie Beanlehnung, Land¬
tagsablehnung.
Am 5. XII. 1923 las er anfangs fließend, ermüdete aber bald und machte
folgende Fehler: Kulturminister statt Kultusminister, Kirchenfassung statt
Kirchenverfassung, vom statt vor. Worte wie „die“, „in“ wurden häufig aus¬
gelassen. Las er langsam, mit dem Finger führend, so wurden die Fehler seltener.
Sagte man ihm, daß er einen Fehler gemacht hat, so konnte er ihn stets korrigieren.
Wurde er unterbrochen, so fand er die Stelle, an der er unterbrochen wurde
nicht mehr.
Die Lesefähigkeit besserte sich allmählich, indem die Fehler seltener wurden
und das Lesen schneller vor sich ging.
Das stumme Lesen verhielt sich genau so wie das laute.
Zahlenlesen .
Jede einzelne Ziffer wurde stets erkannt, bei 2- und 3stelligen Zahlen machte
er oft Fehler, 4stelüge und größere Zahlen wurden nicht richtig gelesen.
5. XII.: 2724 „zweiundsiebzigvierund . . .“ 634 718 hilfloses Raten, obwohl
jede einzelne Ziffer dieser Zahl erkannt wurde. Während der Demonstration in
der Berliner Ges. f. Psych. u. Nerv, am 10. XII. hat Pat. zum erstenmal eine
Oste lüge Zahl richtig gelesen.
Schreiben .
Beim Schreiben fiel zunächst die Störung der Linienführung auf. Sie ging
soweit, daß Pat. eine Zeile in die andere hineinschrieb. Auf die Frage warum er
so schreibe, antwortete er: „Das ist schon Gewohnheit.“ Ein Vergleich mit vor der
Krankheit Geschriebenem bewies aber, daß die Antwort eine Ausrede war. Er
vergaß Umlautzeichen, schrieb stafct schönes schönes, schrieb manche Buchstaben
doppelt, Mooritzplatz, er schrieb spazireren statt spazieren, Samatorium statt
Sanatorium. Derartige Fehler hat er vor seiner Erkrankung nie gemacht. Interes¬
sant ist ein Fehler, den er am 28. X., also 3 Tage nach dem 2. Anfall, machte,
er schrieb statt 28 (achtundzwanzig) 820 (achtäunderfzwanzig).
Zeichnen.
Beim Zeichnen einfacher geometrischer Figuren, wie Dreieck, Quadrat, Kreuz,
Kreis, war die Form im ganzen richtig, aber nicht exakt gezeichnet. Er setzte ein
paarmal an, perseverierte: nachdem er einen Kreis und ein Quadrat gezeichnet
hatte, sollte er ein Kreuz zeichnen, er zeichnete einen Kreis, dann ein Quadrat, das
zum Teil in den Kreis hineinragte, fing dann wieder an, ein Quadrat zu zeichnen,
rang sich aber schließlich doch zum Kreuz durch.
Kompliziertere Figuren, wie einen Menschen, ein Pferd, konnte er gar nicht
zeichnen. Er machte einige Striche, die nicht mal eine entfernte ÄhnÜchkeit mit
dem Objekt hatten. Pat. behauptete, daß er nie hat zeichnen können. Diese
Angabe ließ sich nicht nachprüfen.
Das Gehör .
Das Gehör des Pat. war ungestört. Vorgesungene und vorgepfiffene Melodien
wurden, soweit Pat. sie kannte, prompt erkannt.
404
I. Wolpert:
Orientierung.
Bemerkenswert war eine Störung der räumlichen Orientierung, die sich zeigte,
als Pat. am 4. XI. zum erstenmal sein Zimmer verließ. Statt in den Gesellschafts¬
raum zu gehen, ging er in das benachbarte Untersuchungszimmer. Im Unter¬
suchungszimmer merkte er, daß er sich geirrt hatte. Er wollte in den Garten gehen,
und obwohl er das Haus und den Garten schon seit Monaten kannte, fand er nicht
die Tür, die in den Garten führte. Die Tür wurde ihm gezeigt. Er ging einige
Schritte, blieb unschlüssig stehen, verhielt sich wie ein Mensch, der sich zum ersten¬
mal an einem fremden Ort befindet. Am nächsten Tag setzte er sich während
des Mittagessens auf einen falschen Platz der gemeinsamen Tafel, seinen Platz
konnte er nicht finden, obwohl er daneben war.
Intelligenz.
Wiederholte stundenlange Unterhaltungen ergaben keine Spur einer all¬
gemeinen Intelligenzstörung. Witze wurden, wie schon erwähnt, verstanden, und
falls sie nicht gerade geistreich waren, abfällig beurteilt. Am 2. XI. sollte Pat.
aus den Wörtern Matrose, Meer, Tod und Bauer, Stadt, Milch 2 Sätze bilden. Die
Aufgabe wurde prompt gelöst; er sagte: „Der Matrose findet im Meer den Tod“
und „Der Bauer bringt seine Milch in die Stadt“. Unterschiedsfragen wurden
richtig beantwortet.
Weiterer Verlauf.
Im weiteren Verlauf stellte sich eine Verschlechterung des körperlichen Be¬
findens ein. Die Herztätigkeit wurde unregelmäßig, die Ödeme der Füße nahmen
zu, es stellten sich wieder häufigere Asthmaanfälle ein, der Eiweißgehalt im Urin
stieg auf 4%o.
Am 7. XII. wurde Pat. auf dem Fußboden liegend gefunden. Er war verwirrt,
sprach ganz undeutlich, das Gesicht war cyanotisch. Nach einer halben Stunde
war Pat. wieder klar und erkannte alle. Der Befund am Nervensystem blieb un¬
beeinflußt.
Noch ein Krampfanfall erfolgte am 20.1. 1924, der ebenfalls keinen wesent¬
lichen Einfluß auf den Verlauf hatte. Nur die Merkfähigkeit war wieder etwas
schlechter geworden.
Am 26.1. 1924 verließ Pat. das Sanatorium. Die Sprache war einwandfrei.
Es bestand keine Spur einer amnestischen Aphasie mehr. Die Merkfähigkeit für
Zahlen und Wörter blieb schlecht, war sogar nach dem letzten Krampfanfall
schlechter geworden. Die Gesamthandlung des Binel-Bcberlaq sehen Bildes konnte
er bis zuletzt nicht auffassen. Beim Lesen merkte man zunächst das buch¬
stabierende Lesen nicht mehr, Pat. fing in schnellem Tempo an, ermüdete aber
nachdem er ein oder zwei Sätze gelesen hatte, das Lesen wurde dann allmählich lang¬
samer, die einzelnen Silben wurden skandierend gelesen, schließlich ging er zum
buchstabierenden Lesen über. Er versuchte auch viele Worte aus dem Zusammen¬
hang zu erraten und machte auch die bereits geschilderten Fehler. Eine Orientie¬
rungsstörung bestand nicht mehr.
Fassen wir den Befund des beschriebenen Falles zusammen, so können
wir folgendes feststellen: Es handelte sich um einen Menschen mit
chronischer Bronchitis und Emphysem, einer Myodegeneratio cordis
und einem chronischen Nierenleiden, der plötzlich zwei epileptiforme
Anfälle bekam, und bei dem im Anschluß daran folgende Störungen
nachgewiesen werden konnten: 1. Eine leichte, sich rückbildende am¬
nestische Aphasie, 2. eine Störung des Gedächtnisses und der Merk-
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung.
405
fähigkeit, 3. eine Schreibstörung, 4. eine Zeichenstörung und 5. eine
Störung, die sich zeigte
a) beim Betrachten von Bildern, die eine Handlung darstellten, in
einer Unfähigkeit, das Ganze zu erfassen, während die Details in der
Regel richtig erkannt wurden,
b) beim Lesen, indem Pat. das Wort nicht auf einmal aufnahm,
sondern jeden einzelnen Buchstaben fixieren mußte und sie so zum Worte
sammeln mußte (also buchstabierend las) und zahllose Lesefehler machte,
sobald er versuchte nicht buchstabierend zu lesen,
c) als Störung der räumlichen Orientierung.
Ich nehme an, daß es sich in diesem Fall um eine toxische (urämische ?)
Einwirkung auf das Cerebrum gehandelt hat, will aber näher auf diese
Frage nicht eingehen. Da es keinen Sinn hat, ohne pathologisch-anato¬
mischen Befund Theorien aufzustellen, will ich jede anatomisch¬
physiologische, jede lokalisatorische Erörterung ausschalten. Es kommt
mir vor allen Dingen darauf an, die in unserem Fall beobachtete Störung
des Erkennens, des Lesens und der Orientierung zu analysieren, Be¬
ziehungen zu ähnlichen Störungen aufzudecken und die Stellung dieser
Störung in der Pathologie zu klären. Das Eingehen auf die amnestische
Aphasie, die in diesem Falle an sich nichts Bemerkenswertes darbietet,
auch auf die vielleicht interessante Schreib- und Zeichenstörung muß
ich mir versagen.
Das Gemeinsame, das veranlaßte, die Störung des Erkennens bildlich
dargestellter Handlungen, des Lesens und der räumlichen Orientierung
als eine einheitliche Störung aufzufassen, war die Tatsache, daß stets die
Gesamtauffassung gestört war, daß der Kranke das Ganze nicht auf¬
faßte, während die Details, die Elemente, die das Ganze bildeten, im
wesentlichen erkannt wurden. Es bestand keine Agnosie für einzelne
Gegenstände, nur zweimal konnte Pat. ein Bild nicht sofort erkennen,
indem er einen Kuchennapf für einen Brotkorb und eine Menage für eine
Glocke hielt. Letzteren Fehler hat er aber dann selbst wieder korrigiert.
Sehr deutlich war die Störung bei der Prüfung mit Spielkarten. Als ge¬
übter Kartenspieler, der er war, hätte er beim ersten Blick erkennen
müssen, was für eine Kartenkombination er in der Hand hatte. Er ver¬
sagte aber dabei, obwohl er jede einzelne Karte richtig erkannte. Die¬
selbe Störung zeigte sich auch bei der Unfähigkeit, die einzelnen Teile
eines Bildes zusammenzubringen. Beim Lesen erkannte er die Buch¬
staben (die Elemente), aber nicht das Wort (das Ganze), und er las das
Wort Buchstabe an Buchstabe, Silbe an Silbe anreihend, während der
normale Erwachsene das Wort simultan liest. Versuchte er simultan zu
lesen, so machte er Fehler. Auch die räumliche Orientierung war als
Gesamtleistung gestört, denn die Details wurden immer erkannt.
406
I. Wolpert:
Diese Unfähigkeit, das Ganze simultan zu erfassen bei gutem Er¬
kennen der Details, kann man Störung der Gesamtauffassung oder Simul¬
tanagnosie nennen.
Zunächst müssen wir feststellen, daß es sich bei der, in unserm Fall
optischen, Simultanagnosie um eine selbständige Störung handelt,
die sich nicht auf andere Störungen zurückführen läßt. Es handelt sich
nicht um eine perzeptive Störung, um eine Störung des Sehaktes. Der
klinische Befund schließt diese Möglichkeit aus. Pat. hat eine Myopie,
die mit — 2,5 D. Gläsern auf 3 / 4 Sehschärfe korrigierbar ist. Das Gesichts¬
feld ist eingeengt, die Einengung genügt aber nicht, um die Störung zu
erklären. Es besteht auch keine perimakuläre Amblyopie. Die Farben¬
empfindung ist normal. Die Störung kann auch nicht auf ein Versagen
der Aufmerksamkeit zurückgeführt werden, da die Aufmerksamkeit bei
der Einwirkung akustischer Reize nicht beeinträchtigt war. Wahrend
der Unterhaltung hörte Pat. stets aufmerksam zu. Wenn man auch bei
der Prüfung der optischen Auffassung auf eine Aufmerksamkeitsstörung
stieß, so konnte es sich nur um eine sekundäre gehandelt haben, wie auch
beim normalen Menschen die Aufmerksamkeit nachläßt, wenn ihm Un¬
verständliches oder wenig Verständliches dargeboten wird. Die Auf¬
merksamkeit ließ übrigens nicht nach beim Betrachten der Einzelgegen-
gtände, die er erkannte. Ebensowenig konnte die Störung der Merk¬
fähigkeit zur Erklärung der Simultanagnosie herangezogen werden.
Sonst wäre die Simultanagnosie eher bei sukzessiven (akustischen)
Einwirkungen, z. B. Erzählungen als bei simultanen (optischen) auf¬
gefallen. Auch die Annahme, daß Pat. das Gesehene erfaßte, aber
infolge seiner Wortamnesie seinen Gedanken nicht Ausdruck geben
konnte, muß abgelehnt werden. Man mußte den Gesichtsausdruck und
die lebhaften Gebärden des Kranken gesehen haben, wenn er einen
Gegenstand oder eine Abbildung sah und erkannte, aber nicht benennen
konnte, oder wenn er während der Unterhaltung auf ein Wort nicht kam,
und sie mit dem verständnislosen Blick, mit dem er die bildlich darge¬
stellte Handlung betrachtete, vergleichen, um den Unterschied zu er¬
kennen.
Soweit ich die Literatur übersehe, hat nur Heilbronner 1 ) einen Fall
systematisch beschrieben, bei dem neben anderen Erscheinungen (Rede¬
drang, Ablenkbarkeit, Haftenbleiben, ideenflüchtige Erscheinungen) die
Unfähigkeit bestand, Darstellungen als Ganzes aufzufassen. Es handelte
sich um ein 18 jähriges Mädchen, das an einer eklamptischen Psychose
litt. Dem Mädchen wurde ein Bild vorgelegt, das eine Bauemküche dar¬
stellte. Sie sagte: „Das ist ein Mädchen, eine blaue Schürze hat sie vor
und einen roten Rock, und einen Topf hat sie in der Hand, und Haare
hinten, weiße Strümpfe hat sie an, und etwas Rotes kommt heraus.“
*) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 17.
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 407
Die Pat. ergeht sich noch lange in analogen Detailschilderungen und
ist nicht dazu zu bewegen, zu sagen, was das Ganze darstellt. Ein anderes
Mal beim Betrachten der Abbildung einer Bauernstube sagte sie u. a.:
„Ein Mann, eine Frau und ein Kind, und zwei Bilder, und ein Spinnrad
usw.“ Dagegen konnte die Mehrzahl der vorgelegten Abbildungen von
Einzelgegenständen erkannt werden. Versager kamen allerdings viel
häufiger vor als in unserem Fall und waren gröberer Natur. Beim
Lesen beobachtete Heilbronner zuerst, daß „einzelne Partialvorstellungen
(Buchstabengruppen) bestimmend für das Resultat wurden, das ent¬
sprechend einer wohl allgemeinen Tendenz sich an bekannte Worte an¬
zupassen versuchte,“ später fand er, daß sie auf Partialeindrücke mit
Benennen derselben reagierte: „die Kranke las zuerst von Fremdworten,
dann aber auch von ihr bekannten Worten nur mehr einzelne Buch¬
staben“ Was die örtliche Orientierung betrifft, so verwechselte Pat.
die einzelnen Räume der Klinik. Heilbronner bemerkt dazu: „man wird
nur deshalb darauf Wert legen dürfen, weil die Kranke ja durch einen
monatelangen Aufenthalt in der Klinik alle einzelnen Räume sehr wohl
unterscheiden gelernt hatte, wie sie auch nach Abklingen der Psychose
dazu wieder imstande war.“ Heilbronner bezieht mit Recht diese Stö¬
rung der örtlichen Orientierung auf die Unfähigkeit, die wir Störung der
Gesamtauffassung benannt haben. Er sagt: „Für die mangelhafte Ori¬
entierung kommt wohl zunächst die vorher besprochene Unfähigkeit
in Betracht, die sich bietenden Einzeleindrücke zusammenzufassen;
wenn alle Bestandteile eines Badezimmers nicht die Gesamt Vorstellung
eines solchen hervorrufen, wird die Kranke begreiflicherweise auch zu
dem Schluß unfähig: „ich liege im Badezimmer.“
Poppelreuter 1 ) hat ähnliche Störungen nach Verletzungen des Oc-
cipitalhims beobachtet. Ein Pat. sagte bei Betrachtung des Binet -
Bobertag sehen Bildes: „Das ist ein Mann. Das sind alles Männer.“ Auf
die Frage, was passiert, antwortete er: „Stellt nichts vor,“ dann aufs
Fenster hinweisend: „Das ist ein Bild an der Wand.“ Ein anderer sagte:
„Hier ist ein Zimmer drauf (Pause). Ein Mann und zwei Kinder (Pause),
und ein zerbrochener Spiegel und ein Gemälde (dreht es herum). Eine
Mütze, eine Schiefertafel und Buch (zeigt den Jungen hinter dem Zaun).
Das kenne ich nicht, was das sein soll.“ Ferner berichtet Poppelretäer
von einem Fall, der eine Lesestörung hatte, die eine große Ähnlichkeit
mit der unseres Falles hatte. „Beim Lesen von gedruckten Texten
hörte er sich an, wie ein ßjähriges Kind. Er buchstabierte, las Silbe
für Silbe, wiederholte dann wieder den Anfang, verlas sich in ein¬
zelnen Buchstaben.“
Abgesehen von allgemeinen Angaben über Seelenblinde, daß sie
*) Die psychischen Schädigungen durch Kopfschuß im Kriege. Bd. I. 1017.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 27
408
I. Wolpert:
zuweilen Details erkannten, das Ganze aber nicht 1 ), habe ich sonst in
der Literatur wenig gefunden, was auf die geschilderte Störung hin¬
deutete. Ich glaube aber, daß der Grund nicht in der Seltenheit dieser
Störung zu suchen, sondern darauf zurückzuführen ist, daß derartige
Patienten als leicht Demente angesehen werden oder für Seelenblinde
bezw. Alektiker gehalten werden, ohne daß der Untersucher sich die Mühe
nimmt, eine genaue Analyse des Falles vorzunehmen. Während die
,,schweren“ Fälle genau studiert werden, werden diese für das Verständ¬
nis der Genese und Pathologie wichtigen „leichten“ Fälle häufig ver¬
nachlässigt.
Der Zufall wollte es, daß ich bei einem meiner Bekannten die Stö¬
rung der optischen Gesamtauffassung beobachten konnte.
Es handelt sich um einen 63 jährigen Herrn, der den Ärzten gegenüber etwa*
mißtrauisch ist und der sich nicht gerne untersuchen läßt. Die Untersuchung
mußte aus diesem Grunde mehr in Form einer gesellschaftlichen Unterhaltung
erfolgen. Er hat im November 1921 einen Anfall von Benommenheit und Ver¬
wirrtheit erlitten, Krämpfe hatte er nicht. Seit der Zeit konnte er nicht mehr
lesen. Der behandelnde Arzt hielt, nach Angabe der Angehörigen, die Störung für
eine Alexie. Sein Zustand besserte sich, so daß er jetzt schon Zeitungen liest.
Er liest jetzt langsam, fixiert das Wort mit dem Finger; er läßt manchesmal kurze
Wörter wie „ist“, „wir“ aus. Lange, schwierige Wörter liest er, indem er sie in
einzelne Silben zerlegt (skandierend). Er macht Fehler beim Lesen, liest z. B.
statt Galle Gatte, statt Sepsis Septis, er korrigiert aber selbst die Fehler, sobald
man ihn darauf aufmerksam macht oder auch wenn er merkt, daß das Wort in
den übrigen Text nicht hineinpaßt. Er selbst sagt, daß er das Ende des Satzes
gewöhnlich errate und daß seltene, besonders „zusammengesetzte Fremdwörter“
das Lesen erschweren. Früher mußte er auch bei den einfachen Wörtern, wie
er sagt, „die Silben zusammenbringen“.
Die Handlung des Bittet-Bobertagschen Bildes wurde nicht erfaßt. Er meinte,
es handle sich um einen Vater, der seinen Sohn segnet. Als er merkte, daß das
nicht stimmt, fragte er: „Oder schlägt er ihn?“ Als er nach einigen Minuten die
vom Kopfe des Knaben fallende Mütze bemerkte, sagte er: „Die Mütze fällt ihm
vom Kopfe, folglich schlägt er ihn.“ Die Frage, warum der Mann den Knaben
schlage, konnte er nicht beantworten.
Ich möchte hervorheben, daß die Intelligenz des Pat. sonst einwandfrei ist.
Er war noch bis vor kurzem geschäftlich tätig und übt noch jetzt seine ehrenamt¬
liche Tätigkeit aus.
Die Gesamtauffassung ist die Wahrnehmung eines Komplexes von
Einzeldingen oder Einzelbildern als ein zusammenhängendes Ganzes.
Aus dem Umstand, daß die Einzeldinge erkannt werden, folgt noch nicht,
daß das Ganze erkannt werden muß. Der Mensch muß eine gewisse
geistige Entwicklung durchmachen, ehe für ihn die einzelnen Teile eines
1 ) Vgl. v. Stauffenberg (Über Seelenblindheit, 1914): „Bemerkenswert ist,
daß bei dieser Formbeschreibung des Wahrgenommenen oft ein völliger Mangel,
das Wesentliche in der Beschreibung zu treffen, besteht. Dagegen werden irgend¬
welche kleine Details hervorgehoben. Das Ganze als Form wird nicht beachtet..
Siehe auch Riegers interessante Ausführungen über das „mangelhafte Legato
im räumlich-sachlichen Apparat“. ( Rieger , über Apparate in dem Hirn. Jena 1909.)
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 409
Bildes nicht als ein zusammenhangloses Nebeneinander, sondern als ein
geschlossenes, sinnvolles Ganzes, als ein Bild erscheinen. Das fünfjährige
Kind ist noch nicht imstande, beim Betrachten eines Bildes das Ganze
zu erfassen. So schreibt Buhler 1 ) : ,,Nur selten kommt in spontanen Be¬
schreibungen der fünfjährigen Kinder, welche ohne besondere Pflege
dieser Fähigkeit aufgewachsen sind, etwas anderes vor als die stereo¬
typen Wendungen: das ist ein Baum, das ist ein Haus, das ist ein Mann,
das ist noch ein Mann usw. Die dargestellte Handlung wird überhaupt
nicht oder nur ganz mangelhaft erfaßt und das Verhältnis der Dinge und
Personen zueinander auf Befragen ganz falsch angegeben.“ Wie das
Erkennen der Details noch nicht die Gesamtauffassung bedingt, so hat
die Kenntnis der Buchstaben noch nicht das Lesen des Geübten zur Folge.
Während der Geübte das Wort oder gar Wortgruppen mit einemmal
(simultan) aufnimmt, muß der Anfänger sich das Wort zusammenbuch¬
stabieren. Die Gesamtauffassungsfähigkeit wird nicht ein für allemal
erworben, sie muß, wenn man etwas Neuartiges, Fremdes erlernen will,
auf diesem Gebiet neu erworben werden. Die geistige Entwicklung, die
zur Gesamtauffassungsfähigkeit führt, macht also nicht nur das Kind
durch, sondern auch der Erwachsene, wenn er etwas Neues, z. B. das
Lesen der Morsezeichen lernt. Wir können an uns beim Betrachten
der Bilder moderner Richtung sehr schön beobachten, wie die Fähig¬
keit erworben wird. Nachdem wir das Stadium, in dem uns das Bild
als ein unentwirrbares Durcheinander von Farben und Linien erschien,
überwunden haben, fangen wir an, Details zu unterscheiden, ohne das
Ganze erfassen zu können. Nach wiederholtem Betrachten moderner
Bilder erlernen wir auch die Gesamtauffassung. Und ein Mensch, der
häufig Ausstellungen moderner Bilder besucht hat, wird auf den ersten
Blick die Darstellung erfassen, „verstehen“, während der Ungeübte
sich beim Betrachten der Details verliert. Bei der Prüfung der Gesamt¬
auffassungsfähigkeit muß daher der Wissenschatz, die Bildung des Pat.
berücksichtigt werden.
Die Beispiele lassen uns die Bedeutung der Übung und des Gedächt¬
nisses für die Entwicklung der Gesamtauffassungsfähigkeit erkennen.
Wir stellen uns den Vorgang so vor, daß ein Bild zunächst eine Anzahl
Engramme hinterläßt. Bei wiederholter Betrachtung des Bildes hinter¬
lassen manche für die Gesamtauffassung wesentliche Einzelheiten tiefere
Engramme, während unwesentliche Details keine Engramme hinter¬
lassen, d. h. übersehen werden. Es findet gewissermaßen eine Auslese
der Details statt. Schließlich erzeugt das Bild nicht eine Anzahl Einzel¬
engramme, sondern ein SimuÜanengramm. Diesen Vorgang können wir
Simultanbildung nennen. Die Gesamtauffassung ist die letzte Etappe
des Erkennens, sie ist also eine gnostische Leistung, und zwar die höchste
J ) Die geistige Entwicklung des Kindes. 2. Aufl. 1921.
410 I. Wolpert:
gnostische Leistung und als psychische Höchstleistung gleichzeitig eine
intellektuelle Leistung.
Die Störung der Gesamtauffassung (die Simultanagnosie) ist eine
Rückbildungserscheinung, ein Abbau der Funktion. Der Kranke, der
vor Beginn seines Leidens imstande war, entsprechend seiner Bildung
bildliche Darstellungen zu erfassen, ist es trotz richtigem Erkennen der
Details nicht mehr imstande. Er sieht nur das Nebeneinander der Ein¬
zelheiten ; er ist in dieser Beziehung wieder Kind geworden und sieht vor
lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Beim Lesen muß er das Wort —
wie ein Kind oder Anfänger — zusammenbuchstabieren und macht die
für das Kind bzw. Anfänger charakteristischen Fehler: Verwechslungen,
Verstümmelungen und grammatikalische Fehler, die wie Messmer 1 ) fest¬
stellen konnte, auf der kindlichen Altersstufe beschränkt bleiben.
Auch das Tempo des Lesens des Kranken erinnert an das Lesen eines
Kindes, das bei raschem Lesen im Anfänge das schnellste Tempo ent¬
wickelt, dann, nachdem es unberechenbaren Schwankungen unterworfen
war, schließlich unter dasjenige des normalen Lesens hinabsinken kann
(Messmer).
Die Störung der Gesamtauffassung beschränkte sich in unserem
Fall auf das Gebiet des Sehens, es handelte sich um die optische Simultan¬
agnosie, die akustische Gesamtauffassung war bei unserem Pat. nicht
gestört. Ich nehme aber an, daß es eine entsprechende isolierte Störung
auf akustischem Gebiet, also eine akustische Simultanagnosie, gibt und
möchte hier zwei Fälle aus der Literatur erwähnen, bei denen es sich
m. E. um eine akustische Simultanagnosie handelte.
Die 1. Beobachtung stammt von Schmidt 2 ) aus dem Jahre 1871. Die Kranke
„hörte es, wenn man einzelne Vokale aussprach, und sprach sie nach. Sprach man
in gewöhnlicher Weise ein einsilbiges Wort, so verstand sie es nicht, trennte man
aber die einzelnen Buchstaben scharf voneinander, so daß sie in der Aussprache
deutlich hervortraten, so sprach sie es nach, bei mehrsübigen Wörtern mußte man
zuerst eine Silbe deutlich aussprechen, dann die andere ebenso, dann erst beide
zusammen, wenn sie das Wort verstehen sollte. Nach und nach lernte sie die
Worte schneller auffassen, doch ging es ein halbes Jahr zu, bis sie bei deutlicher, lang¬
samer Aussprache einen ganzen auch nur kurzen Satz ohne Wiederholung gleich
verstand. So wie es mit dem Gehör besser ging, nahm auch die Sprachfertigkeit
zu, doch blieb immer etwas Mühsames beim Sprechen zurück. Wie sie mir spater
erklärte, hat sie beim Sprechen wohl gehört, sie habe aber nichts als ein verworrenes
Geräusch vernommen.“ Schmidt sah den Grund, daß Pat. ausgesprochene Wörter
nicht verstand, darin liegen, „daß sie die einzelnen Buchstabenlaute nicht schnell
genug nacheinander auffassen und zu einem Worte vereinigen konnte“.
Die 2. Beobachtung stammt von Liepmann*). Es handelte sich um einen
Apotheker, der fast tadellos las und schrieb und leidlich sprach. Er war worttaub,
faßte aber alle einzelnen Silben und kurze Worte gut auf. „Man mußte eine
*) Zur Psychologie des Lesens. Leipzig 1904.
2 ) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie %7.
3 ) Neurol. Zentralbl. 1908, S. 065.
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 411
Störung in der regelrechten Zusammenfügung der richtig perzipierten Sprach-
elemente annehmen“ ( Liepmann ).
Wenn wir die Intelligenz mit Poppelreuter als die Resultante einer
Summe von psychischen Einzelhöchstleistungen, wobei als Kriterium
nicht nur der rein psychologische, sondern auch der soziale Maßstab an¬
gelegt werden muß, definieren, so ist die Simultanagnosie als Störung
der Gesamtauffassung, die eine psychische Höchstleistung ist, eine
Intelligenzstörung. Sie läßt sich aber auf eine Störung des Erkennens
zurückführen und kann demnach auch als gnostische Störung aufge¬
faßt werden. Es ist letzten Endes gleichgültig, wie man diese Störung
rubriziert. Das Wesentliche ist, daß es sich um eine wohlcharakterisierte,
streng begrenzte, auf einem Sinnesgebiet gelegene, nur einen bestimmten
Teil der Tätigkeit (Gnosie, Erkennen) betreffende Störung handelt, die
man nicht als Intelligenzstörung schlechtweg (allgemeine Demenz oder
dergleichen) abtun darf.
An dieser Stelle möchte ich den Begriff Simultanagnosie gegenüber
den Liepmannschen ideatorischen oder disjunktiven Agnosien abgrenzen.
Da Liepmann 1 ) die ideatorische Störung als „unterbleibende Verschmel¬
zung der Einzeleindrücke“ definiert, so könnte man die Simultanagnosie
und die ideatorische Agnosie für dieselbe Störung halten. Wie es aber
aus den Beispielen Liepmanns hervorgeht, beruhte die Störung bei seinen
Kranken nicht auf einer unterbleibenden Verschmelzung der Einzelein¬
drücke. Die Kranken Liepmanns haben eine Kindertrompete für eine
Pistole oder einen Pinsel für einen Schnurrbart gehalten. Was diese Fälle
von unserem Fall unterscheidet ist, daß die Fehlleistungen dadurch zu¬
stande kamen, daß eben nicht alle Details erkannt wurden, sondern nur
ein Teil, der für das Erkennen des Gegenstandes nicht ausreichte. Sagt
doch selbst Liepmann: „Ich möchte vielmehr annehmen . . ., daß sie
(d. h. die Patientin) von dem ganzen Reizkomplex dieser Kinder¬
trompete zunächst nur die Merkmale des Röhrenförmigen und mit einer
Öffnung Versehenen und eine Ventilklappe, welche eine gewiße Ähnlich¬
keit mit einem Pistolenhahn hat, aufgefaßt hat, daß dieser Teilkomplex
assoziativ die Vorstellung der Pistole geweckt hat, und daß die so asso¬
ziativ geweckten übrigen Merkmale der Pistole der weiteren Würdigung,
der von einer Pistole abweichenden Merkmale im Wege standen.“ Die
Fehlleistung, die Verkennung beruhte also nicht auf einem mangelhaften
Zusammenfassen erkannter Einzelheiten, sondern auf ungenügendem Er¬
kennen der Einzelheiten.
An dieser Stelle möchte ich auf die von Liepmann 2 ) gemachte Dis¬
kussionsbemerkung, daß die Simultanagnosie in das Gebie t der Pick sehen
1 ) Neurol. Zentral bl. 1908.
2 ) Berl. Ges. f. Psych. u. Nervenkr., Sitzg. v. 10. XII. 1923. Ref. im Zentralbl.
f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 35.
412
I. Wolpert:
Störung der Komprehension gehören dürfte, eingehen. Als Komprehen-
sion bezeichnet man die Möglichkeit, die einzelnen Teile eines Ganzen
mit einem Bewußtseinsakt in seinen gesamten räumlichen Beziehungen
zu überblicken. Abgesehen davon, daß die Störung dieser Möglichkeit
nicht immer mit einer Störung der Zusammenfassung erkannter Einzel¬
heiten gleichbedeutend sein muß, sondern, wie wir bei den lÄepmann-
sehen Fällen mit ideatorischer Agnosie gesehen haben, auf ungenügendem
Erkennen der Einzelheiten beruhen kann, handelte es sich m. E. in dem
von Pich 1 ) beschriebenen Fall um eine viel zu komplizierte Störung, als
daß die Störung der Möglichkeit, die einzelnen Teile eines Ganzen mit
einem Bewußtseinsakt zu überblicken, sie erklären könnte. Der Pat., der
kleinere Objekte vielfach prompt erkannte, fand an großen Bildern vor¬
handene und danach gefragte Teile nicht. Wenn vom Kranken gesehene
und auch bezeichnete Objekte etwas fortgerückt wurden, suchte er weiter
nach ihnen. Als man ihn auf den Wärter zeigend fragte, ob er ihn sehe,
antworteteer: „Diesen Herrn ? Sehrgut.“ Er konnte aber nicht die Hände
des Wärters finden, schließlich verlor er den Wärter und suchte ihn mit
den Augen. An einem 60 cm großen Brustbild sah er nur den Hut, sonst
nichts. Der leider etwas fragmentarisch beschriebene Fall gestattet
keine befriedigende Deutung der Störung, sicherlich besteht aber eine Be¬
ziehung zu der von Bälint 2 ) beschriebenen Seelenlähmung des „Schauens“.
Übrigens hält Pick selbst die Komprehension für eine Station im
Gang des Sehens, also zur Perzeption zugehörig. Er sagt: „Erst wenn diese
Teilfunktion des Sehens gewaltet, ist der Sehakt überhaupt vollzogen.“
Dagegen ist die Gesamtauffassung, wie wir gesehen haben, die höchste
gnostische Leistung, d. h. eine intellektuelle Leistung. Für Pick ist die
Komprehensionsstörung ein Seitenstück der motorischen Ataxie, wäh¬
rend wir die Simultanagnosie für ein Seitenstück der ideatorischen Apraxie
halten.
Wie die Gesamtauffassung, ist auch die Handlung Produkt eines lang¬
jährigen Entwicklungsprozesses. Die willkürlichen Bewegungen, die
zuerst einzeln bewoißt vollzogen werden müssen, werden durch die Übung
zu einer Gesamthandlung zusammengefaßt, mechanisiert, so daß die
Einzelheiten der Ausführung mechanisch zur Verfügung stehen und keiner
Beachtung durch das Bewußtsein mehr bedürfen. „Die Bewrußtseins-
leistung des Wollens bezieht sich ganz einfach auf die ganze Handlung“
(Semi Meyer*). Diesen Entwicklungsvorgang, dem auf dem Gebiete
des Erkennens die Simultanbildung entspricht, nennt Semi Meyer
Mechanisierung und er unterscheidet zwischen Automatismen, die von
*) Zur Symptomatologie des atrophischen Hinterhauptlappens. Arbeiten
aus der deutschen psychiatr. Univ.-Klinik in Prag. Berlin 1908.
2 ) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Ä5.
3 ) Verhandl. d. Ges. dtsch. Nervenärzte, 13. Jahresversammlung.
Die Simultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 413
vornherein unwillkürlich ablaufen, wie z. B. die Verdauung, die At¬
mung und mechanisierten Bewegungen, die als Ganzes gewollt, also
willkürlich sind, aber ohne Beteiligung des Bewußtseins ablaufen
können. Das Wesen und der Zweck der Mechanisierung ist, nach
Semi Meyer , die Entlastung des Bewußtseins von den Einzelheiten
der Ausführungsarbeit.
In der ideatorischen Apraxie sehe ich eine Störung (den Abbau) der
mechanisierten Handlung. Wenn ein Patient, der bei einfachen Bewe¬
gungen keine Fehlleistungen macht, nicht imstande ist, eine, vor der Er¬
krankung geübte, kompliziertere Handlung, z. B. das Abschneiden und
Anzünden einer Zigarre richtig auszuführen, so bezeichnet man diese
Störung ideatorische Apraxie. Das Abschneiden und Anzünden einer
Zigarre ist eine mechanisierte Handlung. Die ersten Male müssen
die einzelnen Teilakte dieser Handlung bei voller Beteiligung des Be¬
wußtseins ausgeführt werden, dann erfolgt die Mechanisierung, dem
Menschen schwebt nur das Ziel vor, das Rauchen, alles übrige erfolgt
ohne Beteiligung des Bewußtseins. Ist die mechanisierte Handlung
gestört, so genügt die Zielsetzung nicht mehr. Die Gesamthandlung
ist in die sie auf bauenden Teilhandlungen zerfallen: Die Einzelheiten
der Ausführung, die Teilakte werden ausgeführt, aber nicht in der rich¬
tigen Reihenfolge, sie werden abgekürzt, ausgelassen, jedenfalls wird
das Ziel, z. B. das Rauchen, gar nicht oder nur mühselig erreicht. Liep -
mann 1 ) formuliert diesen Vorgang folgendermaßen: „die Besonderung
der Hauptzielvorstellung in die Zwischenzielvorstellungen ist fehlerhaft
vor sich gegangen.“ Wie aber jeder bei sich feststellen kann, fehlt gerade
bei der Ausführung einer mechanisierten Handlung sowohl eine Haupt-
ziel Vorstellung als auch Teilziel Vorstellungen. Wenn jemand den Ent¬
schluß zu rauchen faßt, so erfolgt alles übrige mechanisch, in der Regel
ohne Beteiligung des Bewußtseins, ohne Vorstellung der Einzelakte.
Man ist erst dann gezwungen, sich die Bewegung vorzustellen, wenn man
eine ungenügend mechanisierte Handlung ausführen muß. Man hat
auch manchesmal bei Kranken, denen es nach langen Mühen gelingt,
die Handlung richtig auszuführen, den Eindruck, daß sie sich die
auszuführenden Bewegungen erst im Geiste „vorstellen“ müssen.
Die Ziel- und Teilvorstellungen sind stets Zeichen einer Unzulänglich¬
keit, sei es, daß die Bewegung noch nicht mechanisiert ist, sei es,
daß die mechanisierte Bewegung infolge einer Gehimschädigung ab¬
gebaut wmrde.
Da jede Tätigkeit der Mechanisierung unterworfen ist, so ist auch
die Sprache des Menschen mechanisiert. Semi Meyer hält die Sprache
für das beste Beispiel für die Klarlegung der Wirkungsweise und des
Umfangs der Mechanisierung. Die Störung der mechanisierten Sprache
*) Über Störungen des Handelns. Berlin 1905.
414 I. Wolpert:
ist m. E. der Agrammatismus oder wenigstens gewisse Formen dieser
Erkrankung.
Bemerkenswert ist ein Fall einer Schreibstörung, den Simons 1 ) be¬
schrieben hat und der in das Gebiet der Störungen der mechanisierten
Handlungen gehört 2 ). Es handelte sich um einen 27 jährigen Kunstmaler,
der eine Granatsplitterverletzung in der linken Schläfengegend erlitt.
Beim Kranken fiel eine Schreibstörung auf, indem er die ungeschickt
geschriebenen Buchstaben nicht auf die Grundlinie, sondern stets auf¬
wärts brachte. So schrieb er auch in Linienheften, dabei war das Gesichts¬
feld normal. Seine Schreibstörung schilderte der Pat. folgendermaßen:
,,Ich muß mir beim Schreiben Hamburg H—a—m—b—u—r—g inner¬
lich so eine nach dem anderen sagen.“ „Bei—m—ist H—a wieder weg.“
Mit Recht sieht Simons in dieser Störung ein Analogon des Verhaltens
der Kinder beim Schreibenlernen. Er sagt: „Die inneren Bedingungen
beim Schreiben dieses Kranken waren durch die genannten Hirnstö-
rungen ähnlich wie beim Kinde, das Schreiben lernt. Beide zerlegen
das Wort in Buchstaben und Silben, haben ihnen die optischen Buch¬
stabenbilder zuzuordnen und entsprechend die Feder zu führen.“ Da¬
gegen glaube ich nicht, daß die Aufmerksamkeitsstörung die eigentliche
Ursache dieser Störung war. Es handelte sich um eine Störung einer
mechanisierten Handlung (des Schreibens), um eine Simultanagraphie 3 ).
Nachtrag: In der Festschrift für Liepmann 4 ) veröffentlicht Pick
unter dem Titel „Zur Zerlegung der Demenz“ einen Aufsatz, der mir bei
der Durchsicht der Literatur zunächst entging und auf den ich erst nach
Fertigstellung dieser Arbeit aufmerksam wurde. In diesem Aufsatz
beschreibt Pick einen Kranken, der neben anderen Erscheinungen eine
ausgesprochene Störung bei der Prüfung mit den Binet-Bobertag sehen
Bildern zeigte. Er erkannte die einzelnen Teile des Bildes, wußte aber
nicht, was das Bild im Ganzen darstellte. Über die Lesefähigkeit und
räumliche Orientierung des Kranken findet sich in dieser Arbeit keine
Notiz. Pick faßt die Störung bei seinem Pat. als Störung der Gesamt¬
auffassung auf und weist in treffenden knappen Worten auf die Bedeu¬
tung dieser Störung als auf „das in der Dissolution sich darbietende
Analogon eines in der Evolution nachweisbaren Stadiums der geistigen
Entwicklung“ hin. Er sagt damit dasselbe, was wir mit dem Ausspruch,
daß der Kranke gewissermaßen wieder Kind geworden ist, zum Aus¬
druck bringen wollten.
*) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 54.
2 ) Das Schreiben eines normalen Erwachsenen ist eine mechanisierte Hand¬
lung und nicht, wie Lissa uer (Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 21 ) annahm,
ein Abschreiben aus der Phantasie.
3 ) Auch unser Patient zeigte andeutungsweise diese Störung. Er schrieb statt
28 820. Siehe Krankengeschichte.
4 ) Monataschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 54.
Die Siraultanagnosie — Störung der Gesamtauffassung. 415
In derselben Arbeit äußert Pick einen in Bezug auf die Erklärung
der Störung der Komprehension geänderten Standpunkt. Demnach ist
auch die Komprehensionsstörung eine Störung der Gesamtauffassung,
sie betrifft aber das einzelne Objekt, während in dem zuletzt beschrie¬
benen Fall die Auffassung einer zusammengesetzten Situation eines
Situationsbildes, einer Totalimpression gestört war. Meines Erachtens
besteht aber kein Unterschied zwischen der Störung der Gesamtauffas¬
sung eines Objekts und der eines aus mehreren Objekten zusammen¬
gesetzten Bildes. Im übrigen möchte ich nochmals betonen, daß der
von Pick als Komprehensionsstörung beschriebene Fall zu kompliziert
war, als daß die Störung der Gesamtauffassung ihn erschöpfend er¬
klären könnte.
Die Erforschung der Träume als eine Methode der topischen
Diagnostik bei Großhimerkrankungen.
Von
Prof. A. M. Grünstein (Charkow, Rußland).
(Eingegangen am 23. Juni 1924.)
Die Traumforschung zog an sich die Aufmerksamkeit vieler Forscher
im Laufe der letzten zwei Decennien. Doch diese Forschung, die fast
ausschließlich bei Neurotikern geübt wurde, hatte rein psychologischen
Charakter. Das Studium des Trauminhaltes war ein Mittel zum Durch¬
dringen in die unterbewußte psychische Sphäre des Kranken. Es ist je¬
doch ein Erlernen der Träume von einem ganz anderen, rein physiolo¬
gischen Standpunkt möglich, — ein Erlernen, das die Ausnützung
Charakterveränderungen der Träume zu topisch diagnostischen Zwecken
sich zur Aufgabe macht. Daß eine derartige Stellungsnahme zur Traum¬
forschung möglich ist, die event. auch positive Resultate liefern kann,
beweist folgende Beobachtung.
Die Kranke N., 23 J. alt., verheiratet, Lehrerin, aus Tula. Der Vater der
Kranken starb mit 70 Jahren, war von kräftiger Gesundheit, wie auch alle seine
Verwandten, und kein Potator. Die Mutter der Kranken starb mit 40 J. an Lungen¬
entzündung. 3 Brüder sind gesund. Die Kranke war zur richtigen Zeit geboren,
entwickelte sich als normales Kind. Machte Masern und Scharlach durch. Be¬
suchte ein Gymnasium, das sie mit 17 J. absolvierte. Seitdem war sie als eine
Lehrerin tätig. Menses mit 15 Jahren. Verheiratete sich im 21. Lebensjahr. Nach
6 Monaten Abortus, nach einem weiteren Jahre 1 totgeborenes Kind.
Vor 3 Monaten erschienen anhaltende Kopfschmerzen, die sich gegen Abend
verstärkten und manchmal von Erbrechen begleitet waren. Vor einem Monat,
bei der Mahlzeit, bekam die Patientin Schwindel und Übelkeit. Sie legte sich ins
Bett, erbrach und verlor dann das Bewußtsein. Nach einer */ 4 Stunde kehrte
das Bewußtsein wieder, doch die Kranke merkte sofort, daß ihr Sehvermögen
gelitten hatte. Die ganze rechte Hälfte des Gesichtsfeldes war wie im Nebel gehüllt.
In diesem Zustand blieb sie bis zum Abend, erschlief dann und des Morgens beim
Erwachen bemerkte sie, daß das Gesichtsfeld sich in vollem Maße herstellte; trotz¬
dem war das Gesicht nicht normal. Und zwar erkannte die Kranke schlecht die
ihr sonst gut bekannten Dinge. Sie sah sich zwar in einem Zimmer, letzteres kam
ihr aber ganz fremd vor und ihrem Zimmer unähnlich, obgleich sie sich in Wirk¬
lichkeit in ihrem eigenem Zimmer befand. Als ihr Mann zu ihr trat, erkannte sie
ihn an der Stimme, sein Gesicht aber war ihr fremd. Sie konnte sich selbst ira Spiegel
nicht erkennen. Zur selben Zeit, als sie sich bemühte das Aussehen des Mannes¬
gesichtes, ihres eigenen usw., sich vorzustellen, konnte sie es nicht zustandebringen.
Die in der Erinnerung auftauchenden Gesichtsbilder waren unbestimmt, unklar
A. M. Grünstein: Die Erforschung* der Träume als eine Methode usw. 417
und des individuellen Gepräges beraubt. Andere Krankheitserscheinungen waren
zu jener Zeit nicht vorhanden. Keine Lähmungen. Die Sensibilität war normal,
Lesen, Schreiben und Sprechen stellten keine Abweichungen von der Norm dar.
Der zur Kranken eingeladene Arzt verordnete Jodkali und Spanischfliegenpflaster
zum Nacken. Nach einiger Zeit wurden die Kopfschmerzen geringer, und im folgen¬
den besserten sich die Gesichtsstörungen. Die Kranke fing an die umstehenden
Leute zu erkennen. Das gelang aber nicht sofort. Die Kranke mußte sich vielmehr
aufmerksam einsehen, um keinen Fehler zu begehen. Sie lernte dabei nur solche
Personen zu erkennen, mit denen sie öfters verkehrte, andere aber, die sie früher
gut gekannt, aber nach der Erkrankung nicht gesehen hatte, erkannte sie nicht.
Ganz fremd erschienen ihr die Straßen ihrer Heimatstadt Tula, wo sie 22 Jahre
gelebt hatte.
In diesem Zustande, 1 Monat nach dem Beginn der Erkrankung, wurde die
Kranke zu mir gebracht. Bei der Untersuchung war folgender Befund erhoben:
Patientin mittelgroß, von gutem Ernährungszustand. Innere Organe stellen
keine Abweichung von der Norm dar. Urin normal. Die Wassermann-Reaktion
im Blute ist stark positiv. Schmerzhaftigkeit des Schädels wird nicht notiert.
Die linke Pupille breiter als die rechte, beide reagieren schwach auf Licht, besser
auf Konvergenz. Die Bewegungen der Augenäpfel sind normal. Kein Nystagmus.
Gesichtsfeld nicht eingeengt. Farbenempfindung nicht gestört. Augenhintergrund
normal. Sehschärfe beiderseits — 0,9, bei Korrektion — 1,0. Motorischer Apparat,
Sensibilität und die Sphincteren funktionieren richtig. Alle Sehnenreflexe lebhaft,
beiderseits gleichmäßig; pathologische Reflexe sind nicht vorhanden. Die Kranke
nennt die vorgezeigten Gegenstände richtig und ohne Zögern. Doch, als ich ihr
ein Album mit Photographien russischer Schriftsteller zeige, kann die Kranke
keinen erkennen. In einigen Fällen versucht sie es zu tun, indem sie von rein
äußeren Erkennungszeichen ausgeht. Z. B., als ich das Bild Tolstois vorzeige,
sagt sie: „Das ist wahrscheinlich Tolstoi oder Krapotkin — ein Greis mit grauem
Bart“ u. Ä. Vor der Erkrankung war sie, wie sie sagte, mit den Bildern gut ver¬
traut. Einige von denselben, z. B. Tolstois u. a., waren sogar in ihrem Zimmer
vorhanden.
Bei der Untersuchung des Lesens und Schreibens in russischer und deutscher
Sprache, des Notenlesens (die Kranke spielt Klavier), beim schriftlichen und
mündlichen Rechnen, zusammengesetzten arithmetischen Rechnungen, Ver¬
stehen von Zeichnungen, Zeichnen von Gegenständen (Maus, Baum) sind keine
Abweichungen von der Norm zu verzeichnen. Auf meine Bitte, ein Bild von irgend
jemandem aufzuzeichnen, erwidert die Kranke, sie habe es auch vorher nicht ver¬
mocht.
Es entwickelte sich also bei der Kranken, nach einem leichten In¬
sult, vorübergehende Hemianopsie und gleichzeitig ein dauerndes Ver¬
lorengehen des Vermögens mit Hilfe von Gesichtsempfindungen die früher
gekannten Objekte wiederzuerkennen, d. i. ein Zustand der Seelenblind¬
heit. Dieser Zustand ist, wie bekannt, ein Resultat der Funktionsstö¬
rung der Gesiehtszentren zweiter Ordnung, wo die Gesichtsempfindungen,
die in den Sehzentren erster Ordnung entstehen, verarbeitet und depo¬
niert werden, infolge von Zerstörung oder Unterbrechung von Ver¬
bindungen dieser Zentren zweiter Ordnung. Im vorliegenden Fall fand
eine Zäsion des linken Zentrums statt, welches eine vorzugsweise Be¬
deutung im angegebenen Sinne besitzt. Darauf zeigt die vorüberge¬
hende rechtsseitige Hemianopsie. Man kann auch mit großer Wahrschein-
418
A. M. Grünstein: Die Erforschung der Träume
lichkeit vermuten, daß es sich hier um einen rein corticalen Herd handelte;
zum Zustandekommen von Subcorticalen, auf Lesion der Leitungsbah¬
nen berechender Seelenblindheit sind weite multiple Herde erforderlich.
Was den Charakter des Prozesses anlangt, so weist das ganze klinische
Bild ganz bestimmt auf spezifische Entstehung hin, was auch der posi¬
tive Blutbefund bestätigt. Die ursprüngliche Affektion der Hirnhäute
führte dann zu Trombose eines der corticalen arteriellen Äste an der
Außenfläche des linken Occipitallappens. Und nun, ohne daß ich ihr
entsprechende Fragen gestellt hatte, teilte mir die Kranke folgendes mit.
Der Charakter ihrer Träume seit der Erkrankung habe sich stark ver¬
ändert. Bis dahin träumte sie oft, wobei die Gesichtskomponenten in
den Träumen vorherrschten. Die Kranke sah Menschen, Tiere, Land¬
schaften usw. Seit dem Moment der Erkrankung träume sie auch öfters,
doch habe sich der Traumcharakter verändert und es fehle in den Traum¬
bildern die Gesichtskomponente. Die Kranke hört Gespräche, beteiligt
sich in ihnen, führt bestimmte Handlungen aus, aber niemals sieht sie
etwas. Die Gesichtskomponente des Traums ist gänzlich verschwunden.
Solcher war der Zustand der Patientin, als ich sie untersuchte.
Ich verordnete dann Quecksilberbehandlung, die die Kranke bei ihr
zu Hause in Tula durchmachte. Nach deren Beendigung hatte sie mich
nochmals zu besuchen, doch dies war aus äußeren Umständen unmög¬
lich und sie teilte mir schriftlich mit, daß die Erscheinungen der Seelen¬
blindheit, freilich nicht ganz, geschwunden seien, der Charakter ihrer
Träume aber habe sich gar nicht geändert und die Gesichtskomponente
fehle ihnen wie zuvor.
Weitere Auskunft über den Zustand der Kranken konnte ich nicht
erlangen.
In dem hier beschriebenen Falle von Seelenblindheit, gleichzeitig mit
der Entwicklung derselben, entstand, als eine Charakterveränderung
der Träume, ein Ausfallen ihrer Gesichtskomponente. Es liegt in die¬
sem natürlich nichts unverständliches. Beim Verlorengehen alter Ge¬
sichtsbilder und Unmöglichkeit neue zu fixieren, ist auch deren Repro¬
duktion unmöglich, gleichgültig, ob im Wachszustande oder im Traum.
Und dieses Ausfallen der Gesichtskomponente im Traum, erscheint daher
als ein Symptom der Seelenblindheit, auf das man bis jetzt nicht genü¬
gend geachtet hat.
In der Literatur gelang es mir jedenfalls nur eine analoge Beobach¬
tung aufzusuchen. Sie gehört Charcot, der, indem er einen Fall von Seelen¬
blindheit beschreibt (Le9on8, v. 3, 1882), berücksichtigt die Veränderung
des Traumcharakters bei'dem Kranken. Der Kranke selbst formuliert
diese wie folgt: „Aujourd’hui je reve seulement paroles, tandis que je
possedais auparavant dans mes reves la perception visuelle.“
Auf Grund alles Gesagten können wir folglich schließen, daß eines
als eine Methode der topischen Diagnostik bei Großhirnerkrankungen. 419
der Symptome der Seelenblindheit ißt ein Ausfall der Gesichtskompo¬
nente des Traumes.
Es entsteht nun aber die Frage, ob diese Erscheinung lediglich bei
Seelenblindheit oder auch bei irgendwelchen anderen Großhimaffek-
tionen zu beobachten sei. Es ist zu ersehen, daß, falls das Erscheinen
dieses Symptoms außer bei Seelenblindheit zu beobachten wäre, so wird
es wohl bei Erkrankungen der Rindensehzentren erster Ordnung der Fall
sein. Was sich in Wirklichkeit bei diesen Verhältnissen beobachten läßt,
beweist folgender Fall.
Der Kranke N., 21 J. Von seiten der Vorgeschichte nichts Besonderes. Keine
Anhaltspunkte für Lues. Kein Trinker noch Raucher. Im September 1921 eine
Schuß Verletzung des Nackens mit bewußtlosem Zustand von 2 tägiger Dauer.
Als er zu sich kam, war er ganz blind. Ungefähr nach 3 Wochen aber fing das
Sehen an sich allmählich wieder herzustellen. Die Besserung dauert bis jetzt.
Status (Dezember 1921): Das Gesamtbefinden ziemlich gut. Innere Organe in
Ordnung. Narben an den Stellen: der Eintrittswunde links, 2 cm nach vom von
der Protuberant. occipit. externa und 5 cm vor derselben rechts an der Austritts¬
stelle der Kugel. Linke Pupille breiter als die rechte. Die Reaktion beider ist
genügend. Die willkürlichen sowie auf Verschiebungen eines Gegenstandes erfolgen¬
den Bewegungen der Bulbi sind nach rechts etwas verzögert und leicht beschränkt.
Stark ausgeprägte rechtsseitige Hemianopsie mit erhaltenem Maculasehen. Seh¬
schärfe 0,9. Augenhintergrund normal. Das übrige Nervensystem läßt keine
Abweichungen von der Norm erkennen.
Auf meine Frage, ob er Träume sehe, teilte mir der Kranke mit, er hätte vor
der Verletzung verhältnismäßig selten geträumt, seitdem aber träume er fast
jede Nacht. Der Charakter der Träume zeige sich aber nicht verändert, und die
Gesichtskomponenten spielen in ihnen wie zuvor die Hauptrolle. Vielmehr betont
der Kranke, daß in der ersten Zeit nach der Verletzung, als er ganz blind war,
sich die Traumgesichtsbilder durch eine besondere Helligkeit und Plastizität
auszeichneten.
Ausfall der Funktion der primären Rindengesichtszentren zieht somit
nicht einen Ausfall der Traumgesichtskomponente nach sich. Letzteres
wird nur bei Funktionsstörung corticaler Gesichtszentren zweiter Ord¬
nung beobachtet. Diese Tatsache ist natürlich von großem Interesse.
Das Interesse ist zuerst nur rein praktisch. Stellen wir diese Anwesenheit
dieses Symptoms, d. i. des Auffallens der Gesichtskomponente im Traum
fest, so können wir auf das Vorhandensein von Seelenblindheit schließen.
Dabei blieb in oben beschriebenem Falle die Traumstörung auch dann
bestehen, wenn alle übrigen Krankheitserscheinungen geschwunden
waren, das heißt, dieses Symptom kann eine einzige Erscheinung von
Seelenblindheit sein bei leichter Störung der entsprechenden Zentren.
Dies berechtigt zu der Hoffnung, man wird das Symptom zu benutzen
haben zum Feststellen von Anfangsstadien der Affektionen dieser Zen¬
tren, was eben in der Klinik von besonderer Wichtigkeit ist. Es ist des¬
halb bei jedem Verdacht auf Lokalisation des Krankheitsprozesses in
dem OccipitaUappen die Erforschung des Traumcharakters der Kranken
420 A. M. Grttnstein: Die Erforschung der Träume als eine Methode usw.
geboten. Jedoch wird das Studium der Träume nicht bloß bei den Her¬
den der Rindengesichtssphäre ein Interesse besitzen. Es gibt ja Zu¬
stände, die der Seelenblindheit oder Gesichtsagnosie ganz analog sind.
Das sind die Gehörs-, Tastsinn-, Geruchs- und Geschmacksagnosien. Man
muß glauben, daß auch bei diesen Erkrankungen eine entsprechende
Veränderung der Träume zu beobachten wäre: ein Ausfall der taktilen,
Gehörskomponente usw. Ich konnte es leider nicht nachprüfen in Er¬
mangelung des geeigneten Materials. In zwei Fällen ziemlich reiner
Gehörsagnosie (sensorischer Aphasie), die ich während der Zeit zu sehen
bekam, wollten die Kranken überhaupt niemals geträumt haben. An¬
dere Formen von Agnosie, die überhaupt sehr selten sind, habe ich nicht
begegnet.
Wie dem auch sei, wird schon jetzt das Studium der Traumcharakter¬
veränderung bei allen Störungen agnotischer Art unentbehrlich. Hier
liegt die rein praktische Bedeutung der obenbeschriebenen Beobach¬
tungen.
Man soll dabei jedoch nicht glauben, daß die Veränderungen des
Traumcharakters sich nur bei agnostischen Zuständen entwickeln. Ich
sah einen Fall von Tumor acustici , wo als erstes Symptom von seiter.
des N. acustici, war das Erscheinen einer großen Fülle von Träumen,
die sehr reich an Gehörselementen waren, — die Kranke hörte musi¬
zieren, singen, schreien und ähnliches. Zur selben Zeit ließen sich im
Wachszustande keine Abweichungen von der Norm von Seiten der
Nervi acustici feststellen. Ich sah ebenfalls Fälle von Tabes , wo, als erste
Symptom von Affektion des Conus medullaris , Träume erotischen In¬
haltes waren, wobei auch wieder keine Störungen der sexuellen Funkti¬
onen im Wachszustande sich zur selben Zeit konstatieren ließen. Augen¬
scheinlich kann schon eine minimale Erregung des peripherischen sen¬
siblen Neurons, die gar keine Symptome im Zustande des Wachsens
hervorruft, sich durch die Veränderungen des Traumcharakters kund¬
geben.
Das Studium der Träume in solchen Fällen kann eine frühzeitige
Diagnose der Erkrankung fördern.
Somit verdienen also nicht nur die Träume der Neurotischen, sondern
auch die der organischen Nervenkranken die Aufmerksamkeit des Neuro¬
logen.
(Aus dem Psychiatrischen Laboratorium der Reichsuniversität Groningen.)
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
Ein Versuch zur Darstellung einer psychophysiologischen Theorie.
III. Mitteilung.
Von
Dr. A. A. Weinberg,
z. Zt. Konservator am Laboratorium.
Mit 12 Textabbildungen.
(Eingegangen am 24. Juni 1924.)
Inhaltsverzeichnis.
Der Zusammenhang der psychologischen und der physiologischen Prozesse bei den
psychophysiologischen Reflexen (S. 421).
Versuch einer psychophysiologischen Theorie (S. 425).
Die Kurven bei Präokkupationszuständen (S. 429).
a) Plethysmogramm (S. 429).
b) Galvanogramm (S. 433).
c) Elektrokardiogramm (S. 436).
Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 438).
Schlußbetrachtungen (S. 442).
Der Zusammenhang der psychologischen und der physiologischen Prozesse
bei den psychophysiologischen Reflexen.
Nachdem wir in der ersten Mitteilung 1 ) den Verlauf der Ruhe¬
kurven im Plethysmogramm, im Galvanogramm und im Elektro¬
kardiogramm studiert hatten, haben wir uns in der zweiten Mit¬
teilung 2 ) mit den psychophysiologischen Reflexen beschäftigt. Mit
dem Namen ,,psychophysiologische Reflexe“ haben wir dabei die Ver¬
änderungen bezeichnet, welche im unwillkürlichen Nervensystem auf-
treten infolge von Reizen, welche für die Versuchsperson eine psychische
Bedeutung haben. Als das Wesentliche dieser Reflexe haben wir eine
Schwankung im unwillkürlichen Nervensystem erkannt, und zwar
in dem Sinne, daß zuerst die Wirkung des sympathischen, danach die
des parasympathischen und schließlich wieder die des sympathischen
Systems überwiegt*). Wir wollen uns jetzt der Frage zuwenden, in¬
wieweit man eine Korrelation zwischen diesen physiologischen Pro-
*) Für die gewählte Nomenklatur siehe die I. Mitteilung.
m
V Af Weinberg
ze-ssen und den zu gleiche* psychischen Gfcsehek-
ni» naueiime») dad. und im* weU'erhu* mit dem Problem befaßen,
uh hieraus tirfei^Teifunde Schlüße zu ziehen v/ären betreffend des
ParaileUsm^ von -^ehfe^i^n *)wi - *
Man betrachtet allgemein, diu größte Schwankung des p>ych'«-
|11 eeii Reflexe# ,(1&* H, R,) und ebeiraodie des i&yvho-
gal^^^heti .Reflexen (P*. G: RV) al^ dyn ^erittellefSs
und spricht von einem oft. da!»ei vorkomiuemUm kurzen Vorschlag
Diese Anschauungsweise mag bei Reizen vm längerer Dauer eine ho-
friedigende erscheinen, bei den kurzdauernden Reizet. wie ich sie »m-
gewandt habe fragt man sich, ob nicht gerade der unter normalen
Verhak nisten -bei ' gelingender Reizstarke eigentlich stets n.iiftreteinUr
Vorschlag das Wwent-Ikjhe (&$ ftefle^.^ew;- .kimnte- und die größere
xweitv Schwankung die Reaktion auf denselben.
Mai. könnte jedoch den Einwand erhehen, daß nach dieser An-
schauuHgswewe dit Nachwirkung starker sein wurde ahe der Reflex
ÄltfJ. L fiv^I. H., <g, IÄ Jani-fc. Abfcitiüur g mit ivompenöfetionistrou». lllL W
Nttn iM aber ein j»oU‘hes VcrhäUni# zwischen Einwtrlumg und
Nachxvirkntig öfters zu Irölmrhtert. Ein momentanes, b^rrdendes Licht,
kann unsere G».>ieht>scbarfe für tangere Zeit erbe blieb hi^dat Kündigen
cm»- kurai/iucTruic. sediwere M«eskelari/cit. kann unk'.dermaßen ermurjoru
daß wir während einer viel längeren Zeh; zu keiner mtetisiveron Arbeit
oder sie sogar Vib^rtvifft. Abtu 1 stellt kme 3vurve dar von einer Vpö ;
bei dgr nach ßecnilighrtg': dgs.‘ • Vi%<uchg , ^atig«efimdcid^W; ‘ ‘,
IhV«sj;^\kt^bn: heraviKst^Ht«^ ‘sich. idghi ganz ruhig, verhallen konnte
und rji h igg ooem gewissen Spr cmimgsz.tisfu /»de befand. Der Fs U. !i
b( oäo in di^em Fidle ans anr rao ;<chm**tuihg , und zwur in derselben
ab-tciüemk.n Kk'iilimu wie während der Inspiration der vorhergehen-
'iui Kurve*} \Vu habe?* ;o> »dfeübfir mit tiner »Sytapatliieiisrcizung zu
tan: luti^e^nt 'h?t\ irjUi. daß der gleichzeitig aufgchonmiene
iy,M R/ riih'U i'fvjierln'n -.Verlauf.. bat: noch hier kann man nicht
yj *) jrjt1 hiti cm pr A^ntm U4 Bespiel dar von de? Tatäwiec
. iiäÖ hei i4ct•.g^lv^itischeri ‘Ruhokurve auch der Pct. 0; P
eiüen «e- v»* l»r<. t» »I Verlaut hat <ö«T **om> T**»i foh als- wil.i,
vykti. ;;^:s : .' . W* V • fr /^ ’ • fr ’
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
423
oder kaum von einem absteigenden Schenkel des Reflexes sprechen.
In Übereinstimmung hiermit finden wir bei der Ausmessung der Puls¬
längen, daß die sonst typisch auftretenden längeren Pulse im zweiten
Teile des Reflexes kaum angedeutet sind, während die kürzeren Pulse
des ersten Teiles deutlich hervortreten.
Tabelle /. Pulsl&ngen der Abb. 1.
a
b
i 0,88
0,70
0,64
0,72
0,86
i 0,80
i 0,64
i 0,68
0,92
1,02
0,80
0,68
0,86
1,02
0,88
0,66
0,80
0,92
0,94
1,04
0,76
0,88
0,80
0,88
. 0,70
0,80
0,80
0,76
1 0,82
0,76
i 0,88
i 0,80
1,06
i 0,80
0,94
0,88
0,92
0,86
0,90
0,90
0,88
0,94
0,92
0,84
0,80
0,86
0,84
0,76
0,74
R 0,80
0,74
0,76
i 0,78
Wir werden in einem späteren Artikel auf diese Form der psycho¬
physiologischen Reflexe zurückkommen.
Man kann sich aber auch vorstellen, daß bei einem psychischen 1
Reize wohl das ganze unwillkürliche Nervensystem gereizt wird, der |
sympathische Teil desselben jedoch am meisten, daß erst die Wirkung ■
des parasympathischen Teiles in den Vordergrund tritt, nachdem die
des sympathischen erschöpft ist, und daß, wenn auch die Reizbarkeit
des parasympathischen Teiles vermindert ist, das sympathische ge¬
nügend ausgeruht ist, um seine Wirkung wieder geltend zu machen.
Ein typisches Beispiel einer derartigen Schwankung der Reizbarkeit
gibt uns der Versuch von Bowdiich und Warren , den ich in der zweiten
Mitteilung besprochen habe*). In diesem Versuche verursacht die
Reizung des peripheren Endes eines durchschnittenen Nervus ischiadicus
einer curaresierten Katze eine Kontraktion der peripheren Blutgefäße
gefolgt von einer Dilatation derselben.
Die Kurven der Abb. 2 und 3 demonstrieren die aufeinander¬
folgenden Schwankungen zwischen Sympathicus- und Vaguswirkung in
noch auffallenderer Weise**). Diese Kurven stammen von Froschherzen,
♦) II. Mitt., S. 387.
**) Diese Kurven verdanke ich der Freundlichkeit von Herrn Dr. R. Brink-
inan und Frl. E. van Dam, vom hiesigen physiologischen Laboratorium; mehrere
Beispiele derartiger Kurven findet man in ihrer Arbeit: Humoral transmission
* excitation in stimulating the vagus and sympathctic nerves of thc frog’s heart.
Jöurn. Af physiol. 57, 379. 1923.
Zt f. d. g. Neur. u. P*ych. XC'III.
28
.424 A.
/in siiti tnil .kiin^Ji^lior DHrebskrikuun^ |JiHGl '$&%,
XhUCO* Cm% baq. iK<m r KC] i)M^ CO 1: genährt,
nach ji<itf<i!w<vor suspendiert und mit einem 'Indnkt. h>t.is.strom in den
Tub^c l/uistachii nach -Mnt/cO)-# geroixt
h\ der Kurve YOti Aldv 2 3teht <\ a« Herz bei Reiäimc de# V#g<n
«y.mpathious still: wenn das Herz trotz fortgesetzter Reizung w ieder zu
schlagen anfehtgt, wird tiee rh-klnsche Reifst rum unterluocheu und
es zeigt Hieb ein deutlicher, sehr lange enthaltender Sympalbirmseff ehr.
Abt>. %
Abb. 3 zeigt diese Schwankungen noch schöner,
Ihieus wird wahrend kurzen r Ävü. welche auf der Ktvrve duroh einen
horizontale» Pfeil • angegeitctji ist. gereizt, und Infolgedessen cntstehr
cm iSytnpat.hieuseff(‘lvt. Nach Beendigung der Reizung wird • lieber
■Syiti pai hk*iwef %'kt allmählich abgelbst. von einer Vaguswirkung. »ho
Kurve wird #c*hknriiej\ der Hei^whlag iangmimer; mich erneu* Weite/
i macht sich abc*T wieder der EinfliiU des ^jdijpatliicüs bejirerkhar, tfm
• alliith-blieh wieder ' l'ktz zu machen für den ursprünghehen $le;< i.
Abi-,, a
gewieht^u^iand. In drewem letztere» /V^Ubhd, ktfjmejrt wir als«*
dieselbe- Beiliei)folge wi( bO den psyoho}d\Vni<>!ogi^r-he?i Reflexen U*-
<»ha.< !a<-u. aamentic h «vidi eine kurzdauernde Reibung des Sympatke »e
mit einer...KätthwirkuT^: d^ AiUagoii^tein
Na£b uHednbi gkuda« ich feststelien Wu dftrfetb daß hv/f sdtivrn
en.vieghcl.it u
riefen Bli»k ln das Wesen de- psyeiio]>hys)sehen Ikruileitemu* zu
werfen*). . '/ y‘p ? -“o* r >. P,. '//. . - •
Psyche udc! unwillkürliches Nervensystem.
425
Versuch einer psychophysiologischen Theorie.
Wenn wir bei der Forschung nach dem Zusammenhang zwischen
psychischen Prozessen und den Schwankungen im unwillkürlichen Ner¬
vensystem von unserer Auffassung über das Wesen der psychophysio¬
logischen Reflexe, zu der wir oben gelangt sind, ausgehen wollen, so
ist die erste Frage, welche beantwortet werden muß: welcher psychische
Zustand als das auslösende Moment für diese Reflexe zu betrachten ist.
Die Beantwortung dieser Frage wird uns erleichtert durch die grund¬
legenden Untersuchungen von E. Küppers 3 ), welcher zu folgender Mei-
nung gelangt ist: ,,Der für die Reaktion*) wesentliche Faktor muß zu
suchen sein in dem Moment, das allen Eindrücken gemeinsam ist,
nämlich darin, daß sie die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Dabei /
ist es offenbar gleichgültig, ob sich die Aufmerksamkeit mehr aktiv j
oder mehr passiv zum Reiz verhält.“
Ist also nach Küppers die Heranziehung der Aufmerksamkeit der
essentielle psychische Prozeß des Ps. PI. R., so wird beim Ps. G. R.
von den meisten Untersuchem die durch den Reiz verursachte Emotion
als das den Reflex auslösende psychische Geschehnis angenommen.
Grünbaum 4 ) jedoch bestreitet diese Meinung und sieht anlehnend an
Küppers Auffassungen in der Heranziehung der Aufmerksamkeit den
wirksamen psychischen Faktor.
Zwischen Grünbaum 5 ) und Godefroy fl ) hat sich in letzter Zeit eine
Polemik über diese Theorie entwickelt. Ich glaube, daß wir nicht in
diese Diskussion einzugreifen brauchen, wenn wir als das Wesentliche
der psychophysiologischen Reflexe die Präokkupation, bzw. die Er¬
höhung des Bewußtseinsniveaus betrachten. Denn diese besteht sowohl
bei der Aufmerksamkeitskonzentration als bei der Emotion, und jeder
Reiz, wie er auch geartet sein mag, welchen Gefühlston er auch hervor- \
ruft, verursacht in allen Fällen bei der ruhig daliegenden Vp. eine mo- j
mentane Hebung ihres Bewußtseinsniveaus; nichts ist also näherliegend,
als daß wir in diesem Prozeß das ausschlaggebende Moment erblicken.
Nun haben wir aber auf der physiologischen Seite der psycho¬
physiologischen Reflexe die anfängliche Sympathicusreizung als den
wesentlichen Teil derselben erkannt; der Gedanke liegt also nahe, daß
diese Sympathicusreizung stattfindet während oder infolge einer Erhöhung
des Bewußtseinsniveaus. Wenn diese Ansicht richtig ist, so müssen
wir bei einer längerdauernden Erhöhung des Bewußtseinsniveaus auch
einen deutlichen Sympathicuseffekt beobachten können.
Das ist nun tatsächlich der Fall. Schon in der ersten Mitteilung
haben wir gesehen, daß bei psychischer Aktivität eine Beschleunigung
des Herzschlages, eine Kontraktion der peripheren Gefäße, eine Be¬
schleunigung der Atmung und eine Erweiterung der Pupillen auftreten.
*) 1. c., S. 152.
28*
426
A. A. Weinberg:
Diese Erscheinungen weisen alle auf eine Reizung des sympathischen
Systems hin. Auch bei Unlustempfindungen sind stets dieselben Er¬
scheinungen beobachtet worden. Der Befund vieler Untersucher, daß
bei momentaner Konzentration der Aufmerksamkeit eine Verlang¬
samung des Pulses auftritt, steht mit diesen Tatsachen nicht im Wider¬
spruch, denn man hat allgemein nicht den Vorschlag des Ps. PI. R.,
sondern die größere Senkung im zweiten Teil des Reflexes als den
eigentlichen Reflex betrachtet; die in diesem Teile befindlichen lang¬
samen Pulse haben daher den Eindruck erweckt, als sollte momentane
Aufmerksamkeitskonzentration von einer Verlangsamung des Herz¬
schlages begleitet sein.
Die eben genannten Sympathicuseffekte sind nicht die einzigen,
welche bei Präokkupationszuständen beobachtet worden sind; speziell
von Cannon und seinen Mitarbeitern, aber auch von anderer Seite
sind mehrere Erscheinungen beschrieben worden, welche auf eine er¬
höhte Sympathicuswirkung bei diesen psychischen Prozessen hindeuten.
Wir werden uns später noch mit diesen Untersuchungen befassen;
was jetzt aber an erster Stelle interessiert ist die Frage, ob auch bei
entgegengesetzten psychischen Verhältnissen, also bei einer Einsenkung
ctyes Bewußtseins, z. B. im Schlafe, die Wirkung des parasympathischen
j "feiles des unwillkürlichen Nervensystems in den Vordergrund tritt.
1 t)iese Frage nun ist in bejahendem Sinne beantwortet worden, und
! zwar von Barbara 1 ). Auf Grund eines eingehenden Literaturstudiums
1 ist dieser Autor zur Auffassung gelangt, daß im Schlafe zahlreiche Er-
I scheinungen auf eine erhöhte parasympathische Wirkung hinweisen.
Von den von mehreren Forschem beobachteten Tatsachen möchte ich
j einige der wichtigsten hervorheben: die Verlangsamung des Herz-
■ Schlages, die Erweiterung der peripheren Blutgefäße, die Erniedrigung
des Blutdruckes, die Verlangsamung der Atmung, die Erniedrigung
der Körpertemperatur, die Myosis, alles Erscheinungen, welche auf
! eine Erniedrigung des Sympathicustonus (von Bok 8 ) Asympathico-
reflexie genannt) resp. auf eine Erhöhung des Parasvmpathicus- (resp.
Vagus-) tonus hindeuten.
Sowohl die Erhöhung als auch die Erniedrigung des Bewußtseins -
niveaus scheinen also mit typischen Veränderungen im unwillkürlichen
Nervensystem einherzugehen, und zwar scheint die Erhöhung des Be -
vmßtseinsniveaus von einer erhöhten Sympathicuswirfaing und die Er¬
niedrigung desselben von einer vermehrten Parasympathicusivirkung
begleitet zu werden.
Wenn es uns gelingen würde, für eine solche Gesetzmäßigkeit in
den Beziehungen zwischen Psyche und unwillkürlichem Nervensystem
zwingende Beweisgründe herbeizuführen, so würden wir imstande sein,
für mehrere wichtige Phänomene sowohl auf dem Gebiete der Patho-
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
427
logie als auf dem der Physiologie eine einfache Erklärung zu geben.
Namentlich das Problem der körperlichen Begleiterscheinungen psy¬
chischer Krankheiten und im allgemeinen das des Zusammenhanges
von Körperbau und Charakter 9 ) würden damit um einen wesentlichen
Schritt weitergebracht sein. Denn wenn wir erst einmal eine Einsicht
bekommen haben in den Parallelismus zwischen psychischen Prozessen
und den Schwankungen im unwillkürlichen Nervensystem, dann wird
auch die Verbindung zwischen psychischem .Geschehen und der Tätig¬
keit der endokrinen Drüsen dem Verständnis nähergebracht werden
können.
Bevor wir jetzt über die Ergebnisse einiger eigenen Reihen von Ver¬
suchen berichten, wollen wir noch einige der wichtigsten Befunde an¬
derer Autoren, welche unsere Hypothese stürzen können, einer kurzen
Besprechung unterwerfen.
An erster Stelle möchte ich der grundlegenden Untersuchungen von W. B. Can-
non und seinen Mitarbeitern über die körperlichen Veränderungen bei den wich¬
tigsten Emotionen gedenken. Die Resultate dieser Untersuchungen sind nieder¬
gelegt in dem geistreichen Buch: „Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage“,
und die wichtigsten derselben will ich hier erwähnen.
Cannon und Washburn 10 ) haben mittels Röntgenstrahlen die Magenbewegungen
von Katzen beobachtet sow r ohl während diese sich ganz ruhig verhielten als auch, y
wenn die Tiere sich in einem Angstzustande befanden. Während die Bewegungen [
bei psychischer Ruhe sehr schön zu verfolgen waren, blieben dieselben aus, wenn l
die Tiere ängstlich waren. In einem Falle hat Cannon am Magen eines Katers ^
während 1 Stunde nicht die geringste Spur von Peristaltik beobachtet, obgleich
das einzig sichtbare Zeichen einer Erregung ein fortwährend schnelles Hinundher-
schlagen des Schwanzes war. Auch beim Hunde, beim Meerschweinchen und beim V
Kaninchen sah Cannon die peristaltisehen Bewegungen bei der geringsten Auf¬
regung aufhören. Die letzteren Untersuchungen wurden bestätigt von Auer 11 ),
welcher fand, daß das Angreifen des Tieres für das Festbinden auf ein Brett die
Bewegungen des Magens für eine kürzere oder längere Zeit stillegt. Sobald die
Peristaltik wieder zurückgekommen war, wurde sie aufs Neue aufgehoben,
wenn das Tier aus irgendeinem Grunde erschrak oder wenn es sich krampfhaft
wehrte. Auch die Beobachtungen an Hunden sind bestätigt worden; Lommel la )
fand, daß bei kleinen Hunden in fremder Umgebung während 2 oder 3 Stunden
die Magenbewegung ausbleiben kann. Immer wenn die Tiere Zeichen von Unruhe
oder Depression gaben, wurden die Bewegungen gehemmt und die Entleerung
des Mageninhaltes verlangsamt.
Patterson 13 ) hat bei Fröschen nach psychischen Erregungen infolge von
Erleuchtung oder Verdunkelung des Zimmers Beeinträchtigung der Hunger¬
bewegungen des Magens beobachtet.
Bossbach 14 ) konstatierte bei einer Frau mit sehr dünnen Bauchdecken so- ^
fertiges Verschwinden selbst starker vorhandener peristaltischer Darmbewegungen •
bei Gemütsaffekten.
Daß eine Aufregung imstande ist, die Vagusinnervation des Magens zu hem¬
men, zeigen auch die Versuche über die Magensekretion von Leconte lb ) und be¬
sonders die von Bickel und Sasaki 18 ). Die letztgenannten Forscher hatten einen Hund
mit Oesophagus- und Magenfistel nach Pawlow . In einem typischen Versuch
wurde das Tier während 5 Minuten scheingefüttert, worauf die Magensaftsekretion
428
A. A. Weinberg:
20 Minuten fort dauerte, in welcher Zeit 66,7 ccm reiner Magensaft geformt wurden.
An einem anderen Tage wurde eine Katze in die Nähe des Hundes gebracht,
worauf dieser rasend vor Wut wurde. Nun wurde eine Scheinfütterung von 5 Mi¬
nuten Dauer mit Fleischstückchen vorgenommen. Trotzdem das Tier hungrig
war und mit Gier gefressen hatte, war die Saftabsonderung nicht nennenswert.
Während 20 Minuten wurden nur etwa 9 ccm eines reich mit Schleim vermischten
salzsauren Sekretes gesammelt. Ein anderes Mal wurde durch Scheinfütterung
Magensekretion hervorgerufen und wurde, als die Magensaftabsonderung eine
gewisse Höhe erreicht hatte, der Hund 5 Minuten lang durch Vorhalten der Katze
geärgert und danach der Saft weiter gesammelt. Während der nächsten Viertel¬
stunde flössen nur einige Tropfen einer stark schleimigen Flüssigkeit ab. Dieselbe
Erscheinung, Aufhören der Magensaftsekretion durch Aufregungen, konnte Bickel
beobachten bei einem Mädchen mit Oesophagus- und Magenfisteln.
Ein sehr wichtiges Phänomen ist die vermehrte Sekretion des Beinieren-
hormons, des Adrenalins, unter dem Einfluß von psychischen Erregungen, wie
Cannon und Delapaz 17 ) nachgewiesen haben. In diesen Versuchen wurde eine
Katze, die auf einem geeigneten Brett sanft befestigt war, von einem Hunde an¬
gebellt, meistens während 5—10 Minuten. Das Blut wurde mittels einer das
Tier nicht störenden Methode aus der Vena cava inferior in der Nähe der Ein¬
mündung der Beinierenvenen entnommen, und auf Adrenalin nach der Magntts-
schen Methode geprüft. Für technische Details sei auf das äußerst lesenswerte
Buch hingewiesen.
Auch Reizung des N. ischiadicus mit einem Wechselstrom ruft eine vermehrte
Adrenalinbildung hervor, wie Cannon und Hoslin 18 ) dargetan haben.
Diese Versuche sind später von mehreren Forschern, auch noch einmal von
Cannon selbst, bestätigt worden. Kürze halber gebe ich nur die Literatur, wie
sie von Cannon referiert wird*).
Eine andere neuerdings viel besprochene Erscheinung bei Schmerzen und
großen Emotionen ist die Vermehrung des Blutzuckers und das Auftreten von
Glucose im Urin. Weil die erstere Erscheinung für uns die physiologisch wichtigere
ist, mögen nur einige der wichtigsten Befunde, welche darauf Bezug haben, an¬
geführt werden.
Hirsch und Reinbach 19 ) und fast gleichzeitig Jacobsen 20 ) waren die ersten,
welche zahlenmäßig das Vorkommen einer psychischen Hyperglykämie bei Ka¬
ninchen festgestellt haben. Bang 21 ) konnte dies bestätigen; Loewy und Rosen -
berg 22 ) fanden ebenso bei Hunden unter dem Einfluß von Schmerzen einen er¬
höhten Blutzuckerwert, dasselbe haben Hirsch und Reinbach 23 ) beobachtet.
Cannon , Shohl und Wright 21 ) haben außerdem bewiesen, daß die Glykosurie,
welche infolge von Emotionen auftritt, von der Absonderung des Beinieren¬
sekretes abhängig ist, da in ihren Versuchen nach Exstirpation der Beinieren
keine emotionelle Glykosurie mehr aufzufinden war.
Auch beim Menschen ist wiederholt Hyperglykämie infolge von psychischen
Erregungen festgestellt worden**). Ich nenne nur die Arbeiten von Wigert 25 ),
Heidema 26 ) und Kooy 21 ).
*) Americ. journ. of physiol. 14, 307. 1912; Hitchings , Sloan und Austin,
Cleveland med. journ. 12, 686. 1913; Levy, Heart 4, 342. 1913; Florovsky , Bull, de
l’acad. imperiale des Sciences Petrograd 9, 119. 1917; Redfield, Journ. f. exper.
zoology 26, 295. 1918; Cannon , Americ. journ. of physiol. 50, 399. 1919. Stewart
und Rogoff , Journ. of exper. med. 20, 637. 1917, bekamen abweichende Ergebnisse,
was Cannon ihrer eigenartigen Methodik zuschreibt.
**) Die abweichenden Befunde Wuths (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie
64, 83. 1921) dürften die Folgen der gewählten Methodik (u. a. keine Nüchtern-
werte) sein.
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
429
Die Kuryen bei Präokkupationszuständen.
Nachdem wir in dem vorigen Abschnitt eine Anzahl Beweise für
die Richtigkeit unserer Auffassungen aus den Arbeiten anderer Unter¬
sucher angeführt haben, wollen wir uns jetzt der Besprechung einiger
eigens zu diesem Zwecke angestellten Versuchsreihen zuwenden. Diese
Versuche betreffen das Verhalten der plethysmographischen, der gal¬
vanischen und der elektrokardiographischen Kurven bei Präokku¬
pationszuständen. Schien es mir doch schon von vornherein wahr- j
scheinlich, daß auf diese Weise neue Stützen für die psychophysio- :
logische Theorie aufzufinden wären. Es stellte sich in der Tat heraus,
daß nicht nur die schon bekannten Erscheinungen bestätigt, sondern
auch einige neue Beobachtungen gemacht werden konnten, welche mich
in meinen Ansichten bestärkten.
Die Versuche bezweckten also, einen Präokkupationszustand her¬
vorzurufen. Dafür kamen drei Methoden in Anwendung, welche ich
in den meisten Fällen nacheinander angewendet habe. In diesen ty- ■
pischen Versuchen wurde die Vp. nach der Aufnahme einer Ruhekurve
auf gef ordert, gut aufzupassen und sich aktiv zu verhalten. Zu gleicher \
Zeit wurde ihr die Versicherung gegeben, daß nichts geschehen würde,
was sie beunruhigen könnte. Danach wurde ein Spannungszustand
verursacht, indem ich der Vp. sagte, daß ich ihr bald eine Rechenaufgabe
aufgeben würde. Als auch von diesem Zustande eine Kurve aufgenom¬
men war, wurde der Auftrag gegeben und während der psychischen
Arbeit die Kurve weiter registriert. Der Auftrag war bisweilen eine
schwierige Multiplikation von Zahlen mit zwei Ziffern; in anderen Fällen
wurde die Vp. ersucht, sie solle eine gegebene Zahl von einer Ziffer
immer wieder mit derselben multiplizieren, bei größeren Zahlen durften
die vorderen Ziffern fortgelassen werden. Auch wurde zur Beruhigung
immer nachdrücklich hervorgehoben, daß die Endzahl nicht gesagt zu
werden brauchte, um die Präokkupation nicht mit Erregungszuständen
zu trüben. Die nähere Beschreibung der Versuchsbedingungen möchte
ich an dieser Stelle unterlassen; man kann sie in den beiden früheren
Mitteilungen finden.
a) Plethysmogramm .
In den Abb. 4 und 5a, b und c sind ein paar Kurven wiedergegeben,
welche in einer Sitzung bei derselben Vp. nacheinander aufgenommen
worden sind, und welche die Ergebnisse der Präokkupationskurven des
Plethysmogramms gut illustrieren.
In der Ruhekurve der Abb. 4 sind die Haupteigenschaften der
plethysmographischen Kurve, wie ich sie in der ersten Mitteilung be¬
schrieben habe, deutlich zu erkennen. Die Pulsform ist eine regelmäßige,
die dikrote Welle tritt gut hervor, der katakrote Teil der Pulse verläuft
m
S \, W-^nlierg :
übrigens. glatt. Die duspu^d-onVehe Senkung 4 i*r. Kurv*/ ist nn vjtfß
Tri .1 gelben deutlich ausgeprägt, iw xveiiefeTk Vvrlauf wird : *if dürvft
die ;Mayer*e)\i>n Wellen etwa* Vi»rwm*ht. Aneb rb\$ KitMflngervvr^d^i
;/>r Pulse ü!*)#•} i\)v Stelle d.ov dilotottöi Welle im liispirmin mi<\
<&£ ini Ex^jurium zeigt die- Kurve*. äm<'-]';/ j> r \
der graphixsehen Darateilurig «1er Abb; 11 ist ersichtlich,- daß die re^/ira.-.
Arhvthmapri d>i.s 4 Kohiudlprwvrde-n der Piifae 'Während ifer .vD
PwjS*/-' '.;**■'■,/'*•v*4iÄS*‘ ■">
' *, .v *•%****. «'V*»*,**^ r , » , i-v v, t*-r< «äfrfifcK»
Abb, 4, , A. Ifc, *38 Jtfbre Ableitung f. K-onäeimtbr. 27. XI. IS22.
v *- --•’*•>
Ahli. än.
.\bt» 5c.
Die Abb. ti demonstriert in prä^i »m nt**r Weise di» Verünüvn>ng<$|*
welche ein treten. wenn sieh ein l^Äekku^ cmSwkeih
7 — ikil .4 n\.'\ i .J, .. 1 Z.._. ...._ . 1 ! V •<••-... ‘ \ . »ij ..... 1 .. _, l„-.l
de* Pui*e bekommt melimre kleine Ohdtd(fe|i»VnVTi- ’ivüjl dir .
IhiDhbhe modriger und die r^jurntnrisclien Niv,*aus<;hx^?i?iku:uL f en »kr
’sehtvft^i^elr Ün evkepneh. Koch mehr verändert, sich da*
teufen 4er Kurv* im zweiten Ted (b). nachdem der Vp. angesagt nh
k ><;.»!> :ll . :Ui a.uszuf-1 ihren io,). Die;Pulse worden «tets niedriger,
diknu»' Weib ^rohe/hub/t g/u^..witl der katakrote fNtlsteil orseiieifit
m '■' 5< ' «nt gi'öQ&rm und. klemeTen Zitierungen ausgofüihe Linie!
... , . t , ... ; - . . v
[Vvi.hr utwl lanvillkurinhe* 4 #11
rhte r^piraU’tri^the^- iScbw.ankjirig fev K-vnrv^hnivtüa»^ und der putehfdjeu
<>t nicht odnr’.kMum. viinfinrxtifmdnn. Auch dir Pu!dän<je wird iaim^r
kn rar imd für rr^pinrtoT^ohro Arhythmieu werden Kirfs geringer und
vüul seddießlfeh fast jpuiz r iu\>drvv um k*n (AMe 12, n. b t
il&s Nfetirigitf- Ktvd ;Sr lii)<Aii^wn^lff^v d&$ l^ndnuflirlivr-
werden hi\v;' VV;*r^h»viiidrn der Vcräinlcfdngetv Amd
$$$ *Oi<*lvrrt;t} Wfioiflm hot« Hiftil Krsdiritn.mgrn, . wrlchr.. amveii mir
bekannt, hi* 'jotzl mir vnu kwhmliui Wi.fd.-u sind.
hat, wir 8clumM'-ffe_■ : 5rfit-tW imuki wmdm deti
K 0 ntrak t i d uszVuu and dvir: . tiit*. ; ;t»;' ükssri* fHtfemyueWt,
wmi»? des KJewerw erdenk derPul*
hohem erkannt : • .Da'-.dlnW'
k<:u\M;4ikiiou wikfcf dir Folgt einet
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'.^Ö’ ; dfes^^äf4i);u4iätion mit einer
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voirdeo der Pulse hin weist I;>a U
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fax Bf fr kt dfer
AhiÄUsWÄUtiif wahrend <\ev Ans-
ahnung grnitirT werden öde?- • '
frogar vrpchwinden kann, und *omlt die n spiraOnMsehru^Virhs^t<klingen
■ : <l&x Kurvenniveaus; der der Pulslaiigru li^derjttieher
wrviivu Ivzw verleitwnnirn Uür.nvu, ist für jeden, der mit »-lern Aiitwge-
rusut ns 7.svi f N(*hrn dem ay(ri}>athkrUeTt und dem parasympa i hisrhen
Teil dfes nnwillkürürhru NrjveHsvsi wu* bekannt i>\. ohne ueitrrrs
vemdntlheh; ; ^ 1 * _ - \; -
Bevor feh aürr ?air IWelnriüim# ffet gÄH'&nii&rbäti'•' f^u»kku)>att«uV^kurvon
pberufehe, muß t<di /a? den < üund nirtifeh ■ fh>fuf5.?iets.fchWifeeUemk^ Kurreife
reiche J> ,/.>«$?*>) verivffenflieht hat SnhuMii nehmen Ahb. <> «teilt eiüe *',,#« ?mik
Kurve 1>> »itvr. lu tiT^'tkai die Pulsr* ans -ojjWr
kutur. Kumm wj,v nievv hiihr Aue}? u l» jn jtet AnfyiVwzeit rneiner f»l« { }?v.‘Rm*
gia7.l1] acherif Putrmjebun^n einige Mal* erhaifrn , Die* Abh. 'T. gibt ejn ^ehone«
Beispk'] eiiihr di^t ti^rn Kurve: , >Viiv mAn «fehl, k»nd tjk; .PiüsferöJCii; ifetiaii- v<rri
Ähb v B'-;«dürcliiKWK AiitUMk• uiid.-äifely. hmr Verumarj)! der Ri>.»z (B.) .koioe '.Krv.^ti-
y) Niehe dfe i-Mitfe. ,L C;. 8. 5-hifr ’;.: v-
m.
A. A. .Weinberg:
v hvv.*ii'ikuriti im Wild aU? *rhf lypjsrh in»
\V»i* yi‘ar .ahrr dei* J'all T Irh liaHe die .'.Fl^i^flttiyle *W. 3^^ i m> :
f«>f i;ut dir Hand d»-*r Vp. daß dir Pulse der-Kurv »*m irrntf war\»n i‘l»r>iaä
li« m1/reJH- lviirven|>ft|MVr leh hatte dtAbalh iyiiv VV^Iit Vielehe*
Luft ' im ftrhiaueh in Vrrhmdirag setzlr mit drr Außenluft. ,
A
‘ l!v
i]
•i ifcvi'A • W|, |f r V.V',l
vk«.. Nfc, ^ iwfl, 'x, YV*ifiw, y>U, v^rjU^v-i>
'VvdD$*'‘ «fc/
Vf' :. dd'k v:';-■ ‘'/^‘afiaBKUwi* V twis
3 gj£
AM>. 7. £. SV.-t\, £. Jahre. AbleUuiiy'11.. Ohnr KtMMpeiifeit»«> d**i rc*?i»,
ertöte R^tt<!nlisßfc*r. I*v i,?2 V Jtf£&
Luft;vor^Liet>UJlg^ri m T^nring^rr», Da* auf dfos«? XV&fyr entrdaiHlejH/ Ledk K«r
utw *U grüß, XVk' si«>b im m/itvreTi Verlaut div» Versuchen l,»uaii8Sf$lte: ;IV- Vp.
&$£ nrimlk-h auf emmai &\\ .zu. klagen, dir &md<* ivgre zu fest 'angelegt und tter
ihr-weh. Ai.-* irh nun dir Binde etwas iorkrrrr , wurden dir Pulise-xii klein
■für /Oe Registrierung. IrH drehte d^h&Hrdüs. Ventil ^ iind äa.ji au rneixiem -großen
• rTviC. T- 'mS-.*.- 2 f jj| • • ■ A> jj • iji jlUj 'L j|' ‘ V -' | *" ■'* ■“■ - " ittü - v ^ -^v,>
AMr.v. ir. Vi 'V.. L. *2rt Ji*iih*. ..Abtkitiuikll: Oh'i»** Kennen
fcUnp .K*m$eft&U0Tj lfi. III. Itl'/i. V, •?;V'
t« „. v i- i • i. . , i . i -i.l * . ..:*.... «•» . , ... - . _
. . T . c . _ _..,I|P IpiP(L_ f _ ..^i^prit^dcheiii
vgvföiü • K«?iz-Wb ^'gaai
• A-'.vi> J- '•__. / \t i. oi Al'i.. tyj r\ in
(••«'*•*;-!* Hr*fha«;htunu hdd dir ¥ffl&b wufv.rrfrn t oh es uurh nu^fr h vvair. d.iö .
/" L.7»ff' di•' Kurwr nidit aufrukr K^mraktüm xU>-' HimgeLvßr, :<tmdrro
.. » V ) , . f - . . . . < •. . I , . ., . . s » \ . f , \ , •- , . • II/lir.ÄlttTkl 17 ., HlniV. • Jl> (J 4 « . . t •
•, ■ ' ■ "■ ^ ‘ , :, r •• ,,<A » rVIVx.. •
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'**i
Psydie umi unwillkürliches KrrveusyM^m. 433
grtwu ülivglrogyn würden. \Verti) it. B der Arm der ~vjmi&tü dünn ist
mvi dmlurt li nicht: pmtjs äii ik>ii ixumminurk öw .Apparates*) ansciilieüt,.so kann
inan flieh k*Jehi verstellen, da 13 hei jedem JV,insohfag ein wenig Luit zwischen !
;<’i\irmni$a^k umi Anti nach außen entsv;ddieii. ktfnö,, ;»tuiut ein I*>ok ent^tghV:»
Mau konnte- diesen Fehler dadutob imssehuUoh. daß mau die Lücke zwischen Arm
nnd Hand der PJdli^mdgraplHmröiuv mittels einer FlaneUbjfide es
A au .2 andeien lP;\mden getan hat 4 *), Ih Jotuj hat aher I« nie idonellhnuii*
/iTiüoJret. xmd br^ehrsübt ^Iber einen Versuch an einem ISjabri^ ii. ••iungvri mit
dünnen Annen, bei dem im Plptiiysirjograrmn entweder g&r. .kfUf
keine Palst weilen tu- schon waren. De Jong erklärt tliesren.. ftyhkft&dmji'ü ach *o,
„daß der..ClümmiJ^üW.zur''weif /ist;— meht glatt am. Arme im^i büßtKv*tlj|j8 also
keim* gute Übertragung .auf die Media für die •feineren IHüfi»^«>1101^*
kannd.
.übrige^.'ist-raif in .«patereti T^miehen mehrmals ^hi#eu, dt&idt al> :
sichtliches* Öffüen th’S Ventüs eine Kurve,, wie die t *sp^6Wh^n Vv Dt Jwqfö
W^kwimenV; Mlp nach tmnrien soeben )m^I& icrfojtoif: . V ersticfutfr aiifg^Ommerien
Karren #m<i ifcim-wittfi frei geschlossenem VeTttil registriert worden.
Abb» 0 n, Abb, 9 b, Ahb. *U\
Jbb. tf*, b ürtd A Y*- 4* d.: jÜ. &J,Ableitung II nufc Romlpeiiftatün^strunN Atii
p>. JYAtÖÖi
h) &(itwnityraimn* , ,r " * ,;. /
Ein außt 1 ^ 0.
iiormnn«^ Kurve.. l)io Ko nt ri>U kurve wurde nPUel* einer auf den*
r&hpm ÖberArm rube^cion Pitdrvtrto aafgo^eiphit^t. ln Kurvt 4 : v 0^--:e.;. d:,
welche registriert wurde, als die Vp. sich noch ht psyoliisch^.r' Ruhe be-
fand, sehen. wir, wie das Oadvaimgruniui im Inspiriuni sieh senkt, und int
Exspiruim ansteigt. In Kurve Mb ist von «dnet Atiimnussehwankung
äieM■< : /m bemerken* der Vp. war eine Minute zuvor .angesägt, duß ihr
"nur Utydsen^ufgabe o vif gegeben weiden wünbv Nachdem ich die
%*:-omunL> noch ra-grüßiM hatte dur.*h die Mitteilung daß jetzt die
Aufevb»* kommen würde, wurdt du Kurvi* aufgmimnmei!, von der die
Abb Uv einen charaktcri^iis« Imu d\‘»t dar.<ie[»t : de; ncJuean.kwiijZti' ver-
*) Für <Üo 6^»dtr<*U»uhvi dr- Apparate- i i*i<. »ee..sivg»uraj)h mu.h LfA/Wuni,)*
••‘'•k»- Ui#* l Alittedumr.
**} f - l.o
434
A. A. Weinberg*:
laufen jetzt in der entgegengesetzten Richtung , sie steigen im Inspirium
und senken sich im Exspirium! Abgesehen von der speziellen psycho¬
physiologischen Deutung, von der sogleich die Rede sein wird, möchte
ich hier nachdrücklich betonen, daß in diesen Kurven ein schöner Be¬
weis liegt für die Unabhängigkeit der Atmungsschwankungen des
Galvanogramms von den Armbewegungen. Denn während die Kontroll-
kurve denselben Verlauf beibehält, wird unter dem Einflüsse des ein¬
getretenen Präokkupationszustandes die Richtung der Atmungsschwan¬
kung des Galvanogramms umgekehrt.
Wie können wir uns nun diese Umkehrung erklären?
Wir haben schon früher gesehen, daß die Richtung der normalen
Atmungsschwankungen vom Überwiegen des sympathischen, bzw.
des parasympathischen Einflusses abhängig ist, und die Erklärung des
Verlaufes des Ps. G. R., welche so ermöglicht wurde, war mit Hinsicht
auf die hiermit übereinstimmenden Erklärungen des Ps. PI. R. und des
Ps. E. R. an sich wieder eine Stütze für diese Auffassung. Wir können
uns nun vorstellen, daß bei der Präokkupation die umgekehrte Schwan¬
kungsrichtung auch auf ein Überwiegen des Sympathicuseinflusses
während der Ausatmung statt während der Einatmung hindeutet.
Anders gesagt, würde die umgekehrte Schwankungsrichtung darauf
hin weisen können, daß bei der Präokkupation nicht nur eine Reizung
des parasympathischen Systems, sondern auch eine des sympathischen
stattfindet. Ist diese Reizung eine mäßig starke, so könnte daraus ein
gradliniger Verlauf resultieren; übertrifft aber die exspiratorische
Reizung des sympathischen Systems die des parasympathischen, so
könnte dadurch eine Umkehrung des Schwankungstypus in Erscheinung
treten. Diese Anschauungsweise ist im Einklang mit der allgemeinen
Annahme, daß die Atmungsschwankungen der Ruhekurve auf eine
Reizung des parasympathischen (resp. Vagus-) Systems während des
Exspiriums beruhen. Sie bringt uns aber zur Schlußfolgerung, daß bei
der Präokkupation eine erhöhte Reizbarkeit des Sympathicus besteht,
welche so groß sein kann, daß die Reizung des Sympathicus während der
Ausatmung derjenigen des parasympathischen Systems gleichkommt
oder sie sogar übertrifft. Diese erhöhte Reizbarkeit des Sympathicus
während der Erhöhung des Bewußtseinsniveaus ist aber gerade die
Erscheinung, zu deren Annahme wir auf anderem Wege gelangt waren,
und wofür also die Umkehrung der Atmungsschwankungen im Galvano¬
gramm einen neuen Beweis darstellt.
Es fragt sich aber, ob der Übergang von einem Ruhezustände in
eine Präokkupation oder umgekehrt auch durch eine eindeutige Verlaufs¬
richtung des Galvanogramms charakterisiert ist. Unter meinen Kurven
befinden sich 7, in welchen das Galvanogramm einen schrägen Verlauf
nimmt und in welchen eine typische, mit den psychischen Verhältnissen
Psyche uiVfl X^r^nsysf™.. 43f>
v , .* , > , v i’! k \ s
üI>wdvi*ti ivi mei ute Verlau&riehtung narhzuweisen ist. 'Die Kurven 10 a
^m5 tn welche tnihnt tetbar naeheirmmier aafyömnimen sind,
«hes illustrieren
JE«'.handelt sieh ofjfrii bar:iütt eint*?)’ .Cb«rgai*lf. y01 * ; dw
in flen Ruberiistand DLe : Ar.uui ügs>ebivank ungen sind senkend im
\Vv> .';■/ ' A ■
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Ä&YSSgS.'' s‘
er.".. ^ -säv-.•■ , **. r y£v- ••'.>:>. ^-v. .;v> : : *-. >, - v
AMr„ , 0. iM. n.j 'v.. -*te «tttfire Ablertaiyr U. Mit Kmup^n#atitni^^ont T ÜÖ2L
daß die Atmungsseh\rtfnku(vpen Oes Galtan^rarum* in Kurve KM nicht
oder kaum iuui itr "Kurve. ktKrj/tthii#•äe.Bti&h^ nncl uher?
* X,y.r •
-j\ ^ C •• ' X
V / \ /; „
—V. .; : --,X .. ;Xn ; - ••
■MtoipttiMS
Ajt»b. 10 h. G. M. IV V «‘VH .[»i}iri‘. AhU'ituiuz II. Mit Koinji(mHHti.>o*-rr\.»n*. il X. r*i&i
*!m> Uns dem Verhalten Oer l’uKkurven. Ein Blick auf die TaU-Hvo 11 a
hr&veisf,das-: die Pulse Werden stets langer und ditr.'i^^intt^meheo
Arhythmien tttcdx »huahehrr
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436
A. A. Weinberg:
Aber auch bei Betrachtung der Kurvenbilder kommen wir zu dem¬
selben Ergebnis. In Kurve 10a sind die Pulse sehr niedrig und die
katakroten Linien unregelmäßig, die respiratorischen Niveauschwan¬
kungen sind schlecht entwickelt. In Kurve 10b jedoch w r erden die
Pulse stets höher, die dikroten Wellen stets deutlicher und die übrigen
Zacken der katakroten Pulsteile stets schwächer; außerdem werden
die respiratorischen Niveauänderungen stärker und die ganze Kurve
steigt langsam, was wohl auf die Entspannung der Gefäßwand und die
dadurch bedingte größere Blutzufuhr zurückgeführt werden muß.
Es scheint also möglich, aus der Verlaufsrichtung des Galvano¬
gramms auf die Entwickelung einer Ruhe-, resp. einer Präokkupations¬
kurve schließen zu können. Man darf das aber selbstverständlich
nur dann tun, wenn sich in der Kurve eine unzweideutige galvanische
Ruhekurve mit deutlichen Atmungschwankungen befindet. Denn man
darf seine Kurven nicht mit einer Ruhekurve vergleichen, welche an
einem anderen Tage aufgenommen worden ist, weil die Richtung der
Atmungschwankungen der galvanischen Ruhekurve sich von dem einen
auf den andern Tag umkehren kann.
c) Elektrokardiogramm.
Wie in der ersten Mitteilung auseinandergesetzt ist, habe ich ein
ganz anderes Verhalten der Zacken des E. K. G. in der Ruhekurve
während der Respiration gefunden als alle früheren Untersucher. Wäh¬
rend diese bei der 1. Ableitung ein Niedriger werden aller Zacken während
der Einatmung und ein Höherwerden während der Ausatmung beob¬
achtet haben, fand ich bei der Einatmung nur ein Niedriger werden der
R-Zacke, aber ein Höherwerden der P- und der T-Zacke, und bei der
Ausatmung das Umgekehrte. Schon damals sprach ich die Vermutung
aus, daß die Ergebnisse der anderen Untersucher die Folgen eines Prä-
okkupationszustandes der Versuchspersonen sein könnten. Bei darauf¬
hin angestellten Versuchen stellte es sich nun in der Tat heraus, daß
diese Vermutung richtig war, m. a. W., daß die bisher publizierten und
ausgemessenen E. K.O. als Präokkupationskurven anzusehen sind. Denn
erstens fand ich bei 2 Personen am Tage vor einem wichtigen Examen
ein gleichsinniges Verändern der Zacken während der Respiration,
während nach dem bestandenem Examen die Höhen der R-Zacken
wieder in der entgegengesetzten Richtung schwankten wie die der
P- und der T-Zacken, also wie bei der gewöhnlichen Ruhekurve. Aber
überdies habe ich in mehreren Versuchen feststellen können, daß bei
künstlich hervorgerufenen Präokkupationszuständen die entgegen¬
gesetzten Schwankungen der R-Zacken gegenüber den P- und T-Zacken
sich in gleichsinnige veränderten. Ich möchte diesen Befund demon¬
strieren an denselben Kurven, an welchen wir das Verhalten des Pie-
Psyche und unwillkürliches ^Nervensystem.
437
thysmogramms bei dem Übergang von der Ruhe in die Präokkupation
studiert haben (Abb. 4 und 5, a, b, c). Die Höhen der P-, R- und T-
Atmung
Puh
0,96 Sek.
0.78 Sek.
1,8 m. AI.
1.1 m. M.
11.2 m. AI
9,0 m. M.
3.1 m. Al.
2,6 m. AI.
Abb. 11.
Zacken sind in den Kurven der Abb. 11 und 12 a, b, c ausgemessen
nach der in der ersten Mitteilung beschriebenen Methode.
In Kurve 11 sehen wir das regelmäßige Verhalten einer elektro-
Atmung
n , 0,86 Sek.
1 uU 0.76 Sek.
r, 1,5 m. AI.
1 1,0 m. AI.
9,0 m. M.
7,0 m. AI.
2.8 in. AI.
2,0 m. AI.
Abb. 12 a.
kardiographischen Ruhekurve: die R-Zacke wird niedriger im Inspirium
und höher im Exspirium, die P- und T-Zacken schwanken in der ent¬
gegengesetzten Richtung. In Kurve 12 a finden wir noch denselben
Atmung
Intp.
Eisp.
Puh
0.88 Sek.
0,7 t Sek.
P
R
1.3 m. AI.
1,0 nt. M.
9,2 in. AI.
7,1 m. Al.
T
2,7 m. AI.
2.0 m. AI.
Abb. 12 b.
Zustand, trotzdem sich die Vp. aktiv verhält und die Pulskurve schon
eine deutliche Veränderung aufweist (vgl. S. 430). In Kurve 12 b war
der Vp. angesagt, daß sie eine Summe auszurechnen bekommen sollte,
und jetzt sehen wir, wie allmählich die P-Zacke anfängt, in umge-
438
A. A. Weinberg:
kehrter Richtung zu schwanken: sie wird niedriger während der Ein¬
atmung und höher während der Ausatmung. Die Schwankungen der
T-Zacke werden im allgemeinen wohl kleiner, aber behalten dennoch
dieselbe Richtung bei wie zuvor. Erst während des Ausrechnens der
Multiplikation (Kurve 12c) fängt auch die T-Zacke an in umgekehrter
Richtung zu schwanken, sodaß dann der Zustand erreicht ist, bei wel¬
chem sich alle 3 Zacken in derselben Richtung verändern, also niedriger
werden im Inspirium und höher im Exspirium.
Diese Aufeinanderfolge der Umkehrung, wobei beim Eintreten
einer Präokkupation zuerst die P-Zacke und erst später die T-Zacke
ihre Schwankungsrichtungen verändern, scheint mir, soweit ich aus
meinen Kurven sehen kann, die Regel zu sein.
Bei der Erklärung dieser Umkehrung der Schwankungsrichtung
der P- und der T-Zacken wollen wir denselben Ausgangspunkt nehmen
2,4 m. M.
1,9 m. M. __
Abb. 12 c.
wie bei der Umkehrung der Galvanogrammschwankungen, nämlich,
daß die normalen Atmungsschwankungen der Ruhekurve auf eine Rei¬
zung des parasympathischen (Vagus-) Systems während der Aus¬
atmung beruhen, für welche Tatsache ja auch das Niedriger werden
der P- und der T-Zacke und das Höherwerden der R-Zacken im Ex¬
spirium sprechen. Wenn nun bei der Präokkupation die P- und die
T-Zacken während des Exspiriums höher werden, so wdirde das be¬
deuten müssen, daß in dieser Atmungsphase eine Reizung des sym¬
pathischen Systems stattfindet neben der des parasympathischen
Systems, welche in dem Höherwerden der R-Zacke ihren Ausdruck
findet. Dieses beweist aber nur, daß bei der Präokkupation eine er¬
höhte Reizbarkeit des sympathischen Systems besteht.
Zusammenfassung der Ergebnisse.
Die wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mögen jetzt
der Übersichtlichkeit halber kurz zusammengefaßt werden. Ich möchte
mich dabei an den Gedankengang halten, welcher mich bei meinen Unter-
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
439
suchungen geleitet hat und welcher in der Aufeinanderfolge meiner
Mitteilungen zum Ausdruck gebracht wurde.
Vorher sei nochmals ausdrücklich betont, daß ich mich bemüht habe,
die Versuchsbedingungen so einwandfrei wie möglich zu gestalten; die
Methodik noch einmal zu besprechen, würde zu weit führen, ich möchte
deshalb auf die bezüglichen Abschnitte in den 3 Mitteilungen verweisen.
I. Zuerst wurden die Erscheinungen der Ruhekurven untersucht.
a) Plethysmogramm . Wahrend der Einatmung werden die Pulse kürzer und
niedriger, wird die Stelle der Dikrotie niedriger und senkt sich die Volumkurve.
In einigen Kurven wurde dazu eine Erscheinung beobachtet, welche bis jetzt nur
von Mosso beschrieben war: die katakroten Schenkel der Pulse zeigten im Ezspirium
einen graderen Verlauf als im lnspirium , namentlich die sog. Elastizitätselevationen
waren während der Ausatmung schwächer entwickelt als während der Einatmung .
Diese Erscheinung ist auf ein Nachlassen der Kontraktion der peripheren Blut¬
gefäße, somit auf eine Verminderung des Sympathicotonus wahrend der Aus¬
atmung zurückzuführen in Übereinstimmung mit der allgemeinen Annahme, daß
die Verlangsamung des Herzschlages während der Ausatmung die Folge einer
Vagusreizung in dieser Atmungsphase ist.
Auch für das Höherwerden der Pulse und das der Volumkurve wurde als der
Hauptfaktor die Erhöhung der parasympathischen Wirkung während der Aus¬
atmung erkannt.
Eine Anzahl meiner Pulskurven zeigten schön ausgeprägte Mayer&ehe Wellen.
b) Galvanogramm. Das Galvanogramm hat ebenso wie das Plethysmogramm
Atmungsschwankungeny welche ebenfalls als Äußerungen der Schwankungen im
unwillkürlichen Nervensystem während der Respiration aufzufassen sind . Diese
Schwankungen sind bei der I. Ableitung des E. K. G. — aufgenommen mit Kom¬
pensationsstrom — (rechte Hand — linke Hand) meistens steigend im lnspirium
und senkend im Exspirium, bei der III. Ableitung (linke Hand — linker Fuß)
haben die Schwankungen in den meisten Fällen die umgekehrte Richtung. Im
allgemeinen sind die Schwankungen in den asymmetrischen II. und III. Ab¬
lei tungen stärker ausgebildet als in der symmetrischen I. Ableitung.
Im Galvanogramm kommen langsame Niveauschwankungen vor , welche mit den
Mayerschen Wellen des Plethysmogramms zu vergleichen sind .
c) Elektrokardiogramm. Das E. K. Q. ist wegen seiner momentanen Registration
und seiner eigentümlichen Entstehungsursache sehr geeignet für das Studium der
psychophysiologischen Erscheinungen .
Während alle früheren Untersucher als respiratorische Schwankungen ein
Höherwerden aller Zacken während der Ausatmung beschrieben haben, fand ich
in meinen Ruhekurven im Exspirium stets ein Niedrigerwerden der P- und der
T-Zacke und ein Höherwerden der R-Zacke. Dieser Befund ist in vollkommener
Übereinstimmung mit unseren Auffassungen über die Schwankungen im unwill¬
kürlichen Nervensystem während der Respiration. Ein Literaturstudium über
die Ergebnisse der experimentellen Reizungen der Herznerven zeigt nämlich, daß
das Niedrigerwerden der P- und der T-Zacke und das Höherwerden der R-Zacke
auf eine Reizung des N. vagus hin weist. Die abweichenden Befunde früherer
Autoren müssen als Erscheinungen der Präokkupationskurve gedeutet werden
(vgl. S. 436 dieser Mitteilung).
II. Die psychophysiologischen Reflexe.
Die Untersuchung der körperlichen Änderungen infolge von Reizen, welche
für die Vp. eine psychische Bedeutung haben, ergab folgendes.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIIL
29
440
A. A. Weinberg:
a) Typische Reflexkurven sind nur dann zu erhalten, wenn
1. die vorangehende Kurve eine typische Ruhekurve ist;
2. der Reiz eine mittlere Intensität hat;
3. die Atmung regelmäßig ist und durch den Reiz nur geringfügige Ände¬
rungen erfährt.
b) Der psychoplethysmographische Reflex . Der typische Ps. PL R. hat den
folgenden Verlauf: zuerst Neigung zum Steigen mit meistens verkürzten Pulsen ,
darauf Senkung mit längeren Pulsen — bisweilen den längsten Pulsen der ganzen
ausgemessenen Kurve — und schließlich Steigung bis zur Norm mit geschwinderen
Pulsen. Die Beobachtungen Lehmanns bei Konzentration der Aufmerksamkeit
wurden bestätigt, nur daß die Zahl der längeren Pulse in einzelnen Fällen nicht
bis auf 4, sondern bis auf 2 beschränkt war.
c) Der psychogalvanische Reflex (Ps. G. R.) setzt sich, wenn typisch, zu¬
sammen aus:
1. einer kurzdauernden gewöhnlich nur leichten Schwankung , welche meist un¬
mittelbar nach dem Reiz eintritt , gefolgt durch
2. eine nahezu immer viel größere Schwankung in entgegengesetzter Richtung und
3. eine in den meisten FdUen langsame Rückkehr zum ursprünglichen Kurven¬
niveau.
d) Bei der gleichzeitigen Registrierung des Ps. PI. R. und des Ps. O. R. ver¬
laufen „ typische “ Reflexkurven parallel.
Im Anschluß an die Auffassungen über die Atmungsschwankungen der Ruhe¬
kurven (siehe oben) wurden sowohl der Ps. PI. R. als der Ps. G. R. gedeutet als
Schwankungen im unwillkürlichen Nervensystem. Die drei Teile der Reflexe sind
zu betrachten als die Äußerungen folgender Schwankungen : 1. Uberwiegen des sym¬
pathischen , 2. Überwiegen des parasympathischen , 3. Überwiegen des sympathischen
Teiles des unwillkürlichen Nervensystems.
Bei diesem Erklärungsversuch stellte es sich heraus, daß das Galvanogramm
viel einfacher gedeutet werden kann als das Plethysmogramm durch die viel
komplizierteren — mechanischen — Verhältnisse des letzteren.
Eine wichtige Stütze für diese Auffassungen war die Erscheinung, daß in
den Fällen, in denen statt der gewöhnlichen inspiratorischen Steigung eine Senkung
der Ruhekurve des Galvanogramms zu beobachten war, auch der Verlauf des
Ps. G. R. der gewöhnlichen Verlaufsrichtung entgegengesetzt war.
Diese Betrachtungsweise ermöglichte uns, den Einfluß der Atmung auf die
Form der Reflexkurven und auf den Parallelismus derselben zu verstehen.
Die von der meinigen abweichenden Ansichten über die Physiologie des
Ps. PI. R. und die des Ps. G. R. von Bickel , von Küppers und von De Jang wurden
besprochen.
Die Deutung des Ps. PI. R. und des Ps. G. R. als Schwankungen im unwill¬
kürlichen Nervensystem gewinnt an Sicherheit, wenn wir einige von Bowditch
und Warren und von Mosso beobachteten analogen Erscheinungen an den peri¬
pheren Gefäßen von demselben Gesichtspunkte aus betrachten.
Die Auffassung, daß die Sekretion der Schweißdrüsen einer der wichtigsten
physiologischen Faktoren für die Entstehung des Ps. G. R. ist, spricht wahr¬
scheinlich für, jedenfalls aber nicht gegen meine Ansichten.
Die Untersuchungen von Schilf und Schuberth f nach welchen der zentrifugale
Schenkel der psychogalvanischen Erregung bei Ableitung von den Hinterpfoten
beim Frosch von der Höhe des 4. Wirbels an allein im Grenzstrang verläuft, ergaben
einen direkten Beweis für meine Betrachtungsweise. Gildemeister 180 ) hat denn
auch vor kurzem aus diesen Versuchen den Schluß gezogen, daß der Ps. G. R.
als eine Teilerscheinung eines autonomen Reflexes aufgefaßt werden muß.
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
441
e) Der psychodektrokardiographische Reflex (Ps. E. R.). Auch das E. K. G.
zeigt nach psychischen Reizen Veränderungen, welche infolge der durch die Höhen¬
änderungen der Zacken ermöglichten Erklärung als Äußerungen von Schwankungen
im unwillkürlichen Nervensystem gedeutet werden können. Diese Veränderungen
des E. K. 0. gehen denen des Plethysmogramms parallel.
f) Der psychopupilläre Reflex (Ps. Pu. R.). Äußere Umstände haben mich
verhindert, die Veränderungen in der Pupillen weite zu gleicher Zeit mit denen
der anderen Kurven zu registrieren. In allerletzter Zeit ist aber ein Artikel er¬
schienen von Byrne und Einthoven 31 ), die in auf ingeniöse Weise ausgeführten
Versuchen u. a. festgestellt haben, daß die latente Periode der Pupillenerweiterung
nach Gehörreizen bei Katzen und Hunden ungefähr 0,18 Sekunden beträgt. Wenn
wir in Betracht ziehen, daß der zweite Teil der psychophysiologischen Reflexe
eine latente Periode hat von ungefähr 2—4 Sekunden, so sind wir zu der Annahme
berechtigt, daß die Pupillenerweiterung, welche die Folge einer Sympathicus-
reizung ist, während des ersten Teiles der übrigen psychophysiologischen Reflexe
stattfindet, somit wiederum einen Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassungen
darstellt.
g) Alle diese Tatsachen und Überlegungen geben uns m. E. das Recht, folgende
Definition der psychophysiologischen Reflexe aufzustellen:
Unter dem Namen „psychophysiologische Reflexe “ sind zu verstehen die körper¬
lichen Veränderungen infolge von Schioankungen im unwiükürlichen Nervensystem ,
welche nach Reizen staUfinden , die für die Versuchsperson eine psychische Bedeutung
haben.
HI. Eine psychophysiologische Theorie wurde, ausgehend von dem psycho¬
physiologischen Reflexen, aufgestellt.
a) Der Zusammenhang der psychologischen und der physiologischen Prozesse
bei den psychophysiologischen Reflexen.
Als der wesentliche Teil dieser Reflexe wurde die anfängliche Sympathicusreizung
erkannt. Der Ein wand, daß dieser Teil in den meisten Fällen die kürzeste und
am wenigsten ausgebildete Schwankung darstellt, wurde mit einfachen Beispielen
aus der Psychophysiologie und der Physiologie sowie mit ein paar Kurven von
Reizversuchen an Froschherzen widerlegt.
Als der den psychophysiologischen Reflex auslösende psychologische Prozeß
ist die Präokkupation bzw. die Erhöhung des Bewußtseinsniveaus, welche infolge
des Reizes auftritt, zu betrachten.
Diese Ansicht ist in vollkommener Übereinstimmung mit unseren Kenntnissen
von den Begleiterscheinungen im unwillkürlichen Nervensystem bei psychischen
Prozessen. Aus diesen Überlegungen folgt unmittelbar die Aufstellung folgender
Hypothese:
b) Die Erhöhung des Bewußtseinsniveaus wird begleitet von einer erhöhten
Sympathicusunrkung und die Erniedrigung derselben von einer vermehrten para-
sympathischen Wirkung.
c) Beweise aus der Literatur.
Wie in der I. Mitteilung referiert wurde, treten bei psychischer Aktivität
und bei Unlustempfindungen Beschleunigung des Herzschlages, Kontraktion der
peripheren Gefäße, Beschleunigung der Atmung und Erweiterung der Pupillen
auf. Cannon und seine Mitarbeiter sowie viele andere Forscher fanden bei Schmerzen
und großen Emotionen Veränderungen in der Motilität und der Sekretion des
Magendarmkanals, erhöhte Absonderung von Adrenalin, Vermehrung des Blut¬
zuckers und Auftreten von Glucose im Urin, alles Erscheinungen, welche auf eine
erhöhte SympathicusWirkung hinweisen.
29*
442
A. A. Weinberg:
Dahingegen wurden von mehreren Untersuchem bei einer Senkung des Be¬
wußtseins, wie diese im Schlafe stattfindet, Erscheinungen beobachtet, welche
auf eine erhöhte parasympathische Wirkung hindeuten (z. B. Verlangsamung des
Herzschlages, Erweiterung der peripheren Blutgefäße, Erniedrigung des Blut¬
druckes, Verlangsamung der Atmung, Erniedrigung der Körpertemperatur,
Myosis).
d) Beweise aus eigenen Versuchen.
1. Plethysmographische Präokkupationskurven .
Die Pulse sind im Vergleich mit den Ruhekurven niedriger und schneller, die
respiratorischen Veränderungen werden undeutlicher oder verschwinden ganz.
Die dikrote Welle verschwindet und der katakrote Pulsteil wird in eine wellige
Linie verändert. Die beiden letzteren Erscheinungen sind bis jetzt außer in meinen
Versuchen nur von Mosso beobachtet worden, die übrigen auch von anderen
Untereuchem.
Alle diese Veränderungen deuten auf eine erhöhte Wirkung bzw. Reizbarkeit
des Sympathicus hin.
Die von Mossos und meinen Befunden abweichenden Kurven De Jongs wurden
durch Fehler in der Versuchsanordnung erklärt.
2. Galvanische Präokkupationskurven.
Bei dem Übergang von der Ruhekurve in die Präokkupationskurve werden die
Atmungsschwankungen zuerst undeidlicher , bei noch größerer Präokkupation können
diese Schwankungen sogar den entgegengesetzten Verlauf annehmen! Diese Um¬
kehrung können wir erklären durch — und somit auch als einen Beweis betrachten
für — die erhöhte Reizbarkeit des Sympathicus, wodurch die Wirkung der ex-
spiratorischen Reizung des parasympathischen Systems durch die des sympathi¬
schen übertroffen wird.
In 7 meiner Kurven war der Übergang von der Ruhekurve in die Präokkupa¬
tionskurve deutlich zu verfolgen. Sie war gekennzeichnet durch eine eindeutige
Verlaufsrichtung des ganzen Galvanogramms. Es scheint also möglich aus der
Verlaufsrichtung des Galvanogramms auf die Entwicklung einer Ruhe- bzw. einer
Präokkupationskurve zu schließen, wenn man dieselbe mit der Verlaufsrichtung
der Atmungsschwankungen der galvanischen Ruhekurve vergleichen kann.
4. Elektrokardiographische Präokkupationskurven.
In den Präokkupationskurven schwanken — im Gegensatz zu den Ruhe¬
kurven — alle Zacken des E. K. G. in der gleichen Richtung (vgl. Ic). Die P-Zacke
nimmt, soweit aus meinen Kurven ersichtlich, eher diese umgekehrte Schwankungs¬
richtung an als die T-Zacke. Die Erklärung der Umkehrung liegt auch hier in der
erhöhten Reizbarkeit des Sympathicus, durch welche im Exspirium die Wirkung
der Sympathicusreizung die der Reizung des parasympathischen Systems übertrifft.
So stellt auch die Präokkupationskurve des E. K. G. einen Beweis für meine
Theorie dar.
Sehlußbetrachtungen.
Sollte sich die Theorie, zu der wir somit gelangt sind, auch weiterhin
bestätigen, so dürfte dies für die gesamte Psychophysiologie und Psycho¬
pathologie, wahrscheinlich auch für entfernte Forschungsgebiete wie
z. B. die Philosophie, von Bedeutung sein. Soweit ich sehe, spricht keine
der jetzt bekannten Tatsachen auf dem Gebiete der Psychophysiologie
gegen meine Auffassungen, wenn auch die Formulierung derselben,
wie ich sie oben gegeben habe, vielleicht verbesserungsfähig ist. Es
Psyche und unwillkürliches Nervensystem.
443
handelt sich aber um das Prinzip, daß ein gesetzmäßiger Parallelismus
zwischen psychischem und körperlichem Geschehen nachzuweisen ist,
und diesem Prinzip glaube ich eine experimentelle Grundlage gegeben
zu haben. Ich möchte denn auch meine Theorie die Theorie des 'psycho¬
physiologischen Parallelismus nennen. Es würde zweifelsohne außer¬
ordentlich wichtig sein, weitere Untersuchungen über das Wesen dieses
Parallelismus anzustellen. Leider erlauben mir die Anforderungen
einer privaten psychiatrischen Praxis nicht, die nötigsten Untersuchungen
selbst vorzunehmen; wohl hoffe ich auf Grund meiner Kurven und auf
Grund eines Literaturstudiums noch einige Fragen in ein paar beson¬
deren Artikeln zu besprechen. Einige Bemerkungen mögen jetzt schon
folgen.
Nach den neuesten Untersuchungen werden unter dem Einfluß
des sympathischen Systems im ganzen die katabolischen — abbauenden
— Prozesse gefördert 82 ), der Stoffwechsel nimmt zu; beim Überwiegen
des parasympathiSchen Systems treten dagegen die anabolischen —
auf bauenden — rekonstruktiven Prozesse in den Vordergrund, der
Stoffwechsel wird geringer. So dürfte die Theorie auch lauten:
Die Erhöhung des Bewußtseinsniveaus wird begleitet von einer Zunahme
der katabolischen Prozesse (einem erhöhten Stoffwechsel ), die Erniedrigung
desselben von einer Zunahme der anabolischen Prozesse.
In dieser Fassung ist aber die Theorie, was den ersten Teil anbetrifft,
durch die Untersuchungen, welche in den letzten Jahren von ameri¬
kanischer 88 ) und kürzlich auch von deutscher 34 ) Seite veröffentlicht
worden sind, bewiesen worden. Allgemein hat man sowohl bei geistiger
Arbeit als bei Affektzuständen eine Erhöhung des Gesamtstoffwechsels
gefunden. Als eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Bestimmung
des Grundumsatzes gilt eine vollkommene psychische Ruhe. Hiermit
in Übereinstimmung hat man denn auch die niedrigsten Werte während
des Schlafes beobachtet.
Hiermit ist der Parallelismus noch augenfälliger geworden, was
bei einer anderen Formulierung ohne Weiteres klar wird:
Der vermehrte Verbrauch von psychischer Energie 36 ) wird begleitet
von einem vermehrten Verbrauch von „ physischer “ Energie (erhöhtem
Stoffwechsel, Zunahme der katabolischen, oxydativen, exothermen physio¬
logischen Prozesse ); der Gewinn an psychischer Energie, wie er während
der Ruhe, und speziell während des Schlafes, stattfindet, geht ebenso mit
einem Gewinn an „ physischer “ Energie (Zunahme der anabolischen,
endothermen physiologischen Prozesse) einher.
Die Frage, inwiefern unterbewußte Komplexe — im Sinne Freuds
— auf das unwillkürliche Nervensystem Einfluß haben können, möchte
ich vorläufig ganz dahingestellt sein lassen. Meine Theorie gilt nur
444
A. A. Weinberg:
für die bewußten psychischen Prozesse. Ich habe daher absichtlich
die Ausdrucksweise „Erhöhung des Bewußtseinsniveaus“ gewählt,
um damit die bewußte willkürliche und unwillkürliche Präokkupation
anzudeuten.
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begriffes in der Psychologie. Leipzig 1921.
Malaria und Erkrankungen des Nervensystems.
Von
Dr. G. W. Perwuschin.
(Aus der Nervenklinik des Kasaner Klinischen Instituts. —
Chef Prof. A. W. Fauxtrsky.)
(Eingegangen am 22. Juni 1924.)
In den zwei letzten Jahren wurden im Wolgagebiet mehrfach Epi¬
demien von Malaria beobachtet. Diese gaben uns die Möglichkeit, die
Epidemiologie und Klinik der Malaria zu studieren und die Spätfolgen
zu beobachten. Hier wollen wir uns mit den Erscheinungen von seiten
des Nervensystems beschäftigen.
Schon im Beginn ruft das Erscheinen der Plasmodien im Blut eine
Reaktion seitens des Nervensystems hervor: teils in Form der Reizung,
teils in Form der Lähmung. Während des Paroxysmus beobachtet man
bei einigen Kranken starke Kopfschmerzen, Übelkeit, zuweilen Erbrechen,
Schmerzen im Kreuz und in den Muskeln, bei anderen eine allgemeine Er¬
regbarkeit. Es kommen auch bösartige Formen von Malaria vor, welche
von krankhaften epileptiformen Anfällen begleitet sind. Diese Kranken
bieten vom Anfänge des Anfalles an Bewußtlosigkeit und Krämpfe
(L. Laveran , Maurel , Raymond , Duberge und Squarti Quido). Mit der
Erhöhung der Temperatur tritt bei den Kranken oft Beruhigung ein,
sehr hohe Temperatur aber ist zuweilen von Krämpfen oder lokalen
Zuckungen, delirantem Zustand oder Koma begleitet. Zum Ende des
Anfalles beobachtet man bei den Kranken starke Schwäche, Zittern der
Extremitäten und Apathie.
Bei chronischer Malaria, wenn die Plasmodien sich im Organismus
des Menschen fest eingenistet haben, finden wir ebenfalls Veränderungen
seitens des Nervensystems: Kopfschmerzen, allgemeine Schwäche,
schnelle Erschöpfung, Kopfschwindel und Hyperkinese der oberen Ex¬
tremitäten in Form von Zittern der Hände oder Zuckungen des Kopfes
(A. Laveran , Fomaca und Jourdan). Die Plasmodien und ihre Giftstoffe
im Blut rufen Reizbarkeit des Nervensystems hervor, des peripheri¬
schen wie auch des zentralen. Die Schmerzen am Anfänge des Anfalles
können die Form einer typischen Neuralgie zeigen, größtenteils haben sie
intermittierenden Verlauf, oder aber sie werden beständig und verstärken
G. W. Perwuschin: Malaria und Erkrankungen des Nervensystems. 447
sich nur während des Paroxysmus. In einigen Fällen von latenter Ma¬
laria sind diese Neuralgien von fieberlosem Zustand begleitet und nur
ihre Periodizität weist direkt auf eine maskierte Krankheit hin (A. La-
veran). Zuweilen'jedoch beobachtet man das Erscheinen der neural¬
gischen Schmerzen eine gewisse Zeit nach dem letzten Anfall von Ma¬
laria ( Papastraligakis ). Nach Laveran kommen öfter Neuralgien des Tri¬
geminus vor, hauptsächlich seiner ober&i Zweige, ferner solche des N. oc-
cipitalis. Von 17 Fällen, die wir zu unserer Verfügung haben, bestand in
9 Fällen Neuralgia n. trigemini, in 5 Fällen N. n. ischiadici, in 2 Fällen
N. des PI. brachialis und in 1 Fall N. des N. occipitalis.
Periphere Neuritis nach Malaria ist schon längst in der Literatur
bekannt. Von den Gehirnnerven kommt Entzündung des Sehnerven
vor. Nach der Statistik von Uthoft beobachtete er unter 252 Fällen von
Neuritis der N. opticus nach Infektionskrankheiten 17 Fälle nach Malaria.
Dieselbe äußerte sich in Amblyopie oder in seltenen Fällen in Amau-
rosis, meistenteils beiderseits. In den meisten Fällen ist die Amblyopie
nicht beständig, sie ist Schwankungen unterworfen. In solchen Fällen
konstatiert man oft zentrales Skotom oder Verengung des Gesichtsfeldes.
Die opthalmoskopische Untersuchung ergibt Stauungspapille, Blutungen
in die Netzhaut, Choreoretinitis, Entzündung und Atrophie der Sehner¬
ven und Papillo-retinitis, seltener ergibt die ophtalmoskopische Unter¬
suchung gar keine Resultate ( Teillais, Ouamieri, Poncet, Agababoff,
Mackenzie, Csapondie). Zweitens beobachtet man Neuritis der Augen¬
muskelnerven oder volle Lähmung aller Augenmuskeln einer Seite
( Thompson, Macnamara) oder Lähmung des N. oculomotorius ( Trianta -
philides). Selten kommt Neuritis des N. /acialis vor ( Singer) oder gleich¬
zeitig Neuritis desN. oculomotorius undN. facialis derselben Seite (Bachon)
oder solcher des N. oculomotorius und N. glossopharyngeus ( Urechia ).
Von seiten der Rückenmarknerven sind Neuritis im N. ulnaris von
Macnamara, Boinet und Schliberf, Remlinger, Triantaphilides, 0. Foer-
ster, R. Janusch , im Gebiete des Accessorius spinales von O. Foerster und
R. Janusch, im Gebiete der Axillaris, Suprascapularis Thoracicus an¬
terior und Radialis von 0. Foerster und R. Janusch, im Gebiete des Muscu-
locutaneus von O. Foerster, R. Janusch und E. Förster, im Gebiete des
Thoracicus longus von Kroeber, Saenger, 0 . Foerster, R . Janusch, im
Gebiete des Peroneus von 0. Foerster und Janusch, im Gebiete des
Ischiadicus von Janusch, Rüssel und Boinet beschrieben worden.
Unter unserer Beobachtung war ein Fall von Neuritis n. facialis und
N. trigeminus sin., ein anderer von Neuritis n. facialis sin. verbunden mit
Polyneuritis.
Fall 1. Der Kranke B., 22 Jahre alt, unverheiratet. Nerven- und geistige
Krankheiten werden in der Familie nicht bemerkt. Venerische Krankheiten ver¬
neint er. Im Jahre 1919 hatte er Flecktyphus. Im April 1923 drei Malariaanfälle
448
G. W. Perwuschin:
über den Tag. 2 Tage nach dem letzten Anfall hatte der Kranke Schmerzen in
der linken Hälfte des Gesichtes und er bemerkte Assimetrie seines Geeichtes.
Gegenwärtig konstatiert man bei ihm volle peripherische Lähmung des linken
Gesichtsnervs, Lagophthalmus, S. Bell links. Die Reflexe sind alle normal, außer
dem linken conjunctivalen, welcher erniedrigt ist. Schmerzhaftigkeit beim Druck
auf die Druckpunkte des linken N. trigemini. Im Gebiet der 2 oberen Zweige dieses
Nervs eine Hypoästhesie. Es ist eine partielle EntartungBreaktion der Muskeln
auf der linken Seite des Gesichtes: «Mm. frontalis, orbicularis oris et palpebrae.
Die Milz ist vergrößert. Im dicken Bluttropfen sind die Plasmodien Malariae
tertianae. R. Wassermann im Blut negativ.
Fall 2. Die Kranke ist 38 Jahre alt, Witwe. In der Kindheit hat sie die Pocken
und Masern durchgemacht. 2 Monate vor der jetzigen Erkrankung hatte die
Kranke das Wechselfieber, kurierte sich mit Chinin, das Fieber verging. Dann
traten wieder Fieberanfälle auf, aber schon täglich. Nach 2 Tagen starke Schmerzen
in den unteren und oberen Extremitäten und allmählich entwickelte sich Lähmung
derselben und der linken Gesichtsseite. Objektiv bemerkt man bei der Kranken
eine volle Lähmung von peripherischem Typus des linken Gesichtsnervs, Lag¬
ophthalmus, S. Bell links, peripherische Parese aller Extremitäten, mit normalen
Sehnenreflexen, ermäßigten Hautreflexen und Ermäßigung der Reizbarkeit nach
peripherischem Typus. Schmerzhaftigkeit beim Druck auf die Nerven und Muskeln.
Bei der Kranken bemerkt man komplette Ausartungsreaktion in den Muskeln der
linken Hälfte des Gesichtes. Im Blut sind Malariaparasiten. Die Milz ist erweitert.
Im Laufe eines Monats war nach der Behandlung mit Chinin im Zustande der
Kranken eine Besserung eingetreten.
In der Literatur rechnet man gegen 30 Fälle von Polyneuritis nach
Malaria. Sie waren zum erstenmal von Leyden und Eichorst im Jahre
1876 beschrieben. Dann folgen Fälle Brault , Comlinal , Jourdan , Bou-
durant f James 2 Fälle, Macnamara 4 Fälle, Baumstark , Ewald , Catrin ,
Faivre, Rignault, Abatucci , Singer , Malin , Luzzato , Saenger , Mendelson
und andere.
Die Malaria beteiligt auch die Meningen. Nach den Beobachtungen von
Papastratigakis ist die Meningitis begleitet von Kernig, Wurzelschmerzen,
lebhaften Sehnenreflexen und Lymphocytose des Liquor cerebrospi¬
nalis. Der Autor findet, daß die gesteigerte Lymphocytose zuweilen bei
latenter Malaria beobachtet wird. Häufig beobachtete man seröse Me¬
ningitis (Siversy Vitello Ouiseppe , hortet-Jacob und Cain Coma , Duerck).
Vom typischen Bild der Meningitis muß man den sogenannten Me¬
ningismus unterscheiden (Squarti Quido und andere). In diesen Fällen,
wie z. B. dem von Pende Nicolay bietet die cerebrospinale Flüssigkeit ge¬
wöhnlich gar keine Abweichungen.
Wir haben zu unserer Verfügung drei Fälle von sogenanntem Me¬
ningismus.
Fall 1 . Die Kranke 24 Jahre alt, Jungfrau mit gesunder Vererblichkeit. Mitte
April dieses Jahres Wechselfieber, weiches 8 Tage währte. Während der Krankheit
starke Kopfschmerzen, Erbrechen, Schmerzen im Rücken, Kreuz und den Füßen.
Bei der Kranken beobachtet man s. Kernig, Nackensteifigkeit, lebhafte Sehnen¬
reflexe. Hyperästhesie der Rückenhaut und des Rumpfes sind von Wurzeltypus.
Die Milz ist vergrößert. Lumbalpunktion: Nonne-Apeltsche Reaktion negativ,
Malaria und Erkrankungen des Nervensystems.
449
Lymphocyten 0,2 in 1 cbmm. Im Liquor hat man keine Meningokokken gefunden.
Wassermannsche Reaktion im Blut und Liquor ist negativ. Im Blut sind Plas¬
modien Malariae tertianae. Die vorgeschriebene Chininbehandlung hat im Laufe
von 1 Woche zur Genesung geführt.
FaÜ 2. Jungfrau, 17 Jahre alt. Die Kranke hat das Wechselfieber, wahrend
des Paroxysmus entwickelten sich bei ihr folgende Symptome: Kopfschmerzen,
Erbrechen, Bewußtlosigkeit, s. Kernig und Nackensteifigkeit. Nach dem Par¬
oxysmus verschwinden alle diese Erscheinungen. Die Behandlung der Malaria hat
zur Genesung geführt.
Fall 3. Ein Knabe N., 4 Jahre alt. Fieberzustand im Laufe von 2 Tagen,
infolgedessen Kopfschmerzen, Erbrechen, Bewußtlosigkeit, s. Kernig, Nacken¬
steifigkeit. Im Blut Plasmodien Malariae tertianae. Im Resultat nach der Chinin-
behandhing Genesung.
Levandowsky sagt in seinem Handbuch der Nervenkrankheiten, daß
einzelne Beobachtungen beweisen, daß die Malaria als ätiologisches
Moment für die Entwicklung von Myelitis in Betracht kommt. In solchen
Fällen entwickelten sich bei den Kranken während der Malaria alle
charakteristischen Symptome einer transversalen Myelitis (OppenAetm,
Friedländer , Romberg , Maillot , Doxiades u. a.). Außerdem sind Fälle von
disseminierter Myelitis nach Malaria beschrieben (Erb). Einige Autoren
beobachteten bei der Malaria Erkrankungen des Nervensystems, welche
nach ihrem Aussehen außerordentlich an Sclerosis multiplex erinnern
(Kanellis, Torti-Angelini, Triantaphilides).
Andere Autoren weisen auf die Entwicklung von Bulbärsymptomen
bei der tropischen Malaria hin ( Marchiafava , BastioneUi , Bignami).
Italienische Untersucher ( Pansini , Forli , Pandolfi, Bevaqua, Pe-
coriy Ficcaci) haben eine akute Erkrankung des Kleinhirns nach Malaria
festgestellt. Wir hatten die Möglichkeit, 3 Fälle von akuter Klein¬
hirn-Ataxie während der Malaria zu beobachten.
FaÜ 1 . Der Kranke B., 27 Jahre alt, verheiratet. Im Sommer des vergangenen
Jahres litt der Kranke an einer schweren Form von Malaria. Wahrend eines Fieber-
anfaßes bemerkte er einen starken Kopfschwindel, unsicheren Gang, Schwanken
beim Gehen. Objektiv konstatierte man bei ihm: Ataxie, Nystagmus, Adiadocho-
kinesis, Catalepsia cerebellaris, verlangsamte Sprache, im Blut Plasmodien Ma¬
lariae tertianae. R. Wassermann im Blut und Liquor negativ und Liquor cerebro¬
spinalis ohne pathologische Abweichungen. Dieser krankhafte Zustand dauerte
2 1 /* Monate, unter dem Einfluß der Behandlung mit Chinin trat schnell eine
Besserung ein.
Der Fall 2 stellt ein Bild einer schweren Störung des Kleinhirns vor, bei
welchem wir als ätiologisches Moment Malaria und Typhus rechneten.
FaÜ 3. Der Kranke A., 26 Jahre alt, unverheiratet. Im Jahre 1917 hat er
nur die Pocken durchgemacht. Im August 1923 erkrankte er zum erstenmal an
der Malaria. Nach einer unbedeutenden Unterbrechung wiederholte sie sich wieder
im Oktober, und während eines Anfalles der Krankheit bei allgemeinen Gehim-
eracheinungen, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen erschien Ataxie welche
sich im Laufe von 2 Tagen entwickelte. Außer der Ataxie bemerkte man bei dem
Kranken Schwäche in den unteren Extremitäten, Bradykinesie einerseits, Nystag¬
mus, Asynergia cerebellaris und Ermäßigung des Tonus in den Fußmuskeln und
450
G. W. Perwuschin:
verlangsamte Sprache. Im Blut hat man Gameten Malariae tropicae gefunden.
R. Wassermann und Sachs-Georgi im Blut und Liquor negativ. Liquor normal.
Diese Erkrankung währte gegen 3 Monate, und unter dem Einfluß der Malaria -
behandlung entstand allmählich eine fast volle Genesung des Kranken.
Erkrankungen des Gehirns kommen selten bei der Malaria vor. So
ist in einem Falle hämorrhagische Encephalitis beschrieben ( Dana und
Schlaf) und in einem anderen Fall bestanden epileptiforme Krämpfe,
Lähmung der Nn. facialis und glossopharyngeus sin. und Parese der
unteren Extremitäten.
Man beobachtet ferner nach Malaria Entwicklung von Hemiplegie
(Boisseau, Vincent , Eccheverria, Paenoff , Qresinger, Laveran, Carles ),
von motorischer Aphasie und Dysarthrie (Ouzadou, Boisseau , Vincent,
Boinet und Salebert, Panichi, Mentow , Plehn und öutzmann , Minne ,
Deutmann, Bevaqua ). Wir verzeichnen einen Fall motorischer Aphasie
nach Malaria.
Die Kranke K., 32 Jahre alt, verheiratet, hatte ein Kind und eine Fehlgeburt.
Im Juni v. J. erkrankte K. an einer schweren Form der Malaria. Nach einem
Anfalle war die Kranke gegen 36 Stunden in bewußtlosem Zustande. Als sie zu
sich kam, konnte sie nicht sprechen, was die anderen sprachen, verstand sie. Im
dicken Bluttropfen waren Plasmodien Malariae tertianae gefunden worden. All¬
mählich kehrte die Sprache wieder. Sie hatte Parese des rechten N. hypoglossus,
die Kraft der linken Hand war geschwächt. Ermäßigung der rechten Bauchreflexe
und R. Leri der rechten Hand. Ermäßigung der Taktilempfindung derselben Hand.
K. klagt über beständige Schmerzen der rechten Schulter. Sie versteht die Sprache.
Die Versuche P. Marie und Dejerine-Lichtheim erfüllt sie tadellos. Die Sprache
ist verlangsamt, sie spricht schlecht die Buchstaben p, r, k, 1, b aus. Paraphasien
sind nicht in der Rede vorhanden. Die Schrift ist normal. Seitens der Psvchik
ist nur Ermäßigung des Gedächtnisses. Man beobachtet eine erhöhte Emotivitat
bei der Kranken. R. Wassermann und Sachs-Georgi im Blut und Liquor negativ.
Liquor normal. Den gegenwärtigen Fall rechneten wir als Thrombovasculitis,
welcher sich auf Grund der Malaria entwickelte.
Malaria bringt wie jede Infektion Veränderung im Stoffwechsel des
Organismus hervor, stört die koordinierte Arbeit der Drüsen mit innerer
Sekretion, infolgedessen erscheinen nach der Malaria Krankheiten wie
die Basedowsche Krankheit (D’Amoud Gerkens), akute Chorea ( Fusco ),
Tetanie (Borne) und die Addison sehe Krankheit (Volenti Chauffard,
Hubert et Clbnent). Endlich kommen bei der Malaria auch akute Psy¬
chosen vor (Ziemann, Dansauez ).
Was bedingt denn die so schweren Erkrankungen des Nervensystems ?
Die Antwort darauf müssen wir in der pathologischen Anatomie des Ner¬
vensystems erhalten. Es gibt genaue pathologo-anatomische Unter¬
suchungen des zentralen Nervensystems. In Todesfällen nach Malaria hat
man Veränderungen folgenden Charakters gefunden: in den Meningen
bemerkt man in einigen Fällen einen Entzündungsprozess. Das Pig¬
ment tritt in die Rinde des Gehirnes, in die subcorticalen Kerne und das
Kleinhirn. Man bemerkt eine große Anzahl Ringblutungen („Hirn-
Malaria und Erkrankungen des Nervensystems.
451
purpura“). Sie liegen entweder einzeln oder sie sammeln sich in Häufchen,
am häufigsten kommen sie im Centrum semiovale vor in dem subcorti-
calen Kerne, im Balken und in der inneren Kapsel. Im Kleinhirn kommen
sie hauptsächlich in der Rinde vor, hier sind sie besonders scharf ausge¬
sprochen. Bei der Malaria findet eine besondere Reaktion statt in Form
von gliösen Proliferationen. Das gliöse Gewebe bildet Sternchen, Rosetten,
Häufchen oder Knötchen. Sie umgeben die Orte des degenerierten
Nervengewebes oder bilden sich um die Gefäße herum. Die gliösen
Knoten sind eine der charakteristischen Reaktionen des Organismus
auf die Wirkung giftiger Stoffe (Laveran, Marchiafava , Bastionelli , Big-
nami , Tscheritschew , Pewnitzky, Cerlettiy Durch , Spielmeyer).
Im peripherischen Nervensystem fand man auch typische entzünd¬
liche Veränderungen.
Die Totenehe einer Schizophrenen.
Von
Dr. Hans Wildermuth,
Assistenzarzt a. d. Heilanstalt Weißenau. (Direktor: Ob.-Med.-Rat Dr. Erimmel.)
Mit 4 Textabbildungen.
(Eingegangen am 11. Juli 1924.)
Im Dezember 1923 wurde in unsere Anstalt eine Kranke in tiefer
Bewußtlosigkeit eingeliefert. Wie ihr Schwager, ein psychiatrisch
vorgebildeter Arzt, mitteilte, handelte es sich mutmaßlich um eine
Veronalvergiftung 1 ). Die Kranke war am Tag zuvor ganz unauffällig
gewesen; war zur gewöhnlichen Zeit zu Bett gegangen. Am andern
Morgen erschien sie nicht zum Frühstück, und man fand sie bewußtlos
im Bett. Sie starb hier nach 2 Tagen, ohne das Bewußtsein wieder
erlangt zu haben.
In ihrer Hinterlassenschaft fanden sich massenhaft Papiere, die für
den Psychiater von ganz außerordentlichem Wert sind und die der
Schwager der Kranken, Herr Dr. W., uns in liebenswürdigster Weise
zur Verfügung stellte. Herr W. hat uns außerdem durch Angaben
über die Vorgeschichte und Ergänzungen der Erzählungen der Kran¬
ken in großem Maße zu Dank verpflichtet.
Die Aufzeichnungen der Kranken geben uns die Möglichkeit, in
seltener Weise die innere Entstehungsgeschichte einer Schizophrenie
zu beobachten. Denn es ist eine gebildete und hochbegabte Persönlich¬
keit, die uns hier Einblick in ihr Inneres tun läßt.
Ihren äußeren Lebensgang schildert Herr Dr. W. wie folgt:
Die Kranke entstammt einer künstlerisch begabten Kauf man nsfamilie und
ist als Tochter wohlhabender Eltern im Ausland geboren. Beide Eltern waren
geistig hervorragend. Die Mutter wird als sehr gescheit, der Vater als künstlerisch
veranlagt, weich, sensitiv geschildert. Sämtliche Geschwister sind bis auf den
ältesten Bruder künstlerisch begabt, teüweise ausübend. Ein Bruder ist ver¬
bummelt. Die Kinder der Kranken sind mittelbegabt und zeigen bis jetzt keine
krankhaften Zeichen.
Die Kranke war stets gesund und bot nicht viel Auffallendes, außer daß sie
in ihrem Wesen etwas lebhaft, burschikos und zweifellos seit den Entwicklungs-
jahren sehr sinnlich war. Sie bildete sich in der Bildhauerei aus, in der sie sehr
Gutes leistete.
2 ) Die durch die chemische Untersuchung der Leichenteile bestätigt wurde.
H. Wildermuth: Die Totenelie einer Schizophrenen.
453
Sie heiratete in jungen Jahren einen sehr viel älteren Mann, Weinhändler in
glänzenden Verhältnissen. Die Ehe war wohl von Anfang an keine glückliche.
Ihr Mann war ein großzügiger Geschäftsmann, gutmütig, auch derbe Genüsse
nicht verschmähend, aber wenig gebildet; sie mit feinstem künstlerischen Emp¬
finden und hochgebildet. Sie trat unerfahren in die Ehe, und während sie nun
das Vorleben ihres Mannes, das an sich nicht schlimmer war als das von anderen
in der gleichen Lebensstellung, kennenlernte, konnte vielleicht der Alternde
ihr selbst nicht mehr so viel bieten, als sie verlangte. Die Kranke macht ihren
Mann für ihre Krankheit verantwortlich; ihr Urteil ist aber zweifellos zu ungünstig.
Auch er hat viel mit der leidenden Frau durchgemacht und viel Geduld gezeigt.
Nach der Geburt ihres dritten Bandes erfolgte ein „nervöser Zusammen¬
bruch“: eine depressive Psychose mit gänzlicher Willenlosigkeit und starken
hysterischen Zügen.
Sie kam ins Sanatorium des Dr. K., der einen großen Einfluß auf sie gewann
und sie so weit besserte, daß sie zu ihrer Familie zurückkehren konnte. Der Ver¬
such mißlang völlig, und es kam zur Scheidung. Die Kranke zog nun von Sanatorien
zu Klinik und hat dabei eine ganze Reihe psychiatrischer Autoritäten konsultiert;
lebte zeitweise für sich, behielt aber immer Fühlung mit Dr. K. Eine Zeitlang
war sie während des Krieges in der Küche von K.s Lazarett tätig. Nach dessen
Tod lebte sie im Haus ihres Schwagers. Sie benahm sich unauffällig, schrieb sehr
viel, teilweise in einer Art Trancezustand, in dem sie nicht bei vollem Bewußtsein
war; beschäftigte sich mit okkulten Erscheinungen: Tischrücken u. a. Sie selbst
besaß die Gabe des Hellsehens in ausgesprochenem Maß und hat wiederholt,
absichtlich und unabsichtlich verlegte Gegenstände aufgefunden, indem sie genau
den Ort beschrieb und zeichnete, wo sich diese befanden. Den Verdacht auf eine
schwere geistige Erkrankung hegten sowohl ihr Schwager wie die Ärzte, mit denen
sie zu tun gehabt hatte, trotzdem trat die Katastrophe ganz überraschend ein.
Unter den mir vorliegenden Aufzeichnungen ißt das Interessanteste
eine eingehende Lebens- und Krankheitsbeschreibung, die bis zu K.s
Tod geht. Die Kranke selbst ist durch ihren langjährigen Aufenthalt in
psychiatrischen Anstalten in weitem Maß in der Psychiatrie heimisch;
sie kennt die Fachausdrücke und weiß über Unter- und Oberbewußt¬
sein, die Verdrängung von Komplexen u. a. ausgezeichnet Bescheid.
Der Bericht ist durchweg in guter Handschrift und flüssigem Stil
geschrieben; nur selten ist etwas korrigert. Sie selbst bezeichnet sich
in diesen Blättern vielfach als P. = Psyche, Dr. K. zuerst als U.-B.
= Unterbewußtsein, später einfach als X. Alle die Ausführungen,
gibt die Kranke an, habe ihr Dr. K. nach seinem Tod in die Feder
diktiert, um ihr ihr ganzes Wachsen und Werden klarzumachen.
Ihre erste Kindheit habe unter den materiellen Sorgen, mit denen die Familie
damals kämpfen mußte, gelitten, später unter der Bevorzugung der sehr viel
jüngeren Schwester. Sie habe nachts vielfach grundlose Angst ausgestanden.
Sonst sei sie frisch „bubenhaft“ gewesen. Sehr wohl fühlte sie sich bei den Kaisers-
werther Schwestern, wo sie 2 Jahre in Pension war. Die sexuelle Aufklärung,
die in „krasser“ Weise durch die Mitschülerinnen erfolgte, hat ihr viel zu schaffen
gemacht.
Nach der Rückkehr nach Hause standen die Eltern materiell besser, immerhin
nicht so glänzend wie die Kreise, in denen sie verkehrten. Dieser Zwiespalt lastete
sehr auf ihr; auch in der eleganten Pension, in die sie später kam. Auch litt sie
454
H. Wildermuth:
unter dem Druck, der auf sie wegen einer reichen Heirat ausgeübt wurde. Eine
tatsächlich vorhandene Tuberkulose deutet sie als „Nervenzusammenbruch“.
Die ersten Anfechtungen sexueller Art stellten sich ein; sie redet selbst von ihrem
„unbändigen“ Trieb, über den sie durch angestrengte Sportleistungen Herr zu
werden suchte. Daneben bildete sie sich in der Bildhauerei aus.
Es erfolgte abermals unter dem Einfluß übermäßiger Anstrengung ein „ner¬
vöser Zusammenbruch“. Sie schreibt: „P.s ganzem Lebens bäum war in dieser
kurzen Spanne Zeit die Krone abgeschlagen.“ Es entstand bei ihr das Leiden,
das jahrelang äußerlich im Vordergrund ihrer Beschwerden stand: eine hysterische
Blasenangst, die sie zweifellos richtig von Verlagerungen aus der Geschlechts¬
sphäre herleitet. Sie konnte kein Konzert, keine Gesellschaft besuchen, keinen
vollen Eisenbahnwagen benutzen, ohne von der Angst und dem Drang befallen
zu werden, austreten zu müssen.
Die Onanie brachte ihr keine Erleichterung, sondern belastete nur ihr Ge¬
wissen; ebensowenig besserte sich ihr Leiden durch ihre Verheiratung. Schon in
der Hochzeitsnacht erlitt das unberührte Mädchen ein seelisches Trauma. Die
„Rohheit und Gemeinheit des Gatten“, wie sie zweifellos übertreibend schreibt,
steigerte ihre Leiden, die für eine Frau ihrer Stellung mit repräsentativen Pflichten
besonders quälend waren. Ihr ganzes Denken wurde durch diese Vorstellungen
beherrscht. Man darf ihr glauben, daß sie namenlos litt und sich sogar mit Selbst¬
mordgedanken trug. Die Ehe wurde ihr unerträglich, sie nennt sie ein Martyrium
und spricht später einmal von den Scheußlichkeiten ihrer Ehe. Nur das Glück,
Kinder zu haben, und die Pflicht, für diese zu leben, habe sie aufrecht erhalten.
Nach der dritten Entbindung erfolgte der Zusammenbruch: „Meine see¬
lischen Schmerzempfindungen wurden durch keinerlei fromme, reine Gedanken
gemildert. Ich war restlos in ihren Klauen. Von keiner Seite kam der leiseste
Schimmer von Helle in die geistige Dunkelheit, die mich umgab. Nichts war in
mir und außen um mich her als feindselige Dämonen, die mich namenlos leiden
machten . .. Nichts blieb in mir übrig als übermenschliche Verworrenheit und
qualvolle Leere.“ Einzig ihre Zwangsangst war noch lebendig. „Sonst war alles
einerlei, was mit mir vorging war alles haltlos, quälend, unsicher .. . Ich konnte
nichts essen, alles war wie Stroh in meinem Mund. Ich war abends so müde, daß ich
nicht schlafen konnte.“
In diesem Zustand wurde sie in das Sanatorium Dr. K.s eingeliefert.
Sie habe zunächst ihre ganze Umgebung gehaßt, Dr. K., den Assistenzarzt,
die Schwester, die von ihrem Mann ungünstig beeinflußt worden sei: „Nachts
wurde es immer schlimmer mit den Aufregungen, ich hatte schreckliche Angst
und fühlte mich sterbenskrank und schwach; in meinem Kopf wäre eine Wüste . .
Einmal hatte sie solch einen Zorn gegen die Schwester, daß sie sich an einem
Möbel festhalten muß, um nicht tätlich gegen sie zu werden.
Da begann der Umschwung. Znächst habe Dr. K. versucht zu hypnotisieren,
aber ohne Erfolg. Dr. W. jedoch gibt an, sie sei verschiedentlich und sehr tief
hypnotisiert worden. Nun findet sich folgender merkwürdiger Satz: „Einen
Abend saß die Hypnose auf meinem Bettrand beim Einschlafen, genau dort saß
die merkwürdige Sache, wo Dr. K. beim Hypnotisieren gesessen hatte . . . Ein
Gefühl von Gefesselt werden war das und das war greulich an Armen und Beinen.
Ich sah in der Zeit keinen anderen Menschen als die Schwester und Dr. K. Die
Schwestern mußten tun „was er befahl, so war er der Mittelpunkt, der uns be¬
herrschte.“
Ob das seltsame Erlebnis mit der Hypnose als Sinnestäuschung gedeutet
werden muß, bleibe dahingestellt. In den folgenden Sätzen aber zeigt sich, daß
ein Gefühl der „Hörigkeit“ gegen Dr. K. sich bei ihr auszubilden begann. Trotz-
Die Totenehe einer Schizophrenen.
455
dem er sie nicht anders behandelte als die anderen Ärzte, wie sie ausdrücklich sagt,
„empfand sie nicht ganz den Widerwillen gegen seine Führung wie bei den anderen“.
„Er verstand es, mir das Gefühl zu nehmen, als ob ich von Gott und Menschen
verlassen sei: es fing mir an, Freude zu machen, wenn er zur Visite kam.“ „Ein
Wunsch, Dr. K. zufriedenzustellen und, wenn dies gelungen war, die Freude
über den Erfolg gaben weiterhin neuen Gedanken Leben ...“ Man fühlt deutlich
bei diesen Darstellungen, wie allmählich erotische Empfindungen bei ihr Platz
griffen.
Sie schreibt weiter: „So ordnete sich mein Wille auf Grund dieses Vertrauens
gern unter, und zwar stellte sich da ein Gefühl von unbesprochenem Einvernehmen
zwischen seinen Wünschen und meiner Bereitwilligkeit, auf diese einzugehen, ein.
Aber es wurde mir manchmal bemerkbar, daß ich neue, fremde Gedanken dachte
und neue Empfindungen fühlte, die nicht meine eigenen sein konnten. Ich kann
so schwer beschreiben, was damals in jener Zeit mit mir vorging ...“ Dies ist
das erste deutliche Anzeichen einer schizophrenen Erkrankung: das Gefühl der
Beeinflussung und Denkens fremder Gedanken.
Die Leute in der Liegehalle symbolisiert sie zu einzelnen Eigenschaften ihres
Inneren: „Es hatte etwas Befreiendes diese Symbolik zwischen den lebenden
Gestalten und jenem Ballast, der auf mich drückte. Meine Phantasie führte mir
jene einzelnen Figuren so vor, daß ich Gelegenheit hatte, mich wie mit ihnen aus¬
einanderzusetzen.“ Noch steht das Erleben auf der Grenze zwischen krank und
gesund, noch konnte man es zur Not als das Spiel einer lebhaften Phantasie deuten,
da setzen unzweifelhafte Sinnestäuschungen bei ihr ein:
Sie schreibt hierüber: „Eines Morgens beim Waschen hörte ich deutlich
Dr. K. Silben sagen, sie waren im Klang deutlich erkennbar von meinem Denken,
und ich hörte sie in meinem Kopf, ohne Dr. K. zu sehen ... Im Lauf des Vor¬
mittags gings weiter ..., es waren scharfe Laute wie: ja, nein, an, ab, zu, in, bin,
ob ... usw. Die Silben waren nicht sinnlos meinem Denken eingeordnet, sondern
nahmen Stellung zu den Gedankengängen. Nach einigen Tagen konnte ich die
Silben deutlich von meinem Denken trennen, sie standen außerhalb meiner
eigensten Gedankengänge, insofern als sie von diesen verschieden waren, erstens
durch deutlichen Tonfall und Klang von K.s Sprechweise, zweitens durch die
akustische Stärke im Vergleich zum Nichtklingen des eigenen Denkens. Ich hörte
sie gesprochen gedacht, nicht gedacht gedacht, ein Gegensatz ungefähr wie zwischen
Schwingungen der Klaviertone bei offenem oder stumpfem Pedal. Der Vorgang
wurde mir immer erstaunlicher, als aus den Silben richtige Worte wurden, aus den
zusammengestellten Worten später Sätze.“ Sie wartete nun täglich auf Aufklärung;
da hörte sie: „Nicht fragen, kein Patient fragt, Vertrauen! Alle schweigen, An¬
strengung für mich. Neue Therapie, eigene Erfindung. Lieb sein! Geduld haben!
— Nun war ich im Bild.“
Schon jetzt liegt die Entwicklung des Mechanismus der Erkrankung klar
vor uns: Eine unglücklich verheiratete, erotisch stark empfindende aber un¬
befriedigte Frau kommt in die Behandlung eines Arztes, zu dem sie sich bald in
ein Verhältnis, das dem der sexuellen Hörigkeit verwandt ist, stellt. Da eine
Vereinigung ausgeschlossen ist, (— sowohl sie als K. waren verheiratet —), schafft
sie sich eine Wahnwelt, in der diese Schranken nicht mehr gelten, in der der damals
noch heimlich Geliebte übersinnliche Kräfte besitzt.
In der Gedankenunterhaltung redet sie Dr. K. alsbald mit „du“ an. Übrigens
sei ihr das Bewußtsein, daß jener nun in ihren Gedanken lesen könne „wie in
einem offenen Buch“ zunächst gar nicht angenehm gewesen. Bald darauf kommen
ihr die Worte: „Ich liebe dich“ zu Gehör. Deutlicher können Sinnestäuschungen
wohl kaum die geheimsten Wünsche offenbaren, obwohl sich die Kranke damals
Z. f. d. g. Neor. u. Psych. XCIII. 30
456
H. Wildermuth:
noch gegen den Gedanken wehrte, der ihr in ihrem damaligen Zustand „wie eine
Beleidigung oder Verhöhnung“ erschienen sei. Aber auch hieraus findet die
Kranke einen einfachen Ausweg: „Meine Zweifel, mich in einem solchen Zustand
des Aufgelöstsems zu lieben können, beseitigte er mit der mich unglaublich treffen¬
den Mitteilung, er kenne mich nicht erst von jetzt, er sei mir jahrelang oft nahe
gewesen.“ Selbst die weibliche Eitelkeit, daß der Geliebte sie jünger und schöner
gekannt habe, wird so befriedigt.
Übrigens findet sich nirgends ein Anzeichen dafür, daß Dr. K. irgendwie die
Grenzen überschritten habe, die die Gesetze der Moral und der Gesellschaft ziehen.
Sie schreibt: „Wir begegneten uns äußerlich still und gleichgültig.“ Später: ,.K.
begegnete mir so schlotig wie möglich.“ Für den Leiter eines eleganten Sana¬
toriums ein etwas starker Vorwurf; immerhin zeigt er, daß Dr. K. nie die Linie
überschritt. Ferner: „Im äußeren Leben ließ er sich nichts merken, ei spielte
seine Rolle als unbeteiligter Arzt glänzend.“ Als sie sich, mit schließlichem Erfolg,
in der Küche des von Dr. K. geleiteten Lazarettes beschäftigen wollte, verwandte
sich K. „mit keiner Silbe für sie“. „Ja er lud den Schein auf P., daß sie ihm nach-
laufe.“ Immer wieder betont sie, wie äußerlich ruhig und banal er mit ihr ge¬
sprochen habe. Ein einziges Mal wird eine Szene erzählt, wie sie ihn küßte, es ist
aber mit all dem sonst Berichteten nicht in Einklang zu bringen. Wahrscheinlich
liegt eine Erinnerungstäuschung vor. Daß Dr. K. einem die Kranke später behan¬
delnden Arzt gegenüber ihre „Beziehungen und gemeinsame Arbeit“ ableugnete,
klingt außerordentlich wahrscheinlich, macht sie aber keinen Augenblick in ihren
Wahnideen irre. Dr. K. teilt ihr aus der Feme, selbstverständlich geistig mit,
um der Gefahr auszuweichen, durch ein Zugeben ihrer Beziehungen dem anderen
Arzt gegenüber ihre Arbeit in ein falsches Licht zu rücken, sei er verreist.
Das Gewissen eines sittlich hochstehenden Menschen wie unserer Kranken
mußte durch die Tatsache, daß sie sowohl wie Dr. K. auf verbotenen Wegen
gingen, wenn auch nur „geistig“, bedrückt werden. Aber auch hier schafft die
Krankheit Rat: Mit ihrem Mann und den Pflichten gegen ihn, ist sie schnell fertig.
Abneigung und Haß verdichten sich allmählich zu förmlichen Wahnideen: Er
habe ihr den Glauben an das Schlechte systematisch eingeimpft u. a. Aber auch
die Gattin Dr. K.s wird einfach ins Unrecht gesetzt: Sie sei ihrem Mann in keiner
Weise ebenbürtig gewesen; und er teilt ihr „auf geistigem Wege“ mit, daß sie
ihn betrogen habe. So steht auch er gleich ihr in qualvoller Einsamkeit und beide
sind moralisch frei. So baut der Wille der Kranken die W T ahnwelt in seinem Sinn
weiter aus.
Lange Seiten sind gefüllt mit der Schilderung ihrer gemeinsamen Arbeit.
Diese zerfällt in zwei Teile: 1. Deckt Dr. K. „auf geistigem Wege“ ihre früheren
Komplexe auf und machte sie unschädlich, trieb also Psycho-Analyse. 2. Weihte
er sie in seine Gedanken und „Entdeckungen“ ein.
Ihre Bewunderung für Dr. K. wächst, je mehr dieser Verkehr dauert und
je mehr sie seine Größe erkennen lernt. Sie spricht von dem „Giganten“. Ein ander¬
mal findet sich der Satz: „Der Mensch denkt und Dr. K. lenkt“. Also geradezu
göttliche Machtfülle wird ihm zuerkannt. „Beseligt“ fühlt sie sich durch sein
Vertrauen geborgen wie in Abrahams Schoß.
Die ganze Welt, alles und jedes, das harmloseste Erlebnis erhält allmählich
Beziehung zu ihrem Verhältnis zu Dr. K.. Daß sie harmlose Äußerungen, die
Dr. K. im Gespräch tut, in ihrem Sinn umdeutet, ist fast selbstverständlich.
Anfangs setzt sie sich gegen das Eindringen Dr. K.s in ihr Inneres noch zur Wehr,
und als er harmlos sagte: „Ihr Trauring sitzt lose“, um auf ihre Abmagerung
hinzuweisen, gibt sie eine sehr scharfe Antwort. Und als Dr. K. später einmal
erzählt, er hätte im ersten Jahre seiner Ehe seinen Trauring verloren und einen
Die Totenehe einer Schizophrenen.
457
anderen: £. G. gezeichneten gefunden, so erhält sie gleich „auf geistigem Weg“
die Erklärung, dieser zweite Ring bedeute sie (E. und G. sind die Anfangsbuch¬
staben der Namen zweier ihrer Kinder.)
Aber auch sonstige Erlebnisse des täglichen Lebens werden ihr zu Symbolen.
Zwei riesige Dienstmänner, die in einem schmalen Gang an ihr vorbeitrampeln,
erscheinen ihr wie die Dämonen der Tobsucht. Das Klingeln der Schlittenglocken,
das Läuten und Klingen von Gläsern und Eßgeschirr bei Tisch gilt ihr als auf¬
munterndes Zeichen von Dr. K. Ein Gorilla, den sie in einer illustrierten Zeit¬
schrift abgebildet sieht, wird ihr zum Symbol ihrer Leiden, die gorillamäßig groß
und schwer waren. „Schließlich“, schreibt sie, „gibt es eine regelrechte Be¬
erdigung (des Gorilla), bei der das Röcheln beim Verenden des Tieres ganz unten
im Grundwasser, das beim Fundamentieren eines Neubaues ausgepumpt wird, mar¬
kiert wird. Nun liegt er ganz unten in der Tiefe und ist unschädlich gemacht.“
Ein Kutscher, der flott vorfährt, rodelnde Dienstmädchen sollen ihr zeigen, daß
es nun vorangehe. Klopfen im Hause wird ihr zu Klopfsignalen von Dr. K. Als
sie zum erstenmal unter Überwindung ihrer Blasenangst bei Tisch erscheint, hält
Dr. K. ein Heft und zugleich gibt er ihr „geistig“ die Erklärung: „Er hat das Heft
in der Hand.“
Aber nicht nur ihre Gedanken, auch ihr Handeln beeinflußt Dr. K. Auf
einem Spaziergang ruft er ihr plötzlich zu: „Umkehren!“ Als einmal beim Nach¬
hausekommen der Seiteneingang versperrt ist, schlüpft die Kranke unter der
Schranke durch, wobei ihr Dr. K. zuruft: „So ist’s brav; fest den Willen durch¬
setzen, Gebeugt werden muß sein.“ Eines Nachts bei Kälte und Schnee zwingt
er sie, leicht bekleidet ins Freie zu gehen. „Das Resultat am anderen Morgen,
ein entschiedenes Kräftegefühl.“ Später gewöhnt er sie, die früher nur bei ver¬
barrikadierten Fenstern und verschlossener Tür geschlafen, zu ebener Erde
Fenster und Türen offen zu lassen; „so konnte er seine Geistenergien leichter zu
ihr hereinschicken.“
Es zeigen sich bei ihr, von außen gesehen, jene abrupten und scheinbar un¬
begründeten Handlungen Schizophrener, die den Gesunden immer wieder über¬
raschen.
Äußerlich hat sich die Kranke gebessert und kehrt wieder zu ihrer Familie
zurück. Auf die Dauer ging es nicht. Die „Alkoholpsychome (ihres Mannes)
hätten spielend den ganzen mühsamen Aufbau zertrümmert.“ Sie kam in eine
Privatklinik nach Fr. a. M. Dort erzählte sie „von dem Rapport“, was ihr als
Stimmenhören und Irrsin ausgelegt wurde. Aufs tiefste erbittert hierüber, be¬
hauptet sie, der leitende Arzt und ihr Mann steckten unter einer Decke, gewöhnt
sich an, zu dissimulieren. Sie lebte eine Zeitlang bei ihrem Schwager, Herrn Dr. W.,
kam dann in die Heidelberger Klinik und abermals in eine Privatanstalt. Während
des Krieges war sie eine Zeitlang in der Küche des von Dr. K. geleiteten Lazarettes
tätig und wohnte schließlich bei ihrer Mutter, da inzwischen die Scheidung aus¬
gesprochen war.
Der Rapport mit K. ist nie eigentlich abgerissen. Er macht ihr Mut, alles
Gute kommt von ihm. Das ganze Leben ist voll Symbolen ihrer gemeinsamen
Arbeit. „Er war in Wirklichkeit der behandelnde Arzt.“ Der kleine Schatten
des Fensterkreuzes zeigt ihr, wieviel kleiner ihr Kreuz, d. h. ihr Leiden geworden
war; als sie sich beim Schneider ein gutes Kostüm machen läßt, so bedeutet das:
anziehen = Anna (ihr Vorname) ziehen — erziehen. Als sie einst einer erschreckend
aussehenden Kranken ausweicht, heißt es: „So lassen wir jetzt das Schreck¬
gespenst der Blasenkrankheit links liegen.“ Die Arbeit des Gärtners verglich K.
mit der Säuberung des Gehirns. Als sie einst an einem Bauernhof von einem
wütenden Hund angefallen wird und sich der Besitzer entschuldigt, er habe eben
30*
458
H. Wildermutli:
ein junges Pferd einfangen müssen und deshalb nicht auf den Hund acht geben
können, zieht sie die innere Parallele: „Die unbotmäßige Pferdearbeit (schwere
Leistungen mit Dr. K.), wenn sie nicht geduldig bei dem Kreis der Pflichterfüllung
verharrt, bringt die Hundewirtschaft zur Betätigung unserer Krankheitserschei¬
nung.“ Wieder schreibt sie: Gleichzeitig mußten die Farben herhalten für die
üblichen Begriffe: grün — Hoffnung, blau = treu, schwarz = Trauer usw. Eine
Ausnahme macht der Begriff braun, er wurde identisch mit dem Gedankengange
,Im Schatten der Titanen 4 (Lilli Braun). „Das war wiederum symbolisch für das
Leid, welches er, Dr. K., als Titan im Reich der Gesundung der P. bedeutete. “ Dieser
Symbolismus übersteigt in seiner Verschrobenheit das für den Gesunden noch
verständliche. — „Die Bahnanlagen mit Gleisen, Weichenstellung usw. verglich
H. mit Gängen in den Gehimlagen, in denen die Bewußtseinserlebnisse hin und
her geschoben werden.“ Ja selbst das Riesengeschehen des Weltkrieges verwebt
sie in ihre Beziehungen: „Die ganzen ersten Monate erhaben für P. das Bild,
daß sie und K. im Mittelpunkt, symbolisch genommen, des Geschehens standen.
So verstand es Dr. K., die Parallelen zwischen Sieg und Niederlage zu ziehen. 44
Sie reiht also nicht, wie so viele Kranke den Krieg einfach in ihr Wahnsystem ein,
daß er um ihretwillen, bzw. zur Strafe ihrer Gegner, geführt worden wäre, sondern
er ist ihr nur ein Symbol. Ihr Autismus ist aber so groß, daß sie kein Geschehen
ohne direkte Beziehungen zu ihrem persönlichen Geschick erleben kann.
Die „Beziehungen“ blieben nicht frei von Trübungen. Einmal sind es sinn¬
liche Regungen für einen Arzt einer anderen Anstalt, gegen die sie zu kämpfen
hat. Auch Zweifel mit der Wirklichkeit ihres Erlebens traten gelegentlich auf.
Auch in Beziehungen zum Wetter setzt sie Dr. K. Er teilt ihr im voraus
Witterungsumschläge mit. Als eine Schlittenpartie geplant war, sich aber kein
Schnee einstellt (sie lebte damals bei ihrem Schwager) versicherte K. ihr, daß
die Schlittenfahrt stattfinden könne. Und wirklich fiel in der Nacht vor dem
ausgemachten Tag Schnee! Von da an will sie deutliche Parallelen zwischen dem
Wetter und ihrer eigenen, von Dr. K. geleiteten Stimmung gefunden haben.
„Es blieb ihr keine andere Möglichkeit nach langen Monaten des Wider¬
standes als das Ungeheuerliche als Wahrheit anzunehmen.“ schreibt sie im An¬
schluß an die Wetterbeeinflussung durch Dr. K. Diesen Zweifeln begegnet Dr. K.
indem er ihr „experimentell“ seine Macht über andere Menschen „bewies“. „Seine
Kraft wuchs ins Gottähnliche für P. bei solchen Erfahrungen“, schreibt sie. Den
schwersten Stoß erlitt ihr Glaube an Dr. K., als sie, während ihrer Tätigkeit in
der Lazarettküche, ihn einmal abends in seinem Sprechzimmer mit einer anderen
Kranken „überrascht“. Von Eifersucht gefoltert, reist sie sofort ab. Bald aber
ist der Rapport wriederhergestellt, und Dr. K. macht ihr klar, daß es sich um
eine planmäßig vorbereitete Szene handelt, um ihr die Möglichkeit einer Trennung
von ihm zu zeigen, damit sie, die bis jetzt in geistiger Hörigkeit (so!) gelebt, frei
und aus eigenem Entschluß sich für oder gegen ihn entscheiden könne!
Ein deutliches Gefühl, daß ihr Benehmen und ihre ganze geistige Einstellung
für ihre Umgebung auffällig sein mußten, hat sie stets: „Qualvoll verurteilt, im
äußeren Leben nicht über das Große zu reden, was in P. vorging, wurden ihre
Lebensäußerungen vielfach unverständlich für ihre Umgebung.“ Eine „gewisse
Schranke“ sei zwischen ihrem Schwager (Dr. W.) und ihr stets geblieben. „Nach
außen änderte sich nichts Wesentliches an P.s Benehmen außer einzelnen Un¬
verständlichkeiten für die Menschen ihrer nächsten Umgebung 44 ', schreibt sie an
anderer Stelle. Für die Beerdigung ihrer Mutter nimmt sie sich kaum die Zeit,
weil der kranke Dr. K. so dringend nach ihr verlangte. Sie selbst war aber krank
und konnte zu ihrem Schmerz Dr. K. nicht sogleich besuchen. „Wart’ nicht zu
lange“ teilt er ihr mit, am Tag darauf starb er.
Damit schließt der erste Band ihrer Aufzeichnungen.
Die Totenehe einer Schizophrenen.
459
Der Tod Dr. K.s, so berichtet sie in einer kleinen Schrift» war ein furcht*
barer Schlag für sie. Ein Gefühl wie die „Auflösung der gesamten Ichkonzentration“
kommt über sie. Dann fährt sie fort: „Nun kam ein unerhörtes Glücksgefühl
über mich, trotzdem ich mich maßlos schwach fühlte. Während ich so vor mich
hindämmerte, kamen die Worte: „Ich friere, Heimweh, Einsam“; nach längerer
Pause: „Lieb haben, Verzeihung, verzeih“; und wieder nach einiger Zeit: „Rudi
(der gefallene Sohn Dr. K.s) grüßt, Mutter lieb haben ...“ Woher mir die Kraft
kam, an die Totenbahre Dr. K.s zu gehen, die Abnahme der Totenmaske zu
übernehmen, der Beerdigung beizuwohnen, verursachte mir selber immer neues
Staunen. Ich fühlte mit absoluter Sicherheit, daß mir diese Kraft von außen
zuströmte, und ich mit zielbewußter Sicherheit gelenkt wurde. Ich handelte
mechanisch an der Hand Dr. K.s.“ Während der Beerdigung hört sie: „Du bist
nicht allein, ich gehe neben dir her, sei nicht traurig.“ Auch über den Tod
siegt der Wille der Kranken, den geliebten Mann zu besitzen.
In derselben Schrift, in der sie über Dr. K.s Tod berichtet, teilt sie auch mit,
daß (der tote) Dr. K. sie gebeten habe, ihr Gelegenheit zu geben, sich schriftlich
mit ihr zu verständigen. Unabhängig kam ihr das in die Feder, „wie wenn mir
Dr. K. die Hand führte, ohne daß ich wußte, wie das Ende eines angefangenen
Satzes lauten würde. Nicht wissend was ich schreiben würde, nur aus dem Wunsch,
los zu werden, was mein Bewußtsein über die Maßen beschwerte, fing ich meinen
Bericht über des Doktors Arbeit an.“
Diese Arbeiten sind in zwei umfangreichen, maschinengeschriebenen Manu¬
skripten niedergelegt. Ihr Inhalt ist kurz der: Die Gedanken sind eine Substanz,
welche durch Einwirkung des Lichtes auf das Gehirn produziert wird. Die Sonnen¬
energien sind Strahlen, welche Atome eines glühenden Metalls auf die Erde schleu¬
dern. Diese werden im Gehirn teils resorbiert, teils wieder, mit Geiststoff be¬
laden, abgestoßen; so kreist in der Luft eine Menge Geiststoff. Auf den in der
Luft kreisenden Geiststoff behält der im Gehirn, dessen Rinde von ihm seine
graue Farbe hat, seine ursprüngliche metallische Anziehungskraft; so ist Ge¬
dankenübertragung möglich. In ruhendem Zustand lagert sich der Geiststoff
spiralig um den Menschen. Durch die verschiedenen Geschwindigkeiten, mit der
die Sonnenenergien um die Erde kreisen, entstehen Spannungen, die wir Elek¬
trizität nennen, und das Wetter; daher die Abhängigkeit des Menschen von der
Witterung. Auch der Geiststoff der Verstorbenen kreist weiter; nach einem guten
und harmonischen Leben bleibt er zusammen und ermöglicht so ein bewußtes
Weiterleben nach dem Tod, wie auch ein in Beziehungtreten zu den Lebenden.
In diesen Theorien, die genau ins Einzelne ausgeführt werden, sind Erörte¬
rungen über Ehe, Erziehung, Psychiatrie und Schilderungen des Lebens der
Kranken eingeflochten, die ihr alle Dr. K. in die Feder diktierte. Der ethische
Standpunkt ist, wie sich vermuten läßt, ein ziemlich hoher; originelle Gedanken
finden sich hier aber nicht.
Es hieße einem Arzt von Ruf und Wissenschaftler von Rang bitter Unrecht
tun, wenn man diese primitiv materialistischen Anschauungen, die zudem im
Gegensatz zu unserem physikalischen Weltbild stehen, auch nur indirekt auf
seine Beeinflussung zurückführen wollte. Es sind lediglich die Ideen der Kranken,
die sie ihrem geliebten Dr. K. unterschiebt. — Die Kranke hat sich bei einer
Reihe bekannter Forscher für eine Veröffentlichung eingesetzt — ja sogar an die
Frau des Gestorbenen wandte sie sich — hatte aber nirgends Erfolg.
Das letzte, was die Kranke geschrieben hat, ist eine Art Tagebuch, in das ihre
täglichen Unterhaltungen mit dem toten Dr. K. auf gezeichnet sind, und das bis
zu ihrem eigenen Tod geht. Es sind fast ausschließlich Fragen des täglichen
Lebens, in denen sie ihn um Rat fragt und seine Antworten. Interessant dabei ist.
460
H. Wildermuth:
daß sie ihre eigenen und Dr. K.s Äußerungen in verschiedener Handschrift schreibt,
ihre deutsch und die K.s lateinisch und vielfach undeutlich. Die Abschnitte, die
sie selbst schreibt, beginnen mit L—., was wohl Liebster heißen soll; die Dr. K.’s
mit V, wofür uns keine Deutung möglich ist. Da uns keine Handschrift Dr. K.s
zur Verfügung stand, so konnten wir nicht feststellen, ob diese Schriftzüge Ähn¬
lichkeit mit den seinen haben.
Ein Vers steht am Anfang:
Ich bin froh, ich bin zufrieden.
Lebe du für mich hienieden,
So wie ich gelebt gerne hätt,
Wenn die Leut’ mich nicht geniert.
Nun ist’8 Zeit zum Aufwärtssteigen,
Bitte, laß den Weg dir zeigen.
Mein sei ganz mit Seel und Leib,
Drin ich mich für Ewigkeit
Glücklich fühle, dankbar froh
Und in Seelenkraft nun so
Vergnüglich immer mehr dich führe stetig
Jenen Geistesweg hinan.
Den ich dir erleuchten kann. Dr. K.
Es gehört für einen gebildeten Menschen schon ein erhebliches Maß geistiger
Schwäche dazu, diese holprigen Verse ernst zu nehmen.
Nun kommt sie mit allen Fragen des täglichen Lebens zu ihm. Sie ist ver¬
armt, muß sich in bescheidensten Verhältnissen eine kleine Dachwohnung bei
ihrem Schwager einrichten; vielfach ohne Bedienung sich behelfen; für eine Frau
in früher glänzenden Verhältnissen keine leichte Aufgabe. Alle ihre Sachen berät
sie mit Dr. K. So fragt sie: „Bitte sag* mir, ob ich die Unkosten für die Anlagen
in der Wohnung machen soll.“ Antwort: „Keinen Augenblick mehr warten,
wegen des Herdes fahre nach F.“ Seitenlang wird wegen des Herdes und der zu
setzenden Öfen verhandelt. Ein andermal teilt Dr. K. mit: „Wegen des Verkaufs
der Pfundnoten: es ist nötig, das bare Geld auf ein Minimum zu beschränken, die
Pfundnoten behalten ihren Wert, die Mark ist unbeständig.“ Wieder fragt sie
an: „Soll ich mit W. etwas besprechen, ehe er fort fährt?“ Dr. K.: „Bitte ihn
um Zusicherung der Unkosten für die Anschaffung des Starkstroms.“ Er treibt
sie an: „Denke daran, wie wir uns einrichten; ich möchte gern in meine Ordnung
kommen; denn es hat kein gut, so herumzuhospitieren.“
Oft tröstet er sie: „Mache dir keine Gedanken wegen des Unterganges der
Mark, das ist eine alte Welt, auf der Neues erstehen soll; sieh, in Rußland geht’s
auch seinen Gang, und du bist mit dem Geld von Walter aus aller Not heraus.“
Dann: „Du weißt, dein Aufenthalt hier ist nicht das, was definitiv für dich ge¬
dacht ist.“
Auch allerhand Träume und Erscheinungen erklärt er ihr: Einmal sieht sie
viele S, das bedeute Essen Auch Anweisungen für Tischrücken, das die Kranke
eifrig betrieb, werden gegeben. Als sie einmal anfrägt, warum man im Dunkeln
Tischrücken soll gibt er ihr folgende absonderliche Erklärung: „Im Dunkeln ist
meine Kraft aktiver wegen der Zusammengehörigkeit meiner Atom-Psychom-
Lebenserscheinung mit dem physikalischen Charakter elektrisch entspannter
Form der Dunkelheitsatombewegung.“
Deutlich ist, wie die „Antworten“ Dr. K.s ihre eigenen geheimen Gedanken
verraten. Immer wieder fordert er sie auf, an die Plastik zu gehen; sie als Leuchte
der Wissenschaft solle keine Hausarbeit tun. Wenn ihre Tochter E. einmal bei ihr
ist, soll sie es sich leicht machen. Sehr schön kommt das zum Ausdruck in einer
Die Totenehe einer Schizophrenen.
461
Unterhaltung, die sie wegen der finanziellen Auseinandersetzung mit der Familie
ihres inzwischen gestorbenen Mannes führt: Dr. K. schreibt ihr: „Ich habe einen
Zorn und freue mich auf die Verhandlung mit dem Rechtsanwalt... Auf den
Pfennig hin kriegen sie vorgeschrieben, wieviel sie zu geben haben.“ Darauf ant¬
wortet sie: „Ich habe kein Recht, mir von denen etwas geben zu lassen... ich
möchte am liebsten nichts von ihnen sehen und hören und annehmen.“ Dr. K.:
„Ja, das ist richtig, aber meine Pläne sind weitgehender als deine, deswegen muß
ich deine Intelligenz so dirigieren, daß meine Plane ausgeführt werden.“ Hier
kämpft in der Kranken, als einem vornehmen Charakter, der Wunsch, nichts von
der Familie ihres Mannes annehmen zu müssen mit der Sorge um ihre Existenz.
Dr. K. macht ihr einleuchtend, daß sie wohl berechtigt sei, ihre Ansprüche durch¬
zufechten. — Daß die Anwesenheit ihrer Kinder, an denen die Kranke mit echtem
Gefühl hängt, Dr. K. nicht stören darf, ist selbstverständlich. Deshalb teilt er
ihr auch mit: „Fein geht’s mit den Kindern zusammen, dein Leben mit mir. Ich
empfinde es keinen Augenblick mehr erkältend, wenn du sie bei dir hast.“ Wegen
des Bleibens von A., ihrem jüngsten Sohn: „Hab* keine Sorge wegen A.s Bleiben,
er soll nie mehr von seiner Mutter getrennt werden.“ Und auch ihr Mutterstolz
erhält die Bestätigung: „Der Bub wird deine (der Kranken) Arbeit als erster ver¬
stehen, wenn er groß genug ist.“ „A. ist ein Prachtkerl, du wirst unendlich viel
Freude an ihm haben.“ Dieses Lautwerden eigener Gedanken in Dr. K.s Äuße¬
rungen ist so deutlich, daß sie es selbst empfindet: „Deine Briefe sind so stark
nach meiner Mentalität gefärbt, ich möchte, der Kontrast zwischen meinen und
deinen Gedankengängen käme besser heraus.“ Freilich nicht nur ihre geheimen
Wünsche, auch das verdrängte Unangenehme, kurz ihr schlechtes Gewissen wird
in Dr. K. laut: „Warum kümmerst du dich gar nicht um unsere armen Dulder
im Ruhrgebiet ? weü du in Sicherheit bist!“ wirft er ihr einmal vor. „So, jetzt kann’s
losgehen mit der Kopfwäsche, aber gründlich kriegst du ihn heute gewaschen“,
hat ein andermal eine seiner Mitteilungen begonnen.
Auch jetzt hat sie ein lebhaftes Gefühl dafür, daß ihr Tun und Lassen für
ihre Umgebung unverständlich ist. „Es ist doch manches in mir und meiner
Wesensart, durch das Gebundensein an mediale Leistungen anders zu verstehen,
als wenn man den Maßstab an einen ganz normalen Menschen legt.“ — „Es ist
zum Totlachen, wenn einem die Menschen so lieb Zureden: ach, das bißchen Kochen!
Die haben gut reden mit ihrer normalen Hirntätigkeit!“ „Ich kann keine Unter¬
haltung mehr mit den Leuten führen, mein Kopf ist so leer, so arg leer, doch weiß
ich, daß das nötig ist für unsere Arbeit.“ Sie betrachtet ihre Beziehungen zu
Dr. K. als eine Ehe. Er ist der Hausherr. Seine Wünsche haben in erster Linie
Anspruch auf Berücksichtigung. Zu den Kindern bekennt sich Dr. K.: „Ich bin
im Innern ganz ihr richtiger Vater, denn ich liebe sie mehr wie die Xer“ (X Zeichen
für Dr. K.s Wohnort, wo seine Familie noch lebt).
In das geistige Verhältnis mit dem Toten mischt sich nun immer mehr sinn¬
liche Erotik. „Richtig dich fassen können, als meinen Mann, das möchte ich;“
wünscht* sie. „Ich hab so schrecklich Sehnsucht nach deiner Nähe.“ Es hagelt
Liebesbezeugungen von beiden Seiten. Einige höchst alberne, aber sehr verliebte
Knittelverse, die er ihr mitteilt, machen sie „ganz fidel“. „Nimm einen Extrakuß
dafür, dein Mannlieb“ schreibt sie. Immer deutlicher drängt sich das körperliche
Verlangen vor, er ruft ihr zu: „Komm ins Bett, da hab ich dich sooooo gern drin!“
Daß sie in derselben Zeit von Spargeln träumt, was ihr Dr. K. als „Keime, die
sehr gut schmecken“ auslegt, mag auch in dieser Richtung gedeutet werden.
Aber dieses ewig ungestillte Verlangen zusammen mit den äußeren Sorgen
beginnen ihre Widerstandskraft zu zermürben.
„Ich bin so müde, so totmüde, nicht zum ins Bett gehen, sondern zum Aus-
462
H. Wildermuth:
ruhen vom Leben. Mir ißt jede Energie zum Weiterleben abhanden gekommen.
Ich habe so schrecklich Sehnsucht nach dir und deiner sichtbaren Nähe", schreibt
sie etwa 6 Wochen vor ihrem Tod. „Ich darf aber nicht nachgeben, wenn mich
brennend heiß das Verlangen überfällt, Schluß zu machen." Der Gedanke an
die „Arbeit" und die Kinder („dein Kind" zu Dr. K.) hält sie zurück. Der „Veronal-
gedanke" taucht immer häufiger, immer stärker auf. Noch sträubt sich Dr. K.,
der Kranken Innerstes, dagegen: „Nimm einen dicken Wunsch für deinen Froh¬
sinn ... als Pulver gegen den Veronalgedanken", schreibt er ihr. Am 11. XII.
aber sagt er ihr: „Warte nicht zu lang, warte nicht zu lang! weißt du die Worte
noch genau? Es ist Zeit, nicht mehr länger zu warten!" Die Kranke ist am Ende;
am 16. XII. trägt sie ein: „Nun wird
es endlich ernst mit dem Kommen,
denn offenbar ist mein Leben hier zu
Ende. Die Lage gebietet eine Än¬
derung: Alle Teile gewinnen nur da¬
durch, daß ich Platz mache. Aber wie
wird es mit unserer Arbeit, das ist
meine einzige Sorge. Dann muß ich
immer daran denken, wie du mich
mit deinen armen Kindern ohne ein
Wort in der Welt zurückgelasaen
hast. Außerdem sagtest du mir neu¬
lich, es ist Zeit, nicht mehr lange zu
warten. So werde ich heute schon
meine Sachen ordnen, für die Auf¬
bewahrung und Verwendung meiner
Zeichnungen und Schriften sorgen
und heute Abend zu dir kommen."
Antwort: „Dann also auf baldiges
frohes Wiedersehen!" In der Nacht
nahm die Kranke Veronal, das sie
zum ersehnten Ziele führen sollte.
Neben diesen zahlreichen
schriftlichen Aufzeichnungen hat
die Kranke noch ein dickes Heft
mit Zeichnungen hinterlassen, die
in den Jahren 1921/22, 4—5 Jahre nach Dr. K.s Tod, entstanden. An
und für sich bieten die Zeichnungen gar nichts Besonderes, man kann
solche stoßweise in jeder Heilanstalt sammeln, sie werden aber merk¬
würdig durch zwei Momente. Erstens, daß ein künstlerisch begabter
Mensch derartige kindische Kritzeleien zu Papier bringt, und zweitens
hauptsächlich deshalb, weil die Kranke zu jeder Zeichnung eine aus¬
führliche Erklärung gibt. Man kann hier einen tiefen Blick in die
schizophrene Symbolik tun und ist erstaunt über soviel Plattheit.
Nicht weil tiefe Zusammenhänge und unerforschliche Beziehungen
diese Bilder verknüpfen, sind sie uns unverständlich, sondern wegen
ihrer derbsinnlichen, wortwörtlichen Auslegung. Kein Gesunder wird
die Deutung rätselhafter Bilder so auf der Oberfläche suchen. Häufig
Die Totenehe einer Schizophrenen.
463
sind die Zeichnungen Antworten auf Anfragen, die die Kranke an
Dr. K. richtet. Die Frage ist dann jedesmal oben vermerkt.
Zum Verständnis sei nur noch erwähnt, daß die oft wiederkehrende
Spirale den Geiststoff, Seelenzustand und schließlich den Menschen
selbst bedeutet ; im übrigen genügen die Erklärungen der Kranken selbst.
Erklärung zu Bild I: „Der Unterschied zwischen deinem früheren
suchenden, zerfahrenen Bewußtseinsleben und dem jetzigen geordneten
und geschlossenen Denkvorgang. Schiefe Ebene von früher.
Oben siegt geordnete Spirale.
Linie scheidet oben und unten.
Aus Vergangenheit steigend Bewußtseinsleben auf der schiefen Ebene.
Bild II: Warum quälen mich die Menschen so? Damit die Erkran¬
kung der Frau von früher durch die Leiden unter ihrem Leben in der
sinnlichen Welt gezeigt werden, wie Roheit, Selbstsucht und Beschrän¬
kung, die ganze Hurrapolitik der sogenannten großen Welt sie kaput
gemacht haben. Darunter ist jetzt ein Strich gemacht.
464
H. Wilderrauth :
Zweites Bild.
Dem Idioten mit dem falschen Ehrgeiz (ihrem Mann. Der Verf.)
wird gezeigt, in welche Gefahr er die kleine Spirale gebracht hat, und
wie es gekommen, daß die große Spirale K. Erbarmen hatte und die
Kleine in seine Kreise auf nahm, um sie zu schützen vor dem Gifttier
Lüge, welches N. (ihr Mann. Der Verf.) auf sie losgelassen hat. Das
Hin- und Herschwanken beim Übergang von einer Existenz in die
andere Ehe wird endgültig beseitigt und die Hohlheit des Gefäßes von
s. Z. definitiv beendet; das Gefäß ist erledigt in seiner Durchschnitts¬
existenz. Das Gifttier wird unschädlich gemacht und aus der Welt
geschafft. Die große Spirale weint Freudentränen, weil sie die kleine
Spirale ganz besitzt und schützen darf.
Wald = sinnliche Welt.
Moos = früher = Vergessenheit,
damit = in der Mitte (? D. Verf.).
Frau mit Kreis auf Kopf = gehirnkranke Frau.
Die Totenehe einer Schizophrenen. 465
Schaukel darunter = Schwanken von oberer Existenz in untere.
Gefäß mit Röhre drin = Hohlheit im Durchschnittsleben.
Zange, die Schlange packt = Abschaffung der Lügenpolitik.
Idiot, dem Wurm heraushängt = sichtbares Gewurmtsein durch
falschen Ehrgeiz.
Bündnis der großen mit der kleinen Spirale: Gr. Sp. weint, weil
kl. Sp. fühlt sich geborgen — und ist fröhlich im Schutz der großen.
Bild III: Wie lange muß ich noch Geduld haben, bis der Film dem
Forscher zugänglich ist?
Erst muß klipp und klar die neue Welt mit des U.-B. (Unterbewußt¬
seins) Schrift fertig sein, solang muß die Frau, deren Kopf das neue
Weltgebäude entwächst, geduldig bleiben. Das fragmentarische Sicht¬
barwerden des Schreibens ist verkehrt, die Hypothese erfährt eine
Ablehnung, diese bricht die Kraft der Frau, das Gebäude zu tragen
466 H. Wildermuth: Die Totenehe einer Schizophrenen.
Das Schiefgehen des Siegens der Hypothese fällt fort, nachdem die
Schrift Klarheit gebracht hat.
Erdteil mit U.-B. — Schrift.
Gestaltlose Behauptung = Hypothese.
Sehne, Auge in Schrift, Akt des Sehens.
Nein, nein usw. = Ablehnung.
Zinnen = Siegmotiv — schiefgehend, fortfallend.
Bild IV: Das Größenwachstum der A. (Vorname der Kranken)
muß langsam sich steigern, denn die großen Gefahren, welche die
großen Haken unsrer Entdeckung haben, drohen Spiraltätigkeit und
Mutterschaft der kleinen A. lahmzulegen. Darüber kann nur die lang¬
sam sich auswachsende Größe der A. siegen.
1. Buchstabe A sich vergrößernd.
2. Hakenprinzip und Hammermotiv — Zeusentdeckung.
3. Kleine weibliche, gedrückte Spirale.
4. Kleine Krippe — Wiege für göttliches Kind der A.
Über erleichterte Morphiumentziebung durch gleichzeitige
parenterale Eiweißgaben.
Von
Dr. Kurt Beringer, Karlsruhe.
(Aus der Psychiatrischen Klinik Heidelberg. — Prof. Dr. Wilmans.)
(Eingegangen am 17. Juli 1924.)
Vor etwa einem Jahr wies ich in einer kleinen Notiz in der Klin.
Wochenschr. Nr. 37/38 1923 auf den günstigen Einfluß hin, den paren¬
terale Eiweißgaben bei der Morphiumentziehung bezüglich Minde¬
rung der Entziehungserscheinungen und Abkürzung der Entziehungs¬
zeit ausüben. In der Zwischenzeit hat sich unser Material vermehrt,
die Methode weiter bewährt und private Mitteilungen von anderer
Seite ein gleichlautendes Resultat ergeben, so daß es gerechtfertigt
erscheint, auf diese Methode eindringlicher hinzu weisen.
Wie bei jeder Therapie, ist natürlich auch bei dieser mit der indi¬
viduellen biologischen Ansprechbarkeit als einer in weiten Grenzen
schwankenden Unbekannten zu rechnen, so daß die Erfolge bald mehr,
bald minder eklatant sind, immerhin hat sich uns bis jetzt der positive
Gewinn in jedem Falle doch als durchgängig vorhanden gezeigt. Wir
glauben daher auf Grund unserer Beobachtungen einen Versuch mit
dieser Methode bei jeder Entziehungskur empfehlen zu dürfen.
Wir verwandten als Eiweißpräparat die von den Sächsischen Serum¬
werken in Dresden hergestellte Xifalmilch 1 ), deren Wirkungsweise uns
von der Behandlung der Epilepsie mit diesem Präparat schon bekannt
war. Sie besteht aus einer Mischung von Milch- und Bakterieneiweiß.
Wie weit andere Präparate der unspezifischen Reiztherapie dieselbe
Wirkung haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Es ist aber wohl
anzunehmen, daß ein wesentlicher Unterschied hierin nicht besteht.
In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß uns ein Patient
angab, er habe zur Zeit des Bestehens eines schweren Abscesses über¬
raschend leicht in der Selbstentziehung mit dem Morphium herab¬
gehen können.
Die Methode besteht darin, daß man vom Beginn der Entziehung
an täglich 2 ccm Xifalmilch intraglutäal gibt. Sollten sich gegen Ende
der Kur leichte Entziehungserscheinungen zeigen, so ist es in manchen
468
K. Beringer: Über erleichterte Morphiumentziehung
Fällen von Vorteil, dann statt der 2 ccm jeweils 5 ccm zu geben. Nach¬
teile irgendwelcher Art durch diese gehäuften Gaben sahen wir nie,
konnten sogar im Gegenteil noch während der Entziehung eine
unverkennbare Besserung des Turgors, des Allgemeinzustandes kon¬
statieren. Kontraindikationen bestehen nur beim Vorhandensein
irgendwelcher latenter oder florider Infektionen, insbesondere solcher
tuberkulöser Natur, gleichweicher Lokalisation, wohingegen die üblichen
Injektionsabscesse keine Gefahr darstellen. Es empfiehlt sich bei der
Entziehung nach einem Schema vorzugehen, das natürlich von Fall zu
Fall modifiziert und der jeweiligen Sachlage, wie bei jeder Entziehung,
angepaßt werden muß. Im allgemeinen begannen wir mit einer Tages¬
dosis von 3 X 0,02 Morphium, selbst dann, wenn der vorhergehende
Morphinkonsum sehr viel höher war, um dann, im Anfang rascher, gegen
Schluß langsamer herabzugehen. Wird der Patient unruhig, treten
leichte subjektive oder objektive Abstinenzerscheinungen auf, so bleibt
man 1—2 Tage auf der letzten Dosis stehen, bis sich der Organismus
gleichsam wieder eingestellt hat, um dann weiter abzusetzen. In der
Mehrzahl unserer Fälle ließ sich aber ohne jede Schwierigkeit die
Alkaloidverminderung stetig bis zur endgültigen Entziehung durch¬
führen. Wenn diese erreicht ist, geben wir noch unter Fortsetzung
von NaCl-Scheinspritzen das Xifal 3—4 Tage weiter. Zu Beginn der
Kur empfiehlt es sich, das Eiweißpräparat abends zu geben, zugleich
mit der letzten Morphiumspritze, um nach Möglichkeit deren Wir¬
kung für diese, ja immer beim Morphinisten schwierige, weil längste,
morphiumzufuhrfreie Zeitspanne zu unterstützen. Gegen Ende, wenn
nur noch abends Morphium gegeben wird, ist es in manchen Fällen
zweckdienlich, morgens gleich mit der Scheinspritze das Xifal zu geben,
da dieses schon an sich eine leichte Euphorisierung und körperliches
Wohlbehagen schafft, und dadurch auch der Angst des ,Jetzt um die
Spritzebetrogen werdens 4 4 entgegen wirkt. Nachts wurden regelmäßig
wirksame Schlafmittel gegeben, wobei sich insbesondere 0,5 Medinal
+ 1,0 Adalin in ihrer besonderen kumulierenden Wirkung brauch¬
bar erwiesen. Machten sich stärkere Entziehungserscheinungen, die
eine rasche Abhilfe erforderten, bemerkbar, so zeigte sich vor allem
ein Paraldehydklysma von Erfolg, doch war dies nur vereinzelt not¬
wendig. Sehr nützlich erwies sich stets bei leichten subjektiven Be¬
schwerden gleichzeitige Verabreichung von Atropin. Es ist anzunehmen,
daß auch die Wirksamkeit dieser Mittel durch die Eiweißgaben erhöht
wurde 2 ). Schwere Entzündungserscheinungen sahen wir bei einer sinn¬
vollen Verwendung dieser Methode nicht, insbesondere fehlten die
schweren Durchfälle, sowie die Herzalterationen.
Ich bin absichtlich zunächst auf die möglichen Komplikationen
und Verlaufsarten, die Schwierigkeiten bereiten können, und die Ent-
durch gleichzeitige parenterale Eiweißgaben.
469
ziehnngskur nicht ganz reibungslos durchführen lassen, eingegangen,
um zu verhüten, daß nicht mit übertriebenen Erwartungen an die
Verwendung der Methode herangegangen wird, um sie dann, falls nicht
gerade der erste Versuch diesen entspricht, wie meist üblich, auch ebenso
prompt wieder aufzugeben. Tatsächlich haben aber alle unsere Patien¬
ten, die schon mehrere Entziehungskuren hinter sich hatten, über¬
einstimmend und spontan auf die große Erleichterung, die dieser Ent¬
ziehungsart zukommt, sowohl bezüglich der relativen Beschwerde¬
freiheit wie der Raschheit hingewiesen. Verschiedene bezweifelten
ernstlich, daß die Entziehung schon vollendet sei, als ihnen dies mit¬
geteilt wurde, daß sie ja kaum etwas gespürt hätten. Als anschauliche
Ergänzung lasse ich hier kurz 4 typische Krankengeschichten folgen,
die nicht etwa vereinzelte Glanzfälle darstellen.
Fall 1. 23 Jahre, stud. ing. Seit 1918 nach Operation Morphinismus. Erfolg¬
lose, langwierige und kostspielige Entziehungsversuche zu Hause durch „Nerven¬
arzt“. Schließlich hierher; angeblicher täglicher Verbrauch 0,5 g.
Körperlich: Schlechter Ernährungszustand.
Dauer der Entziehung 7 Tage.
Dauer des Klinikaufenthaltes 48 Tage.
Gewichtszunahme 7 Pfund.
Tabelle zu Fall 1.
Entziehungs-
Morphium
Xifal
Schlafmittel
Sonstige
Verlauf
tage
in 24 Std.
ccm
Mittel
1
0,04
2
2 Chloral
—
2
0,04
2
2 „ !
—
3
0,03
2
2 „ 1
—
4
5
0,025
002
2
2
6 Para
Leichte subjektive Entziehungs¬
6
0,015
2
U 11
6 „
erscheinungen.
7
0,01
5
6 „
— !
8
—
5
6 „
— |
Fall 2. 28 Jahre. Kaufmann. Seit 1916 Morphinismus durch Verwundung.
Regelmäßiger täglicher Gebrauch. Resultatlose Entziehungsversuche durch Haus¬
arzt. Dreimal zur Entziehung in geschlossener Anstalt oder Sanatorium. Jeweils
5—8 Monate. Entziehung gegen Ende der Kur stets mit großen Schwierigkeiten
verknüpft. Infolge erneuten Rückfalles hierher. Angeblicher Tagesverbrauch 0,5 g.
Körperlich: Sehr reduziert.
Dauer der Entziehung 12 Tage.
Dauer des Klinikaufenthaltes 72 Tage.
Gewichtszunahme 15 Pfund.
Faü 3 . 32 Jahre, £. Nimmt seit dem 20. Jahr regelmäßig während der Menses
Morphium. Seit 1 Jahr infolge tiefgreifender Ehekonflikte regelmäßiger täglicher
Gebrauch von 0,2 und mehr.
Körperlich: Schlechter Ernährungszustand.
Dauer der Entziehung 6 Tage.
Dauer des Aufenthaltes in der Klinik 16 Tage.
Gewichtszunahme 3 Pfund.
470
K. Beringer: Über erleichterte Morphiumentziehung
Tabelle zu Fall 2 .
Entziehung»-
Morphium
Xifal
Schlafmittel
Sonstige
Verlauf
tag
in 24 Std.
ccm
Mittel
1
0,06
2,0 Chloral
_
2
0,06
2,0 „
—
Schlaf
schlecht, subjektive
Entziehungserscheinungen.
3
0,04
2,0 „
—
Schlaf
schlecht, subjektive
Entziehungserscheinungen.
4
0,03
—
2,0 „
—
Schlaf schlecht, Schweißaus-
brach
Gliederreißen.
5
0,03
2
2,0 „
—
Leichte
Entziehungserschei-
nungen.
6
0,025
2
8 Paraldehyd
Schlaf besser, fühlt sich wohl.
7
0,02
2
Fühlt sich wohl.
8
0,02
2
8
—
Fühlt sich wohl.
9
0,015
2
8
—
Nachts
unruhig, subjektive
Entziehungserscheinungen.
10
0,015
5
5
_
Schlaf gut, fühlt sich wohl.
11
0,01
2
5
—
Schlaf gut, fühlt sich wohl.
12
0,005
2
3
—
Fühlt sich wohl.
13
—
2
3
1 —
Weiterhin Wohlbefinden.
Tabelle zu
Fall 3 .
Entziehungs¬
tage
Morphium
in 24 Std.
Xifal
ccm !
Schlafmittel
Sonstige Mittel
Verlauf
1
0,08
2 :
0,5 Medinal
--
-
2
0,06
2
1,0 „
__
-
3
i 0,04
2
0,5 „
-
4
j 0,02
2 1
1,0 „
-
5
6
7
8
i 0,01
0,005
2
2 ^
2
2
1,0 „
0,5 Veronal
l,0Adalin
dsrl.
dgl.
0,5 Migr&nin
0,5 „
0,0002 Atropin
0,0002 „
0,0002 „
■
Leichte Unruhe, ge-
k reizt, subjektive Be¬
schwerden schläft
aber nachts.
o
i
! 9 I
0,5 Medinal
0,0005
9
1
2 l
0,5 Adalin
0,0005
ii
Keine Beschwerden
10
!
, 2 ,
0,5 Medinal
—
mehr.
11
i
, 2 ,
0,5 ,,
-
Fall 4. 40 Jahre, Offizier a. D. Seit 1916 Morphinist durch schwere Ver¬
wundung. Anfänglich gelang noch Selbstentziehung, jetzt wieder rückfällig.
Später zugleich starker Cocainabusus. Verschiedene Entziehungskuren in Sana¬
torien, die stets sehr langwierig waren, dabei schwerste Entziehungserscheinungen,
insbesondere unstillbare Durchfälle mit bedrohlichen Kollapszuständen. Bei
Aufnahme angeblich 0,1 g pro Tag.
Körperlich: Aufgeschwemmt, pastös.
Dauer der Entziehung 8 Tage.
Dauer des Klinikaufenthaltes 12 Tage.
durch gleichzeitige parenterale Eiweißgaben.
471
Tabelle zu Fall 4 .
Entzieh ungs-
tage
Morphium
in 24 Std.
Xifal
ccm
Schlafmittel
Sonstige Mittel
Verlauf
i !
0,06 |
i
2 ^
2 i
0,5 Medinal
-f 0,5 Adalin
—
2
0,05
2
dgl.
—
3
0,04
2
dgl.
—
Leicht. Gliederziehen,
Magensensationen.
4 !
0,035
5 f
5 l
0,5 Medinal
+ 1,0 Adalin
0,0005 Atropin
0,0005 „
| Magensensationen.
5
0,03
5
, dgl.
0,0005 „
Ganz leichte subjek¬
tive Beschwerden.
6
0,25
5
dgl.
0,0005 „
Ganz leichte subjek¬
I
!
tive Beschwerden.
n
l
0,02
5
i dgl.
0,0005 „
8
0,01
5
dgl.
—
Fühlt sich wohl.
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Z. (. d. g. Neur. u. Paych. XC1II.
31
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
I. Mitteilung.
Von
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger.
(Aus der Anstalt „Apeldoomsche Bosch“ zu Apeldoorn-Holland.)
(Eingegangen am 28. Juni 1924.)
Nachdem man erkannt hatte, daß bestimmte extrapyramidale
Erkrankungen mit Leberstörungen vergesellschaftet sind, war die Frage
naheliegend, ob sich bei der Katatonie mit ihren in mancher Hinsicht
ähnlichen Motilitäts-Störungen eine abnorme Leberfunktion nach-
weisen ließe. Über das Vorkommen von anatomisch nachweisbaren
Leberschädigungen bei Psychosen ist das Urteil der Autoren sehr
geteilt. Von vornherein ließe sich aber eine Funktionsstörung der
Leber auch ohne anatomisch nachweisbares Korrelat sehr wohl denken.
Auch wäre es möglich, daß die anatomische Veränderung des Organes
sich erst in einem späteren Stadium der Krankheit bemerkbar machen
würde, während dagegen eine Störung in der Funktion schon früher
nachweisbar gewesen wäre. Analogien von einem derartigen Verhalten
sind in der internen Medizin nicht unbekannt.
Es gab aber noch eine andere Ursache, die Leberfunktion bei den
Schizophrenen genauer zu prüfen. Es hat sich nämlich gezeigt, daß
die alimentäre Blutzuckerkurve bei vielen Schizophrenen Abweichungen
vom normalen Typus aufweist, und es gab Gründe, einige von diesen
Abweichungen zu einer Störung der Leberfunktion in Beziehung zu
setzen ( D . Schrijver 1923).
Bekanntlich ist die Frage betreffend den Zusammenhang zwischen Leber¬
krankheit und Psychose eine sehr alte. Die antike Medizin und wohl auch die
mittelalterliche „erklärte“ viele Geisteskrankheiten als Folgen einer Vergiftung
des Gehirnes durch schwarze eingedickte Galle. Es ist Esquirol w r ohl beizupflichten,
wenn er die autoptisch im Gehirne Vorgefundene gelbe Flüssigkeit — die Galle der
Antiken — für die Folge einer alten Blutung hält.
Schon von vielen Autoren ist im Laufe des 19. Jahrhunderts auf den mög¬
lichen Zusammenhang zwischen Leberkrankheit und Psychose aufmerksam ge¬
macht worden. Bamberg und Hensch (zit. nach Rothmann und Xathanson) be¬
schrieben 2 Fälle von Katalepsie bei Leberkrankheiten. Graves beschreibt aus¬
führlich Fälle von Delir und Koma bei „Hepatitis“ und Ikterus. Withla (zit. nach
L. Lern) fand in einem Delir autoptisch einen Leberabsceß, ohne daß klinisch ein
D. Schrijver u. S. Schrijver-Hertzberger: Untersuchungen üb. Leberfunktion. 473
Symptom auf eine Affektion der Leber wies. Wie L. Levi sehr richtig bemerkt,
kann der Absceß an sich schon das Delir verursacht haben. Day beschreibt einen
Fall von Epilepsie hepatischen Ursprungs, der aber eher wie ein durch die Leib¬
schmerzen ausgelöster hysterischer Anfall aussieht. Gritti (zit. bei L. Levi) fand
im Gegensatz hierzu bei seinen autoptisch untersuchten Psychosen sehr selten
Lebereirrhosen, selbst in den Fällen von Alkoholpsychose. Hieraus schließt er
sogar, daß der Alkohol bei der einen Gruppe von Menschen auf die Leber einwirkt,
bei der anderen Gruppe auf das Zentralnervensystem.
Dem Franzosen Klippel gebührt unstreitig das große Verdienst, als Erster
Untersuchungen über die Leber bei Psychosen getan zu haben (1892). Es war
ihm aufgefallen, wie oft man autoptisch bei Psychosen Leberläsionen findet, auch
in den Fällen, wo sich während das Leben die Leberfunktionsstörung nur inter¬
mittierend zeigte. Während nun in manchen Fällen die Leberläsion von unter¬
geordneter Bedeutung sei, unterscheidet Klippel andere Fälle, wo diese Leber-
läsion das Primäre darstelle, wo also ohne Leberläsion keine Psychose da wäre
(sog. ,,Folie hepatique k ‘). Als Kriterium stellt Klippel hier die zeitliche Auf¬
einanderfolge: also zuerst Leberkrankheit, dann Psychose. Betrachtet man die
einschlägigen Beobachtungen Klippels näher, dann erscheint die Beweiskraft sehr
gering. So z. B. in einem Fall, wo ein Ö2jähriger Mann akut psychotisch wird mit
einer motorischen Erregung und Agitation, Verworrenheit und Größenideen. Im
Urin findet sich Urobilin und autoptisch findet sich eine parenchymatöse De¬
generation der Leber nebst Arteriosklerose. Genug für Klippel , um die Psychose
von der Leber abhängig zu machen.
Ungeachtet dieser Fehlschlüsse scheint uns das Werk Klippels doch einige
gut beobachtete wertvolle Tatsachen zu enthalten. So sah er in Fällen von
„lypemanie“ und „melancolie avec stupeur“ eine intermittierende Urobilinurie.
Bei einer Kranken mit manischen und depressiven Phasen sah er als Vorboten der
nahenden Depression eine Vermehrung der Harnsäure im Harn, während der De¬
pression eine Verminderung, was er zu einer Leberfunktionsstörung in Beziehung
setzt.
Es stammen aus dieser Zeit unzählige Publikationen, die alle darauf hin¬
zielen, die im Verlauf einer Geisteskrankheit sich zeigende Lebererkrankung für
die Entstehung der Psychose verantwortlich zu machen. Bekannt ist das Werk
von Leopold Lern, der u. a. einen Fall von „Coma hepatique“ beschreibt. Im Ver¬
laufe einer Lebercirrhose tritt ein Koma auf. Nach einer Venenpunktion von
300 ccm schwindet das Koma. Die Deutung Levis , daß mittels der Blutentnahme
Toxine dem Körper entzogen sind, ist wohl nicht die einzig mögliche. Auch die
Fälle von Chorrin sind nicht mehr beweisend. Wenn im Verlauf einer atrophischen
Lebercirrhose bei einem Alkoholiker Halluzinationen sich einstellen, so ist die
Ursache doch wohl am wahrscheinlichsten in der Alkoholvergiftung der Großhirn¬
rinde zu suchen und nicht in der Leber, wie dies Klippel u. a. wollen. Merkwürdiger
ist der zweite Fall, wo eine eigenartige Psychose (Melancholie?) sich während einer
Lebercirrhose zeigte. Eine Behandlung der somatischen Krankheit hatte hier
eine Besserung sowohl der Leberfunktion wie ein Schwinden der psychotischen
Erscheinungen zur Folge.
Cuttere nimmt Stellung zu den Auffassungen Klippels und fragt sich, ob nicht
Leberleiden und Psychose beide von einer gemeinsamen Ursache abhängig sein
können. Auch konstatiert er, daß, wenn sich im Verlauf einer Psychose eine orga¬
nische Leberkrankheit entwickelt, dies den psychotischen Prozeß nicht wesentlich
beeinflußt.
L. Mongeri untersuchte systematisch die Leberfunktion bei allen in seinem
Krankenhaus eintretenden Fällen. Er basierte die Leberfunktionsstörung auf fol-
31*
474
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
gende Gründe: subikterisches Aussehen, Asthenie, gastro-intestinale Störungen,
Anorexie, Urobilinurie, Verringerung des Harnstoffs im Harn, Vermehrung der
Harnsäure im Urin, alimentäre Glykosurie. Er fand diese Leberfunktionsstorung
öfter, als er anfangs erwartet hatte, im besonderen fand sich eine Leberfunktions¬
störung bei Melancholie, die mit Depression und Suizidversuchen einherging und
bei akuten halluzinatorischen Verwirrtheitszuständen.
Hiergegenüber sind aber die Befunde von Hascovec zu erwähnen. Dieser Autor
fand gelegentlich einer im Verlauf einer Psychose auftretenden Sulfonalvergiftung
eine starke Urobilinurie. Da nun diese Urobilinurie angeblich nicht zum Bilde
der Sulfonalvergiftung gehöre, zieht der Autor den Schluß, daß in seinen 2 Fällen
die Urobilinurie eine nervöse war. Für uns ist wichtig, daß der Autor in vielen
Kontrollversuchen, die er an psychisch und nervös Kranken unternahm, die zum
Teil sehr große Dosen Sulfonal bekamen, niemals eine Urobilinurie feststelleu
konnte.
Nicht genügend beweiskräftig sind Veröffentlichungen, wie die von Carrive ,
der in einem Fall von akutem Delir bei einer Pfropfhebephrenie eine Leberfunk¬
tionsstörung annimmt auf Grund einer Verkleinerung der Leberdämpfung und
farbloser Faeces (Patient bekommt Milchdiät!). Im Falle von Cassaet bessert sich
ein alkoholisches Delirium zu gleicher Zeit mit der Leberfunktion. Natürlich be¬
weist dies nicht, daß die Leberfunktionsstörung die Ursache des Delirs war.
Auch im Falle von Jucqudier und Perpere wird ohne irgendeinen Grund die
psychische Veränderung bei einem chronischen Alkoholisten mit Lebercirrhose
auf Rechnung der Leber gesetzt.
Das gleiche gilt von unzähligen anderen Veröffentlichungen, deren gesonderte
Besprechung sich hier erübrigt. Es ist denn auch ohne weiteres Mas&alongho bei¬
zupflichten, wenn er davor warnt, alle bei einem Leberkranken auftretenden
psychotischen Komplikationen der Leber zuzuschreiben.
Andererseits wird aber viel zu leicht eine Leberstörung im Verlauf einer Psy¬
chose angenommen. So in einem Fall von Rothmann und Nathanson: Eine Hy-
sterika zeigt langdauernde lethargische Anfälle mit ausgesprochener Katalepsie.
Hier wird auf Grund der perkutorisch festgestellten Leberverkleinerung und des
während des Anfalles festgestellten verringerten Harnstoffgehalts des Urins eine
Leberstörung angenommen. Die Hamstoffabnahme läßt sich aber sehr gut durch
die veränderte Ernährung während des Anfalles erklären.
Beweiskräftiger erscheint uns der Fall von G. Deny und M. Renaud. Eine
38jährige Frau leidet seit 8 Jahren an einem unbestimmten Magenleiden. Im An¬
schluß an eine leichte Infektion (Grippe?) wird sie verwirrt, inkohärent, hallu¬
ziniert. Autoptisch findet sich außer Läsionen der Darmmucosa, Zelldegenera-
tionen im Cortex cerebri, eine Parenchymdegeneration der Leber, neben einer
älteren periportalen Cirrhose. Die Autoren vermuten, daß die Kranke eine leicht
insuffiziente Leber hatte, die den erhöhten Ansprüchen infolge einer akuten Darm-
störung nicht mehr gewachsen war. Die Psychose entstünde durch die Aufhebung
der Leberfunktion.
Interessant sind die Befunde von Gilbert und Lereboullet 1903, die in einem
sehr großen Prozentsatz der untersuchten Melancholiker unzweideutige Zeichen
einer Leberläsion feststellten (Urobilinurie, Cholurie, im Serum Hyperbilirubinämie).
Andererseits stellten dieselben Autoren in zahlreichen Publikationen eigenartige
psychische Abweichungen fest in vielen der von ihnen untersuchten Fällen von
Cholämie. Unter dem Namen „Neurasthenie biliaire“ bezeichneten sie eine Gruppe
von Fällen, die neben einer Reihe psychischer Beschwerden (Arbeitsunlust, Un-
schlüssigkeit, Somnolenz usw.) Leberschädigungen aufweisen, die nachweisbar
schon vor Ausbruch der psychischen Erkrankung bestanden haben sollen. Wie oft
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen. 475
sich dieser Symptomenkomplex bei Leberkranken findet und ob er etwas Cha¬
rakteristisches hat, entzieht sich unserer Beurteilung. Eine Nachprüfung von
internistischer Seite wäre nicht ohne Interesse. Es ist in diesem Zusammenhang
erwähnenswert, daß Jacobsohn bei der Untersuchung von verschiedenen infolge
von Leber-, Nieren- usw. Krankheiten auftretenden Psychosen immer das nämliche
Bild sah: die akute halluzinatorische Verwirrtheit.
Die bemerkenswerten Befunde von Damsch und Cramer mögen hier einen Platz
finden. Die Autoren sahen gelegentlich einer gutartigen Ikterusepidemie bei sonst
vollkommen gesunden Kindern eine ausgesprochene Flexibilitas cereae, die bei der
Besserung der Leberläsion wieder schwand. Damsch vermutet, daß Bakterien¬
toxine die Leberzelle geschädigt haben. Die darauf auftretenden Hirnsymptome
seien die Folge der Leberfunktionsstörung.
Daß auch eine Psychose durch Leberfunktionsstörung zur Auslösung gebracht
werden kann, zeigt besonders schön ihr folgender Fall. Ein 54jähriger Kaufmann
bekam jedes Jahr einen Anfall von Magen- und Darmstörung, kompliziert mit
Ikterus, die stets mit sehr ängstlicher hypochondrischer Stimmung verlief.
1896 tritt nach einer psychischen Überanstrengung wieder eine MagenVerstimmung
mit Ikterus auf. Der Kranke z igt sich hierbei auch wieder .deprimiert, meint
ruiniert zu sein, seine Schwester muß verhungern usw. Unter zunehmender Angst
und Verwirrtheit erfolgt der Exitus an Pneumonie. Pathologisch-anatomisch
finden sich auch histologisch keine Anhaltspunkte für Paralyse oder senile Demenz.
Es ist den Autoren beizupflichten, wenn sie den Ikterus für mitbestimmend er¬
achten, obwohl die Möglichkeit, daß umgekehrt die psychischen Störungen eine
Ikterus- und Magenverstimmung hervorriefen, nicht gänzlich von der Hand zu
weisen ist. — In diesem Sinne äußert sich auch Dufour , der den meisten fran¬
zösischen Autoren entgegengesetzter Meinung ist. Er meint, die von vielen
Autoren bei Melancholie festgestellte Leberinsuffizienz könnte sehr wohl eine
Folge der Melancholie sein. Während der Depression verringert die Sekretion
der Verdauungsdrüsen. Durch die hieraus resultierende erhöhte Zufuhr von toxisch¬
infektiösen Stoffen vom Darm aus wird die Leber krank.
Nicht ohne Interesse für das uns hier beschäftigende Thema sind die Unter¬
suchungen von Butenko. Dieser untersuchte den Harn von 180 vorwiegend psy¬
chiatrischen Fällen mittels der Ehrlichschen Dimethylamidobenzaldehyd-Reaktion.
Wir wissen jetzt von dieser Reaktion, daß ihr positiver Ausfall auf die Anwesenheit
von Urobilinogen im Ham deutet, also auf eine Leberfunktionsstörung hinweist.
Leider wird, wie unten näher ausgeführt werden wird, der Wert stark beeinträchtigt
durch den Umstand, daß schon nach sehr kurzer Zeit unter Einfluß des Lichtes
eine unberechenbare Fraktion des Urobilinogens in Urobilin umgesetzt wird und
sich so dem Nachweis mittels der Ehrlichschen Reaktion entzieht. Nahezu alle
Fälle, bei denen Butenko die Reaktion positiv fand, waren durch somatische Krank¬
heiten (Diphtherie, Tuberkulose, Darm leiden) kompliziert. Der obengenannte
L'instand beeinträchtigt den Wert dieser Befunde.
Zu einem negativen Resultate gelangten auf ganz anderem Wege auch
L. Lugiato und G. Bosschi (zit. bei Lugiato). Lugiato (1907) untersuchte die
Leberfunktion mittels der alimentären Lävulosurie bei 3 Normalen, 6 Para¬
lytikern, 5 Pellagrafällen, 6 Schizophrenien und 0 Epileptikern. Er fand die
so geprüfte Leberfunktion völlig ungestört, ebenso wie Bosschi. Jach war 1906
zu anderen Resultaten gelangt. Er untersuchte die alimentäre Lävulosurie bei
40 Gesunden, 40 Paralytikern, 40 Epileptikern und 30 verschiedenen Psychose¬
fällen. Von den 40 Gesunden hatten 4 Lävulosurie, von den Paralytikern 29,
von den Epileptikern 21, während von den 30 übrigen Psychosen 7 alimentäre
Lävulosurie hatten.
476
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
Wieder eine andere Methodik der Leberfunktionsprüfung benutzte Düse.
Dieser Autor fand bei Dementia praecox eine alimentäre Glykosurie nebst verzöger¬
ter Ausscheidung des peroral verabreichten Methylenblaus. Die hiermit auf-
gedeckte Leberfunktionsstörung besserte sich durch Karlsbader Salz. — Es ist hier
zu bemerken, daß die Methylenblauprobe in dieser Form nicht ausreicbt, um eine
Leberfunktionsstörung zu beweisen. Übrigens konnte Muggiu diese Befunde nicht
bestätigen. In Zusammenhang mit dem uns hier beschäftigenden Thema stehen
die ausgedehnten Untersuchungen von Cuneo (1914/15). Dieser Autor fand bei
Melancholie eine Stickstoffretention. Solange die Ureopoesis hierbei intakt sei.
bleibe der Kranke melancholisch. Sobald aber die Ureopoesis nicht hinreicht,
um das dargebotene kohlensaure Ammoniak in Harnstoff umzuwandeln, finde eine
Vergiftung des Organismus mit kohlensaurem Ammoniak statt. Als Folge hiervon
schlüge die Melancholie in Manie um. — Bekanntlich geschieht die Ureopoesis
zum größten Teil in der Leber. Es ist also klar, daß, wenn diese Untersuchungen
bestätigt werden sollten, eine Beziehung zwischen Psychose und Leberlüsion
naheliegt.
Es werden weitere Untersuchungen in dieser Richtung stets die schönen
Studien von Claude und Blancheiikre berücksichtigen müssen. Diese Untersucher
bestimmten unter vielem anderen bei verschiedenen Psychosen die Chloraus¬
scheidung, den Gesamtstickstoff, Hamstoffstickstoff des Harns, sowie dessen
Toxizität. In einem Fall von melancholischer Depression bei einer 36jährigen
/ Harnstoffstickstoff \
Frau erwies sich der „Coefficient azotunque \—^ esam ~ f gtjckstöff "/ stark er¬
niedrigt. Die Toxizität des Harns war sehr gering. Die alimentäre Glykosurie
war immer negativ, auch bestand keine alimentäre Lävulosurie. Auch ein zweiter
Fall von Melancholie zeigte keine Lävulosurie.
Die Untersucher verwandten noch eine andere Methode zur Leberfunkt ions-
prüfung. Gibt man Gesunden 5 g Ammoniumacetat per os, so wird dies von der
Leber in Harnstoff transformiert. Infolgedessen steigt der Harnstoffgehalt des
Harns, während derNH 3 -Gehalt unverändert bleibt (bei allen diesen Untersuchungen
soll sich der Vp. im Stickstoffgleichgewacht befinden; dies wurde von Claude und
Blanchetiere denn auch strenge beachtet). Die kranke Leber transformiert nicht
alles dargebotene NH 3 in Harnstoff, was sich in einer wesentlich geringeren Er¬
höhung des Harnstoffs im Urin ausdrückt. Von den 2 Melancholikern erwies sich
einer in dieser Hinsicht stark insuffizient. Ein Katatoniker zeigte neben einem
ungefähr normalen „Coefficient-azoturique“ einen stark hypertoxischen Ham.
Diese Hypertoxizität des Harns wird von der französischen Schule bekanntlich
auch als abhängig von der Leberfunktion gedeutet.
Aus letzter Zeit, wo der Leberfunktion wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet
wird, stammen Untersuchungen von Bostroem y der mittels der Urobilinogenprobe
eine Leberläsion bei Alkoholdeliranten feststcllte. Interessant ist die Beobachtung,
daß sich die Leberfunktionsstörung vor Ausbruch des Delirs bemerkbar macht.
Bei Kontrollpersonen (u. a. Schizophrenen) fanden sich keine Abweichungen.
Badonnel und Targowla (1921) untersuchten 9 Fälle von Melancholie auf
Leber- und Nierenfunktion. Die „Fonction biliaire“ der Leber zeigte sich normal
(keine Gallenfarbstoffausscheidung im Urin). In 7 Fällen fand sich Urobilinurie
und verzögerte Methylenblauausscheidung nebst alimentärer Glykosurie. Diese
Symptome besserten sich gleichzeitig mit der psychischen Wiederherstellung.
Die Autoren nehmen als primäre Abweichung die Gehirnerkrankung an. Die
Leberabweichung sei hiervon abhängig. — Sehr richtig bemerkt Laignel-lMvastine
in der Aussprache, daß die alimentäre Glykosurie nicht auf eine Leberläsion hin-
zuweisen braucht, weil man sie oft finde bei hyperthyreotischen Zuständen usw.
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen. 477
Unseres Erachtens wird der Wert dieser Feststellungen beeinträchtigt durch den
Umstand, daß ein Teil der gefundenen Abweichungen durch Inaniticn erklärt
werden kann. Bekannt ist die Hungerurobilinurie. Daß dieses Moment bei den
untersuchten Melancholikern eine Rolle spielen dürfte, geht daraus hervor, daß
die Autoren in ihren Fällen 7 und 8 die schlechte Nahrungsaufnehme ausdrücklich
melden. Es dürfte dann nicht wundernehmen, wenn sich die Urobilinurie
(und somit die supponierte Leberschädigung) zugleich mit der psychischen Ab¬
weichung bessern würde.
Das gleiche gilt von den 4 von Badonnel untersuchten Melancholikern.
Vom selben Autor rührt noch eine Untersuchung über die Leberfunktion her
(Aubel und Badonnel 1923). Es wird der sog. „Rapport Derrien-Clogne“ unter -
( Formolstickstoff im Serum \
sucht iHSstiÄflnrS^)' Je höher die8er Qu0tlent > ie « enn « er die
relative Ureopoesis in der Leber, was auf Leberfunktionsstörung hinweise. Die
Autoren achteten bei diesen Untersuchungen genau auf die Diät der betreffenden
Kranken (alle bekamen dieselbe Diät von Milch und Zucker). Täglich fand eine
Untersuchung des Serums statt. Der erste Fall ist der Schilderung nach eine
Psychose auf toxisch-infektiöser Grundlage (Temperaturerhöhung, Desorientierung,
Agitation). Eine Lebererkrankung dürfte hier nicht wundernehmen. — In einem
Fall war der Quotient stark erhöht. In den anderen Fällen zeigte der Quotient
starke diume Schwankungen.
Die wichtigsten Untersuchungen über unser Thema sind gewiß diejenigen
von W. Jcwobi und E. Leyser.
E. Leyser untersuchte mittels der Widal sehen Probe und auf Urobilinurie
34 psychiatrische und neurologische Fälle. 40 weitere Fälle wurden nur auf Uro¬
bilinurie und Urobilinogenurie untersucht. Der Autor kommt zu dem Ergebnis:
,,— daß es keine einzige Erkrankung gibt, bei der die Leberfunktion, soweit es
sich durch die angewendeten Methoden nachweisen läßt, gestört sein muß, daß
sie aber bei fast jeder Nerven- und Geisteskrankheit gestört sein kann. Weder
ergeben sich regelmäßige Beziehungen zu bestimmten Krankheiten, noch zu
besonderen Symptomkomplexen, wie Anfällen, Verstimmungen, Delirien oder
striären Symptomen.“
Der Autor stellt sich die Korrelation von Leber und Nervenkrankheit (inkl.
Psychose) in der Weise vor, daß Störungen existieren, bei denen primäre Leber-
veränderungen vorliegen (das sind die Fälle, wo eine anatomische Abweichung
in der Leber nachgewiesen werden kann). In anderen Fällen entstehen sekundär
auf dem Wege des vegetativen Nervensystems Störungen in der Leberfunktion.
Endlich wird in einer dritten Gruppe von Fällen ein bislang unbekannter pathogener
Prozeß die Ursache von Leberstörung und Gehirnstörung beider sein.
Wichtig ist die Beobachtung eines 17jährigen Mannes, der jedes Frühjahr
erkrankt mit Ikterus und einer eigenartigen psychischen Änderung (abnorme
Reizbarkeit, Wutanfälle, Verworrenheit, ängstliche Träume, Nahrungsverweige¬
rung usw.). Zuerst schwindet der Ikterus, erst darauf findet die Genesung in
psychischer Hinsicht statt. Leyser macht auf die Ähnlichkeit dieser Beobachtung
mit derjenigen von Damsch und Cramer (s. oben) aufmerksam und betrachtet
hier die Leberstörung koordiniert mit der Psychose, d. h. beide von der selben
Grundursache abhängig.
W. Jacobi untersuchte die alimentäre Galaktosurie und Lävulosurie und fand
im wesentlichen bei den verschiedensten psychischen und nervösen Erkrankungen
normale Verhältnisse. Wie der Autor selbst betont, bedeutet dieses negative
Resultat noch nicht, daß die Leber intakt sei; er fordert hier weitere Unter¬
suchungen, die nicht nur die Lävulosurie resp. die Galaktosurie quantitativ
478
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
feststellen, sondern auch die Dauer der Ausscheidung und die Blutzuckerwerte
in Betracht ziehen.
Endlich stammen aus letzter Zeit noch einige Äußerungen von Autoren, die
der Leberfunktion als Ursache von Geisteskrankheit Bedeutung zuschreiben.
So Obarrio und Macome , die 9 Fälle (5—11 Jahre alt) von Somnambulismus und
Pavor Nocturnus beobachteten. In allen Fällen fand sich eine positive Leuko-
widal, Urobilinurie und verzögerte Methylenblauausscheidung im Harn, die von
den Autoren auf eine der psychischen Abweichung zugrunde liegende Leberabwei¬
chung zurückgeführt wird. Durch Diät besserten sich psychische und Leber -
Symptome gleichzeitig.
H. Thomson beobachtete ein Kind mit Schlafanfällen, öfters von tagelanger
Dauer. Somatisch fand sich außer einem Zungenbelag eine Herzvergrößerung
nach rechts und Lebervergrößerung. Die Lebervergrößerung sei auch hier die Ur¬
sache der psychischen Störungen.
Zum Schlüsse sei erwähnt, daß V. M . Buscaino seine Schwarzreaktion im Urin,
die nur bei Schizophrenie positiv ausfalle, auf die Anwesenheit von Histaminen
im Blute zurückführt. Aus dem chronisch erkrankten Dünndarm werden toxische
Amine resorbiert, die infolge der bei Schizophrenie öfters anwesenden Leber¬
insuffizienz in den großen Kreislauf gelangen und die Psychose hervorrufen.
Fragen wir uns, was von pathologisch-anatomischer Seite über die Leber bei
Psychosen bekannt geworden ist, so haben wir in der uns zugänglichen Literatur
an systematischen Untersuchungen außer den Befunden von Grilli (s. oben) nur
folgende Befunde erhoben.
/. D. Greenless untersuchte in 199 Fällen von „Psychose“ die Leber. Nur
35 Fälle konnten normal gelten. In 36% fand sich Hyperämie, in 4% Cirrhose.
in 12% Fettdegeneration, in 4% Perihepatitis. Auch war das Gewicht der Leber
durchschnittlich geringer wie normal.
Mit größter Genauigkeit und mit Berücksichtigung vieler Fehlerquellen sind
die Untersuchungen von Myerson unternommen worden. Zuerst wurde an einem
sehr großen „normalen“ Material das Verhältnis von Hirn- zum Lebergewicht
in verschiedenen Altersklassen bestimmt. Es erwies sich nun, daß die Gewichts¬
abnahme der Leber bei seniler Demenz relativ größer war, wie die Hirngewichts¬
abnahme. Der Autor zitiert Southard , der bei Schizophrenie das Lebergewicht
bei Männern 1369 g (normal 1579 g), bei Frauen 1257 (normal 1525g) schwer fand.
Das Himgew'icht war nur wenig gegenüber der Norm verringert. Mit Recht
hebt Myerson hervor, daß Southard Abmagerung nicht in Rechnung gezogen hat.
Abmagerung könne an sich schon zu einer relativen Gewichtsabnahme der Leber
führen, während das Hirngewicht nahezu konstant bleibe. In diesem Punkte sind
also noch weitere Untersuchungen wünschenswert.
Wir sind am Schlüsse unserer historischen Übersicht angelangt.
Absichtlich wurden zwecks Vermeidung zu großer Ausführlichkeit
die Leberuntersuchungen bei organischen Nervenleiden sowie bei
Wilsonscher Krankheit, Pseudosklerose, Encephalitis epidemica usw.
außer Betracht gelassen. Auch eine Besprechung der experimentellen
Bearbeitung der Frage Leber-Gehirnkrankheit (Fuchs, Poüak , Kirsch¬
baum) sowie der Untersuchungen Westphals über die nervöse Regu¬
lation der Leberfunktionen haben wir hier unterlassen, ebenso wie sich
im Rahmen dieser Veröffentlichung ein Studium der Literatur über
die Einwirkung von Gal len best andteilen auf das Nervengewebe (Peri-
chanjuez , Bickel , Gilbert u. a.) erübrigte.
UntersuchuDgen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
479
Es lag in dei Natur der behandelten Materie begründet, daß wir
uns bei dem Literaturstudium nicht auf die Schizophrenie beschränken
konnten, sind doch viele von den Autoren als „Melancholie“ bezeich¬
nten oder irgendwie anders benannte Fälle gewiß Schizophrenien gewesen.
Das Resultat des Literaturstudiums ist kein einheitliches. Wir
sehen, wie einerseits manche Autoren der Leber eine sehr wichtige
Rolle für das Zustandekommen der Psychosen zuschreiben, während
andere wieder keine Leberstörungen finden können. — Es ist zu
betonen, daß die Zahl der Untersucher, die mittels einwandfreier
Proben die Leberfunktionen untersuchten, eine sehr geringe ist. An¬
dererseits soll bei diesen Untersuchungen stets im Auge behalten
werden, daß eine eventuell gefundene Leberfunktionsstörung sehr
wohl durch komplizierende somatische Erkrankungen, durch Hunger
(vgl. oben), durch langdauemden Gebrauch von Schlafmitteln usw.
hervorgerufen werden könnte. Es empfiehlt sich daher, nur somatisch
gesunde Individuen zur Untersuchung heranzuziehen.
Wie schon oben betont, hat das bloße Konstatieren von Leber¬
erkrankung in irgendeinem psychiatrischen Fall gar keine Beweis¬
kraft. — Anders zu bewerten sind die Fälle, wo eine Leberfunktions¬
störung und eine psychische Störung synchron auftreten und schwin¬
den. Eine tiefgehende somatisch-klinische sowie psychologische Unter¬
suchung derartiger Fälle (Klippel, Damsch und Gramer , Leyser , Baden -
nel u. a.) dürfte von großem Interesse sein. — Der andere Weg zur
Erforschung der Leberfunktion wäre die statistische Untersuchung
(Buienko, Lugiali , Jakobi , Leyser und viele andere), eine Methode,
die auch wir in dieser Mitteilung benutzt haben.
Für diese Leberfunktionsuntersuchung haben wir nur diejenigen
Fälle von Schizophrenie benutzt, bei denen die Diagnose unzweifelhaft
feststand. Die Anstaltsbevölkerung ist in dieser Hinsicht ein aus¬
erlesenes Material. Unsere Untersuchung betrifft also nur Schizo
phrene, die schon seit Jahren krank und seit Jahren beobachtet sind.
Zu gleicher Zeit boten diese Umstände Gelegenheit, nur diejenigen zur
Untersuchung heranzuziehen, die sich bei langjähriger Beobachtung
frei von komplizierenden internen Erkrankungen (Lues, Tuberkulose,
Malaria, fieberhafte Erkrankungen, Cholelithiasis u. dgl.) gezeigt
hatten. Wir achteten darauf, keine Kranken mit in die Untersuchung
zu beziehen, die sich im Hungerzustand befanden durch Nahrungs¬
verweigerung usw., weil durch Hunger einige der angestellten Reak¬
tionen positiv hätten ausfallen können.
Einige dieser Kranken ließen sich abwechselnd in ruhigen und
unruhigen Stadien beobachten; jedoch ist die Zahl dieser Fälle zu
klein, sind die Verschiedenheiten dieser beiden Phasen zu kompliziert,
um zu bindenden Schlüssen herangezogen werden zu können.
480
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
Die Kranken, welche zur Untersuchung kamen, ließen sich in die
nachfolgenden Gruppen einteilen:
1. Paranoide Demenz.10 Fälle
2. Katatonie.34 ,.
3. Hebephrenie .29 „
4. Endzustände.11 „ .
Diese Endzustände umfassen diejenigen Fälle, welche ohne Zweifel
zur Gruppe der Schizophrenie gehörten, bei denen aber eine nähere
Abgrenzung mit Sicherheit nicht möglich war. Zwar bestehen auch
die anderen Gruppen zum größeren Teil aus Endzuständen; diese Fälle
ließen sich aber auf Grund von Anamnese und Zustandsbild als Kata¬
tonie, Hebephrenie oder paranoide Demenz wiedererkennen.
Um uns ein Urteil bilden zu können in der Frage, von welchem
Grade an der Ausfall der benutzten Methoden als pathologisch betrachtet
werden mußte, stand uns eine kleine Gruppe von Gesunden — näm¬
lich medizinisch untersuchten und beobachteten Krankenpflegern —
und von Psychopathen und Imbezillen der Anstalt zur Verfügung;
zusammen 55 Personen.
Die Psychopathen und Imbezillen sind alle, die Krankenpfleger
zum kleinsten Teil Juden, ebenso wie alle untersuchten Schizophrenen
Männer und Juden sind.
Die nachfolgende Veröffentlichung bezieht sich auf Urobilin im
Blut und Urin, Oberflächenspannung des Urins und Bilirubingehalt
des Serums.
Zur Orientierung über die Leberfunktion kamen diese Stoffe an
erster Stelle in Frage. Ließen sie sich doch ohne Mitwirkung der Kran¬
ken bestimmen, ein Umstand, welcher bei unserem Material mit seinem
großen Prozentsatz an negativistischen und aggressiven Kranken
besonders wichtig war. Weiter sind gerade für diese Stoffe einfache
und vielerprobte Untersuchungsmethoden ausgearbeitet und schlie߬
lich die Hauptsache: nach dem allgemeinen Urteil gehören die Reak¬
tionen auf diese Stoffe zu denjenigen, die auch schon leichtere Leber¬
funktionsstörungen anweisen können.
Die Ausscheidung des Urobilins und Urobilinogens im Urin untersuchten wir
mit der Ehrlichschen und Schlesingerschen Reaktion. Für die Ehrlichsche Re¬
aktion wurde nur frisch gelassener Urin verwendet. Die Beurteilung geschah immer
nach Ausschütteln mit Chloroform. Die Schlesingersche Reaktion wurde beurteilt
nach Zusatz von verdünnter Jodtinktur (nach Steensma , 1918).
Um den Tagesschwankungen dieser Reaktion Rechnung zu tragen, unter¬
suchten wir sowohl Harn, der morgens nüchtern gelassen war, wie auch Ham
vom Nachmittag, einige Stunden nach der Hauptmahlzeit. Es hat sich nämlich
gezeigt, daß beim Normalen im Nachmittagsharn eine mehr oder weniger starke
Urobilinreaktion vorhanden sein kann, während der Morgenharn fast immer
urobilinfiei ist. Auch bei Kranken mit Leberschädigungen finden sich große
Tagesschwankungen in der Weise, daß gewöhnlich der Morgenham nur wenig,
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
481
der Abendharn viel Urobilin enthält (vgl. Weltmann und Tenschert , 1922). Auch
wir fanden einige Male bei Gesunden eine deutliche, jedoch nicht sehr starke Uro¬
bilinreaktion im Mittagharn.
Die verschiedenen Grade der Rotfärbung und der Fluorescenz bei der Ehrlich -
sehen und Schlesingerschen Reaktion benannten wir je nach dem Grade der Stärke
mit 1—4.
Von fast jedem Kranken wurde der Urin dreimal, nämlich an drei verschie¬
denen Tagen untersucht.
Im Morgenwin von 24 Gesunden und 12 Imbezillen fanden wir
die Schlesingersche Reaktion in mehr als 70% 1 ) negativ, während in
den übrigen Fällen die Reaktion nur schwach — höchstens bis 3 —
vorhanden war (Tabelle I).
Tabelle L Schlesingersche Reaktion im Morgenharn.
Wert 5
: 4 i
3 2 1
i
0
o /
1
4 10
14 i
I 72 |
Nichtschizophrene
69 Proben
o | 2
1 io
12 19 |
21
i 36 |
Schizophrene
1 223
Bei 84 Schizophrenen war m Morgenurin die Schlesingersche Reak¬
tion nur in 36% negativ, während sie in 12% stark positiv w r ar: 4 oder
sogar 5.
Im MittaghdiViY fand sich die Schlesingersche Reaktion bei 47 Nicht¬
schizophrenen in 66% negativ oder schwach (0 oder 1), in 10% stark (4) ;
bei 84 Schizophrenen in 33% negativ oder schwach (0 oder 1), in 26%
stark und sehr : tark (4 oder 5) (Tabelle II).
Tabelle II. Schlesingersche Reaktion im Mittagharn.
Wort J) _4 1 _3_2 J 1 0 !__
0 / 10 12 I 12 | 29 37 j Nichtschizophrene 91 Proben
° \ 4 ; 22 | 22 | 19 ■ 20 ( 13 | Schizophrene 251 „
Im Morgenurin fand sich die Ehrlichsche Reaktion bei 42 Nicht-
schizophrenen in 1 % stark oder ziemlich stark (4 oder 3), in 95% schwach
odei negativ (1 oder 0), bei 84 Schizophrenen in 9% stark oder ziem¬
lich stark (4 oder 3), in 78% schwach oder negativ (1 oder 0) (Tabelle III).
Tabelle III. Ehrlichsche Reaktion im Morgenharn.
Wert |
5
4
3
_2_1
o :
O' / i
0
1
4 13
82 1 Nichtschizophrene
69
Proben
'° i!
2
2
7
13 21
55 ! Schizophrene
223
11
Im
Wort !_
Mitlagurin war die Ehrlichsche Reaktion (Tabelle IV)
Tabelle IV. Ehrlichsche Reaktion im Mittagharn.
5 4 3 2 1 11 OLf.-,,
bei den
0/ /;
•>
8
10 20
60 Nichtschizophrene
97
Proben
'° 1
1
2
8
16 : 17
57 | Schizophrene
251
*) Der Prozentsatz bezieht sich auf die angestellten Proben; er besagt also,
wie viele von den angestellten Proben in einer bestimmten Stärke ausfielen.
482
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
Nichtschizophrenen in 2% stark (4), in 80% negativ oder schwach
(1 oderO); bei den Schizophrenen in 3% stark und sehr stark (5 oder 4),
in 73% negativ und schwach (1 oder 0).
Zwar war der Unterschied bei der Ehrlichschen Reaktion nicht so
groß wie bei der Schlesingerschen Reaktion; jedoch dies ist zum Teil
erklärlich aus dem Wesen der Ehrlichschen Reaktion, bei der Fälle
von Urobilinogenurie verborgen bleiben können, dadurch, daß sich
das Urobilinogen im Licht rasch in Urobilin umwandelt. Und weiter
muß für den Unterschied zwischen Schizophrenen und Nichtschizo¬
phrenen beachtet werden, daß der Wert 5 ja nur bei den Schizophrenen
vorkam.
Die Urobilinurie und Urobilinogenurie kommen also in den stär¬
keren Graden öfter vor bei Schizophrenen wie bei Nichtschizophrenen;
negativ oder schwach w'aren die diesbezüglichen Reaktionen seltener
bei Schizophrenen.
Die Oberflächenspannung des Urins untersuchten wir sowohl mit der Hayscheu
Reaktion wie nach stalagmometrischer Methode. Bekanntlich finden sich in jedem
Harn oberflächenaktive Substanzen (sog. Stalagmone). Ihre Konzentration ist im
allgemeinen in konzentrierten Harnen größer ( Posner , 1916). Man kann die Ober¬
flächenspannung der zu untersuchenden Flüssigkeit roh abschätzen mittels der
Hayschen Probe, welche positiv wird bei Zunahme der Stalagmone. Genauere
Resultate ergibt die stalagmometrische Untersuchung. Hierbei bestimmt man
das Gewicht einer bekannten Zahl von Tropfen oder man zählt die Zahl der Tropfen,
welche zusammen ein bekanntes Volumen ausmachen. Je größer die Oberflächen¬
spannung, je größer der einzelne Tropfen, je größer dessen Gewicht. Bestimmt man
nun bei derselben (Zimmer-) Temperatur im selben Stalagmometer das Gewicht
einer gleich großen Zahl Wassertropfen, so ergibt das Tropfengewicht des Harns,
dividiert durch das Tropfengewicht des Wassers, eine Zahl, die maßgebend ist
für die Oberflächenaktivität des Harns. Wir nennen diese Zahl den stalagmo -
metrischen Quotient. Je höher dieser Quotient, je höher ist die Oberflächenspannung;
d. h. je weniger Stalagmone enthält die Flüssigkeit.
Die Untersuchungen von Schemensky u. a. haben ergeben, daß neben der Kon¬
zentration auch der Säuregrad des Harns die Oberflächenspannung wesentlich
beeinflußt. Um diese beiden Faktoren zu eliminieren, verdünnt Schemensky den
Harn immer auf 1010 S.G. und bringt er den Säuregrad durch Zufügung von ver¬
dünntem HCl stets auf dieselbe Höhe (zwischen p n 4,1 und 3,8). Es zeigte sich
ihm nämlich, daß anfänglich die Ansäuerung des Harns die Oberflächenspanuune
stark erniedrigt. Von einem gewissen Punkte an (ungefähr p n 3,8) erfolgt auf
stärkere Ansäuerung keine weitere wesentliche Abnahme der Oberflächenspannung.
Wir konnten in speziell auf diesen Punkt gerichteten Vorversuchen diese Angaben
Schemenskys voll bestätigen und haben demgemäß neben dem oben definierten
stalagmometrischen Quotient auf derselben Weise einen Quotient für den auf
1010 verdünnten und zwischen p H 3,8—4,1 angesäuerten Harn bestimmt.
Es fand sich im unverdünnten, nicht angesäuerten Morgenurin
bei Nichtschizophrenen der Quotient 0,76—0,80 in 12%; der Quotient 0,70—0,75
niemals;
bei Schizophrenen der Quotient 0,76 — 0,80 in 26%; der Quotient 0,70 — 0,75 in 4%
(Tabelle V).
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
483
Tabelle V . Stalagmometrischer Quotient im unveränderten Morgenham.
Wert' 0,70—0,75! 0,76—0,8010,81—0,8510,86—0,90
0,91—0,95
f\ 12 | 65 | 23
l! 4 ! 26 I 32 | 30
8
Nichtschizophrene
Schizophrene
Es fragte sich, ob die größere Frequenz der niedrigen stalagmo-
metrischen Quotienten (d. h. von Hamen mit relativ vielen Stalagmonen)
bei den Schizophrenen sich erklären ließe aus einer stärkeren Kon¬
zentration de Harns bei diesen Kranken. Dies war aber nicht der
Fall, denn die Harne mit höherem spezifischen Gewicht waren gerade
bei den Schizophrenen weniger frequent als bei den Nichtschizo¬
phrenen Die nachfolgende Tabelle gibt hierüber Bescheid:
Spez. Gewicht. .
-1010
1011-1016
1016-1020
1021-1026
1026-1030
1030-
Schizophrene . .
90/
° /O
13%
22%
31%
18%
13%
Nichtschizophrene
8%
8%
31%
42%
11%
Zu gleicher Zeit erklärt nun auch dieses Verhalten beim spezifischen
Gewicht, nämlich die größere Frequenz der niedrigen spezifischen
Gewichte bei den Schizophrenen, das frequente Vorkommen von hohen
stalagmometrischen Quotienten (0,91—0,95) bei Schizophrenen. Hier¬
mit ist auch die Tatsache erklärt, daß die schwachen Grade der Hay-
schen Reaktion bei den Schizophrenen sich relativ oft zeigten, wie
unten beschrieben wird.
Auch der Säuregrad des Urins ist nicht die Ursache der abnormen
stalagmometrischen Quotienten bei den Schizophrenen, denn die Fälle,
bei denen der stalagmometrische Quotient besonders hoch oder niedrig
war, hatten durchschnittlich den nämlichen Säuregrad wie die übrigen
Fälle.
Im Morgenurin, verdünnt bis spezif. Gewicht 1010 und auf oben
genannten Säuregrad gebracht, fanden sich die niedrigen stalagmo¬
metrischen Quotienten öfter bei den Schizophrenen (26%—19%)
(Tabelle VI).
Tabelle VI. Stalagmometrischer Quotient im verdünnten, angesäuerten
Morgenham.
Wert 0,70—0,7510,76—0,80 0,81 —0,85! 0,86—0,9010,91—0,951
o 1 1 18
70
11 1
Nichtschizophren»
'°| 3-| 23
60
14 !
Schizophrene
Für die Hay sehe Reaktion nahmen wir frischgelassenen Urin; wir benutzten
Sulfur, depuratum siccum. Abgelesen wurde nach 10 Minuten. Wir beobachteten,
daß diese Probe im Morgenharn öfter positiv, im Mittagsharn öfter negativ war.
Hiermit in Einklang finden sich die Untersuchungen von Sven Zandren (der auch
im Ham, der morgens früh gelassen wurde, die größten Mengen Stalagmone fand)
und die Angaben von Brule.
Sven Zandren fand keinen Einfluß von mäßiger Körperbewegung auf die
Stalagmoraone, ein Umstand, der für unsere Untersuchung von Bedeutung ist.
484
D. Schrijver und S. Schrijver-IIertzberger:
Im Morgenurin war die Haysche Reaktion:
bei Nichtschizophrenen in 6% stark (4), in 62% schwach (1 oder 0),
bei Schizophrenen in 7% stark (5 und 4), in 70% schwach (1 oderO) (Tabelle VII).
Tabelle VII. Haysche Reaktion im Morgenharn.
Wert 5 1 4 I 3 ! 2 1 10 1_
Q/ \\ | 6 11 21 14 | 48 | Nichtschizophrene
/0 \| 1 j 6 ; 7 16 | 13 ! 57 Schizophrene
Obwohl also die stärksten Grade nur bei den Schizophrenen vor¬
kamen, ließ sich übrigens im Gegensatz zum Befunde bei der Urobilinurie
mit dieser Reaktion keine Leberfunktionsstörung bei den Schizo¬
phrenen nach weisen. Im Gegenteil waren die schwachen Grade der
Reaktion bei den Schizophrenen mehr frequent. Dieser Befund schließt
jedoch eine Leberstörung nicht aus, muß aber aus dem Verhalten der
spezifischen Gewichte der Harne erklärt werden (siehe oben).
Im Mittagurin war die Haysche Reaktion bei
bei Nichtschizophrenen in 2% stark (4), in 90% schwach oder negativ (1 oder 0).
bei Schizophrenen in 6% stark (4), in 70% schwach oder negativ (1 oder 0).
Der Befund im Mittagurin würde also auf eine Vermehrung der
Stalagmone bei den Schizophrenen hin weisen (Tabelle VIII).
Tabelle VIII. Haysche Reaktion im Mittagharn.
Wert5
4 i
3
2
1
i 0
01 f\
/0 \l
2
3
5
13
I 77
Nichtschizophrene
6
10
14
14
; 56
Schizophrene
Das Resultat der Untersuchung mittels Hayscher Probe und Stalag-
mometrie zusammengenommen ist also: bei den Schizophrenen ist
öfter wie bei den Gesunden die Oberflächenspannung des Urins —
allerdings in nur geringem Maße — erniedrigt.
Man ist sich nun über die Bedeutung dieser Oberflächenerniedrigung des
Harns noch nicht ganz im klaren. Während die französischen Autoren ( LyonCaen ,
Gilbert Chabrol et al , Brule) einstimmig eine abnorme Erniedrigung der Oberflächen¬
spannung auf Anwesenheit von Gallensäuren im Harn und also auf Leberinsuffizienz
beziehen, ist die Meinung der anderen Autoren geteilt. Bechold und Reiner unter¬
suchten die oberflächenaktive Wirkung der sog. Hamkolloide (Kolloide, die auch
im Harn der Gesunden spuren weise Vorkommen). Sie fanden eine Zunahme
dieser Kolloide (und infolgedessen Erniedrigung der Oberflächenspannung) bei
erhöhtem Eiweißabbau. Im Harn werden dabei Oxyproteinsäure und andere
Polypeptide ausgeschieden.
Untersuchungen von Tanfani haben uns gelehrt, daß bei Involutionspsychosen
die „Polypeptidfraktion“ des Harns oft erhöht ist. Bei anderen Psychosen fand
dieser Autor diese Fraktion nie erhöht. Es ist also nach diesen Angaben nicht wahr¬
scheinlich, daß eine Vermehrung der Harnstalagmone in unseren Fällen auf diese
Oxyproteinsäure zurückzuführen ist.
Obwohl also keine Einstimmigkeit herrscht in der Frage, ob die
Oberflächenspannungserniedrigung verursacht wird durch Ausschei-
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen. 485
düng der Gallensäure oder durch Oxyproteinsäuren und Polypeptide,
ist diese Frage für uns von sekundärer Bedeutung. Allgemein ist
nämlich die Auffassung, daß eine Vermehrung von beiden Gruppen
auf eine Leberstörung zurückzuführen ist (auch U. Müller ).
Die gefundene Oberflächenspannungserniediigung bei unseren Schizo¬
phrenen würde also auf eine Leberstörung hinweisen.
Das Bilirubin im Serum bestimmten wir nach der bekannten
Methode von Hymans v. d. Bergh. Das Blut wurde morgens nüchtern
entnommen. Von einigen sehr aggressiven und negativistiscnen Kran¬
ken, deren Urin wohl untersucht worden war, konnten wir kein Blut
bekommen. Vielleicht ist diese Tatsache nicht ohne Einfluß geblieben
auf das statistische Endresultat dieser Untersuchungsserie. Denn
gerade unter den Kranken, deren Blut nicht untersucht werden konnte,
waren einige, die eine sehr starke Urobilinurie zeigten. Besonders Fälle
von vermehrtem Bilirubingehalt könnten uns also verborgen geblie¬
ben sein.
Beim Gesunden soll der Bilirubingehalt des Serums etwa 0,3—0,5 Einheit
betragen. Mitunter finden sich auch beim Gesunden Werte bis zu einer Bilirubin-
Einheit (Yaooooo); selten höhere Zahlen. Dies ist die sog. physiologische Hvper-
bilirubinämie (Hymans v. d. Bergh , Lepehne u. a.).
Bei 68 Bestimmungen fanden w T ir die Werte
Vsoeoo h* 4P/o* Viooooo h* 18%, Vaooooo in 16%, V 400000 * n 22%, weniger in 40%,
diese alle bei indirekter Reaktion.
Die direkte Reaktion war 2 mal stark, 3 mal schwach positiv.
Da genaue Angaben über die Frequenz der sogenannten physio¬
logischen Hyperbilirubinämie bei Nichtschizophrenen fehlen, fäilt es
schwer, festzustellen, ob obengenannte Zahlen schon auf eine Hyper-
bilirubinämie bei den Schizophrenen hinweisen. Eine starke Ver¬
mehrung des Bilirubins im Serum ist jedenfalls meist nicht gefunden.
Bilirubin im Urin fehlte in all diesen Fällen (untersucht nach
Huppert-Salkowski).
Urobilin im Serum fanden wir in keinem Fall. Wir benutzten dazu
die Schlesingersche Reaktion, wie dies auch von Steensma beschrieben
worden ist.
Nachdem also einige Formen von Leberfunktionsstörung bei den
Schizophrenen nachgewiesen worden waren, fragte es sich, ob diese
Störungen sich bei den verschiedenen Untergruppen der Schizophrenie
im gleichen Maße zeigten. Dies betreffend fanden wir folgendes:
Im Morgenham zeigte a) die Haysche Probe die stärksten Ab¬
weichungen bei den Katatonen. Die Gruppe der Paranoid-Dementen
ist zu klein um zur Vergleichung herangezogen zu werden. Die Hebe-
486
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
phrenen nahmen eine Mittelstellung ein zwischen den Katatonen und den
sogenannten Endzuständen (Tabelle IX). b) Mit der Schlesingerschen,
Tabelle IX. Haysche Reaktion im Morgenharn.
Wert |
5
4 | 3
2
i i
! 0
7 1 14
21
21 i
35 |
Dementia Paranoides
14 Proben
0/
1
7 : 8
19
13
52
Katatonie
157 n
/ 0
4 ; 6
20
16
54 |
Hebephrenie
105 „
i
! 5
11
3
81 1
Endzustand
37 „
wie auch mit der Ehrlichschen Reaktion fanden sich dann die stärksten
Abweichungen bei Katatonen und Hebephrenen (Tabelle X und XI).
Tabelle X. Schlesingersche Reaktion im Morgenharn.
Wert
1 o ;
_4_i
3
2
l 1 I
0 1
1
13
13
19
55
Dementia paranoides
31 Proben
o/
1 3
11
16
22
22
26
Katatonie
92 „
/o
| 3
12
8
11
20
46
Hebephrenie
75 „
i
4
8
36
36
16
Endzustand
25
Tabelle XI. Ehrlichsche Reaktion im Morgenharn.
Wert
1 5
4
1 3
2
1
1 0 !
!
7
11
82
Dementia paranoides
0/
2
9
17
23
49
Katatonie
/o
!
10
12
18
j 60
Hebephrenie
j
6
23
71
Endzustand
Mittags war der Ausfall der Hayschen Reaktion am stärksten bei
den Katatonen, der Schlesingerschen Reaktion bei den Katatonen, der
Ehrlichschen Reaktion bei den Hebephrenen (Tab. XII, XIII, XIV).
Tabelle XII. Haysche Reaktion im Mittag harn.
Wert
5
4
3
2 I
i
0
: 7
15
11
67
Dementia paranoides
° /
Io
8
1 9
12
16
55
Katatonie
5
! ii
14
11
59
Hebephrenie
4
7
19 |
22
48
Endzustand
Tabelle XIII. Schlesingersche Reaktion im Mittagharn.
Wert
|_5
4
1 3
2
1
0
21
1 32
11
21
15
Dementia paranoides
°/
Io
4
23
20
24
22
7
Katatonie
4
20
16
18
20
22
Hebephrenie
i
22
37
22
15
4
Endzustand
Tabelle
XIV. Ehrlichsche Reaktion im Mittagharn.
Wert 5
1 ... 4_
!_3_
' 2
1
1 0
\
1
8
4
88
Dementia paranoides
o/
1
0
10
20
19
i 50
Katatonie
/o
2
1 2
8
17
10
1 61
Hebephrenie
4
15
44
37
Endzustand
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
487
Die Reaktion des Hymans v. d. Bergh wurde angestellt bei 7 Para¬
noiden, 24 Katatonen, 20 Hebephrenen und 10 Endzuständen (Ta¬
belle XV).
Tabelle XV. Reaktion Hymans v. d. Bergh.
Wert
Über
*/ 100 000
V100 000
bis Vaooooo
Vaooooo
Bis V 300 000
//«ooooo
bis V 400000
niedriger
14
14
58
14
Dem. paran.
7 Proben
0 / <
4
16
25
39
16
Katatonie
24 „
/ 0
15
! 10
20
30
25
Hebephrenie
20 „
1 io
10
20
60
Endzustand
i 10 „
Die stärksten Hyperbilirubinämien fanden sich in allen Gruppen,
jedoch am seltensten bei den Endzuständen.
Der Wert dieser Statistik wird beeinträchtigt durch die geringe
Zahl der Fälle von Paranoiden und Endzuständen, die hier zur Ver¬
fügung standen.
In analoger Weise fanden sich bei der Stalagmometrie viele Abnor¬
mitäten in den Gruppen der Paranoiden, Hebephrenen und der End¬
zustände. Aber auch diese Zahlen lassen sich nur in beschränktem
Maße verwerten, weil von Paranoiden und Endzuständen zu wenig
zur Untersuchung kamen (Tabelle XVI).
Tabelle XVI. Stalagmometrischer Quotient im verdünnten angesäuerten Harn.
Wert
0,90-0,86
0,85-0,81
| 0,80-0,76
i 0,75—0,70
1
66
22
! 11
Dem. paran.
9 Proben
O/ ,
10
70
17
Katatonie
29 „
/o <
14
56
21
3
Hebephrenie
27 „
30
30
40 'j
1
Endzustand
10 „
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß zwischen den verschiedenen
Gruppen der Schizophrenen bei den verschiedenen Reaktionen sich
Unterschiede ergeben in der Weise, daß ziemlich regelmäßig die stär¬
keren Abweichungen sich im besonderen bei den Katatonen und Hebe¬
phrenen finden. Immerhin sind die diesbezüglichen Unterschiede
zwischen den einzelnen Untergruppen nicht so groß wie diejenigen
zwischen Schizophrenen und Nichtschizophrenen.
Mit besonderem Interesse sahen wir dem Ausfall der Leberprü¬
fungen entgegen bei einigen Kranken, deren Motilitätsstörungen eine
auffallende Ähnlichkeit zeigten mit denjenigen, welche bei Paralysis
agitans und anderen extrapyramidalen Erkrankungen gesehen werden.
Bemerkenswerterweise gaben aber gerade bei diesen Schizophrenen
die Reaktionen keinen Anhaltspunkt für Leberstörung.
1. J. D. 34 Jahre alt. Erkrankte um das 14. Lebensjahr an einer Psychose,
die mit einer eigentümlichen Charakter Veränderung einherging. Zu einer länger-
dauemden Tätigkeit war er nicht mehr zu bringen. Nach kürzerer oder längerer
Zeit fing er immer wieder an, planlos herumzuirren. Wiederholt war in dergleichen
Zuständen Internierung notwendig. Seit 1912 ist er ununterbrochen interniert.
Z. f. cL g. Neur. u. Psyoh. XCIII. 32
488
D. Schiijver und S. Schrijver-Hertzberger:
Er zeigt sich in der Anstalt autistisch, zieht sich von den anderen zurück* hat
starken Beeinflussungswahn, entkleidet sich oft, läßt Urin unter sich; die Sprache
ist verwirrt, zeigt viele Manieren. 1915 gesellten sich zu diesem Krankheitsbild
eigenartige Psychomotilitätsstörungen: eine Bewegung (etwas anfassen oder Gehen)
wird plötzlich unterbrochen und nach einigen Augenblicken erst weitergeführt.
Neben diesen Sperrungen im Sinne Bleulers zeigten sich bald eigenartige verzerrte
Haltungen im Rumpf und in den Beinen, die stetig Zunahmen. Bei der Unter¬
suchung 1922 bot der Kranke eine äußerliche Ähnlichkeit mit dem Bilde der Dy-
stonia musculorum deformans Oppenheim. Im Stehen zeigt sich eine enorme
Lendenlordose mit leichter Skoliose nach rechts, neben einer Innenrotation der
Füße. All dieses gleicht sich im Liegen wieder aus. Das Gehen geschieht mit
großen ungleichmäßigen Schritten, wobei die Füße stampfend auf den Boden
gestellt werden. Jede Bewegungsänderung fällt ihm offenbar schwer. Beim Befehl,
sich umzudrehen, dreht zuerst der Rumpf und erst nach einiger Zeit kommen die
Beine nach. Auch passiv zeigt sich diese Störung in der Postordination ( Haenel ).
Weitere neurologische (spez. Pyramidenbahnsymptome) oder interne Symptome
fehlen. An der Diagnose Schizophrenie ist bei dem verwirrten halluzinierenden,
negativistischen Kranken nicht zu zweifeln. Die oben beschriebene Motilitäts¬
störung fällt wohl unter den Begriff katatone Störung. Nur möchten wir betonen,
daß dieselbe in mancher Hinsicht an eine organische ertrapyramidale Erkrankung
erinnert.
Bei diesen Kranken war die Hay-Probe an vier verschiedenen Tagen im
Morgenurin 0, 0, 1, 0; im Mittagurin 0, 0, 0.
Die Urobilinurie war ebenso, sowohl morgens (1. 0. 0.), wie mittags (0. 1. 1.)
negativ. Die Ehrlichsche Reaktion war stets negativ. Der saure stalagmometrische
Quotient war 0,81. Im Serum war die Reaktion des Hym. v. d. Bergh zu schwach,
um sich in Zahlen ausdrücken zu lassen. Resümierend waren also liier alle ange-
stellten Leberfunktionsproben negativ.
2 . S. v. K. 28 Jahre alt. Erkrankte im Anschluß an eine Febris typhoidea
im 18. Lebensjahr an einer Psychose, die mit lebhaften Sinnestäuschungen und
Desorientiertheit einherging. Es entwickelte sich ein katatoner Stupor, aber aus
der anfänglichen hochgradigen Bewegungsarmut entwickelten sich eigenartige
Manieren und an Athetose anklingende Greifbewegungen, die mit Spannungen in
entlegenen Muskelgruppen einhergingen. Auch hier erinnert das Bild — sei es
auch in geringerem Maße wie im vorhergehenden Fall — an die Dystonia muscu¬
lorum deformans.
Auch hier ergab die Leberfunktionsprüfung meist normale Werte:
Hay-Probe am Vormittag nüchtern 0. 0. 0.; am Nachmittag 1. 1.
Schlesingersche Reaktion am Vormittag nüchtern 4. 1.; am Nachmittag 1. 1.
Ehrlichsche Reaktion am Vormittag nüchtern 2. 1. 0.
Der stalagmometrische Quotient im sauren verdünnten Harn war 0,82. Hym.
v. d. Bergh im Serum: 0.
Dem einmaligen Befund einer starken Urobilinurie kann man, wo alle anderen
Reaktionen negativ waren, keine Bedeutung beimessen.
Die folgenden Fälle zeigen alle mehr oder weniger Anklänge an den Svm-
ptomenkomplex der Paralysis agitans. Das Vorkommen dieser Symptome bei
Katatonikern dürfte wohl jedem Psychiater geläufig sein.
3. M. G. 30 Jahre alt. Erkrankte um 1913 an einer deutlichen Katatonie.
Er ist mutazistisch, bewegungsarm, hochgradig negativistisch. Dieses Bild bleibt
im Laufe der Jahre unverändert, Bei der Untersuchung im Jahre 1922 fällt ein
zeitweise auftretender Tremor im Gebiete der Unterechenkelmuskulatur auf. Plan¬
tar-Dorsalbewegungen des Fußes wehsein mit Ab- und Adduktionsbewegungen ab,
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen. 489
genau wie wir auch beim Parkinsontremor in der Hand diesen Wechsel der Tremor¬
bewegungen beobachten.
Die Leberfunktionsprüfungen hatten hier folgendes Resultat:
Hay (Vormittag) 3. 0. 0. 4. 2. 0. Hay (Mittag) 3.
Schlesinger (Vormittag) 2. 1. Schlesinger (Mittag) 3.
Ehrlich (Vormittag) 0. 0. Ehrlich (Mittag) 0.
Saurer stalagm. Quotient 0,83. Hym. v. d. Bergh V400 000*
Obgleich die Haysche Probe im Nacbtham laso zweimal positiv war (3. 4.)
und am Mittag den Wert 3 erreichte, meinen wir diesem Befund nicht viel Wert
beimessen zu dürfen, zumal der stalagmometrische Quotient nicht niedrig war.
Auch der Gallenfarbstoff im Blut war nicht vermehrt, ebensowenig erreichte die
Urobilinurie pathologische Grade.
4. J. C. 39 Jahre alt. War von jeher ein Imbeziller, der nur mangelhaft lesen
und schreiben konnte. Im 17. Lebensjahre zeigten sich die ersten Symptome einer
schweren Geistesstörung. Er wurde aggressiv, aufgeregt, bedrohte seine Um¬
gebung. Sehr rasch entstand ein katatones Zustandsbild. Jetzt ist dieser Kranke
schon seit Jahrzehnten mutazistisch, ohne irgendwelchen Antrieb. Er kommt nicht
fort von der Stelle, wo er sich befindet, ist spontan akinetisch. Auf Befehl öfters
ein plötzliches und richtiges Durchbrechen der aufgetragenen Handlung. Auch
hier wieder deutlich ausgeprägt das Symptom der Postordinationsstörung (Uänel).
Hochgradige Katalepsie und Flexibilitas. Neben all diesen katatonen Symptomen
fällt nun ein grobschlägiger Tremor in der linken Körperhälfte auf (Schultermuskula¬
tur, Handmuskulatur, Rectus femoris, Fußtremor). Bisweilen zeigt sich ein iso¬
lierter Tremor in den beiden Mm. Pectorales.
Hay: Vormittag 0. 0. 0. 1.0. — Nachmittag 0. 0. 0.
Schlesinger: Vormittag 0. 0. 2. — Nachmittag 3. 3. 4.
Ehrlich: Vormittag 3. 0. 0. 0. — Nachmittag 3. 2. 2.
Hym. v. d. Bergh: 1 / 20 o ooo- — Saurer stalagm. Quotient 0,82.
Hier außer positiver Urobilinurie am Mittag und eine Bilirubinämie, die viel¬
eicht etwas hoch ist, keine unzweideutigen Zeichen einer Leberstörung.
5. E. S. 62 Jahre alt. Erkrankte im 26. Lebensjahre mit unsinnigen Größen¬
ideen und heftiger psychomotorischer Erregung. Im Verlaufe der Erkrankung
zeigte sich eine immer zunehmende Verblödung, immer wieder wechselnde Wahn¬
ideen, die ohne adäquaten Affekt produziert werden. Jetzt ist er ruhig, zeitweise
leicht erregt, von kindlichem Wesen, schmiert bisweilen mit Kot und Urin. Leichte
Sprachverwirrtheit. Schon seit Jahren zeigt er einen grobschlägigen Tremor in
den beiden Händen, den Beinen und in der Unterlippe, der sich bei Emotion deutlich
verstärkt. Beim Beklopfen des linken Unterschenkels Plantarflexion der Zehen
(s. D. Schrijver , 1922). Es bleibt in diesem Falle möglich, daß die Katatonie von
Paralysis agitans kompliziert wird (d. h. daß die extrapyramidalen Symptome
nicht der Katatonie inhärent sind), weil diese Symptome erst in späterem Alter
bemerkt worden sind. Dieser Kranke leidet an einer intermittierenden Glykosurie,
die sich auf kohlenhydratarmer Diät bessert. Der Blutzucker zeigt eine sehr starke
alimentäre Hyperglykämie. Symptome von Leberleiden finden sich im übrigen
nicht, nämlich:
Haysche Probe: Vormittag: 0. 1.0. — Nachmittag: 0. 2. 0.
Schlesingersche Probe: Vormittag: 3. 2. — Nachmittag: 1. 0. 0.
Ehrlichsche Probe: Vormittag: 0. 1. 1. 0. — Nachmittag: 0. 0. 0.
Hym. v. d. Bergh: Vjooooo- “ Saurer stalagm. Quotient: 0,88.
6 . A. L. 30 Jahre alt. Erkrankte im 16. Lebensjahre an einer Hebephrenie
(wurde affektlam., autistisch), zu der sich alsbald deutliche katatone Zeichen ge¬
sellten. Bemerkenswert ist, daß sogleich beim Anfang der Erkrankung choreatische
32*
490
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
Bewegungen in den Armen den Angehörigen aufgefallen sind. Von Fieber, Doppel¬
sehen U8w. ist nichts bemerkt, auch fällt der Krankheitsanfang lange vor der Ence¬
phalitis epidemica. Jetzt ist dieser Kranke hochgradig gesperrt. Reagiert, wenn
man das Wort an ihn richtet, sofort und mit adäquater Mimik, drückt auf dieselbe
Weise aus, zu begreifen, was sich in seiner Umgebung abspielt. Er spricht nicht,
weder spontan, noch reaktiv. Auch auf Befehl werden keine Handlungen aus¬
geführt. Die Versuche, die er unternimmt, eine auf getragene Handlung zu voll¬
führen, bleiben alle im Anfang stecken. Gelingt es ihm endlich, eine Handlung
anzufangen, so wird sie immer wieder unterbrochen durch entgegengesetzte Be¬
wegungen. Im Stehen sind die vorübergebeugte Haltung, die leicht gebogenen
Kniegelenke auffallend. Mit der hochgradigen Akinese kontrastiert die leb¬
hafte Beweglichkeit der Augen. Auffallend sind die choreatischen Zuckungen,
die sich in Schulter- und Armmuskulatur abspielen. Starke Störung der Post-
ordination.
Haysche Probe: Vormittag: 2. 1. 3. 0. 3. 0. — Nachmittag: 1. 1. 2.
Schlesingersche Probe: Vormittag: 0. 0. 0. — Nachmittag: 3. 2. 1.
Ehrlischche Probe: Vormittag: 1. 0. 0. 0 .— Nachmittag: 3. 0. 1.
Hym. v. d. Bergh: V4ooooo* — Saurer stalagm. Quotient: 0,82.
Auch hier kein Hinweis auf Leberfunktionsstörung.
Wir kommen also zu der Schlußfolgerung, daß sich in den Fällen
von Katatonie, die mit stärker ausgesprochenen Störungen der extra-
pyramidalen Motilität einhergingen, keine Abweichungen in den von
uns untersuchten Leberfunktionen feststellen ließen.
Hier mögen in verkürzter Form die Geschichten folgen von den¬
jenigen Kranken, bei denen einige der Proben besonders starke Ab¬
weichungen zeigten.
1 . M. de Gr. 33 Jahre alt. Krankheitsbeginn unbekannt. Ist schon seit
Jahren ein autistisch verblödeter Kranker. Sehr negativistisch, zieht sich von
anderen zurück. Die Haysche Reaktion war am Vormittag 0. — Nachmittag 0. 3.
Schlesingersche Probe: Vormittag: 4. — Nachmittag: 4.
Ehrlichsche Probe: Vormittag: 2. — Nachmittag: 4. 3.
Stalagmometrischer Quotient im sauren verdünnten Ham: 0,78.
Hym v. d. Bergh: 1 / 60 wo . Auch die direkte Reaktion war positiv.
Sowohl Schlesingersche Probe, Ehrlichsche Reaktion, wie der Bilirubinspiegel
im Blute und der stalagmometrische Quotient deuten hier auf eine Leberstörung.
2. M. v. T. 40 Jahre alt. War in der Jugend gut begabt. Besuchte die Aka¬
demie, sollte Kunstmaler werden. Im 15. Lebensjahre setzte die Psychose ein,
er wurde apathisch, ging von der Akademie fort, wurde Hausmaler. Fing zu vaga-
bondieren an, verwahrloste seine Kleidung. Wurde 1913 in eine Anstalt auf-
genommen. Im Anfang war er ruhig und geordnet, alsbald aber nahm die Apathie
immer mehr zu, er wurde unrein, sprach nicht mehr, auf Fragen kam bisweilen eine
sehr kurze Antwort. Im Frühjahr 1924 plötzlich exzitiert, erzählte inkohärent
von einer Ratte, die „man“ in seinen Körper hineingeschickt hätte, wie, wußte er
nicht, vielleicht mittels Elektrizität durch die Arme usw. Nach einigen Tagen
wieder völlig apathisch und nicht zu einer Antwort zu bewegen.
Hay am Vormittag: 0. 0. 2. — Nachmittag: 3. 2. 0.
Schlesinger am Vormittag: 2. 5. 4. — Nachmittag: 3. 5. 3.
Ehrlich am Vormittag: 0. 0. 0. 2. 3. — Nachmittag: 3. 2.
Stalagmometrischer Quotient und Bilirubingehalt des Serums nicht bestimmt.
Zu beobachten ist hier die sehr starke Urobilinurie.
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
491
3. A. M. 39 Jahre alt. Als Kind gut begabt, machte vom 13. bis 16. Lebens¬
jahr eine Psychose durch, die mit hochgradiger läppischer Erregung, Negativismus
und Katalepsie einherging. Diese Psychose soll mit Defekt geheilt sein. Er benahm
sich zwar unauffällig, verdiente als Arbeiter in einer Zigarrenfabrik gut sein Brot,
wird aber von den Angehörigen als „etwas fremdartig“ beschrieben. Im 30. Lebens¬
jahre setzte wieder ein katatoner Erregungszustand ein, aus dem eine völlig ver¬
wüstete Persönlichkeit resultierte. Seit 1916 ist der Kranke zeitweise erregt,
spricht dann einen vollkommen unbegreiflichen Wortsalat. Zeigt deutliche Echolalie
und Echopraxie. Außer einer ausgesprochenen Hypotonie der Arm- und Hand¬
muskulatur fehlende Maier - und Leri-Reflexe, Kolobom der linken Retina, Katarakt
des rechten Auges bietet der somatische Status keine wesentlichen Abweichungen.
Hay am Vormittag: 2. 0. 0. 1. — Nachmittag: 4. 4. 2.
Schlesinger am Vormittag: 4. 4. — Nachmittag: 2. 3. 2.
Ehrlich am Vormittag: 0. 2. 1. 2. — Nachmittag: 2. 0. 0.
Stalagmometrischer Quotient: 0, 81.
Hym. v. d. Bergh: Vmooo-
Sehr eigenartig ist hier die Umkehrung der normalen Ausscheidungsweise des
Urobilins und der Stalagmone. Während beim Normalen und auch bei den meisten
Leberkrankheiten (s. oben) die stärkste Urobilinurie am Nachmittage erfolgt
und die meisten Stalagmone im Vormittagharn ausgeschieden werden, sehen wir
hier, wie die Hay-Probe gerade im Nachmittagham am stärksten ausgesprochen
ist, während die Urobilinurie gerade im Vormittagurin am stärksten ist.
4. J. K. 34 Jahre alt. Erkrankte im 25. Jahre in Amerika an einer Psychose,
die mit Erregung, Ideenflucht einherging. Nach Holland zurückgekehrt, machte
seine läppische Erregung eine baldige Internierung nötig. In der Anstalt äußerte
er unzusammenhängende Wahnideen, war meistens ruhig, zuweilen aggressiv,
nahm stundenlang die Haltung des gekreuzigten Jesus an, zeigte Sperrungen.
Jetzt ist er völlig sprach verwirrt, leicht negativistisch.
Hay: Vormittag: 0. 0 3. 2. — Nachmittag: 0. 4. 0. 2.
Schlesinger: Vormittag: 4. 3. — Nachmittag: 4. 5. 5. 4.
Ehrlich: Vormittag: 3. 3. — Nachmittag: 3. 3. 5. 3.
Stalagmometrischer Quotient: 0, 78.
Hym. v. d. Bergh: Vuoooo*
Man beachte hier die enorm starke Urobilinurie und den niedrigen stalag-
mometrischen Quotient.
5. G. F. Musiklehrer, 27 Jahre. War von jeher still, zog sich von anderen
zurück. Erkrankte vor 9 Jahren. Wurde apathisch, halluzinierte schwarze Ge¬
stalten, hörte „Geisterstimmen“, spürte eine Kraft, die auf ihn einwirkte, ihn lenkte;
die ,,Kraft“ dringe an der einen Seite in seinen Kopf hinein, trete an der anderen
Seite wieder hinaus usw. In der Anstalt zeigen sich unsinnige Handlungen, Sprach¬
verwirrtheit, Willensbeeinflussung. Während er sich anfangs wenigstens äußerte,
wurde er stets mehr autistisch, war die letzten Jahre völlig mutist, zeitweise leicht
ängstlich.
Hay: Vormittag: 0. 0. 4. 2. 3. — Nachmittag: 3. 3. 0.
Schlesinger: Vormittag: 3. 2. 2. — Nachmittag: 3. 4. 4.
Ehrlich: Vormittag: 1. 2. 0. — Nachmittag: 1. 1. 2.
Stalagmometrischer Quotient: 0,82.
Hym. v. d. Bergh: Vissooo- Auch direkte Reaktion positiv.
Das Besondere war in diesem Falle das Auftreten einer direkten Reaktion
nach v. d. Bergh. Bekanntlich soll die direkte Reaktion deuten auf einen mecha¬
nischen Ikterus. Es bestanden in diesem Fall keine Anhaltspunkte, einen Ver¬
schluß der Gallengänge anzunehmen.
492
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
6 . S. Y. 27 Jahre alt. Beginn der Erkrankung im 17. Lebensjahre, mit Ge¬
hörs- und Gesichtshalluzinationen; wurde sehr reizbar und aggressiv, zerstörte
alles, was unter seine Hände kam. In der Anstalt zeigte er sich gesperrt, hallu¬
ziniert, deutliche Paramimik. Allmählich entwickelte sich ein ausgesprochener
katatoner Stupor, der öfter durch exaltierte Phasen oder Impulsivhandlungen
unterbrochen wird. Ausgesprochene Echolalie, Stereotypien.
Hay: Vormittag: 2. 0. 3. 1. — Nachmittag: 1. 0. 0.
Schlesinger: Vormittag: 3. 4. 3. — Nachmittag: 3. 5. 5.
Ehrlich: Vormittag: 1. 3. 1. — Nachmittag: 2. 3. 3.
Stalagmometrischer Quotient: 0,83.
Hym. v. d. Bergh: Viooooo-
Es besteht in diesem Falle eine unzweifelhaft pathologische Urobilinurie,
während die Stalagmonurie sich innerhalb normaler Grenzen hält. Der Bilirubin¬
gehalt des Serums ist etwas erhöht.
7. S. C. 26 Jahre. Erkrankte im 16. Lebensjahre an Verwirrtheit, Halluzina¬
tionen, motorischer Unruhe; entwickelte eigenartige Wahnvorstellungen über
seine Defäkation. Seine Erregung wuchs schnell an, er wurde sehr beweglich,
redete fortwährend, reimte auf alles, was er hörte. Bei Aufnahme in die Anstalt
heftiger Rededrang, Grimassieren, war in fortwährender Bewegung, deutlich hyper-
metamorphotisch, Inkohärenz. Keine kataleptischen Störungen. Schon nach
einigen Monaten zeigten sich Echopraxie, Stereotypien. Die Erregung klang all¬
mählich ab, es zeigte sich eine Verblödung, die jetzt noch stets im Zunehmen be¬
griffen ist. Die stumpfe Apathie wird bisweilen von heftigen Affektausbrüchen
unterbrochen. Er beschuldigt seine Umgebung dann, ihm mittels „Ströme“ zu
beeinflussen. Spiegel lenken die Elektrizität auf seine Genitalien usw.
Hay: Vormittag: 3. 2. 0. 1. — Nachmittag: 3. 2. 4.
Schlesinger: Vormittag: 3. 4. — Nachmittag: 4. 5. 2. 4.
Ehrlich: Vormittag: 3. 3. 3. — Nachmittag: 3. 0. 3.
Stalagmometrischer Quotient: 0,81.
Hym. v. d. Bergh: Vsoooo- Auch direkte Reaktion positiv.
Neben der starken Urobilinurie auch hier eine positive direkte Reaktion
nach Hymans v. d. Bergh, während die indirekte Reaktion als sehr hoch zu be¬
werten ist.
8 . S. K. 38 Jahre alt. Beginn der Erkrankung im 25. Lebensjahre. Wollte
nicht mehr arbeiten, zog sich von seiner Umgebung zurück. Erst nach einem
Jahr traten weitere Störungen hinzu. Er wurde verwirrt, halluzinierte, meinte,
daß man ihn verfolgte. In der Anstalt unruhig, aggressiv, äußert seine unbe¬
stimmten Wahnideen immer weniger.
Hay: Vormittag: 0. — Nachmittag: 1. 4. 2.
Schlesinger: Vormittag: 1. 1. 2. — Nachmittag: 1. 4. 1.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. 1. — Nachmittag: 0. 2. 0.
Stalagmometrischer Quotient: 0,84.
Hym. v. d. Berh: Vsooooo» Direkte Reaktion schwach positiv.
Außer der positiven direkten Reaktion ist hier eine etwas erhöhte Urobilinurie
und Stalagmonurie (bemerkenswerterweise auch hier wieder, wie in Fall 3) am
stärksten am Nachmittage.
9. D. C. 60 Jahre alt. Erkrankte im 16. Lebensjahre an einer melancholisch
gefärbten Psychose. Diese heilte ab, rezidivierte aber einige Male, bis sich all¬
mählich ein Defektzustand entwickelt, der bis auf heute unverändert fortbesteht.
Interessant ist, daß die Periodizität, die sich im Anfänge dieser Erkrankung zeigte,
bis auf heute in dem Sinne fortbesteht, daß immer wieder Perioden von Akinese
mit hyperkinetischen Phasen wechseln, während deren er eine läppische Heiter-
Untersuchungen über Leberfonktion bei Schizophrenen. 493
keit zur Schau trägt, fortwährend grimassiert, stereotype Bewegungen zeigt
und seine unsinnigen verworrenen Größenideen (er ist Kaiser von Deutschland,
König von Holland, Wilhelmina hieße seine Frau usw.) immer wieder produziert.
Hay: Vormittag: 0. 3. 0. — Nachmittag: 1. 2. 0.
Schlesinger: Vormittag: 3. 0. 0. 3. — Nachmittag: 4. 3. 4. 3.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. 0. — Nachmittag: 0. 0. 1 .
Stalagmometrischer Quotient: 0,77.
Hym. v. d. Bergh: Viooooo*
Neben starker Urobilinurie und etwas erhöhter Bilirubinämie ein sehr niedriger
stalagmometrischer Quotient. Wie aus den Zahlen ersichtlich, unterlag die Uro¬
bilinurie und die Hay sehe Reaktion starken Schwankungen, wie dies übrigens
auch in anderen Fällen ersichtlich war.
10 . A. E. 49 Jahre alt. Schon von jeher eigensinnig und jähzornig. Der
Beginn seiner Erkrankung datiert von 24 Jahren her. Er wurde unzufrieden,
unaufmerksam bei der Arbeit, fing an, verwirrt zu reden, wurde aggressiv.
In der Anstalt zeigte er sich stark inkohärent, sehr aggressiv. Halluzinierte
viel, impulsive Handlungen. Jetzt völlig unzugänglich, schon seit vielen Jahren.
Hay: Vormittag: 3. 4. 2. — Nachmittag: 2. 1. 2.
Schlesinger: Vormittag: 1. 5. 4. — Nachmittag: 5. 4. 5.
Ehrlich* Vormittag: 3. 2. 3. — Nachmittag: 5. 4. 2. 5.
Stalagmometrischer Quotient: 0,81.
Hym. v. d. Bergh: »/io«ooo-
Die hier beobachtete Urobilinurie gehört zu den stärksten, die wir überhaupt
gesehen haben.
11 . M. A. 49 Jahre alt, war immer ein Imbeziller, fing an, ganze Tage
nicht zu sprechen, öfters auch sehr erregt, ließ Kot und Urin unter sich. In der
Anstalt, wo er, 20 Jahre alt, auf genommen wird, zeigt er sich mutazistisch und
negativistisch.
Hay: Vormittag: 2. 0. 1. 0. — Nachmittag: 0. 1.
Schlesinger: Vormittag: 0. 4. — Nachmittag: 3. 3. 2.
Ehrlich: Vormittag: 0, 0. 0. — Nachmittag: 2. 1. 1.
Stalagmometrischer Quotient: 0,77.
Hym. v. d. Bergh: Vsoooo-
Die Kombination des zweifelsohne erhöhten Bilirubinspiegels mit pathologisch
niedrigem stagmometrischen Quotienten macht in diesem Falle — auch abgesehen
von der einmaligen Vormittagsurobilinurie — eine Leberfunktionsstörung sehr
wahrscheinlich.
12. A. G. 50 Jahre. Erkrankte 32 Jahre alt, wurde unruhig, verwirrt. Wurde
stets wortkarger, zog sich von seiner Umgebung zurück, halluzinierte. Jetzt ist
er völlig unzugänglich, zeigt öfters einen katatonen Bewegungs- und Schreidrang,
an anderen Tagen ist er völlig bewegungslos, hochgradig kataleptisch und zeigt
Befehlsautomatie.
Hay: Vormittag: 0. 0. 2. — Nachmittag: 3. 0. 1.
Schlesinger: Vormittag: 1. 2. — Nachmittag: 3. 2. 4. 2.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. 1.0. — Nachmittag: 3. 0. 1. 0.
Hym. v. d. Bergh: Via» ooo-
13. M. V. 26 Jahre. 1921 (22 Jahre alt) ängstliche Erregung. Wähnte sich
verfolgt, floh von seiner Umgebung fort und lebte eine Zeitlang in einem Walde,
wo er in völlig verwahrlostem Zustande angetroffen wurde. Seither fortwährend
verwirrt und negativistisch, zeigte Befehlsautomatie. Unsinnige Wahnideen („man“
hatte eine Katze in seinen Kopf hineingegeben) wurden zeitweise produziert. Ein
l 1 /* Jahre lang dauernder Stupor mit Mutazismus und Akineee (während welchen
494 D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
die Leberfunktionsprüfung unternommen wurde) ist jetzt in eine heftige katatone
Erregung umgeschlagen.
Hay: Vormittag: 0. 4. 2. 5. 3. 5. 0. — Mittag: 0. 0. 0.
Schlesinger: Vormittag: 2. 5. 5. 5. 4. — Nachmittag: 1. 4. 4.
Ehrlich: Vormittag: 4. 3. 4. 3. — Nachmittag: 0. 2. 0.
Die enorm starke Urobilinurie war auch hier wieder vormittags am stärksten.
14. J. W. 46 Jahre. Im Anschluß an ein Ohrenleiden trat im 26. Lebens¬
jahre eine Psychose auf, er wurde jähzornig, bekam Wahnideen und Halluzinationen.
Schon im Anfänge zeigten sich viele katonische Zeichen.. Im weiteren Verlaufe
traten dieselben immer mehr in den Vordergrund. Jetzt ist er mutazistisch, es
werden höchstens einige unverständliche Silber geflüstert, dabei hochgradig nega-
tivistisch und impulsiv.
Hay: Vormittag: 4. 4. 4. — Nachmittag: 3. 0. 0. 2.
Schlesinger: Vormittag: 2. 0. 0. — Nachmittag: 2. 4. 2. 1.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. — Nachmittag: 2. 0. 0.
Stalogmometrischer Quotient: 0,81.
16. H. C. 64 Jahre, erkrankte vor 20 Jahren an einer paranoid gefärbten
Psychose. Er meinte reich zu sein, bettelte auf der Straße. Allmählich entwickelte
sich eine eigenartige Sprachverwirrtheit mit zahlreichen Neologismen. Es wechseln
auch in diesem Falle kurzdauernde (etwa 2 Tage) Phasen mit relativ guter Zu¬
gänglichkeit und ruhiger Affektlage ab mit kurzen Perioden, in denen er zornig
erregt ist. In diesen erregten Perioden ist die Sprachverwirrtheit deutlicher.
Hay: Vormittag: 2. 1.0. — Nachmittag: 3. 0.
Schlesinger: Vormittag: 0. 0. — Nachmittag: 3. 3. 2.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. 0. — Nachmittag: 2. 0.
Stalagmometrischer Quotient: 0,80.
Hym. v. d. Bergh: Vsoooo-
Wir finden hier also einen zweifelsohne pathologisch erhöhten Bilirubingehalt
des Serums.
16. N. H. 68 Jahre. (Der Fall ist auch in der Arbeit über „Blutzucker und
Schizophrenie“ des einen von uns beschrieben worden, diese Zeitschr. 81 , S. 189,
Fall 23.) Der Auszug aus der Krankengeschichte möge hier kurz wiederholt
werden.
Er war als Kind schlecht begabt und stets reizbar. Mit 32 Jahren Trauma
capitis. Im Anschluß hieran angeblich epileptische Anfälle mit konsekutiver
Verwirrtheit. Hierauf; 40 Jahre alt, Aufnahme in eine Universitätsklinik, wo er
2 Jahre verblieb. Die hier beobachteten Anfälle wurden nicht für epileptische
gehalten, auch wurde eine nachfolgende Verwirrtheit nicht festgestellt. Ein sinnloses
Benehmen und unmotivierte Wutanfälle traten aber um so mehr in den Vorder¬
grund. Auch während der nachfolgenden 15jährigen Anstaltsbeobachtung sind
Anfälle nicht wieder beobachtet. Eine große Affektlabilität und langsam sich
entwickelnde barocke Größenideen treten in den Vordergrund (schon im 42. Lebens¬
jahre werden eigentümliche Manieren und steife Haltung beobachtet), neben
Halluzinationen, mittels deren er sich mit der königlichen Familie unterhalt.
Jetzt stark maniriert, verschroben, halluzinierend. Zeigt Willensbeeinflussung,
demente Größenideen. Somatisch außer einer mäßigen Arteriosklerose (Blutdruck
82—135 mm Hg) nichts Besonderes. Wassermann im Blute negativ. Die ali¬
mentäre Blutzuckerkurve zeigte neben niedrigem Anfangs wert einen hohen An¬
stieg.
Hay: Vormittag: 0. 0. 0. — Nachmittag: 0. 0. 0.
Schlesinger: Vormittag: 1. 3 2. — Nachmittag: 1. 3. 4. 4.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. 0. — Nachmittag: 0. 0. 0.
Untersuchungen über Leberfunktiou bei Schizophrenen.
495
Stalagmometrischer Quotient: 0,74.
Hym. v. d. Bergh: Viooooo-
Befremdend ist hier die Diskongruenz in dem Ausfall der Hay-Reaktion und
das Ergebnis der Stalagmometrie.
17. A. M. 40 Jahre alt. Mit 19 Jahren kurzdauernder Erregungszustand,
der mit völliger Wiederherstellung wieder schwand. Nach 7 Jahren, vielleicht
im Anschluß an geistige Überanstrengung, heftige Erregung, von deutlichem
katatonen Charakter. Nach Abklingen der akuten Erscheinungen resultiert eine
barocke Persönlichkeit mit „elektrischem“ Gedankenentzug, flüchtige Wahn¬
ideen. Das Zustandsbild wird seit Jahren beherrscht durch allerhand katatone
Zeichen: Maniriertheit, steife Haltungen, Stereotypien, stuporösen Phasen mit
hochgradiger Katalepsie.
Hay: Vormittag: 1. 0. 2. 1. 2. — Nachmittag: 0. 0. 0.
Schlesinger: Vormittag: 3. 3. 1. 3. — Nachmittag: 3. 1. 3. 3. 1.
Ehrlich: Vormittag: 1. 1. 2. — Nachmittag: 2. 2. 0. 1. 0.
St&lagmometrischer Quotient: 0,85.
Hym. v. d. Bergh: Vgoooo-
Man beachte hier die Hyperbilirubinämie und die Urobilinurie am Vormittag.
18. J. K. 40 Jahre. Von jeher leicht imbezill. Nach der Pubertät ganz schlei¬
chend einsetzende Charakterveränderung. Wurde reizbar, jähzornig, zankte mit
jedem. Allmählich treten Sinnestäuschungen hinzu. Jetzt maniriert, stereotyp,
unzusammenhängend.
Hay: Vormittag: 1. 0. 0. — Nachmittag: 0. 0.
Schlesinger: Vormittag: 0. 2. 0. — Nachmittag: 0. 0. 1.
Ehrlich: Vormittag: 0. 0. 0. — Nachmittag: 0. 0.
Stalagmometrischer Quotient: 0,75.
Hym. v. d. Bergh: Nicht ausgeführt.
Für den sehr niedrigen st&lagmometrischen Quotienten können wir in diesem
Fall keine Erklärung geben. Grobe körperliche Erkrankung besteht jedenfalls
nicht, spez. auch keine Albuminurie (wie dies übrigens bei keinen der untersuchten
Kranken der Fall war, s. oben.).
19. P. T. 27 Jahre, war immer reizbar, unzufrieden. Mit 14 Jahren trat eine
Charakteränderung auf, er beschimpfte fremde Leute, schlug Kinder. Nach einem
halben Jahre wurde er wieder handelbar, bewährte sich als Diamantbearbeiter
ziemlich gut. Mit 19 Jahren plötzlich übertrieben religiös, betete den ganzen Tag,
verfiel allmählich in einen stuporösen Zustand, von monatelanger Dauer. Während
einiger Tage ist er zugänglich, sagt dann, er sei im Himmel gewesen, habe Gott
gesehen, der ihm den Auftrag gegeben habe, die Welt zu bessern. Alsbald versinkt
er wieder in tiefen Stupor. Diesen Wechsel zwischen stuporösem Verhalten und
läppischer Erregung bat er im Laufe seiner Erkrankung stets beibehalten. Während
der erregten Phasen zeigt er eine immer zunehmende Sprachverwirrtheit.
Hay: Vormittag: 0. 1. 2. 1. 0. 0. 1. — Nachmittag: 1. 0. 2. 0.
Schlesinger: Vormittag: 2. 3. 2. 1. — Nachmittag: 4. 4. 3.
Ehrlich: Vormittag: 0, 1. — Nachmittag: 0. 0. 1.
Stalagmometrischer Quotient: 0, 76.
Neben pathologischer Urobilinurie zeigte dieser Fall einen sehr niedrigen
st&lagmometrischen Quotienten.
20. M. P. 35 Jahre. Imbeziller, soll mit 15 Jahren eine kurzdauernde Er¬
krankung durchgemacht haben, von welcher anamnestiscb weiter nichts bekannt
ist. Diese Erkrankung soll abgeheilt sein; im 21. Lebensjahre langsam progressive
Erregung, starker Stimmungswechsel, Bewegungsdrang. Allmählich schwand
diese Erregung und hinterließ einen dementen trägen Kranken, der aber relativ
496
D. Schrijver imd S. Schrijver-Hertzberger:
sozial wurde und entlassen werden konnte (22 Jahre). 4 Jahre spater erfolgte ein
neuer Schub. Wurde still, äußerte Suizidgedanken, redete wirr; bei Aufnahme
maniriert, negativistiscb. Bietet jetzt das Bild des völlig verblödeten Katatonen.
Hay: Vormittag: 1. 4. 3. 4. 2. — Nachmittag: 0. 0. 4.
Schlesinger: Vormittag: 4. 4. 1. 4. 1. — Nachmittag: 4. 4. 3.
Ehrlich: Vormittag: 2. 4. 3. 3. 1. — Nachmittag: 0. 1. 2.
Stalagmometrischer Quotient: 0,83.
Hym. v. d. Bergh: Vsoo ooo*
Wir finden hier also neben pathologischer Urobilinurie an manchen Tagen
auch eine positive Hay-Probe.
21. A. H. 34 Jahre. Imbeziller. Anfang der Erkrankung nicht bekannt.
Halluziniert, grimmassiert. zeitweise heftig erregt, wenig zugänglich.
Hay: Vormittag: 1. 0. 0. — Nachmittag: 0. 0. 0.
Schlesinger: Vormittag: 4. — Nachmittag: 1. 1. 3.
Ehrlich: Vormittag: 0. — Nachmittag: 2. 0. 0.
Stalagmometrischer Quotient: 0,80.
Hym. v. d. Bergh: V4ooooo-
Pathologische Urobilinurie wie in einigen anderen Fällen auch hier am Vor¬
mittag. Es erscheint uns in diesem Falle fraglich, ob eine Leberstörung vorliegt.
22. J. B. 39 Jahre. Erkrankung im 31. Jahre mit Beziehungsgedanken¬
phonemen. Verlauf stetig progressiv. Jetz hochgradiger Autismus und Apathie.
Hay: Vormittag: 0. 0. 0. 3. — Nachmittag: 2. 4. 2.
Schlesinger: Vormittag: 2. 4. — Nachmittag: 3. 2. 4.
Ehrlich: Vormittag: 1. 1. 2. — Nachmittag: 3. 2. 2.
Stalagmometrischer Quotient: 0,82.
Hym. v. d. Bergh: l /4ooooo-
Neben ausgesprochen pathologischer Urobilinurie ist die Hay-Probe auch hier
wieder Nachmittag am stärksten.
23. J. S. 45 Jahre. Auch dieser Fall ist in der obengenannten Veröffentlichung
des einen von uns verwertet w r orden (s. D. Schrijver 1923, S. 193). Er war als
Kind intelligent, fleißig; von gefügigem Charakter, erkrankte im 17. Lebensjahre
an einer akuten katatonen Erregung, die Anstaltsaufnahme nötig machte. Seitdem
haben sich diese Erregungszustände immer wieder mit einer merkwürdigen Regel¬
mäßigkeit wiederholt. In der Zwischenzeit ist der Kranke völlig mutazistisch,
akinetisch, hochgradig kataleptisch. Wahrend der Erregung treten immer wieder
dieselben Stereotypien, dieselben Redensarten auf, ist er echolalisch und echo¬
praktisch. Trotz genauer körperlicher Untersuchung werden keinerlei körperliche
Krankheitserscheinungen gefunden. Die Blutzuckeruntersuchung ergab eine „ini¬
tiale Hypoglykämie“. Es wurde damals die Vermutung ausgesprochen, daß diese
Abweichung in der Blutzuckerkurve, die sich übrigens auch in anderen Fällen
zeigte, auf eine Leberstörung zurückzuführen wäre.
Hay: Vormittag: 4. 3. 2. 0. 0. 0. 2. 4. 1. — Nachmittag: 3. 4. 1.
Schlesinger: Vormittag: 2. 3. 3. — Nachmittag: 4. 2. 4,
Ehrlich: Vormittag: 2. 0. 3. 0.
Der stalagmometrische Quotient zeigte Schwankungen in dem Sinne, daß
w ährend der ruhigen Perioden der Quotient normale Werte aufzeigte, während
der erregten Perioden pathologisch erniedrigt war. (Ausführlich wird der Fall in
anderem Zusammenhang besprochen werden.)
Fragen wir uns, was die beschriebenen Kranken in psychiatrischer
Hinsicht Gemeinschaftliches darboten, so ist eine Antwort schwer
zu geben. Es gleichen sich diese tief-verblödeten Endzustände stets in
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
497
hohem Maße. Es fiel uns auf, daß ziemlich viele dieser lebergestörten
Schizophrenen im Verlaufe ihrer Erkrankung eine Periodizität auf-
wiesen (vgl. Fall 3, 9, 12, 15, 17, 19, 23). Es ist dies um so eigenartiger,
weil wir auch in der Literatur in den Fällen, wo Geistesstörung und
Leberabweichung in Kausalkonnex gebracht werden, einige Male perio¬
disch verlaufende Psychosen beschrieben sehen (Damsch und Cramer,
Leyser). Eine spezielle Untersuchung dieser Frage wäre gewiß lohnend.
Wir kommen nun zur Frage, welcher Zusammenhang besteht
zwischen den aufgedeckten Leberstörungen und dem schizophrenen
Krankheitsprozeß.
In erster Linie muß bemerkt werden, daß die untersuchten Kran¬
ken Juden sind. Es wäre sehr wohl möglich, daß Leberstörungen
leichteren Grades bei dieser Rasse besonders oft Vorkommen sollten,
weil ja bekanntlich verwandte Diathesen bei ihnen frequent sein sollen.
Leider sind uns genaue Untersuchungen diesbezüglich nicht bekannt
geworden. Es könnte vielleicht die Untersuchung von Morrison und
Ohles einen Hinweis geben, daß die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse
allein nicht imstande wäre, die gefundenen Abweichungen zu erklären.
Obengenannte Autoren untersuchten den Blutzucker in Beziehung
zur Rasse und urteilten ja: .,daß die Zugehörigkeit zur Rasse allein
nicht Ursache ist von dem Vorkommen von hohen Blutzuckerkurven
nach Glukose-Probemahlzeit. Alle hohen Blutzuckerkurven bei den
Juden fanden sich bei Personen mit nervösem oder emotionellem
Temperament.“
Auch unter den Gesunden, deren Ham wir untersuchten, befanden
sich sowohl Juden wie Nicht-Juden. Die erhaltenen Resultate wider¬
sprachen sich aber zum Teil und die Zahl der beiden Gruppen war klein.
Deshalb haben wir uns in dieser Frage kein Urteil bilden können.
An zweiter Stelle muß mit in Rechnung gezogen werden, daß Kranke
von der Art, wie wir sie untersucht haben, meist in der einen oder
anderen Periode ihres Lebens mit Hypnoticis behandelt worden sind.
Die Frage wäre wohl berechtigt, ob diese Gifte eine dauernde Schä¬
digung der Leber hinterlassen hätten. Allerdings wäre diese Schä¬
digung dann nur bei einem Teil der Kranken nachweisbar, weil manche
von ihnen bei keiner der benutzten Proben Abweichungen gezeigt
haben. Diejenigen, deren Leber wohl gelitten hätten, müßten also eine
besondere Disposition zur Lebererkrankung mitgebracht haben und
damit wären wir zurückgekehrt zur ursprünglichen Frage, ob näm¬
lich diese Disposition zur Leberstörung in direktem Zusammenhang
mit der Psychose steht.
Bei unserer Untersuchung bekamen wir den Eindruck, daß einige
Kranken in ihren unruhigen Perioden stärkere Leberstörungen auf¬
wiesen, als in den mehr ruhigen Tagen. Systematische Untersuchungen
498
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
diesbezüglich waren schwer, weil die Kranken in den unruhigen Perioden
oft Urin unter sich lassen und die in jeder Hinsicht veränderten Um¬
stände bezüglich Nahrung, Bewegung u. dgl. sich schwer eignen für
genaue Vergleiche der Ergebnisse aus den verschiedenen Perioden.
Es läßt sich aber wohl vermuten, daß wir durch den Umstand, daß
die Kranken zumeist in ruhigen Tagen zur Untersuchung kamen,
wahrscheinlich eher zu wenige als zu viele Leberstörungen aufgedeckt
haben könnten.
Der eine von uns (D. S.) hatte zudem noch Gelegenheit, in der Wiener
psychiatrischen Universitätsklinik eine ganze Reihe von Kranken zu
untersuchen. Wir sind Herrn Hofrat Wagner v. Jauregg hierfür zum
großen Dank verpflichtet.
Es ist bei dieser Untersuchungsserie im Auge zu behalten, daß die
übergroße Zahl dieser Fälle nur während kurzer Zeit in der Klinik
beobachtet werden konnte. Die Diagnose erscheint also nicht in dem
Maße gesichert, wie dies bei unseren Anstaltskranken der Fall war.
Es kamen nur Männer zur Untersuchung. Bei ihnen wurden im
nüchternen Zustand der Bilirubingehalt des Serums nach Hymans
v. d. Bergh und die Schlesingersche Reaktion im Urin bestimmt.
Bei 11 Paranoiden fand sich nach Hymans v. d. Bergh der Wert
V 400 ooo * 1 mal, 1 / 2 ooooo : 4 mal, V 130000 * 2 mal, Viooooo* 4 mal.
Bei 7 Hebephrenen Vaooooo-* 2mal > V» 00 000 : 3 mal, Visa 000 : Imal,
V 70 000 * 1 ma b V 40 000 * 1 mal.
Leider konnten nur zwei Katatonien untersucht werden. Der eine
hatte einen Bilirubingehalt 1 / 100 000 ; der andere hatte eine sehr starke
Hyperbilirubinämie von 1 / 16 000 . Es möge hier kurz dieser Fall erwähnt
werden.
N. G., 18 Jahre alt, soll angeblich stets gesund gewesen sein. Kam aus Amerika
nach Wien, um Musik zu studieren. Wurde akut deprimiert, schlief wenig, wollte
plötzlich nicht mehr Geige spielen. Allmählich geriet er in eine furibunde Erregung,
jammerte, man hätte ihm seine Nichte (in die er sich verliebt hatte) und die Musik
gestohlen. Er würde König werden. Bedrohte seine Umgebung, meinte Christus
zu sehen. In der Klinik war er sehr erregt, schrie. Bei der Untersuchung leicht
erregt, zeitlich und örtlich mangelhaft orientiert. Affektloser Gesichtsausdruck,
Grimassieren. Keine interne Abweichungen. Neben der starken indirekten
Bilirubinreaktion im Serum fand sich eine positive verzögerte direkte Reaktion.
Leider konnte dieser Kranke nicht lange beobachtet werden. Unsicher bleibt,
ob es sich hier wirklich um eine Katatonie oder um eine kataton gefärbte
Amentia gehandelt hat.
In 7 Fällen von ,, Psychopathie “ fand sich 1 / 2 ooooo : 2 mal, Viooooo :
2 mal, 1 / 70 / 0 o 0 : lmal, 1 / 40 000 :2mal. Von den letzten beiden Fällen
war der eine durch Lysolvergiftung kompliziert. Diese Diagnose
Psychopathie mußte wohl als eine vorläufige aufgefaßt werden, und
sehr wohl möglich wäre es, daß einige von diesen Fällen sich später
als Schizophrenien entpuppen werden.
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
499
Es kamen weiter zur Untersuchung: 3 Imbezille mit hohen Bilirubin-
werten; 1 Fall von Manie ebenso mit erhöhtem Wert.
Weiter 3 Fälle von Epilepsie; der eine Fall, durch Tuberkulose
kompliziert, hatte einen sehr hohen Bilirubingehalt, von den beiden
anderen war der eine mäßig erhöht, der andere niedrig.
Über die Fälle von Hysterie (5), endogener Depression (3), reaktive
Depression (3), Tentamen suicidii (2), Arteriosklerosis cerebri (2) usw.
gibt die untenstehende Tabelle Aufschluß.
Ziemlich hohe Werte fanden sich bei Amentia, traumatischer
Demenz, urämischer Psychose und in einem Fall von Arteriosklerosis
cerebri, der durch Vitium cordis kompliziert war.
Es scheint also aus diesen Beobachtungen hervorzugehen, daß
ein erhöhter Bilirubingehalt des Serums bei den verschiedensten akuten
Psychosen vorkommt.
Daß sich bei den vielen Fällen von Alkoholismus chronicus eine
Hyperbilirubinämie fand, darf nicht Wunder nehmen. Von 12 Alkoho-
listen hatten alle einen erhöhten Wert, zum Teil fand sich sogar eine sehr
starke Erhöhung. Zm größten Teil handelte es sich in diesen Fällen um
Alkohol delirien. Dieser Befund ist in Übereinstimmung mit der von
Klippel, Bostroem u. a. gefundenen Urobilinurie bei alkohol-deliranten
Zuständen.
Diagnose
8chlesingersche
Reaktion
Reaktion des Hymens v. d. Bergh
4
8
2
i
0
über
/ 100 000
V 100 OM
bis
VlM 00«
V SO« 000
bis
V SO*000
X l SO« 000
bis
Vaoo ooo
unter
VlOO 000
Paranoide Demenz . .
1
1
—
i
1
—
4
4
3
_
Hebephrenie.
1
—
—
—
2
2
1
2
—
2
Katatonie.
1
—
1
l
—
1
1
—
—
—
„Psychopathie“ . . .
_
1
l
—
1
3
2
2
—
—
Manie.
—
—
—
—
—
1
—
—
—
—
Hysterie .
1
—
—
i
—
—
1
2
2
—
Tentamen Suicidii . .
1
1
—
—
—
1
1
—
—
Endogene Depression .
—
1
-
i
1
1
—
2
—
—
Reaktive Depression .
1
—
1
l
—
—
1
1
i
—
Imbezillitas .
—
—
—
1
3
—
—
—
Epilepsie .
-
—
l
—
—
1
—
—
1
Potatorium.
2
1
2
—
1
5
3
3
—
—
Dipsomanie .
—
i —
—
—
—
1
—
1
—
—
Pathologischer Rausch
—
i -
—
l
_
—
—
—
—
—
Dementia paralytica .
—
! _
2
2
—
—
1 -
—
Cocainismus .
—
i
1 -
1
—
—
i
!
—
—
Morphinismus ....
1
1 -
1 -
—
, —
—
i —
—
—
—
Veronalintoxikation . .
—
!
; —
1
1
—
—
—
—
Encephalitis.
-
; 1
! __
—
-
i
I
—
Amentia .
—
1 —
—
-
1
i __
—
—
Traumatische Demenz
—
—
i —
—
! - |
-
1
—
--
-
500
D. Schrijver und S. Schrijver-Hertzberger:
Erwähnenswert ist noch, daß ein echter Dipsomaner eine starke
Hyperbilirubinämie hatte, während ein Pseudo-dipsomaner, der viel
Alkohol zu sich genommen hatte, einen nur wenig erhöhten Wert hatte.
Desgleichen fanden sich in 2 Fällen von pathologischem Rausch etwas
erhöhte Werte.
Auch bei Paralyse fand sich oft eine Hyperbilirubinämie.
Diese Tatsache ist — insoweit der Lues selber ohne Einfluß geblieben
ist — vielleicht erklärlich aus der Salvarsanbehandlung, die in einigen
Fällen schon vor Eintritt in die Klinik stattgehabt hatte.
Zur besseren Übersicht folgen hier zusammengefaßt unsere Schlu߬
folgerungen :
1. In den früheren diesbezüglichen Arbeiten wird einerseits der
Leber eine wichtige Rolle für das Zustandekommen der Psychose zuge¬
schrieben, während andere Autoren keine Leberstörungen finden können.
2 . Urobilinurie und Urobilinogenurie kommen in den stärkeren
Graden öfter vor bei Schizophrenen wie bei Nicht-Schizophrenen;
negativer oder schwacher Ausfall der Reaktion ist seltener bei Schizo¬
phrenen.
3. Die niedrigen stalagmometrischen Quotienten im Urin sind bei
den Schizophrenen mehr frequent. Bei den Schizophrenen ist die
Oberflächenspannung des Harns — allerdings nur in geringem Grade —
erniedrigt.
4. Die Bilirubin werte im Blut sind bei den Schizophrenen hoch.
Eine sehr starke Bilirubin-Erhöhung ist Ausnahme.
5. Die Schlesingersche Urobilin-Reaktion im Serum war bei den
Schizophrenen stets negativ.
6 . Bei den verschiedenen Reaktionen zeigen sich die stärkeren
Reaktionen meist bei den Katatonen und Hebephrenen. Die dies¬
bezüglichen Unterschiede zwischen den einzelnen Untergruppen sind
nicht so groß wie diejenigen zwischen Schizophrenen und Nicht-
Schizophrenen.
7. In den Fällen von Katatonie, die mit stärker ausgesprochenen
Störungen der extrapyramidalen Motilität einhergingen, ließen sich
mit den von uns benutzten Proben keine Abweichungen auf decken.
8 . Die Fälle mit den stärkeren Leberstörungen zeigten öfters im
Verlaufe der Erkrankung eine gewisse Periodizität.
9. Von den akuten Psychosen zeigten die verschiedensten Formen
Hyperbilirubinämie und Urobilinurie.
10. Für die Beantwortung der Frage, inwieweit die aufgedeckten
Leberstörungen zur Schizophrenie in Beziehung stehen, muß mit in
Rechnung gezogen werden, daß die untersuchten Kranken Juden sind
und daß ihnen manchmal Hypnotika verordnet sein mögen.
Untersuchungen über Leberfunktion bei Schizophrenen.
501
Literaturyerzeiehnis.
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Biochem. Zeitschr. 114.
(Aus der Deutschen Forschungs-Anstalt für Psychiatrie, Kaiser Wilhelm-Institut,
in München.)
Erblichkeit und Psychiatrie 1 ).
Von
Ernst Rttdin,
Leiter der Genealogischen Abteilung der Deutschen Forschungsaustalt für Psychiatrie in München.
(.Eingegangen am 22. Jvli 1924.)
Sie haben mich mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, Ihnen zu
berichten, was die Erbbiologie der Diagnostik zu bieten vermag. Ich
muß aber gleich betonen, daß man hier zunächst nur von bescheidenen
Erfolgen sprechen kann. Ich fürchte fast, Sie werden damit ebenso¬
wenig zufrieden sein wie der Erbbiologe mit der Leistungsfähigkeit der
Diagnostik. Nur die stetige gegenseitige Ausnutzung der Erfolge auf
den beiden Gebieten kann zu neuen Gewinnen auf dem eigenen Gebiete
führen. Da dem Praktiker die klinische Erfahrung am nächsten liegt,
wollen wir in erster Linie von dieser ausgehen. Nun kann man ja frei¬
lich nicht gerade sagen, daß selbst bezüglich der Hauptpunkte unter
den Vertretern der Klinik eitel Friede und Übereinstimmung herrsche.
Wenn ich Ihnen nur ein paar Namen nenne: Kraepelin und Bleuler ,
Qaupp und Wilmanns , Wemicke , Bonhoeffer und Kleist oder Hoche
und Bumke oder Specht , so tauchen scheinbar unüberbrückbare Gegen¬
sätze aüf. Und gerade deshalb wird die Erblichkeitsforschung sich
keiner dieser Richtungen mit Haut und Haaren verschreiben, sich keiner
der so verschiedenen Auffassungen der Kliniker verschließen dürfen.
Denn meiner Ansicht nach steckt in jeder von ihnen ein berechtigter
Kern. Dabei wird man nicht vergessen, daß sehr viele klinische Tat¬
sachen erst durch Kraepelins Aufstellungen einigermaßen greifbar
geworden sind.
Die klinische Psychiatrie in höherem Sinne zielt daraufhin, die
Verknüpfung aller Ursachen für die einzelnen klinischen Bilder genau
kennenzulemen. Je vollständiger wir die Entwicklungsgeschichte
einer Psychose, alle ihre Wurzeln und Verzweigungen erforscht haben
werden, desto vollkommenere Deduktionen werden wir in der kurzen
l ) Referat, erstattet an der 66. Versammlung des Schweizerischen Vereins
für Psychiatrie, 15. VI. 1924 in Lugano. •
E. Rüdin: Erblichkeit und Psychiatrie.
503
Zeit, die uns gewöhnlich die Beobachtung am Krankenbett läßt, hin¬
sichtlich der Ätiologie, Behandlung und Prognose zu ziehen vermögen.
Die Erblichkeitsforschung hat daher u. a. den Zweck, dem Psychiater
jene Glieder der Causalkette aufzudecken, welche durch die erbliche
Veranlagung gegeben sind und infolgedessen von seinem unmittel¬
baren Beobachtungsfeld etwas abliegen. Betont sie die Wichtigkeit
dieser Wurzel von Geisteskrankheit, so verkennt sie dabei selbstver¬
ständlich nicht im geringsten die Bedeutung der anderen Ursachen,
die zu geistiger Krankheit führen, wie Syphilis, Alkohol usw.
Wie sind also hereditäre Zusammenhänge diagnostisch brauch¬
bar, oder wie weit kann die gegebene genealogische Sachlage zur Bil¬
dung einer bestimmten Diagnose und zur Lösung von eventuellen
Zweifeln beitragen?
Hier steht nach wie vor das Prinzip der Gleichartigkeit des zu diagno¬
stizierenden Zustandes mit Vorkommnissen in der Verwandtschaft im
Vordergründe der Brauchbarkeit.
Ihre Gültigkeit wird freilich stark eingeschränkt durch die Misch¬
zucht in den menschlichen Familien und durch die Einflüsse der Umwelt.
Aber immerhin gibt es doch Familien genug, wo praktisch genommen
nur eine gleiche Veranlagung in Betracht kommt, vor allem aber, wo
ein Vergleich der Neuerkrankungen mit früheren Vorkommnissen in
der Familie eine auffallende Ähnlichkeit im speziellen Verlauf ergibt.
Ohne die Richtigkeit dieser Tatsache hätte ja auch die bekannte An¬
schauung* von der sogenannten gleichartigen Vererbung niemals ob¬
siegen können. Mit Recht wurde sie daher auch schon längst von
bewährten Praktikern diagnostisch verwertet. Ich erinnere bei der
Schizophrenie z. B. an jene mit Verwandten oft übereinstimmenden
Fälle mit manie-, depressions-, hysterie- oder epilepsieartigem Beginn
oder mit chronisch-progredientem oder schubweisem Verlauf, an die
öftere Übereinstimmung in der Schwere des Bildes und im Erkran¬
kungsalter.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Untersuchungen von
Minkowska unter Bleulers Aegide an einem Züricher Geschlecht. Sie
zeigen, daß ein Hereinpressen gewisser Psychoseformen in das landläufige
klinische System seine Beschränkung findet in der familiären Eigen-*
art, die manchen Geistesstörungen aufgedrückt ist. Auch sie tun dar,
daß die Zuhilfenahme vergleichend-klinisch-genealogischer Gesichts¬
punkte für die Diagnose geboten ist. Diesen Schluß können wir ziehen,
unbeschadet der anderen, noch offenen Frage, wie nun diese Störungen
zustande gekommen sein mögen und wohin wir sie im speziellen Ein¬
teilungssystem stellen sollen.
Es gibt aber nicht bloß manisch oder depressiv gefärbte familiäre
Schizophrenien wie die Minkowska sehen, sondern auch besonders stark
Z. L d. g. Neur. u. Psyeh. XCm. 33
504
E. Rüdin:
paranoid gefärbte, vorwiegend katatonische und auch epileptoid und
hysterisch gefärbte. Es wird also ratsam sein, bei Frischerkrankungen
die genannten Anhaltspunkte für Diagnose und Prognose mindestens
nicht zu verschmähen. Andererseits darf freilich aber die Rücksicht¬
nahme auf das Prinzip der Gleichartigkeit nicht zur Nachlässigkeit mit
Bezug auf das Suchen nach exogenen Faktoren bei Frischerkrankungen
führen. Denn exogene Krankheitsprozesse lassen, wie wir später sehen
werden, oft genug endogen familiäre Mechanismen offenkundig werden,
folgen aber dann doch ihrer eigenen Prognose und erfordern auch eine
eigene Behandlung.
Eine andere Frage ist die, ob es unter den vielen Einzelkonstella¬
tionen der Belastung welche gibt, die wir zur Diagnose einer Frisch¬
erkrankung benutzen können. Boven hat darüber bereits 1915 wert¬
volle Regeln aufgestellt. Wenn Zweifel nach der Richtung der Dementia
praecox und des manisch-depressiven Irreseins bestehen, so sprechen
nach Boven folgende Punkte zugunsten einer Dementia praecox:
1. Die Anwesenheit einer Psychopathie mit paranoider Färbung,
und zwar mit abnehmender Bedeutung bei Eltern, Geschwistern, Gro߬
eltern oder Onkel und Tante.
2. Der Polymorphismus der psychopathologischen Äußerungen in
der familiären Umgebung, womit wohl, abgesehen von den Unter¬
formen der schizophrenen Psychosen, derselbe Polymorphismus gemeint
sein wird, den Kretschmer , Hoffmann u. a. später geschildert haben
und den auch Bleuler vor kurzem mit dem Schlagwort der Häufigkeit
von „Gegensatzpaaren“ treffend gekennzeichnet hat.
3. Die Anwesenheit eines Falles von Dementia praecox bei einem
Geschwister.
4. Eigenartige paranoide Erscheinungen in der Vorgeschichte de*?
Individuums.
Nach meiner Erfahrung spricht auch eine Frischerkrankung dann
sehr für eine Schizophrenie, wenn ein Elternteil schizophren ist. Frei¬
lich besteht dabei theoretisch immerhin die Möglichkeit, daß eine
manisch-depressive oder andere Erkrankung vorliegen könnte. Wir
haben aber gehört, daß auch Manzoni dies nie gefunden hat. Umge¬
kehrt wird man unter gewöhnlichen Umständen selten Dementia
praecox-Kinder bei einwandfreien Zirkulären finden können. Der Um¬
stand, daß man mit einer gewissen Häufigkeit bei Eltern von Dementia
praecox-Kranken depressive Syndrome findet, spricht wohl meistens nur
scheinbar für ein wirklich manisch-depressives Irresein bei den Eltern 1 ).
Ich fasse zusammen: Da es auch in der Genealogie pathognomo-
nische Einzelmomente von zwingender Gültigkeit nicht gibt, wird man
1 ) Vgl. dazu auch eine demnächst erscheinende Publikation von H. Hojfnuuw:
Über Psychosen bei den Eltern von Dementia-praecox-Kranken.
Erblichkeit und Psychiatrie.
505
gut tun, bei einer Frischerkrankung die Gesamtlage zu berücksich¬
tigen, und zwar die Ähnlichkeit mit bestimmten Verwandten-Schizo-
phrenien, die genealogische Nähe typischer Schizophrenien, die Häu¬
fung von Schizophrenien und ausgesprochen schizoiden Persönlichkeiten
in der Blutsverwandtschaft und die schizoide Vorgeschichte des frisch
Erkrankten. Wo man die Schizoidie zu diagnostischen Zwecken benutzt,
sollte sie freilich nach Häufung und Ausprägung der Züge so gesichert
sein, daß sie dem Streit der Meinungen entrückt ist. Sie muß sich wirk¬
lich von allgemein menschlich schizoiden Einzelzügen, wie Bleuler
sie vertritt, abheben.
Ganz ähnliche Erwägungen, jedoch mit entsprechenden Abände¬
rungen, gelten auch für die anderen Hauptdiagnosen. Je eingehender
man bei den Verw andten nachforscht, desto mehr Anhaltspunkte analoger
Art wird man auch bei ihnen finden. Besonders wertvoll und häufig
ist beim manisch-depressiven Irresein die elterliche gleichartige Be¬
lastung. Doch spielt sie neben der geschwisterlichen auch bei den
anderen Diagnosen eine bedeutsame Rolle.
Um hier noch die Bedeutung der Kretschmer sehen Körpertypen für
die psychiatrische Diagnostik vorweg zu nehmen, so scheinen wirk¬
lich die dysplastischen Formen beim manisch-depressiven Irresein
sehr wenig vorzukommen, jedenfalls dafür in keiner Weise charakte¬
ristisch zu sein.
Der pyknische Typ ist, auoh nach den neuesten anthropometrischen
Nachuntersuchungen von Henckel und anderen Autoren, beim echten
manisch-depressiven Irresein, der leptosom-asthenische und athletische
bei der Schizophrenie überwiegend häufig. Als wichtige diagnostische,
wenn auch nicht pathognomonische Hilfen, können daher auch die
Körperbautypen mit Vorsicht verwendet werden. Doch muß man
immer auch vor Überkreuzungen auf der Hut sein, wie ja schon Kretsch¬
mer hervorgehoben hat.
Von der diagnostischen Bedeutung der Erblichkeit im bisher
besprochenen Sinne finden wir bei vielen Autoren eine große Menge
Belege. Um nur einige zu nennen für die Dementia praecox bei Berze ,
Landborg, Strohmayer, Hoffmann, für das manisch-depressive Irresein
bei Pilcz, Kitschen, Beiß, Hübner, Hoffmann, Strohmayer, Rehm , für
die Epilepsie bei Bratz, Krisch, Binswanger, Römer, für die Myoklonus-
Epilepsie bei Lundborg , für die Pelizäus-Merzbachersche Krankheit bei
Merzbacher, für die Imbezillität bei Goddard, Reiter und Osthoff, Rüdin-
Senger und zerstreut bei vielen anderen Autoren, für die verschiedenen
Formen von Psychopathie bei Järger, Meggendorf er, Koch , Kretsch¬
mer, Hoffmann, Kahn usw., für die Huntingtonsche Krankheit neben
anderen bei Entres, der direkt erklärt, daß hier die Rücksichtnahme
auf die Heredität (direkte, kontinuierliche, d. h. einfach dominante
33 *
506
E. Rtldin:
Vererbung) ein unerläßliches Erfordernis sei. Piltz tritt für eine homo¬
loge Heredität bei Zwangsvorstellungen und bei Homosexualität ein.
Auch Meggendorfer hat einen Fall von homologer Vererbung einer Angst -
und Zwangsneurose veröffentlicht.
Besonderer Erwähnung bedürfen noch die Untersuchungen Meggen -
dorfers über eine größere Anzahl sogenannter Moral insanes. Durch
klinische Analyse konnte er die einen als sog. Affekt-Epileptiker und
Hysterieforme mit relativ guter Prognose, die anderen als sog. Para-
thyme, d. h. leichte Schizophrene, vielleicht auch nur schwere Schizoide
mit relativ schlechter Prognose auffassen. Für die Verschiedenheit der
beiden Gruppen fand er nun eine auffallende Bestätigung in den ent¬
sprechenden BelastungsVerhältnissen. Und zwar fand er in der einen
Gruppe durchgehends Belastung mit Psychopathen, in der anderen
fast durchgehends schwere Belastung mit Dementia praecox. Und
dieselbe diagnostische Beleuchtung, welche psychopathische Persön¬
lichkeiten durch das Studium der Erb Verhältnisse erfahren können,
wird auch durch Meggendorfers Untersuchungen auf manche Paraly¬
tiker-Kinder geworfen. Sie zeigen, daß dieselben Psychopathien schon
in der Ascendenz oder bei Collateralen einmal oder mehrfach vor-
kamen, ohne daß Syphilis im Spiele w r ar.
Neuestens hat Meggendorfer , wie vereinzelt schon Ejüres, auch
gefunden, daß unter den Kindern seiner Huntington-Kranken zweier¬
lei Persönlichkeiten Vorkommen. Die einen sind eigentümlich nervös,
erregbar, verschlossen, mürrisch, nörglerisch, jähzornig, streitsüchtig,
sexuell anspruchsvoll, neigen überhaupt zu Exzessen und fühlen sich
leicht benachteiligt, die anderen sind unauffähig, gesund, nervenstark.
Die ersteren, die man oft auch beinahe „schizoid“ zu nennen ver¬
sucht wäre, trotzdem keine Beziehungen zur Dementia praecox bestehen,
erkranken später mit Vorliebe an Huntington, die letzteren nicht.
Sollte sich dieses Ergebnis für alle Erbchorea-Fälle verallgemeinern
lassen, so wäre das von der allergrößten praktisch-prognostischen und
erbtheoretischen Bedeutung. Dieses Problem taucht ja auch bei der
Dementia praecox und beim manisch-depressiven Irresein immer
wieder auf. Wir sind aber hier noch weit entfernt von sicheren und
einfachen Formulierungen.
Involutions-melancholische Bilder wird man gerade auf Grund
einer nachgewiesenen gleichartigen Vererbung oft genug zum manisch-
depressiven Irresein zu schlagen berechtigt sein. Wieder andere dürften
freilich andere Bedeutung haben. Die Anregung Bumkes, die Heredität
zur Lösung der Frage der nosologischen Sonderstellung gerade der
Involutions-Melancholie heranzuziehen, muß sich hier noch zu exakten
Untersuchungen auswirken. Daß gewisse Formen aber mit Schizo¬
phrenie ( Hoffmann u. a.), andere mit Arteriosklerose etwas zu tun zu
Erblichkeit und Psychiatrie.
507
haben scheinen, darauf deutet ebenfalls wiederum nicht bloß der
individuelle, sondern auch der genealogische Befund mit Sicherheit hin.
Dagegen haben die Formen, die z. B. Kraepelin als perniziöse Melan¬
cholien und Angstmelancholien beschrieben hat und die einen anatomisch
uneinheitlichen Befund ergeben, genealogisch nach noch unveröffent¬
lichten Nachforschungen von Oksala mit der Schizophrenie wohl nichts
zu tun. Aber mitunter finden sich ähnliche Bilder in der Verwandtschaft
und zum Teil Berührungspunkte mit dem manisch-depressiven Irresein.
Interessant ist, daß auch Kleist bei seiner Involutions-Paranoia
nicht bloß in 2 / 3 der Fälle erbliche Belastung überhaupt gefunden hat,
sondern einige Male sogar solche im gleichen Sinne.
Doch mm genug von den Schlüssen auf Grund des Prinzips der
Ähnlichkeit der Psychose und Persönlichkeit des frisch Erkrankten
mit einem oder mehreren Verwandten. Ich will nur noch meiner Über¬
zeugung Ausdruck geben, daß aus diesem Prinzip noch sehr viel mehr
Hilfen für die Diagnostik hergeholt werden könnten, wenn die Ver¬
wandtschaft in den Einzelfällen besser durchforscht wäre. Es ist nach
meiner Erfahrung oft geradezu überwältigend, wie trotz anfänglichen
Leugnens oder Vergessens nachträglich in der Verwandtschaft Typen
zu finden sind, die man fast als Kopien der zu Diagnostizierenden
auffassen kann.
Komplizierter liegen die Dinge, wenn ein Erkrankter keinem Ver¬
wandten in seiner psychischen Totalität gleicht, sondern, wenn er
gewisse Züge mit dem einen, andere Züge mit einem anderen Kranken
gemeinsam zu haben scheint, so daß dann der Verdacht eigenartiger
Kombinationen erweckt wird, die nur gezwungen oder gar nicht in
unserm gewöhnlichen Einteilungsschema untergebracht werden können.
Theoretisch könnte es sich dabei handeln um ein zufälliges Zusammen¬
treffen voneinander unabhängiger Krankheiten im gleichen Menschen.
Oder es könnte eine innigere Verbindung der Erbbestandteile von zwei
Psychosen vorliegen. Es könnte sich auch um einen intermediären
Zustand im Mendelschen Sinne handeln, also um einen Phänotypus,
der aus einer Mischung der Wirkungen allelomorpher Erbeinheiten
entsteht. Schließlich könnte es auch nur eine Krankheit sein, die
aber auf irgendwelchem Wege Anlagen aus einem anderen Erbkreis
sichtbar werden läßt.
Schon 1880 schrieb Magnan: ,,La manie, la melancholie ou le dölire
chronique du pöre, l’epilepsie de la mere et viceversa peuvent exercer
leur action directe sur le fils et d^terminer chez lui simultanement
deux nevroses similaires aux precedentes, vivant cöte k cöte, mais
sans perdre aucun de leurs attributs. Une heredit^ double donnera
ainsi lieu k un etre pathologique double, k un sujet k la fois öpileptique
et v^sanique.“
508
£. Rüdin:
Eine Zeitlang waren jedoch andere als unitarische Diagnosen ver¬
pönt. In letzter Zeit haben aber zahlreiche Autoren doch auch hier
wiederum die Erblichkeit herangezogen, um gewisse eigenartige psycho¬
tische Färbungen und Mischungen von organischen, wie funktionellen
Psychosen und Syndromen unserm Verständnis zunächst rein empi¬
risch etwas näher bringen. Ich darf erinnern an Darlegungen von
Ries, Stransky , Rehm , Krüger , ferner von Pilcz , der im Einklang mit
Anschauungen Wagner von Jaureggs schon 1901 erklärte, daß in Fami¬
lien, in welchen periodische Psychosen Vorkommen, sich die eigenartige
erblich übertragbare Disposition auch im Verlaufe solcher Geistes¬
störungen kenntlich mache, welche an sich nichts mit dem periodischen
Irresein zu tun haben (z. B. bei Hebephrenie und Amentia). Ich nenne
Bleuler , der einmal über die periodischen Fälle der Schizophrenie
sagte: ,,Diejenigen Fälle, die nach dem Schema des cyclischen Irre¬
seins oder doch mit einer gewissen regelmäßigen Periodizität verlaufen,
werden wohl zu einem großen Teil Mischformen des manisch-depressiven
Irreseins mit der Schizophrenie sein.“ Ich erinnere an die Fälle von
Kahn und Hoff mann, die darlegen, wie sich charakteristische Fär¬
bungen sowohl, als auch anscheinende Mischungen von Psychosen
und abnormen Persönlichkeitszügen von Verwandten herleiten lassen,
deren Eigenschaften auf verschiedene Erbanlagen und Erbkreise hin-
weisen; ferner sei erwähnt die neueste Arbeit von SmifA-Kopenhagen,
der bei einer Untersuchung über die Bedingungen der Entstehung
atypischer Psychosen fand, daß von Elternpaaren, bei denen manisch-
depressive und schizophrene Erbanlagen zusammen Vorkommen,
gleichzeitig rein manisch-depressive, rein schizophrene, aber auch
gemischt - zirkulär - schizophrene Kinder - Psychosen abstammen. Ich
nenne Mauz , in der Anlehnung an Kretschmer sehe Gedankengänge und
unter Berufung auf Äußerungen von Meyer (München) und Hoffmann
(Tübingen) und unter Zuhilfenahme der Erklärungsmöglichkeiten aus
der Überkreuzung mit bestimmten Körperkonstitutionen z. B. die
Paraphrenia expansiva, aber auch andere fremdartig gefärbte Schizo¬
phrenie-Bilder verstehen möchte aus der Beimischung von cyclothvm-
zirkulären Konstitutionselementen zum Schizophrenieprozeß. Ich er¬
innere wiederum an Bleuler , der erklärt, daß, wo sich die epileptischen
Anfälle dauernd dem Bilde der Dementia praecox beimischten, Mo¬
mente festzustellen waren, die auf eine Kombination mit Epilepsie
hin wiesen. Bleuler spricht auch unter Bezugnahme auf die Morawitz -
sehen Fälle, die von dieser selbst aber als Schizophrenien gedeutet
wurden, von Mischbildem der beiden Krankheiten. Ich erinnere an
Kraepelin , der in einem Falle von Schizophrenie mit sehr häufigen
und sehr regelmäßig auftretenden epileptischen Anfällen sich nicht
entschließen konnte, einen symptomatischen Charakter der Anfälle
Erblichkeit und Psychiatrie.
509
anzunehmen, sondern an eine mehr zufällige Verbindung beider Krank¬
heiten gedacht hat; ferner an Vor kastrier, der ebenfalls auf Grund
klinischer und auch hereditärer Anhaltspunkte zu der Auffassung
kommt: Es gibt Fälle, die nach dem heutigen Stande unseres Wissens
als Kombination von genuiner Epilepsie und Dementia praecox zu
deuten sind, und zwar nach Vorkastners Vermutung nicht so selten,
wie andere Autoren annehmen möchten. Ich erinnere an Ausführungen
von Saitz, Ugoletti und Krisch , welch letzterer unter bestimmten klini¬
schen Voraussetzungen ein seltenes Zusammen Vorkommen von Epilepsie
und manisch-depressivem Irresein in einem Individuum annimmt.
Freilich müsse auch der erblichen Belastung in der Beweisführung
die Hauptrolle zugewiesen werden. Dagegen seien jedenfalls die nicht so
seltenen manie- und depressions-öäniicäen Erscheinungen bei genuinen
Epileptikern meist nicht mit dem Wesen des manisch-depressiven, son¬
dern mit demjenigen des genuin-epileptischen Krankheitsprozesses
zusammenzubringen. Ich führe Hoffmann (Tübingen) an, der die Ent¬
stehung des zwangsneurotischen Syndroms durch eine Kombination
von ererbten schizothymen und cyclothymen Konstitutionselementen
für sehr wahrscheinlich hält, im Anschluß an Strohmayer aber dazu
noch ein Moment starker perverser Sexualität annimmt; sodann an
Lange (München), der in der Verwandtschaft einer eigenartig hypo-
manisch gefärbten Paranoia zirkuläre und schizoid-paranoide Züge
fand. Und ich weise auf Kleist , der nicht unähnlich Hoche u. a. der
Anschauung ist, daß einzelne krankhaft veranlagte Naturen gleich¬
zeitig hinsichtlich mehrerer seelischer Funktionen (einfach manisch,
melancholisch, zirkulär, hypochondrisch, hysterisch, psychogen, hyper-.
paranoid uiw.) abnorm veranlagt sein können. Er erklärt in einer
Schärfe, die sich wohl nur zum Teil durch künftige genealogische For¬
schung als gerechtfertigt erweisen wird, daß ,,derartige Krankheits¬
fälle am besten zeigen, wie unfruchtbar das Suchen nach bestimmten
Krankheiten auf diesem Gebiete ist* auf dem es sich immer nur um
angeborene seelische Verfassungen von größerer oder geringerer Ähn¬
lichkeit handelt, um Naturen, die bald nur auf einzelnen Gebieten des
seelischen Lebens — die reinen Fälle —, bald gleichzeitig auf mehreren
Teilgebieten der Psychose abnorm beschaffen sind — gemischte Formen.“
Und ich erinnere noch an Bumke , der sagt, daß die auf dem Boden
der Entartung erwachsenden Psychosen ,,klinisch sich häufig mischen
und verwaschen, daß Übergänge zwischen ihnen Vorkommen und
manische, melancholische, paranoische und hysterische Krankheits¬
züge bei schwer belasteten Menschen zuweilen zu Symptomenkomplexen
zusammentreten, die eine einfache schematische Diagnose schlechter¬
dings unmöglich machen“.
Schließlich wäre noch eine große dritte Übersichtsgruppe zu erwäh-
olO
E. Rttdin:
nen, welche Psychosen betrifft, die in Verbindung mit einem bestimm¬
ten, meist exogen bedingten körperlichen Krankheitsprozeß oder auf
Grund eines organischen Himprozesses entstehen und wo psychotische
Syndrome auftreten, die wiederum stark auf schon Dagewesenes bei
den Blutsverwandten hinweisen. Hier würden dann also, wie man
zu sagen pflegt, Erbanlagen sich pathoplastisch auswirken.
Einen schönen Fall hat Kraepelin vorgestellt, wo bei einer 81 jäh¬
rigen, bisher gesunden Frau, deren 2 Töchter aber klare Dementia
praecox-Fälle sind, im Anschluß an einen apoplektischen Insult ohne
typische senile oder arteriosklerotische geistige Symptome ein ein¬
wandfrei katatonisches Krankheitsbild sich entwickelte. Und Kahn
hat ein schizophrenes Zustandsbild im Laufe einer Urämie beschrie¬
ben bei einer Frau, die mit einer Schwester und Tante in eindeutiger
Weise schizophren belastet ist. Die Diagnose der Klinik hatte Urämie
gelautet.
Die chronische Alkoholhalluzinose Kraepelins erweist sich, auch abge¬
sehen vom katamnestischen Ergebnis, nach meinen genealogischen Er¬
fahrungen in zahlreichen Fällen als innerlich durchaus verwandt mit
Schizophrenien im gleichen Stamme. Ich erinnere auch an die hier
anschließenden Oräter sehen Fälle.
Nach Kleist, von dessen 11 Influenza-Psychosen übrigens bei 4 erb¬
liche Belastung und abnorme Veranlagung nachzuweisen war, erkrankten
von 2 sonst normalen Schwestern nach Influenza die eine an einem
Stupor mit Ratlosigkeit, die andere an einer erregten Verwirrtheit,
mit anschließendem Stupor.
Ich selbst verfüge über eine Beobachtung von durch Influenza
ausgelöster Depression, wohl auf der Grundlage von Störungen des
vegetativ-sympathischen Nervensystems bei einem Manne, in dessen
Familie eine Neigung zu Depressionen aus verschiedenen Anlässen
und Ursachen besteht, aber ohne. jede hysterische Komponente.
Und auch Krisch teilt die Depression einer Frau nach Grippe mit,
bei der in der Persönlichkeit selbst sonst nichts Abnormes zu finden
war, deren Mutter aber in den Wechseljahren, bei Herzschwäche und
Wassersucht, einen leichten Depressionszustand von 6 wöchiger Dauer
gehabt hatte.
Ewald berichtet über ein amentiaartiges Bild bei 2 Schwestern,
bei beiden im Anschluß an ein Wochenbett. Noch sonstige psycho¬
tische Belastung fand sich in der Familie.
Krisch erwähnt einen Fall mit hysterischen Erscheinungen zu
Beginn einer symptomatischen Psychose, die dann wegen Carcinom
zum Tode führte. Bei Vater und Mutter bestand die Neigung, auf
Schädlichkeiten mit Krämpfen zu reagieren.
Erblichkeit und Psychiatrie.
511
Riese berichtet über 2 Brüder, die beide in gleichartiger Weise
auf Influenza psychotisch reagierten und noch durch andere Ver¬
wandte belastet waren.
Plaut beschreibt einen auch durch die Sektion als solchen erwie¬
senen Paralytiker, der ein sehr typisches depressiv-paranoid-hypo¬
chondrisches Syndrom mit klaren Halluzinationen darbot, bei dessen
Vater, der nicht Paralytiker war, im höheren Lebensalter dasselbe
Syndrom in ganz auffallender Ähnlichkeit mit Ausgang in Heilung
aufgetreten war. Und analoge Fälle, aber auch mit katatonischen
Syndromen, finden sich noch mehr in meinem Paralytikermaterial.
Nach Kalb ist die Form der Paralyse überhaupt in ziemlich hohem
Maße von der Familiendisposition abhängig, nach Pemet auch von der
Anlage, welche in der prämorbiden Persönlichkeit zum Ausdruck kommt.
De Monchy hat sich für die arteriosklerotischen Psychosen die Frage
vorgelegt, woher es kommt, daß die Unterschiede zwischen den Fällen,
die jetzt durch eine Diagnose zusammengefaßt werden, so bedeutend
sind. Dabei fand er, daß für die depressive Form der pathoplastische
Einfluß, den er aus depressiver Heredität und Individualveranlagung
schließt, ein großer ist. Auch bei den manischen Formen besteht nach
ihm ein solcher Zusammenhang.
In Betracht kommen hier auch die bekannten Feststellungen von
Seelert, der lebhaft für die starke pathogenetische und pathoplastische
Wirkung sogenannter endogener Krankheitsfaktoren auf organische
Psychosen oder auf Psychosen mit exogenem Krankheitsfaktor ein-
tritt. So entstehen dann jene eigenartigen, namentlich im Anfang
manisch, depressiv, paranoid, hypoparanoisch, zwangsneurotisch, pseu-
dolog, psychogen, hysterisch gefärbten Bilder auf involutiver, arterio¬
sklerotischer, seniler, himluetischer, paralytischer usw. Grundlage mit
allen möglichen Übergängen, die so schwer oder gar nicht in dem land¬
läufigen Einteilungsschema unterzubringen, d. h. nosologisch unita¬
risch aufzufassen und zu umgrenzen sind.
Bei den Psychosen, welche der Zeit nach im senilen Alter auftreten
und neben gewöhnlichen senilen eigenartige paranoide Züge tragen,
hat auch Schwarz (Bayreuth) (noch nicht veröffentlicht) vorläufig
gefunden, daß das Auffallendste das Vorkommen der gleichartigen
oder einer anderen paranoiden Psychose resp. Psychopathie bei Ge¬
schwistern war.
Auch andere Autoren ( Pilcz , Hoppe, Saitz , Taubert , Neisser , Krae-
pelin u. a.) sind der Meinung, daß organische Himerkrankungen aller
Art als auslösende Momente für erblich vorgebildete Symptomen-
komplexe dienen können«
Und auch nach Bonhoeffer, dessen sonstige Anschauungen über
den exogen psychischen Reaktionstypus ja bekannt sind, beeinflussen
512
E. Rüdin:
allenthalben individuelle endogene Faktoren erblicher und nicht-
erblicher Art die Symptomengruppierungen, das Krankheitsbild und
den Verlauf.
Übrigens ist auch für die exogenen Reaktionstypen, die nach Specht
aber nur mit der Intensität des Krankheitsprozesses Zusammenhängen,
eine erbliche Grundlage nicht so selten aufzudecken. Ebensowenig,
wie wir bestreiten dürfen, daß vorwiegend endogen-erblich bedingte
Krankheiten gelegentlich durch äußere Faktoren ausgelöst zu werden
vermögen, ebensowenig dürfen wir dem Dogma huldigen, daß vor¬
wiegend exogen erzeugte Krankheiten mit exogen psychischem Reak¬
tionstypus ihre Syndrome aus dem Nichts schöpfen, oder besser aus¬
gedrückt aus präformierten Mechanismen, die allen Menschen in gleicher
Weise und im gleichen Grade innewohnen. Im Gegenteil, auch hier
ist verschiedene erbliche Veranlagung sicherlich vielfach entscheidend.
Freilich spielt bei manchen der bisher genannten Autoren zum Teil
die Individualkonstitution als Indikator einer eventuellen erblichen
Veranlagung bei der Erklärung der endogenen Beimischung noch eine
Hauptrolle. Das ist ja auch begreiflich, da sie dem Kliniker vielfach
zugänglicher ist, als der genealogische Indikator. Auf letzteren wird
also durchgängig auch bei den sogenannten symptomatischen oder
sonst exogen mitbedingten Krankheiten noch mehr als bisher zu achten
sein. Die erbliche Veranlagung eines Menschen wird vielfach voll¬
kommener aus Vorkommnissen in der Familie, als aus seiner eigenen
prämorbiden Persönlichkeit heraus beleuchtet werden können. In
vielen der genannten Fälle, wo bekannte körperliche Krankheits¬
prozesse oder organische Gehirnprozesse Vorlagen, würde man jeden¬
falls die dabei aufgetretenen Psychosebilder ohne Zuhilfenahme der
nachgewiesenen Erbanlagen nie haben begreifen können.
So groß das klinisch-genealogische Material der Autoren also ist,
welches diagnostische Verwendung finden kann, so möchte ich doch
vorläufig, soweit die Färbungen und Mischungen in Betracht kommen,
noch von größtenteils nicht systematisch gesammelten und nicht
genügend ursächlich miteinander verbundenen Tatsachen sprechen.
Dieser Fehler, der fast in jeder bloßen Kasuistik liegt, muß also durch
methodische Familienforschung noch beseitigt werden. Nur sie wird
den Widerspruch verstummen machen, der mit Recht bei manchen
Autoren gegen voreilige Erberklärungen laut geworden ist, so daß
das Wort Erbmythologie gefallen ist. In der Tat müssen wir uns hüten,
aus einzelnen ausgelesenen Fällen, wo die synthetische oder analytische
Erbdeutung nach Stammbaumlage zu stimmen scheint, weitgehende
Schlüsse auf alle klinisch ähnlichen Psychosefärbungen oder -mischungen
überhaupt zu ziehen. Ehe diese Dinge nicht an unausgelesenem Material
untersucht sind, werden sich die Gelehrten kaum einigen.
Erblichkeit und Psychiatrie.
513
Das wissenschaftliche Ziel ist die Lösung der Fragen mit Bezug
auf folgende Möglichkeiten:
Es können in irgendein Krankheitsbild die Wirkungen allgemein
menschlicher, d. h. wohl in jedem Menschen erblich vorgebildeter
Mechanismen hineinverwoben sein. Da sie ubiquitär sind, werden
sie nicht besonderen, herausstellbaren Erbgesetzen gehorchen.
Es können aber in ein Krankheitsbild auch die Wirkungen speziell
erblich vorgebildeter Mechanismen hineinspielen, welche nur für ein¬
zelne Menschen und Familien spezifisch sind und welche daher beson¬
deren Erbmodalitäten folgen werden.
Nach diesen beiden Möglichkeiten wären die Symptome in den
Krankheitsbildem in zwei Reihen zu trennen, in eine speziell erbliche
und eine allgemein erbliche.
Wir wissen, daß Gifte, z. B. Alkohol, bei ziemlich allen Menschen
gewisse gleiche Wirkungen ausüben, die mehr für das Gift und alle
Menschen, als für einen Einzelmenschen charakteristisch sind. Und
umgekehrt üben die Gifte Wirkungen aus, die mehr für einen Einzel-
menschen und seine spezifisch vorgebildeten Erbanlagen charakte¬
ristisch sind. Beim Alkohol machen z. B. die pathologischen Rausch¬
zustände dies klar.
Ähnliche Wirkungen müssen wir für alle Noxen unterscheiden,
ob sie von außen oder von anderen Körperorganen her auf die vorge¬
bildeten psychischen und psycho-physischen Mechanismen einwirken.
Das ist theoretisch wohl klar.
Allein wie steht es in speziellen Fällen? Bei der Encephalitis epi¬
demica fand z. B. Mäkelä für die manieartigen Zustände, die er häufig
im Beginn dieser Krankheit antraf, keine Anhaltspunkte in der Erb-
lage. Wird das die spätere Forschung bestätigen ? Man müßte dann
an spezifische Wirkungen der Noxe denken, nicht an Auswirkungen
spezifischer Erbanlagen, z. B. manisch-depressiver. Und wie ist es
mit anderen fremdartigen „endogen“ erscheinenden Beimischungen bei
dieser Krankheit, z. B. bei den eigenartigen Hemmungslosigkeiten bei
manchen encephalitischen Kindern, bei denen z. B. Bonhoeffer keine
spezifische Erbauslösung annehmen möchte. Welcher richtige Kern
aber liegt in der gegenteiligen Behauptung mancher französischer und
anderer Autoren, wonach eine spezifische Erbanlage bestimmend ist
für das Auftreten schizophrener und manisch-depressiver Psychose¬
bilder bei Encephalitis epidemica ? Liegt hier nicht ein Mißverständnis
vor, das eben nur an Hand einer großen Zahl exakt bearbeiteter Stamm¬
bäume beseitigt werden könnte?
Natürlich darf mit dieser Frage nicht die andere vermengt werden,
ob die Tatsache, daß z. B. das encephalitische Virus überhaupt Macht
auf einen Menschen gewinnen kann, nicht doch auf einer gewissen
514
E. Rtldin:
erbkonstitutionellen Veranlagung beruht, wofür die Ansichten mancher
Autoren durchaus sprechen (z. B. Mäkelä, Becker , ViUinger).
Und wie steht es mit der Erklärung des Umstandes, daß sich über¬
haupt im Anfang der verschiedensten Krankheiten häufig manie- und
depressionsartige Bilder finden ? Z. B. depressive im Beginn der
Influenza-Psychosen, bei der Schizophrenie, Paralyse usw. In welchem
Umfange trifft in solchen Fällen die Erklärung Ewalds zu, ,,daß die
das Affektleben vermittelnden Himsubstrate am leichtesten aus dem
Gleichgewicht zu bringen sind“ und sich daher zuerst zeigen, bis die
Krankheit so schwer wird, daß diese Affektstörungen von anderen
Symptomen verdrängt oder überlagert werden? In welchem Umfange
liegt also auch hier eine Reaktion einer spezifischen Noxe auf allge¬
mein vorgebildete Mechanismen vor? In welchem Umfange ist eine
Gewebsaffinität und Lokalisationsvorliebe, die Intensität und Exten¬
sität der Noxe in Beziehung zu den mannigfaltigen Symptomen zu
bringen? Und inwieweit ist diese Reaktionsweise wieder auf eine
Hervorholung allgemein vorgebildeter Mechanismen zu beziehen ? Was
vermögen überhaupt die verschiedenen Krankheitsprozesse, der para¬
lytische, arteriosklerotische, senile, hirnluetische, teratologische als
solche , was bewirken die Infektionskrankheiten, die Kopftraumen als
solche ? Was vermögen Pubertät und Involution, überhaupt die Alters¬
stufen, die endokrinen Vorgänge und Störungen als solche aus allge¬
mein vorgebildeten Mechanismen herauszuholen und in welchem Um¬
fange und unter welchen Umständen bringen sie auch spezifisch erblich
vorgebildete Mechanismen ans Tageslicht?
Gerade die Erblichkeitsforschung ist meiner Ansicht nach berufen
und interessiert, per exclusionem den Umfang der zwei verschiedenen
Reihen abzustecken. Denn sie hat kein Interesse daran, das Erklärungs¬
prinzip der Erblichkeit durch dessen Überspannung in Mißkredit zu
bringen.
Sache der Kliniker, Anatomen usw. ist es dann, innerhalb der
ubiquitären Reihe nach der Erkennung von Gesetzmäßigkeiten zu
streben.
Nim noch die Auslösung spezifisch erblicher Mechanismen. Hier
interessiert uns in erster Linie, um zunächst in Stich Worten zu reden,
die Frage, ob es sich bei einer erblichen Geistesstörung um eine Krank¬
heit oder ein Syndrom handelt, um einen selbständigen Krankheits¬
prozeß oder lediglich um eine syndromale Färbung, um pathogenetische
oder lediglich pathoplastische Auswirkungen von Erbanlagen.
Bei der Vererbung handelt es sich immer nur um Vererbung von
Anlagen zu bestimmten Reaktionsweisen. Deshalb ist in der Regel
bei erbbiologischen Zusammenhängen kein grundsätzlicher Unter¬
schied zwischen Krankheit, Syndrom und Symptom anzuerkennen.
Erblichkeit und Psychiatrie.
515
Auch jede Krankheit kann gelegentlich als Syndrom, jedes Symptom
als Syndrom aufgefaßt werden. Doch möchte ich, um verstanden zu
werden, wieder Beispiele nennen.
Die Huntingtonsche Krankheit, die amaurotische Idiotie, die
Pelizäus Merzbachersche Krankheit, die Myoklonus-Epilepsie, die here¬
ditäre Ataxie sind Störungen, die man allgemein als Krankheiten, als
Krankheitsprozesse bezeichnet. Es sind unteilbare Syndrome mit den
vielfältigen Merkmalen, die Sie kennen und die sich, freilich mit Modi¬
fikationen, die wohl von Lokalisations- oder Intensitätsverschieden¬
heiten abhängen, mit großer Konservativität und Regelmäßigkeit nach
Mendelschen Modalitäten vererben.
Nun wissen Sie ja, daß ich vermute, und ich bin darin nicht
allein, daß auch in dem, was wir heute Schizophrenie, manisch-depres¬
sives Irresein, genuine Epilepsie usw. nennen, je ein gemeinsamer
biologischer Kern enthalten ist, den wir mit der Zeit ebenfalls als
unteilbare Erbkrankheit herauszuschälen lernen werden. Die Erkennung
der erblichen Syndrome auch bei Schizophrenie und manisch-depres¬
sivem Irresein und die Auffindung des spezifischen Erbganges der
Anlagen zu diesen Syndromen ist meiner festen Überzeugung nach nur
eine Frage der Zeit.
Wie steht es nun aber bei jener Greisin, bei der durch eine arterio¬
sklerotische Apoplexie eine schöne katatonische Erregung ausgelöst
wurde, wie bei jenem Paralytiker, der zu Beginn das heilbare depressiv¬
hypochondrisch-halluzinatorische Syndrom seines Vaters kopiert hat usw.
Um es kurz zu sagen: Wir können hier die Frage, ob Erbkrankheit
im Sinne der erstgenannten Erbkrankheiten oder ob lediglich Patho-
plastik, Färbung vorliegt, nicht durch bloßes Nachdenken beant¬
worten, sondern durch systematische induktive Arbeit. Erst genügende
Induktion, dann erst Deduktion. Dann erst wird der Glaube der Sicher¬
heit weichen. Und der Grad der Sicherheit wird sich in der Haupt¬
sache bemessen nach dem durch Forschung ermittelten Erbwert der
in solchen Kranken schlummernden fraglichen Veranlagung. Und der
Erb wert kann, genau so wie ursprünglich, bei den erstgenannten Erb¬
krankheiten, weder aus einem Einzelfall, noch aus vereinzelten erb¬
lichen Belastungsmomenten, sondern nur durch die Zusammenlegung
und Vergleichung möglichst vieler geeigneter Fälle und Familien
bestimmt werden.
Dasselbe gilt für die Frage der Mischung oder Kombination, welche
ja mit der Frage der bloßen Färbung in lebhafte Konkurrenz tritt.
Im Minkowskasehen Falle, wie in den Fällen von Kahn z. B. war ja
die Fragestellung, ob die beobachteten „Mischformen“ aus getrennt auf-
tretenden Einzelstörungen bei Verwandten zu erklären seien, durchaus
angezeigt. Aber wie verschieden fielen die Antworten auf Grund der
516
E. Rüdin:
genealogischen Induktion aus! Und diese positiven Antworten sind uns
wertvoll, weil sie zu weiteren exakten Untersuchungen herausfordem.
Jedenfalls müssen wir auch hier von der ad hoc ausgelesenen
Kasuistik loskommen. Wir dürfen nicht einzelne interessante Falle
nach dem Zufall an uns herantreten lassen, sondern wir müssen zu
den Fällen hingehen, sie zu Gruppierungen zusammensuchen in einer
Weise, daß ein wissenschaftlich allgemeingültiges Ergebnis gewähr¬
leistet wird, d. h. so, daß damit wirklich ein bestimmter vermuteter
Zusammenhang bewiesen oder aber widerlegt wird.
Auch um die Erbbeständigkeit gewisser Bilder, die uns als Kom¬
bination erscheinen, zu beweisen, oder zu widerlegen, sehe ich keinen
anderen Weg als den systematisch genealogischen, der uns allein zu
einer gesetzmäßigen Erfassung der konservativen Übertragung gewisser
Syndrome oder aber ihrer Spaltung und Synthese oder ihrer gegen¬
seitigen Verdrängung (Dominanz und Epistase) führen kann.
An und für sich besagt ja das Mendelsche Gesetz in seiner aller-
abstraktesten Form nur, daß die auf Erbeinheiten beruhenden ein¬
fachen und komplizierten Reaktionsweisen sich in der mannigfachsten
Art im Erbgang kombinieren und wieder trennen können. Es wäre
aber verfehlt, ein Ignorabimus abzuleiten, weil rein theoretisch an
einem Pole dieser Möglichkeiten ein gewisses Chaos liegt, das wir
gewiß nicht leicht nehmen dürfen. Denn in Wirklichkeit gibt es eben
doch Momente, wie das Spaltungs-, das Prävalenz-, das Epistase-,
das Koppelungsprinzip usw., welche das Chaos verhindern und uns
Gesetzmäßigkeiten zeigen. In welchem gesetzmäßigen Ausmaße Syn¬
these und Analyse der Erbeinheiten aber vor sich gehen, kann uns
auch in Zukunft nur die möglichst vollkommene, durch verständige
Theorien und Hypothesen geleitete Induktion lehren.
Wir dürfen nicht vergessen, welche ungeheuere Induktion gegen
die Spekulation aufgeboten werden mußte, bis wir in der klinischen
Psychiatrie so weit kamen, wie wir heute sind. Wie weit würden wir
kommen, wenn wir auch nur einen Teil dieser großen Mühe auf die
Erforschung der Erbzusammenhänge aufwendeten!
Hiermit komme ich auf die Mendelistischen Bestrebungen in der
Psychiatrie überhaupt zu sprechen, allerdings infolge der Kürze der
Zeit nur in eklektischer Weise. Ich kann dies aber um so eher, als
uns ja Kollege Boven klar und systematisch die Mendel -Lehre aus-
einandergesetzt hat.
Man hat ( Hildebrand , Berze) beanstanden zu müssen geglaubt, daß
das Ideal der Verwissenschaftlichung eines Gebietes seine Durch¬
dringung mit ziffernmäßiger Exaktheit und dadurch seine Entrückung
aus dem Bereich subjektiver Willkür sein müsse. Ich spreche aber
Erblichkeit und Psychiatrie.
517
ausdrücklich von einer Aspiration nach dieser Richtung für die Natur¬
wissenschaften. Daß wir auf unserem Gebiete die wünschenswerte
Exaktheit schon besitzen, wird niemand behaupten wollen, am wenigsten
ich selbst. Und wenn wir Halluzinationen oder andere psychische
Phänomene mathematisch nicht exakt zu fassen vermögen, was nie¬
mand behaupten wird, so soll uns das nicht hindern, Exaktheit wenig¬
stens in den Punkten anzustreben, wo dies möglich ist. Eine Verstän¬
digung über diese Punkte dürfte auch mit Untersuchen!, die nicht
erbbiologisch eingestellt sind, sich schließlich erreichen lassen.
Freilich nur keine Pseudo-Exaktheit. So ist es ein Irrtum, anzu¬
nehmen, daß keine Mendelsche Vererbung in Betracht komme, wenn
man ein Merkmal zunächst nicht in Mendelschen Proportionen auf-
treten zu sehen vermag. Es ist aber auch umgekehrt ein Irrtum, zu
meinen, daß scheinbar klare Mendelsche Proportionen nun ohne weitere
Kritik und ohne weitere verifizierende Untersuchungen schon als er¬
wiesen hingenommen werden müssen. So einfach liegen denn die Dinge
doch nicht. In Wirklichkeit bedarf es zahlreicher Kontrollversuche
auf Grand immer wieder neuer Zusammenstellungen des Materials.
Das gilt auch für die Dementia praecox, für deren exakt erbbiolo¬
gische Bearbeitung bis jetzt die phänologischen Grundlagen noch zu
sehr schwankten. Wenn ein Forscher z. B. mit dem Schizoid als etwas
gut Brauchbarem arbeiten zu können vermeint, ein anderer aber, wie
Prof. Bumke , z. B. Kretschmers Schizoid eine ,,künstliche Konstruk¬
tion“ nennt, so muß das die Schwierigkeiten für den Erbbiologen ver¬
mehren. Auch unter dem Streit der Kliniker über den Umfang des
Begriffes Schizophrenie, ferner darüber, ob die Schizophrenie etwas
Neues darstelle gegenüber dem Schizoid, oder ob beide sich nur grad¬
weise unterscheiden usw. leidet der Genealoge. So kommt es denn,
daß derselbe Erbbiologie von dem einen Kliniker getadelt wird, er
fasse den Dementia praecox-Begriff zu eng, vom andern aber gerade
deshalb gelobt wird, weil er ihn nicht zu weit gefaßt habe. Am besten
wird man also die Zusammenstellungen unter allen abweichenden
Gesichtspunkten der Kliniker vornehmen, um so zu sehen, welcher
davon der Wahrheit am nächsten kommt.
Es ist jedenfalls einseitig, zu sagen, der Kernpunkt des Vererbungs¬
problems liege nicht in den ausgesprochenen Psychosen, sondern in den
sog. Zwischentypen. Vielmehr wissen wir meist noch nicht, wo der
Kernpunkt liegt. Daß bisher die ausgesprochenen Psychosen vornehmlich
als Untersuchungsobjekt dienten, hat den plausiblen Grund darin, daß
man in diesen klobigen Phänomenen doch weit weniger kontroverse
Typen vor sich hatte als bisher in den Zwischenstufen, die bekanntlich
auch heute noch in der Kretschmersehen Ära in der Abgrenzung sehr
viel größere Schwierigkeiten bereiten als die Psychosen.
518
E. Rttdin:
Bleuler hat meine Schizophreniearbeit als eine vernünftige, für
weitere Kreise benutzbare Grundlage bezeichnet und erklärt, daß man
zur Erreichung des Zieles jetzt mit der Fragestellung beginnen könne.
Seine und andere Fragen erkenne ich in vollem Maße als notwendig
an. Allein nun gilt es weniger mehr die vielen berechtigten Fragen zu
stellen, als die klinischen und genealogischen Materialien auf eine
solche Weise zu erheben und zusammenzuordnen und immer wieder
entsprechend neu zu erheben und zusammenzuordnen, daß brauchbare
Antworten auf die Fragen erzielt werden. Und in dem Punkte ist zu
sagen, daß noch nicht alles geschieht, was geschehen könnte, wenn
auch manchenorts ruhig auf den bis jetzt erlangten Grundlagen weiter¬
zubauen versucht wird.
Bei der Schizophrenie z. B. steht in Wirklichkeit erst fest, daß
sie auf erblicher Anlage beruht. Es steht ferner fest, daß sie als solche
nicht glatt einfach dominant und nicht glatt einfach recessiv geht.
Was mehr behauptet wird, stützt sich auf Hypothesen, die zw'ar vieles,
aber noch nicht alles erklären. Sie sind wertvoll, ja notwendig als
Arbeitshypothesen, bis sie. durch immer weiter fortgeführte neue
Untersuchungsserien gestürzt oder endgültig als alleinherrschend, weil
nunmehr alles erklärend, bestätigt werden. Die einen Autoren nehmen
eine recessive Dimerie in weiterem Sinne an, wie ich es selbst bisher
getan habe, die anderen einen dominanten und einen recessiven Faktor.
Ich erinnere an die letzten Ausführungen von Lenz, der auf diese Weise
meine Auffassungen und diejenigen von Hoff mann und Kahn in Har¬
monie bringen will. Wieder andere denken an einfache Dominanz
oder an Recessivität, aber mit Manifestationsschwankungen infolge
Beeinflussung durch andere genische oder Außenfaktoren. Viele denken
daran, daß das, was der Kliniker Schizophrenie nennt, genisch über¬
haupt nichts Einheitliches sei usw. Ich sehe, um diese Meinungen
miteinander zu versöhnen, auch hier keinen anderen Weg als neue
genealogische Gruppierungen. Es muß sich ja durch umfassende Zu¬
sammenstellung identischer Erblagen unbedingt mit der Zeit ergeben,
wie groß die Erbkraft der verschiedenen Schizoiden und Schizophrenien,
mit und ohne Abhängigkeit von Außenfaktoren, ist, wie sich die domi¬
nanten zu den recessiven Momenten verhalten, und wie ferner der
genotypische Gehalt anderer Psychosen oder verschiedener Psycho¬
pathien in den betreffenden Sippen demjenigen der Schizophrenien
gleichkommt.
Es ist richtig, daß die Anstaltsprobanden in gewissem Umfange
eine Auslese nach sozialer Unmöglichkeit darstellen. Allein das ist
dann doch bei deren Verwandten nicht oder nur zu einem kleineren
Teile der Fall. Wenn wir uns nicht darauf beschränken, Schlüsse aus
Internierten zu ziehen, sondern wenn wir auch die Verwandten unter-
Erblichkeit und Psychiatrie.
519
suchen lind in Rechnung stellen, so ist alles geschehen, um die abnormen
Typen in der Verwandtschaft zu erfassen. Ob ein unerreichbarer Rest
so groß sein wird, daß er alle sicheren Schlüsse vereitelt, bleibt abzu¬
warten. Ich glaube es nicht, wenn man den Dingen durch ernste Unter¬
suchungen wirklich zu Leibe geht.
Wenn Bleuler also den richtigen Satz aufstellt, daß die soziale
Untüchtigkeit kein Kriterium für die biologische Grenze einer Krank¬
heit ist, so anerkennt er damit die gerade auch vom Genealogen immer
wieder betonte große Wichtigkeit der Psychiatria extra muros, die wir
eben zur Familienforschung im besten Sinne zählen, und durch die
erreicht wird, daß Typen festgestellt werden, die dem Anstaltspsychiater
als solchem niemals zugeführt werden. Daß womöglich alle Typen zu
Probanden benutzt und in ihren genealogischen Beziehungen deter¬
miniert werden, ist ja doch das innigste Bestreben des Familienforschers.
Wenn wir durch Familienforschung feststellen, was in den einzelnen,
jetzt noch zum Teil kontroversen Phänotypen Genotypisches steckt,
auch in unrubrizierbaren unklaren Probanden usw. und das Ergebnis
mit den an sicheren Typen gewonnenen genealogischen Befunden
vergleichen, dann werden wir weiterkommen.
Fassen wir aber von vornherein in unserm Pro bandenmaterial Aus¬
gangskranke von kontroversem und nichtkontroversem und also mög¬
licherweise doch heterogenem Gepräge zusammen, so werden wir nie¬
mals deutbare Ergebnisse erhalten. Der einzige Weg bleibt, verschie¬
dene homogene Ausgangsgruppen einander gegenüber zu stellen und
deren genealogische Ergebnisse miteinander zu vergleichen.
Ein Autor (Berze) meint, man dürfe sporadische Fälle von Psychosen,
wenn sie keine erbliche Belastung zu zeigen scheinen, nicht ohne wei¬
teres als erblich annehmen, nur deshalb, weil sie klinisch identisch mit
Fällen seien, bei denen eine erbliche Belastung nachzuweisen sei. Das
ist theoretisch richtig. Aber praktisch wird man diese Annahme nur
mit Behutsamkeit machen dürfen, um sicher zu gehen, daß Erblichkeit
faktisch fehlt.
Die Frage des Umfanges des Begriffes Schizophrenie im geno¬
typischen Sinne wird sich schwerlich durch Kritik und Diskussion
beantworten lassen, wohl aber durch neue Untersuchungen. Das kann
aber erst dann einen Erfolg haben, wenn man die weniger klobigen
Schizophrenievarianten und gewisse Schizoidien klinisch einigermaßen
so zu definieren vermag, daß ihre Definition bei verschiedenen genealo¬
gischen Bearbeitern bekannt und handlich und einigermaßen über¬
einstimmend ist.
Unklare Diagnosen ohne weiteres der Schizophrenie zuzuzählen,
dazu kann ich mich nicht entschließen. Es ist mir nicht zweifelhaft,
daß man mir das sehr übelgenommen haben würde, wenn ich es getan
Z. f. d. g. Neur. u. Piych. XCHL 34
520
E. Rildin:
hätte. Aber nach gewissenhafter getrennter Beschreibung und Taxie¬
rung kann man ja solche und ähnliche Einverleibungen immerhin ver¬
suchen. Sie können ja jederzeit wieder rückgängig gemacht werden,
wenn das Urmaterial spezifiziert bleibt.
Ich habe in meiner früheren Dementia-praecox-Arbeit gezeigt, wie
man durch statistische Gruppenbildung gewissen Problemen näher¬
kommen kann. Nur dürfen die einzelnen Gruppen nicht zu klein wer¬
den. Wir brauchen also immer noch mehr Material, das uns ja gerade
die Schizophrenie in unbegrenzter Fülle zu liefern vermag.
Es ist klar, daß wir, wie bei der Hysterie, auch bei den Schizo¬
phrenien, wenn auch in geringerem Maße, die Möglichkeit in Betracht
ziehen müssen, daß die Schizophrenieanlage sich nur entwickelt,
wenn gewisse innere oder äußere Umstände ihrer Entwicklung günstig
sind. Die Schwierigkeit liegt aber hier auch wieder nicht darin, diese
theoretischen Möglichkeiten zu postulieren, sondern das Material so
zu sammeln und zu gruppieren, daß der Umfang dieser Auslösung nach
Qualität und Quantität der auslösenden Einflüsse erfaßt wird.
Bleuler hat ganz recht, wenn er die genaue Durchforschung aller
verwandten Einzelglieder in allen psychischen Eigentümlichkeiten
fordert. Allerdings dürfen nicht wahllos alle Familien durchforscht
werden, die man unter die Augen bekommt. Denn dann bekommt
man gewöhnlich gerade erst recht, wenn auch unbeabsichtigt, eine
einseitige Auslese oder ein Sammelsurium, mit dem nichts anzufangen
ist. Vielmehr sind möglichst viele einheitlich erscheinenden Phäno¬
typen zusammenzuordnen. Mit Recht sagt Bleuler , daß solche Studien
nach bestimmtem Plan von einem einheitlichen Institut geleitet wer¬
den sollten.
Freilich tut man gut, zunächst einmal in der verwandtschaftlichen
Nähe der bisher festgestellten markanten klinischen Typen zu bleiben.
Denn man muß sich mit Recht fragen: Wären wir, wenn wir das nicht
getan hätten, zur Erkenntnis des genauen Erbganges z. B. der Hun-
tingtonschen Chorea und der Myoklonusepilepsie so schnell gekommen ?
Sollte aber das Vorgehen für die Hauptdiagnosen wirklich so grund¬
verschieden sein von dem, wie es uns für manche anderen Krankheiten
schon zum Ziele geführt hat, indem wir von diesen selbst und ihren
verwandten Sippen ausgingen?
Wie bei der Schizophrenie, so werden in irgendeiner Weise Erb¬
faktoren auch in der idiotypischen Epilepsie, im zirkulären Formen¬
kreise, in der hysterischen Reaktionsweise, bei den Imbezillitäten eine
Rolle spielen. Es soll auch hier mit Plan der Erbwert der einzelnen
Phänotypen, aller verschiedenen Psychosen, auch der bisher nicht als
erblich geltenden und aller verschiedenen psychopathischen Zwischen¬
stufen systematisch erforscht werden. Und zwar mit Untersuchungen
Erblichkeit und Psychiatrie.
521
der Aszendenz und Deszendenz und nach den Seitenlinien hin, mit der
Weinberg sehen Berechnungsart und mit den Korrelationsmethoden usw.
Im manisch-depressiven Irresein scheint nach bisheriger Forschung
das dominante Element doch stärker vertreten zu sein als bei der
Vererbung der Dementia praecox. Bei einem Kern der genuinen
Epilepsie scheinen ähnliche Verhältnisse zu bestehen wie bei der Demen¬
tia praecox. Doch bedarf es hier überall noch ausgedehnter ergänzender
Originaluntersuchungen. Dasselbe gilt für die Imbezillitäten und für
die hysterische Reaktionsweise.
Auch hier werden die Rechnungen nicht auf Anhieb glatt auf¬
gehen. Auch hier werden wir immer wieder durch neue Untersuchungs¬
serien festzustellen versuchen müssen, in welchem Falle und warum
die Rechnung nicht glatt aufgeht. Die kritischen Ausführungen, die
auch zu Veröffentlichungen auf diesen Gebieten gemacht worden sind,
möchte ich als selbstverständliche Voraussetzung jeden erbbiologischen
Arbeitens auf psychiatrischem Gebiete bezeichnen, als Haupt aufgabe
aber die Bearbeitung all der durch die Kritik auftauchenden Fragen
an geeignetem Material selbst.
Ich möchte aber im Zusammenhänge mit der Aspiration nach
Exaktheit noch ausdrücklich betonen, daß uns jede, auch nicht mende-
listische Ziffer aus großem und gut beobachtetem Material recht sein
muß, wenn sie eben nur zuverlässig ist. Ich habe auch in meinem
Wiener und Münchener Referat betont, daß nur auf diesem Wege uns
die verschiedenen Gradabstufungen der Erblichkeitsintensität erschlossen
werden können, die z. B. möglicherweise bei den verschiedenen Formen
der Epilepsie maßgebend sind, und deren Feststellung als Vorarbeit
zu späterer mendelistischer Erklärung von Bedeutung sein kann.
Aus dem Zusammenwirken von Erbfaktoren und auslösenden
Umständen können sich exakte Ziffern ergeben, die mendelistisch
zunächst nicht analysierbar sind. Gelegentlich wird man in solchen
Fällen, nach vielen Kontroll- und Kontrastuntersuchungen doch zu
mendelistischen Auflösungen gelangen. Es mögen aber immerhin Fälle
übrig bleiben, deren exakte erbmäßige Analyse uns versagt bleibt.
Ich möchte insbesondere noch darauf hinweisen, daß auch die
Diem-Koller sehe Belastungsberechnungsmethode sehr wohl zu einer
brauchbaren Korrelationsmethode umgearbeitet werden könnte. Sie
vermöchte auch vom wissenschaftlich forschenden Praktiker ange¬
wendet zu werden.
Die Korrelationsmethoden beleuchten freilich nicht allein Erb -
Zusammenhänge , und sie führen natürlich nicht direkt zur Erkennung
von Erbgesetzmäßigkeiten im Mendelschen Sinne, sondern sie können
nur wichtige Fingerzeige geben, welche Belastungsmomente erblich zu
deuten sein dürften und ungefähr, wie stark ihr Erbwert ist.
34*
522
E. Rüdin:
Wir dürfen nicht ungeduldig werden und nicht Unmögliches ver¬
langen. Immer wieder, bei der Kritik psychiatrischer Erblichkeits¬
studien begegnen wir der Frage nach dem, was sich wirklich vererbt.
Dieser Frage haben wir vorläufig nur die Antwort entgegenzustellen:
Das suchen wir ja gerade. Der eine mag dieses als wirklich Vererb¬
bares halten, der andere jenes. In absehbarer Zeit müssen wir uns
also mit Versuchen auf Grund der verschiedenen Vermutungen durch¬
helfen.
Es ist ferner ein Irrtum, zu meinen, daß die Entwicklung einer
Erbanlage von der Umwelt unabhängig sei oder gar diese Meinung den
Erblichkeitsforschem unterzuschieben. Denn bei der Vererbung handelt
es sich, wie schon gesagt, ja überhaupt um die Vererbung von Anlagen
zu Reaktionsweisen, nicht von starren Eigenschaften. Es ist also nicht
verwunderlich, wenn wir selbst bei zweifellos vererbbaren Merkmalen
die Mendelschen Proportionen von der Natur nicht immer auf dem
Präsentierteller hingelegt bekommen. Die Kunst muß eben sein, auch
die auslösenden Momente qualitativ und quantitativ zu erfassen, aber
nicht bloß vulgär-wissenschaftlich, sondern mit möglichst genauer
statistischer Präzision. Ebenso und aus dem gleichen Grunde ist es
auch ein, übrigens viel verbreiteter Irrtum, zu meinen, daß erbliche
Krankheiten oder Syndrome durch Therapie nicht beeinflußt werden
könnten. Denn ebenso wie Erbanlagen in ihrer Entwicklung durch
Außenfaktoren gefördert, so können sie auch durch solche gehemmt
werden. Das beruht alles eben darauf, daß Reaktionsweisen vererbt
werden.
Es besteht kein Gegensatz zwischen der sogenannten statistischen
Mendel-Forschung und der Einzelstammbaumforschung, kein Gegen¬
satz zwischen Massenstatistik und genauer Durchforschung von Einzel¬
familien. Will man zu wirklichen allgemein bindenden Schlüssen
gelangen, so ist beides, gutes und reichliches Material notwendig. Daß
praktisch oft das eine unter dem anderen leidet, liegt in der Natur der
Sache. Aber jedenfalls kann sich der Mendel-Forscher nichts Besseres
wünschen als möglichst viele gut durchgearbeitete große Einzelfamilien.
Es besteht auch kein Gegensatz zwischen der psychiatrischen
Mendel-Forschung und der Erforschung der Zusammenhänge zwischen
Körperbau und Anlagen zu Psychosen. Im Gegenteil. Je mehr exakte
äußere Kriterien wir für die verschiedenen latenten Anlagen zu Psychose
gewinnen können, um so besser werden wir diese Anlagen im Erb¬
gange verfolgen können. Es besteht auch kein Gegensatz zwischen
der „vergleichend konstitutionellen Betrachtungsweise“ und der
„starren Kombinationsrechnung“. Die erstere muß nur gründlich und
umfassend vorangegangen sein, damit dann die zweite versucht wer¬
den kann.
Erblichkeit und Psychiatrie.
523
Gewarnt muß davor werden, anzunehmen, daß auf unserm Gebiet
nur der monomere Erbgang in Betracht komme, weil behauptet wird,
pathologische Merkmale vererbten sich in der Regel nicht polymer.
Wir können überhaupt nicht genug vor zu üppigem Deduzieren in
einer jungen Wissenschaft warnen, bevor noch eine ausreichende in¬
duktive Forschung vorliegt. Ich fürchte fast, daß bei der obigen
Behauptung stark ein Auslesemoment mitspielt, das darin besteht,
daß monomere Erbgänge uns häufiger zur Kenntnis kommen, weil
sie eben leichter aufgedeckt werden können, ja zum Teil auf der
Hand liegen.
Das Problem der Neuentstehung oder imitativen Entstehung von Erb¬
anlagen ist eine Frage für sich. Ich kann da nur ganz allgemein wieder¬
holen, was ich schon oft betont habe. Sie ist theoretisch selbstverständ¬
lich möglich. Ja wir müssen sie sogar annehmen. Der Nachweis aber
ist beim Menschen außerordentlich schwierig. Hanhart hat uns jüngst
davon ein Beispiel gegeben. Bisher ist aber der Beweis für keine
menschliche Erbanlage in dem Sinne gelungen, daß man nun wüßte,
auf welcher Ursache die Mutation beruht. Wir kommen hier mit Dis¬
kutieren und Theoretisieren nicht weiter, sondern höchstens mit
genealogischen Untersuchungsserien, die entsprechend kritisch auf
Grund unserer bisherigen theoretischen und praktischen Erfahrungen
angelegt sind.
Man kann ja daran denken , daß beim Menschen durch Alkohol
und Syphilis primär eine Keimverderbnis einsetzt, aus der sich dann
durch besondere Vorgänge im Laufe der Generationen eine Mutation
bildet. Davon wissen wir aber noch nichts. Doch kann unser Nicht¬
wissen uns daran nicht hindern, unsern Kampf gegen Alkohol und
Syphilis wie bisher energisch weiter zu führen. Denn diese Gifte wir¬
ken auch dann verheerend genug, wenn sie letztlich keine Erbschäden
verursachen.
Wenn man die berechtigten Punkte der Selbst- und Fremdkritik
sich alle überlegt, so kommt man immer wieder auf die Forderung,
klinisch möglichst gut beobachtetes und viel Material in möglichst
einheitlicher Erblage zur Gegenüberstellung zu bekommen. Nur da¬
durch wird der genetische Gehalt der Phänotypen herauszuschälen
sein. In vollendeter Weise kann diesem Erfordernis, zwar nicht aus¬
schließlich, aber vielfach nur eine Forschungszentrale genügen, da viele
wichtigen Paarungen und ihre Kreuzungsergebnisse, besonders auch
das wiederholte Zusammentreffen bestimmter äußerer Umstände doch
verhältnismäßig selten sind. Ich erinnere an die in Einzelanstalten so
seltenen Fälle von geisteskranken Ehepaaren mit Kindern, von Psycho¬
sen bei Zwillingen und von anderen Psychosen, bei denen bestimmte
Umweltfaktoren eine bedeutsame Rolle zu spielen scheinen.
524
E. Rüdin:
Nach diesen für den Nicht-Erbbiologen zum Teil wohl etwas
ermüdenden Auseinandersetzungen würde es mir jetzt noch obliegen,
einige Ausführungen über die Rolle der Erbbiologie für die Systematik
der Geistesstörungen zu machen. Im Hinblick auf die Zeit muß ich
mich aber kurz fassen.
Es ist immer eine ätiologische Einteilung der Psychosen erstrebt
worden. Eine solche wäre gewährleistet, wenn die Geistesstörungen
klassifiziert werden könnten nach der Bedeutung, welche die Erb¬
bedingungen für ihre Pathogenese haben. Es kann keine Rede davon
sein, daß wir heute schon so weit sind, eine Systematik in diesem Sinne
aufzustellen. Vielleicht haben Sie aber doch in meinen Darlegungen
da und dort Hinweise darauf gefunden, daß wir mit allen Kräften
den Weg zu gehen versuchen müssen, der uns dorthin führen soll.
Literaturverzeichnis.
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Cervello Jg. 3, Nr. 1. 1924.
Ein Beitrag
zur Klinik und Anatomie der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren.
Von
G. Hermann und K. Terplan.
(Auh der Psychiatrischen Klinik [Vorstand: Prof. O. PötzV] und dem Pathologisch -
Anatomischen Institut [Vorstand: Prof. A. Ghon ] der Deutschen Universität in
Prag.)
Mit 3 Textabbildungen.
{Eingegangen am 19. Juli 1924.)
Der Fall, von dem im folgenden die Rede ist, erscheint nicht nur
wegen seiner klinischen, im besonderen neurologischen Bedeutung mit*
teilenswert. Er ist auch pathologisch-anatomisch interessant genug,
da er einen Beitrag liefert zur Histologie der sogenannten Acusticus-
tumoren, der das Verständnis dieser nervösen Geschwülste fördern
kann. Das Verdienst Verocays um die Klarstellung ihrer Genese wird
heute kaum bestritten. Es ist jetzt mehr Sache der Technik, mittels
spezifischer Färbmethoden die verschiedenartigen nervösen Gcvvebs-
strukturen in diesen neurogenen Tumoren zur Darstellung zu bringen,
wobei es gewiß auch — besonders bei nicht serienmäßiger Unter¬
suchung — oft Glückssache ist, ob das eine oder andere Gewebe gerade
gefunden und auch richtig dargestellt wird.
Die große Literatur der Verocay sehen Neurinome und anderer neuro¬
gener Tumoren, die teilweise in ihrem Bau ähnliche Strukturen zeigen,
soll nur so weit berücksichtigt werden, als es einige Besonderheiten
dieses Falles erfordern. Im übrigen sei hinsichtlich der Literatur¬
angaben auf die Arbeiten von Henneberg und Koch, Verocay , Herr-
heimer und Roth , Hemchen u. a. Autoren Yenviesen, die im Literatur¬
verzeichnis dieser Arbeit angeführt sind.
Klinischer Teil (G. Herrmann):
Der 17jährige Arbeiter wurde vom Krankenhaus in Aussig mit der Wahr-
scheinlichkeitsdiagnosc eines Kleinhirntumors am 17. VI. 1922 auf die Deutsche
Psychiatrische Klinik in Prag eingeliefert, wo er bis zu seinem am 4. XI. desselben
Jahres erfolgten Tod verblieb. Angaben des Vaters: Mit 3 Jahren hatte Pat.
Krämpfe, war damals 3 Tage bewußtlos; seither schielte er mit dem linken Auge.
Sonst gesund bis zum vorigen Jahre. Die jetzige Erkrankung begann zu Weih¬
nachten 1921 mit Kopfschmerzen, Sausen im Kopf und Schwerhörigkeit am linken
G. Herrmann und K. Terplan: Ein Beitrag zur Klinik und Anatomie usw. 529
Ohr; im Februar 1922 verschlechterte sich der Gang, Pat. wich beim Gehen un¬
regelmäßig nach links und rechts ab. Gesichtssinn war gut. Die Schwerhörigkeit
nahm zu und griff auf das rechte Ohr über. Gleichzeitig verschlechterte sich die
Sprache; sie wurde rauh und unverständlich. Aus dem Bericht des Aussiger
Krankenhauses geht hervor, daß zur Zeit der Aufnahme des Kranken links bereits
vollständige Taubheit bestand; der Augenhintergrund war damals normal.
Befund der Klinik am 17. VI. 1922: Rechte Pupille weiter als die linke, beide
rund; prompte Reaktion in allen Qualitäten, Augenhintergrund o. B. Links
Abducensparese, spontaner Nystagmus in Mittelstellung diagonal nach rechts
oben, feinschlägiger Nystagmus beim Blick nach rechts, grobschlägiger beim Blick
nach links, besonders am linken Auge. Vertikaler Nystagmus beim Blick nach oben
und unten . Facialisdifferenz zuungunsten der linken Seite; Cornealreflex links
fehlend; Ataxie in beiden Armen. Vorbeizeigen (im 1. Schultergelenk nach außen
und oben), Schwanken von unbestimmter Richtung, ataktischer Gang. Beim
Drehen auf dem Drehstuhl subjektiv kein Schwindelgefühl; Zeigereaktionen
prompt. Links taub, rechts schwerhörig mit Hörresten im Bereiche des oberen
Abschnittes der Tonskala. Bauchdeckenreflexe links fehlend, rechts schwach;
P.S.R. gesteigert, Babinski beiderseits vorhanden. WaR. im Blut negativ.
Während der Beobachtung an der Klinik steigerten sich die einzelnen an¬
geführten Symptome; es entwickelte sich außerdem eine Neuritis optica, die aber
nie hochgradige Stauungserscheinungen zeigte; dazu kam Erbrechen, heftiger
Kopfschmerz, gelegentliches Verschlucken.
Im weiteren Verlauf: Zittriger horizontaler Nystagmus beim Blick nach rechts,
beim Blick nach links stellt sich zunächst der rechte Bulbus maximal nach innen
ein, dann rückt der linke Bulbus immer mehr nach innen und unten, so daß beide
Bulbi wie in einem Konvergenzkrampf verharren. Beim Blick nach oben gleich¬
falls Konvergenz der Bulbi, beim Blick nach unten vertikaler Nystagmus; Corneal¬
reflex links fehlend, rechts herabgesetzt. Facialis links gelähmt, Innervation auf
der rechten Seite stark herabgesetzt. Beim Versuch, die Augen zu scliließen, wird
die rechte Lidspalte nahezu geschlossen, die linke bleibt etwa 1 / 2 cm breit geöffnet;
dabei sind vertikale wiegende Bewegungen der Bulbi bemerkbar, besonders des
linken. Pfeifen unmöglich, nur die rechte Wangenhälfte wird beim Versuch
zu pfeifen eine Spur verzogen. Die Zunge weicht zitternd etwas nach rechts ab,
auch scheint die linke Zungenhälfte schmäler zu sein als die rechte. Bei der Ge¬
schmacksprüfung erfolgt in den vordersten Partien der Zunge weder rechts noch
links eine Reaktion. In den rückwärtigen Partien der Zunge wird links überhaupt
kein Geschmack empfunden rechts wird Zucker einmal als süß angegeben, während
Essig als salzig empfunden wird. Geruchsinn beiderseits intakt; Salivation an¬
dauernd sehr stark; Rachenreflex fehlend, die Gaumensegel herabhängend, links
stärker als rechts. Fingernasenversuch: Ataxie im linken Arm. Kraftleistung in
beiden Armen stark herabgesetzt. Beweglichkeit annähernd normal, im linken
Arm etwas verlangsamt. Adiadochokinese. Bauchdeckenreflexe fehlend, Cre¬
masterreflex rechts anscheinend vorhanden. P.S.R. und A.S.R. rechts stärker
als links, Babinski beiderseits, kein Fußklonus. In beiden Beinen stark erhöhter
Tonus. Pat. kann nur mit Unterstützung gehen, tritt stampfend auf die Fersen
auf, dabei werden die Beine nach vorne geschleudert.
Die Ataxie war im weiteren Verlaufe so hochgradig, daß Pat. keinen Schritt
allein gehen konnte, sofort hinfiel, wenn er losgelassen wurde, sich an der Wand
und an Möbeln fest halten mußte oder auf dem Boden rutschend weiterbewegte.
Pat. sprach sehr wenig, flüsternd, heiser und näselnd, verständigte sich meist
nur durch Zeichen, die leicht verstanden wurden. Schließlich konnte er das Bett
überhaupt nicht mehr verlassen und lag ganz unbeholfen da, einerseits wegen der
Ataxie, andererseits wegen der zunehmenden Spasmen. Kr mußte gefüttert werden,
0. Hemnaon und K. Terplan
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Der Beginn der JBrknnikwnjg mit Ohr^^dsen, \t?id.
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lieh siis Houutüiwineot für die LokaiifciBioo; der vertikale Xv st agnxn
der auf eine Lösiuu (W* .])ei> ersehen. Kern* nindemete. die dVtreh Kam
pras.sion der hdideü l&troAtes :4d Veivf rffcbfcklüi'ite zust-Umln
^ : * : \^ p '| r ' (j 1 *^ ,i> ** x ‘ T 1
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\Pie tnixx-f ; ejiiii :
(kd' erVynrieten Befumiy nämlich nm v n heivh^tütigeirKleuilünihrüeifveri ;
Yvüikedunnu. und di* Udnidmig zdgi, nie durch i buek auf Po.n.s und
ifedtihn dass Kymptomeulnid- *vAfi$- -zu^lt^Vfdk.^ kam
fäfrV Ahh \) • '''■ f \v ( / : ;
Lbe in <[< v IjO r^it er ided^edegt en Felle vno iluj;vpd^>itigc*H
•Aeu^f ieuMumoo'ij MHd nicht sehr "zahJrevh; und twAd»uft teilweise
khiUNCh von mjseren> i ; die uh Ai.*? seiiere r darf ?ri:>n die . ladbarer»
h^mptiiijife vm^erea F«.;)W drifiihren. 4fe; kbtp*£h hUvorider^ jiri VT>rder ::
i?nmd d;ind'-n
.I f>fil<sf/n»rh - h 7A/ [K f\iphiu] v ):
Au> denv r.' b i.t,,'- j‘n'U>köh: Zw< * Tn new?» An Winkel £\vifcdäii, Kleinhirn
<nr<l 0Hi>ke vür viel« KUb'nhutil^iiu^piiArim.
■h ! W fugten nsehe • l'nipvmn dc> feit '• , -\*n»d» hj der Sir>jii(g des Vereine
• Arv:i.e IVa-' :un H». Xd. deiuonslnerr. Alrd. Klinik lü'22 r ■?. 1588*
Ein Beitrag zur Klinik und Anatomie der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren. 531
Der linke von Form einer Birne mit kurzem kleinfingerdickem Stiel, der lateral-
wärts gerichtet ist und mit der Dura des Felsenbeines im Bereiche des Porus acu-
sticus internus verwachsen ist; seine Maße 4,5 : 4,8 : 3 cm. Der rechte etwa klein¬
pflaumengroß von 3 : 2,4 : 1,9 cm. Oberfläche beider Tumoren höckerig, Aussehen
knollig; ihre Konsistenz ziemlich fest, etwa wie bei harten Endotheliomen der Dura.
Der linke Tumor wird vorne umgrenzt von den basalen Anteilen des
Schläfelappens (Gyrus temporalis inferior und Gyrus fusiformis), medial von der
Brücke und Medulla, hinten vom Lobus biventer der linken Kleinhimhälfte. Sein
Bett: komprimierte Teile des Pons und der oberen Teile der Medulla, der linke
Bindearm, die linke Hälfte der Rautengrube und die tieferen seitlichen Teile
des linken Lobus quadrangularis. Unkenntlich sind die Flocculi beiderseits, die
linke Tonsille und auch die vorderen Anteile des Lobus biventer beiderseits. Be¬
sonders komprimiert ist die linke untere Hälfte der Brücke. Der Tumor reicht
hier bis an den Sulcus basilaris heran; die Brücke erscheint verlängert (4 cm) und
ein wenig nach rechts gebogen. Deutliche Impression des Schläfenlappens an der
vorderen Umgrenzung des Tumors. Hochgradig plattgedrückt im Bett des Tumors
die Wurzel des Trigeminus und des Facialis und Acusticus, die als breites dünnes
Band an der oberen Fläche des Tumors hinziehen und mit ihm verwachsen sind.
Deformiert sind auch Glossopharyngeus, Vagus und Accessorius der linken Seite.
Rechts ähnliche Verhältnisse in kleinerem Maßstab: das Tumor bet t wird hier
vorwiegend vom rechten Bindearm gebildet; die Kompression des Pons ist auf
dieser Seite gering; Acusticus und Facialis mit der Oberfläche des Tumors ver¬
wachsen, nur als ein Nerv erkennbar. Rechter IX., X. und XI. erscheinen auch
in geringem Grade gedrückt.
Nach Eröffnung der Rautengrube, bei Sicht von oben, erscheint ihre ganze
linke Hälfte nach oben gewölbt und zeigt starke Unebenheiten. Die beiden Hälften
der Rautengrube bilden in der Medianlinie einen nach oben offenen Winkel; die
linke Hälfte erscheint um etwa 45° nach oben gedreht.
Im übrigen starker innerer Hydrocephalus, besonders auch des Aquaeductus.
Ein erbsengroßes „Neurofibrom“ am linken Oculomotorius und ein hanfkorn¬
großes am linken Abducens an der Hirnbasis. Zahlreiche spindel- und knoten¬
förmige kleinste bis über hanfkorngroße „Neurofibrome“ der Cauda equina. An
der Dura mater, etwa entsprechend der Siitura sphenoethmoidalis, eine bohnen¬
große, w’eiche, blutreiche Geschwulst, an der Oberfläche maulbeerförmig, die der
Dura breit aufsitzt und mit ihr verwachsen ist. An der Dura mater spinalis, in
der Höhe des 2. und 12. Brustwirbels, zwei erbsengroße, gleichfalls weiche Tumoren,
ähnlich dem vorigen (wahrscheinlich Endotheliome). Eine hirsekorngroße, etwa
spindelförmige Anschwellung eines vorderen Wurzelnerven im mittleren Brust¬
marke innerhalb des Duralsackes („Neurofibrom“?).
Nervensystem der Extremitäten und übrige periphere Nerven makroskpisch
frei von Veränderungen.
Sektionsdiagnose: Doppelseitiger Kleinhirnbrücken winkeltumor mit
hochgradiger Kompression der Brücke und des Kleinhirns und mit
innerem Hyrocephalus; sogenannte Neurofibrome des linken Oculo¬
motorius und des linkan Abducens; multiple Neurofibrome der Cauda
equina; Endotheliome der Dura mater cerebralis et spinalis.
Lobulärpneumonie; Endokardfibrose; Aorta angusta (4,9 cm); geringe Hyper¬
plasie der Follikel in der Milz, im unteren Ileum und am Zungengrund.
Es wurde bei der Sektion leider verabsäumt, die Hömerven innerhalb der
Felsenbeine zu untersuchen, so daß über die periphere Ausdehnung dieser Acust icus-
tumoren außerhalb der Schädelhöhle nichts ausgesagt werden kann.
532
G. Herrmann und K. Terplan:
Histologischer Befund: (Es wurden Stücke aus verschiedenen Partien beider
Acusticustumoren sowie die Neurofibrome der Cauda equina, des Nerv. III und VI
und eines vorderen Wurzelnerven untersucht.)
Schon makroskopisch waren Konsistenzunterschiede beim Einschneiden des
Tumors der linken Seite aufgefallen; dazu zeigte sich noch eine erbsengroße mit
altem Blut gefüllte Cyste. Das Tumorgewebe in ihrer Umgebung war auffallend
weich und erschien schleimartig bzw. ödematös verändert.
Die histologische Untersuchung ergab einen Befund, wie er im großen ganzen
jenem entspricht, den Verocay in seiner bekannten Arbeit erhoben hat. Es handelt
sich, wie wohl bei den meisten doppelseitigen Acusticustumoren, um Neurinome
im Sinne Verocays. Es sei darum nur in aller Kürze der histologische Bau unseres
Tumors besprochen und nur Einiges besonders erwähnt, was vielleicht gerade bei
diesem Tumor in glücklicher Weise beobachtet werden konnte.
Bei Färbung mit Hämatoxylin-Eosin erkennt man, daß der Tumor aus schmalen
Bündeln gebildet wird, die besonders in abgeblaßten Präparaten eine deutliche
fibrilläre Streifung zeigen und im übrigen in wechselnder Menge die charakte¬
ristischen länglichen Kerne enthalten, oft dicht hintereinandergeschaltet, oft in
weniger zahlreicher Anordnung. Auch finden sich Bilder mit ungleichmäßiger
Kernanordnung, die an die bekannten Querbänder erinnern, oder wieder solche,
wo die Kerne außerordentlich vermehrt sind und die fibrilläre Zeichnung verdeckt
wird. Je nach der Schnittführung liegen bald Längs-, Schräg- oder Querschnitte
vor. Charakteristisch erscheinen auch die vielen bogenförmig geschwungenen
Bündel, und besonders die Querbänder sah ich oft gerade an solchen Stellen, wo
benachbarte Bündel in ihrem radiären Verlauf einander zustreben. In zahlreichen
Partien waren die Bündel sehr kernarm, zeigten keine Streifung mehr und er¬
schienen vielmehr als hyaline Bänder, die miteinander ein Flechtwerk bilden.
Daneben enthielt auch dieser Tumor Partien mit deutlich retikulärem Bau.
Die Kerne, auf deren Form ich unten zu sprechen komme, liegen in einem plas¬
matischen Netzwerk; in der Umgebung der Kerne ist ein deutlicher Plasmahof
zu sehen, dessen Ausläufer in das Reticulum übergehen, bzw. dieses Reticulum
bilden. Es fallen diese Partien um so mehr auf, als in den fibrillär gebauten Teilen
im allgemeinen kein Zelleib in der Umgebung der Kerne zu erkennen ist. Verocay
hat diese retikulär gebauten Partien ausführlich beschrieben und auf die Ähnlich¬
keit dieses gliaartigen Gewebes mit der embryonalen Glia hingewiesen. Er hat
trotz des negativen Ausfalles der spezifischen Gliafaserfärbung es für sehr wahr¬
scheinlich gehalten, daß das retikuläre Gewebe Glia sei.
Besonders auffallend erscheint auch in diesem Falle die Mannigfaltigkeit in
Form und Größe der Kerne. Von den kleinsten runden oder ovalen Kernen sieht
man neben den gewöhnlichen stäbchenförmigen eine ganze Menge anders geformter,
oft außerordentlich großer oder sehr langer Kerne, deren Chromatinreichtum sehr
wechselt: oft ganz verklumpte dunkle, bald wieder mehr blasse große Kerne oder
länglich viereckige mit ein oder zwei deutlichen Kernkörperchen. Besonders aber
rnrjchte ich auf die überaus häufigen Kernformen hinweisen, die sozusagen Knospen
treiben. Teils sind es große Kerne, die dann vielfach eingebuchtet erscheinen,
teils aber schmale, wobei dann Stiefel-, Hantel- und Biskuitformen entstehen.
Sehr häufig sind Bilder, die den Eindruck amitotischer Teilungsformen erwecken
bei verschieden weit vorgeschrittener Abschnürung: der birnförmige Kern ver¬
jüngt sich zu einem dünnen blassen Stiel, der dann in eine chromatinreiche Kugel
(Knospe) übergeht. Bei einigen Kernen ist dieser Stiel sehr lang, zweimal länger
als beide Kerne für sich, oder wieder außerordentlich dünn, so daß er nur bei
Immersion zu erkennen war. Dadurch entstehen Hantelformen mit langem dünnem
Griff. Oder man sieht am Ende eines länglichen gebogenen Kernes eine knopfartige
Ein Beitrag’ zur Klinik und Anatomie der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren. 533
Verdickung. Der Formenreichtum dieser Kerne, der zunächst den Eindruck einer
außerordentlich atypischen Geschwulst macht, läßt sich kaum erschöpfend schil¬
dern. So sah man u. a. Kerne von der Gestalt der arabischen Ziffer 4 oder von der
eines Schwanenhalses und recht verschiedene Keulen- und Glasglockenformen.
Ich habe trotz des außerordentlich großen Kernreichtums nirgends Mitosen
gesehen.
Bei Van Gieson-Färbung ergab sich das gleiche Bild, wie es Verocay geschildert
hat. Die retikulären Partien zeigten eine grau- bis graugelbliche Tönung; die
Bündel sind teils gelblich bis gelblichrot bis rot. Die kemärmeren, mehr homo¬
genen Bündel färben sich wie hyalines Bindegewebe, lassen jedoch bei stärkeren
Systemen die fibrilläre Struktur teilweise noch erkennen. Hinsichtlich der Be¬
wertung dieses Befundes in differentialdiagnostischer Beziehung — ob neurogenes
oder mesenchymales Gewebe — sei auf Verocay verwiesen. Im allgemeinen will
mir scheinen, als ob auf den Ausfall gerade der Van Gieson-Färbung bei der Deutung
der Bilder und der Frage nach dem Wesen der Fasern zu viel Gewicht gelegt würde.
Es kann regressiv verändertes neurogenes Fasergewebe wohl färberisch dem
Bindegewebe entsprechen, worauf schon Klebs hingewiesen hat, der von Neuro-
hyalin spricht (zitiert nach Verocay).
Ganglienzellen waren in verschiedenen Tumorpartien, jedoch nur vereinzelt,
vorhanden als große typische Formen mit reichlichem Plasma, deutlicher Kern¬
scheibe und Nucleolus. Eine Nissl-Färbung unterblieb. Mit Scharlachrot färbbare
Lipoide waren in den Fettpräparaten in den Nervenzellen nicht nachweisbar.
Bei Färbung auf Markscheiden am Gefrierschnitt nach Spielmeyer ergeben sich
folgende Bilder: innerhalb der fibrillären Bündel — im Längsschnitt — sieht man
zahlreiche Markfasern, die in der Richtung der Bündel verlaufen. Sie sind stellen¬
weise unterbrochen und lassen sich nur auf kurze Strecken hin verfolgen. Sie zeigen
in ziemlich gleichmäßigem Wechsel kleine kugelige und spindelförmige Auf¬
treibungen oder mehr zackenartige Auswüchse, dazwischen oft tiefe Einschnürungen.
Manchmal sind zw r ei keulen- oder spindelförmige Endanschwellungen durch einen
dünnen Markfaden verbunden. Die Dicke und Länge der gefärbten Markfasem
ist also etwas unterschiedlich; vielfach erscheinen sie nicht länger als zwei Schwan¬
sehe Kerne; auch ihre Breite schwankt sehr von dünnen Fäden mit knopfartigen
kleinen Verdickungen bis zu der Breite einer Neurinomfaser. Dazwischen auch
viele quergetroffene Markfasern. Diese Bilder finden sich nun an verschiedenen
Stellen des Tumors, besonders aber auch in der Umgebung der zentralen cysten¬
artigen Räume; die Markfasern liegen oder folgen dabei im allgemeinen regelmäßig
der Richtung der fibrillären Bündel. Es lassen sich außerdem in verschiedenen
Teilen des Tumors oft nur vereinzelte sehr schmale und blaßgefärbte Markfasern
finden. Es ist freilich mitunter notwendig, lange bei stärkeren Systemen danach
zu suchen. In den etwas straff gefügten Partien war ihr Nachweis nicht schwer.
Mitunter hat man den Eindruck, als ob die Neurinomfaser streckenweise in ganzer
Breite als markhaltig — nur schwach graulichweiß gefärbt — erscheint und diese
markhaltigen Partien sich unscharf in die marklosen Teile der gleichen Faser ver¬
lieren. Solche Bilder sah ich freilich nur bei starker Vergrößerung.
In den locker gebauten Partien des Tumors, wo nur einige kürzere Bündel
aneinanderliegen oder -stoßen, erscheinen die Markfasern oft in verschiedenen
Richtungen miteinander gekreuzt; sie sind hier teils recht kurz und keulenartig
geschwungen. Bei vielen ist die Einordnung in die Richtung der hier augenschein¬
lich mehr schräg getroffenen schmalen Bündel noch gut erkennbar. Andere liegen
auch quer oder schräg zur Richtung der Bandfasern.
Bei spezifischer Faserfärbung nach Holzer am Gefrierschnitt lassen sich in den
retikulären Partien reichlich Gliafasern nach weisen ; sie bilden stellenw eise ein
G. Hemmnu: Öd«] K T^mpi
•ziemlich djdm\vi:bdleeb'U litten aber k*t?iift K f♦- ^usamimHilexne..mit'Zellen .erkenn-m
Abb; : £u föa.sbtrf kury^ FaSern, feil* viVifctch- uif*fjfeiifftn<Mk v gdvmnd&u ubly
•vvinkli.fi Nehni feinere ^whsfltcktftv .tfrvibtyr /dk*
sieh stellemudse \:li>iC 4 hf^lfe zu Üfyütweii Herden - verfteehtero her Vielen *Xfr
nmkehu. umnehimd • 4U<di’ n 'kurzen dieken Fa-; p»
Hebt iieharf^ )it^rVi^ 1 A^tr*Ji . Gi der \Vanih emea cy^^triarfigdn ilauiifej trat wir
dicbte* VimfcehÜ fa*enV<r # Lim m.- hon hei vor AsMv^.vo'nfoniuni kormien pßn-*
v.andfre» tiivhi nftnter^vif siri vvordei*. \ k>t* . Gmnifcc*flcc ht hx viel-
hieb dim h rTtdam diekere Fasern verst/iiki. dir sieb mir auf kürzt
drecken Verfölgen bi**en . .
Am h in iUidMvu T^riien des Tim*r.i>. die die fihHlkirr ZuSiuotnense?
zei^enFlu^Sen sieb besonder*? dort... wo dir Ftbnljeu bykerei■• iieliiuf'-ymd. Fäi*er-
in denen zwar die Län^nVbimig der Fibrilkt» vojheyr^ht/
im iifsrimi aui*h atfhr zah blicht?, «chrag- und (juerverlauft ndr Fasern^ u sei um kind.
M l omus Vi’li sehr femimisrliiües dotier ht resultiert i siehe Ahb. Iii. Die Dvre der
Kerne innerhalb der Fibrillen und die Verjüngung der Fibrillen yi>&-
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1)j\j 'tu v> Ihm dem zuerst In.^chriebenen Fa^mverk ndl Ölte-
gevtebe zu tu n haben; dafür «prieM neben der hirberisol k-m iMndeib
barkot wir wlkm cUe ^liaraklenstiWehe Struktur; Ob auch die in den
fibrülurei», "Fht die* mich Häher aehön gefärbten Oe-\
flerdiio OHa^ou ehe sind., wagt* ich nicht mit Sicherheit zu cntsrdieideh;
von den oben- genannten kurzen quer, und '.seimig veriaufemleiv Fasern .
<fefieehte.s mochte igb e» wohl • ^net’üfiei^ leh komme auf die
DcutungsmogUehkvit dieser feinen Geflechte noch zunick.
Bei &\d*< , hou'*foj- Farbutig *tehl man in den fahrig gebauten Partien ^ahLreiejie
dünne Fibrillen, dfe im dUge»ne}neii bmengetade und teilweise parallel verlaufen;,
einige Jäm^uu eine »*1er pa-ral J.r]k* Ver$eh lehmigen erkerUieri. Neben diesen
feinen Fibrillen siehi man oft nUc\h ktöbere, CtwA^dtmld» f g<darbu*. die den gleichen
Verlairf ^eigeö, . 8telle.nweiw>. hilft %: ji >/irie .Fibrille von d^m:%*h \v ft ^ Iv^ru
im h (U-r einen .seile ?u gut verfolgen \ an «iner anderen Stdk iiihft der i ine Pol
e.int^ uehmalen Ker tn Cmcn gereutem /unehmend ni» h i er jiiif&\iulen Fixt Mat>:
äflttu?. Ivo übrigen sieht Uteri auch gar« feine, (JaUdbiMunuer).
Bei einem 'Vergleich *{*&; Holzer- und Biidsehmvskv - Fraparolm
hatte ich deri Eintlruck., afe cd/ .fcidlit-togcjiftirmig yerläulbodp fiimÖ/irtr
Gebilde greh ><fevrjhl n&cb fifaf&ir ala (ich Hgch BirheJifHi^ky färbm»-
Aus Orunde xh» r i, mir in dm .Dcuamg j&<ivi»i übrigen so ••telirin
gefärbten OlkgofleehtoYor.riGit geboren. 1 Vivo -s blieb eben auffallend,
daÖ lieben clep k/pte#i groben und feinen kuc&pü\
Koiit.iir.en der malen Tumorbüudvl in iUnj fibrillären Partien ?jo.**b
nach Hoher .{ihV'n, rvom. &ueh in .Hwa> riunkh rem Ton OoG: sei
betont, daÖ die oft : *ehnör^ Fibriilen.. wie wir $u* »m
' • '• - • ..* • '■••;' : *■•’■. •• . '
r. < 1 , «U Xettt. u, T'-w'fch* SGtb 3 o
536
G. Herrmann und K. Terplan:
Bielschowsky-Bilde sahen, im Holzer-Präparat nicht zu erkennen waren,
und daß umgekehrt die typischen als Gliafasern anzusprechenden
Strukturen sich nach Bielschowsky in unseren Präparaten nicht
imprägnierten.
Bei Fettfärbung ist stellenweise viel Lipoid nachweisbar, größtenteils flecken-
förmig auftretend, vorwiegend in nächster Umgebung der Kerne sowohl in den
fibrillären, als auch in den retikulären Partien des Tumors. In der Nähe eines
Häufchens großer Fettkörnchenzellen waren auch Hämosiderinkörnchenzellen zu
sehen. In den im Fettpräparat vorhandenen Ganglienzellen war kein färbbares
Fett enthalten.
Die Duratumoren entsprachen auch histologisch typischen gefäßreichen
Endotheliomen mit vereinzelten Psammomkörnchen.
Cauda equina: Die Tumoren der Cauda equina zeigen im allgemeinen alle
den gleichen Bau. Erwähnen möchte ich, daß neben größeren deutlich isolierten
Knoten, die meist am Rand eines Nerven der Cauda liegen, auch kleinere spindel¬
förmige Anschwellungen zu sehen sind, die die ganze Breite eines Nerven ein¬
nehmen, wobei durch die Mitte des Tumors durchgehende schmale Markfasem
noch erhalten erscheinen. Ferner sieht man innerhalb der Nerven der Cauda
equina zahlreiche kleine spindelförmige Neurinome von etwa 200 Breite, die
makroskopisch nicht erkennbar waren. Und schließlich sieht man zuweilen am
Rand einzelner dünner Nerven kleine spindelförmige Tumoren, die im Vergleich
zu den übrigen Neurinomen kernarm und hyalinisiert sind. Doch spricht Form
und Aufbau auch dieser Knötchen — geschwungene Form der Fasern und An¬
ordnung zu kugelähnlichen Gebilden — dafür, daß sie genetisch in gleicher Weise
aufzufassen sind. Inwieweit die vielfach angenommene Wucherung endo- bzw.
perineuralen Gewebes an der Bildung dieser Knötchen beteiligt ist, läßt sich im Zu¬
stand ihrer hyalinen Entartung nicht entscheiden; auffallend ist, daß die Schwann-
schen Kerne im Verlaufe der Fasern der Cauda equina stellenweise sowohl in der
Längs- als auch in der Querrichtung deutlich gewuchert sind bei im übrigen noch
normaler Kernform. Von diesen mehr oder weniger deutlichen Kernanhäufungen
bis zu den umschriebenen kleinsten Knötchen oder Spindeln gibt es Übergänge.
Bei Markscheidenfärbung sind, in den Randpartien und an den Polen der
größeren Knoten schwach färbbare markhaltige Fasern zu sehen.
Bei Bielschowsky-Färbung sieht man in den fibrillären Partien auch hier in
außerordentlich dichter Anordnung meist schnurgerade feinste Fibrillen. Spitz¬
winkelige Gabelungen, Zusammenhänge von Fibrillen mit Schwannschen Kernen
sind stellenweise auch hier erkennbar.
Eine kurze Zusammenfassung der histologischen Bilder ergibt im
allgemeinen den typischen Bau der Verocayschen Neurinome. Es ließen
sieh nach Holzer Gliafasern nach weisen, ferner sehr zahlreiche feinste
Fibrillen, die sich nach Bielschowsky imprägnierten und in den ver¬
schiedenen Tumorteilen, besonders auch in den zentralen, kurze, meistens
sehr dünne und schwach gefärbte Markfasern, die täuschend in den Bau
ries Neurinoms eingefügt erscheinen, als ob sie dem Tumor angehörten.
Ferner fanden sich auch in unserem Falle Nervenzellen sowie ein
besonderer Formenreichtum der gewucherten Schwannschen Kerne,
von denen zahlreiche wohl als amitotische Kernteilungsformen auf-
gefaßt werden dürfen.
Gin Beitrag zur Klinik und Anatomie der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren. 537
Fälle von doppelseitigen Acusticustumoren sind in der Literatur
längst bekannt, und zwar teilweise kombiniert mit der Reckling-
hausenschen Neurofibromatose. Es sei hier besonders auf die Arbeiten
von Henneberg und Koch verwiesen, die dort zitierte Literatur, auf
die Fälle von Verocay sowie auf die Arbeit von Orzechowski und No -
uncki , Henschen u. a.
Pathologisch-anatomisch haben wir es in unserem Falle mit einem
in dieser oder ähnlicher Form schon bekannten Sektionsbefund zu tun.
Besonders die Koinzidenz der multiplen neurogenen Tumoren an
einigen Hirnnerven und an der Cauda equina mit Tumoren der Dura
im Sinne von Endotheliomen erinnert an das analoge Verhalten der
Verocayschen Fälle.
Nur auf einige histologische Einzelheiten möchte ich in Berück¬
sichtigung der Literatur eingehen. Die Darstellung der faserigen Glia
mittels spezifischer Färbung nach MaUory ist bisher nur Risel geglückt
und nach einem Zitat von Henschen auch Jumenti. Risel hat in seinem
Fall auch nach Bielschowsky färbbare Fibrillen in großer Menge nach-
gewiesen, ebenso wie Schminke in seinem bekannten Falle eines Ganglio-
neuroms des Großhirns und erat kürzlich in der Neurinombildung der
Appendix. Es sei auch auf die Arbeit von Jakob Friedrich verwiesen,
der in einem Ganglienneurom des Sympathicus neurinomatöse Par¬
tien fand, in denen er marklose Nervenfasern reichlich nachweist und
besondere auch die Beziehung dieser Fasern zu den Schwannschen
Kernen hervorhebt. Seiner Auffassung der Kerne als Faserbildner ist
bekanntlich Peters entgegengetreten.
Es stellt demnach der Befund von nach Bielschowsky färbbaren
Fibrillen nichts Neues dar und bestätigt die Untersuchungen von
Risel , Schminke und anderen Autoren. Nur das eine möchte ich be¬
tonen: daß es sich hier um neurogene feinste Fibrillen handelt, die
gerade diese neurinomatösen Tumoren in großen Massen durchsetzen,
ist nach ihrer Form und nach ihrer färberischen Reaktion kaum anzu¬
zweifeln. Sie sind dem Tumor eigen und kommen nicht etwa aus der
Umgebung, so daß man sie nicht als Regenerationsbildungen der in
ihrem normalen Lauf gestörten Nerven aus der Umgebung des Tumors
auffassen kann. Aber von Achsenzylinder kann man bei den hier in
Rede stehenden feinen Fibrillen unseres Neurinoms nicht sprechen,
sondern wohl nur von neurogenen feinsten Fasern, die man entsprechend
dem tumorartigen Gewebe für undifferenzierte nervöse Fasern halten
kann, und die wohl mit den Tumorzellen in genetischem Zusammen¬
hang stehen. Bei dieser Auffassung unserer Fibrillenbefunde besteht
kein großer Gegensatz zur Auffassung Verocays, nach welchem Autor
die Geschwulstfibrillen keine spezifische Nervenfaserreaktion geben.
Es sind eben undifferenzierte Neurofibrillen bzw. neurogene Fasern,
35 *
538
G. Herrmann und K. Terplan:
die die Neurinome zusammensetzen. Da heute die Schwannschen
Zellen als Fibrilloplasten aufgefaßt werden, ist der Befund so zahl¬
reicher Fibrillen in einem tumorartigen Gebilde, das in erster Reihe
auf einer blastomatösen Wucherung der Schwannschen Kerne beruht,
nichts Wunderliches.
Was nun den Befund von markhaltigen Nervenfasern in unserem
Neurinom betrifft, so wurden solche von einigen Autoren in den peri¬
pheren, seltener in den zentralen Anteilen der Kleinhirnbrücken -
winkeltumoren beschrieben (u. a. Verocay , Orzechowslcy und Nowicki).
Eine eingehende Schilderung findet sich bei Verocay , der besonders
hervorhebt, daß er Nervenbündel nicht gefunden hat, sondern nur
einzelne Fasern von verschiedener Dicke und Verlaufsrichtung, oft nur
nach längerem Suchen.
Sie werden als Reste der durch den Tumor hochgradig kompri¬
mierten Markfasern aufgefaßt. Soweit ich in die Literatur Einblick
nehmen konnte, scheinen nur Duromte und Francini (zit. nach Verocay)
eine autogene Markscheidenbildung angenommen zu haben.
Der Umstand, daß viele markhaltige Fasern in den Bau unseres
Tumors vollkommen eingefügt erschienen, mit dessen Bandfasern sie
oft die gleiche Form, Breite und Richtung zeigten, ihre teilweise geringe
Länge und ihre oft undeutliche und nur bei stärkeren Systemen erkenn¬
bare Reaktion und nicht zuletzt ihr Vorkommen gerade auch in den
zentralen Partien eines etwa citronengroßen Tumors, ließ auch uns
die Frage erwägen, ob man eine autogene Markfaserbildung in abor¬
tiver Form annehmen könne. Andernorts sprach freilich der früher
beschriebene, teils quer, teils schräg oder ganz regellos zu den Neu¬
rinomfasern gerichtete Verlauf der Markscheiden dafür, daß diese gewiß
nicht zum Tumorgewebe selbst gehören.
Es konnte erst durch die Untersuchung eines walnußgroßen Neuri¬
noms des Kleinhirnbrückenwinkels in einem 2. Fall eindeutig erwiesen
werden, daß von dem an der Oberfläche des Tumors verlaufenden
Nerven ganz abweichend von seiner Richtung Bündel markhaltiger
Fasern in die tiefen Tumorpartien einstrahlen und sich hier in einzelne
Fasern auflösen. Diese letzteren lassen sich tief in die zentralen Par¬
tien hinein verfolgen, schlagen dabei oft recht verschiedene Rich¬
tungen ein und scheinen sich hier zu verlieren. Ihre Färbbarkeit
wechselt dabei sehr, besonders in den zentralen Partien. So kommt
es, daß sie teilweise schön in den fibrillären Bau eingeordnet, teilweise
aber sofort als ganz selbständige Gebilde erscheinen. Diese Bilder,
die an die bekannten Sproßbildungen bei der Regeneration der peri¬
pheren Nerven erinnern, rechtfertigen wohl die Annahme, daß die in
den Neurinomen nachweisbaren Markscheiden nicht nur persistierenden
Fasern, sondern wohl auch regenerativen Sproßbildungen des durch
Ein Beitrag zur Klinik und Anatomie der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren. 539
den wachsenden Tumor alterierten Nerven entsprechen. Eine auto¬
gene Markfaserbildung konnte demnach trotz der täuschenden Ein¬
ordnung der Markscheiden in den fibrillären Bau unseres Neurinoms
nicht nachgewiesen werden.
Es wurde besonders auf die Mannigfaltigkeit der Kernformen hin¬
gewiesen sowie auf Bilder, wie sie als amitotische Kemteilungsformen
anzusprechen sind. Solche Formen, die übrigens auch bei der Ver¬
mehrung von Gliazellen nach Spielmeyer nicht so selten sind, haben
Schminke , Oberndorfer, Orzechowski und Nowicki , Freund u. a. schon
beschrieben. Mitosen, wie sie Verocay vereinzelt in einem seiner Fälle
erwähnt, habe ich niemals gesehen.
Der Befund von Verfettung ist gerade in den Acusticustumoren
ein recht häufiger, und vielfach kann man schon makroskopisch die
lipoide Entartung an der Gelbfärbung der Tumorpartien, besonders
oft in den weicheren Anteilen in der Umgebung der cystenartigen
Bäume erkennen. Die Verfettung ist auch in unserem Falle als ein
resorptiver Prozeß zu deuten. Wir sahen große Fettkörnchenzellen
in der Umgebung von alten Blutungsherden und auch in hyalin ent¬
arteten Partien.
Es hat also die histologische Untersuchung auch dieses Falles zu
dem Ergebnis geführt, daß wir die Kleinhimbrückentumoren wohl im
Sinne Verocays aufzufassen haben, als neurogene Tumoren, deren Bild
der neurinomatöse Charakter beherrscht. Es ist in einem neurogenen
Keimgewebe zur Differenzierung verschiedener nervöser Gebilde ge¬
kommen, jedoch im allgemeinen von nur sehr geringer Differenzierungs¬
höhe im Vergleich zu den Bestandteilen des normalen nervösen Ge¬
webes. Es fanden sich Gliafasern, Ganglienzellformen und feinste
Fibrillen, die undifferenzierten Nervenfasern entsprechen können.
Gewisse fibrilläre Strukturen ließen über die Differenzierungsrichtung
gar nichts aussagen, weder nach ihrer Form noch nach ihrem färbe¬
rischen Verhalten. Wir müssen sie füglich als unreife neurogene Fibrillen
bezeichnen.
Hinsichtlich der Nomenklatur möchten wir uns ganz Verocays
Vorschlag anschließen. Man könnte hier wohl von einem Neurinoma
sarcomatodes sprechen, womit lediglich eine äußere Ähnlichkeit mit
einem atypischen Tumor ausgedrückt wird, die durch die Mannig¬
faltigkeit der Kemformen bedingt wird. Das Verhältnis der Neuri¬
nome zu den andern neurogenen Tumoren ist im bekannten Schema
von Pick und Bielschowsky festgelegt. Im übrigen sei noch daran
erinnert, daß neurinomatöse Bilder in Ganglioneuromen des Gro߬
hirns ( Schminke , Olivecrona) und des Sympathicus (Falk, Jakob, Frie¬
drich, Waßmund) beschrieben wurden.
540 G . Herrmann und K. Terplan: Ein Beitrag zur Klinik und Anatomie usw.
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f. d. ges. Neurol. u. Psychiatr. 71.
Über den Einfluß der Temperatur
auf die Senkungsgeschwindigkeit der roten Blutkörperchen
bei Geisteskranken.
Von
Konstantin Löwenberg.
(Aus dem Serologischen Laboratorium [Prof. Dr. V. Kafka ] der Psychiatrischen
Universitätsklinik Hamburg-Friedrichsberg [Prof. Dr. Weygandt].)
Mit 3 Textabbildungen.
(Eingegangen am 4. Juni 1924.)
Der Einfluß der Temperatur auf die Senkungsgeschwindigkeit der
roten Blutkörperchen (Sg.) ist bis jetzt nur wenig untersucht worden.
Als erste fanden Höher und Linzenmeier bei der Untersuchung der Sg.
des schwangeren Blutes, daß „der sedimentierende Stoff hitzeinakti¬
vierbar ist“. Offenbar verstanden darunter die Autoren die Beobach¬
tung, daß durch Temperaturänderung die Sg. des schnell sedimen-
tierenden Gravidenblutes nicht beeinflußt werden kann.
Bei der Erforschung der Fehlerquellen der Farhaeus sehen Reaktion
fand J . Josephowicz , daß die Sg. in vielen Fällen durch die Temperatur
in gesetzmäßiger Weise beeinflußt werden kann. Er untersuchte gleich¬
zeitig in strömendem Wasser (+ 8°), ferner bei Zimmertemperatur
sowie im Brutschrank, und stellte dabei die geringste Senkung bei
+ 8° und die höchste im Brutschrank fest. Anders verhielt sich nur
das Blut von Kranken mit sehr hoher Sedimentierung; hier fehlte der
Einfluß der Temperatur völlig, die Resultate waren einheitlich in
allen Röhrchen. Der Autor meint, daß die Senkung in solchen Fällen
bereits abgeschlossen sei, bevor das Blut Zeit hätte, sich genügend
abzukühlen bzw. zu erwärmen.
In meiner ersten Publikation machte ich eine vorläufige Mitteilung
darüber, daß bei Geisteskranken durch die Einwirkung verschiedener
Temperaturen weitgehende Einflüsse auf das Verhalten der Sg. herbei¬
geführt werden können, und es ist der Zweck vorliegender Arbeit die
Ergebnisse einer systematischen Untersuchung mitzuteüen, was bis
jetzt, soweit ich die Literatur überblicke, noch nicht erfolgt ist.
Zu diesem Zwecke wurde folgendermaßen verfahren: Das Blut
wurde bei der Entnahme im Verhältnis 7,5 zu 2,5 mit einer l,lproz.
542 K. Löwenberg: Über den Einfluß der Temperatur auf die Senkungs-
Natriumcitratlösung gemischt, in ca. 15 cm lange Röhrchen von 0,8 cm
lichter Weite gegossen 1 ) und im Eisschrank bei +8° (E.), im Zimmer
bei +18° (Z.) und im Brutschrank bei + 37° (B.). 2 Stunden beobachtet.
Nach der ersten und zweiten Stunde wurde mit einem Maßstab die
Senkung abgelesen. Die Registrierung der Resultate geschah kurven¬
mäßig.
Wird das Blut von normalen Menschen beiderlei Geschlechts in
angegebener Weise untersucht, so sieht man nur ganz geringfügige
Schwankungen der Senkungshöhe. Es erfolgt regelmäßig eine leichte
Verlangsamung der Sedimentierung im E. und eine leichte Beschleu-
nigung im B., während der Wert im Z. die Mitte einnimmt. Beim weib¬
lichen Geschlecht sind die Schwankungen etwas stärker, bleiben aber
stets, nicht anders wie beim Mann, im Bereiche der Norm. Zur Erläu¬
terung mögen folgende Befunde dienen:
Mann: E. 0,2 (0,1), Z. 0,3 (0,1), B. 0,4 (0,2);
Frau: E. 0,4 (0,2), Z. 0,6 (0,4), B. 0,9 (0,4).
Die erste Zahl gibt die Sg. nach 2 Stunden an, die eingeklammerte
ist die der ersten Stunde. Da das Blut von Geisteskranken unter glei¬
chen Bedingungen untersucht ein ganz anderes Bild ergibt, so erscheint
es gerechtfertigt, die Resultate mit der Norm zu vergleichen und die
dabei festgestellten Abweichungen als pathologisch anzusehen. Da
durch die gleichzeitige dreifache Untersuchung eine fast unüberseh¬
bare Fülle von Befunden dem Untersucher entgegen tritt, erwies es
sich als zweckmäßig, den Zimmertemperaturversuch als den am meisten
geübten als Vergleichsbasis anzusehen und die in den Temperatur¬
versuchen erzielten Werte mit denen des Zimmerversuchs zu ver¬
gleichen; es ist auf diese Weise möglich, sich ein klares Bild zu ver¬
schaffen.
Um nach Möglichkeit übersichtliche Verhältnisse zu schaffen, wur¬
den diagnostisch unklare Fälle sowie an interkurrenten Krankheiten
Leidende ausgeschaltet und nur drei große Krankheitsgruppen unter¬
sucht: 1. progressive Paralyse, 2. Dementia praecox, 3. genuine Epilepsie.
I.
Wenden wir uns zunächst zu der ersten Gruppe, der Paralyse . Sie
bietet das mannigfachste und, für den ersten Blick, anscheinend wider¬
sprechendste Bild. Untersucht man bei Zimmertemperatur zahlreiche
Paralytiker in verschiedenen Stadien ihrer Erkrankung, so sieht man
Werte, die von der Norm bis zur extremsten Beschleunigung schwanken;
normale Verhältnisse findet man allerdings nur ausnahmsweise. Das
l ) Näheres über die Technik siehe Kafka , Taschenbuch der praktischen Unter -
suchungBmethoden der Körperflüssigkeiten bei Nerven- und Geisteskrankheiten.
II. Aufl.
Geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken. 543
Bild verschiebt sich aber im Temperaturversuch; hier sehen wir niemals
ein völlig normales Senkungsbild, es kann zwar Vorkommen, daß die E.-
und Z.-Werte normal ausfallen, doch ist das Resultat im B. stets ein
pathologisch beschleunigtes. Die Formel 1 gibt darüber Auskunft:
1. E. 0,2 (0,1); Z. 0,3 (0,1); B. 0,7 (0,4). Nur der letzte Wert ist hier
als abnorm anzusprechen. Im Zimmerversuch hätte man ein nor¬
males Verhalten annehmen müssen, was aber tatsächlich nicht der
Fall ist.
Untersucht man Kranke, die eine mäßige Beschleunigung bei Zimmer¬
temperatur darbieten, so sieht man sehr oft eine starke Zunahme der
Sedimentierung im B., eine deutliche Verlangsamung im E., während
der Zimmerversuch wiederum die Mitte einnimmt: 2. E. 0,6 (0,3);
Z. 1,1 (0,5); B. 4,9 (1,5). Sämtliche Zahlen sind hier als pathologisch
anzusehen, und der Einfluß der Temperatur ist auf das Phänomen
deutlich zu erkennen, kann aber eine ganz ungewöhnliche Höhe erreichen,
wie der folgende Fall beweist: 3. E. 0,3 (0,1); Z. 1,5 (0,2); B. 7,0 (4,7).
Die beiden zuletzt angeführten Fälle geben starke, durch Temperatur¬
einflüsse bedingte Schwankungen wieder, die erzielten Kurven sind
recht gut charakterisiert.
Bei einer Reihe von Kranken mit einer im allgemeinen etw f as
größeren Sg. sind die Differenzen nicht so groß, doch scheint der Sen¬
kungstypus prinzipiell derselbe zu sein: z. B. 4. E. 3,8 (1,2); Z. 4,4
(1,6); B. 6,4 (1,0). An diesen Kurventypus schließt sich eine Reihe
von weiteren an, die immer weniger sich differenzieren lassen und
schließlich Temperatureinflüssen gar nicht mehr unterworfen sind:
5. E. 4,5 (1,8); Z. 4,5 (2,0); B. 6,0 (2,8), oder ganz besonders deut¬
lich bei Kranken mit sehr hoher Sedimentierung: 6. E. 14,4 (13,2);
Z. 14,0 (12,4); B. 13,9 (6,2). Solche Kurven sieht man bei Paraly¬
tikern immer wieder. Obwohl die Gesamtsenkung bei diesen Kran¬
ken in allen Röhrchen fast völlig gleich ist, ist doch der Senkungs¬
typus namentlich in der ersten Stunde kein einheitlicher. Wie die
Zahlen angeben, ist die Sedimentierung in E. und Z. in der ersten
Stunde sehr hoch und fast abgeschlossen, während in B. die Senkung
gleichmäßig in beiden Stunden vor sich geht. Etwas besonders Charak¬
teristisches scheint aber darin nicht zu liegen; man sieht ebensooft
eine nahezu gleichmäßige Senkung in sämtlichen Röhrchen: 7. E. 14,0
(12,5); Z. 14,5 (10,0); B. 14,8 (11,7).
Bei den als Beispiel unter 6. (Seite 543) und 7. (Seite 543) angeführten
Fällen ist, wie schon erwähnt, ein Temperatureinfluß auf die Sg. nicht
nachweisbar, sie bilden eine Bestätigung der Angaben von Josephoivitz ,
der bei schnell sedimentierenden Fällen jeglichen Temperatureinfluß
vermißte. Sie bilden eine gut umschriebene Gruppe und sind bei der
Paralyse in einer großen Anzahl vertreten.
544 K. Löwenberg: Über den Einfluß der Temperatur auf die SenkungB-
Eine weitere Eigenart der Paralyse bildet ein den eben geschil¬
derten Verhältnissen gewissermaßen entgegengesetzter Typus, bei dem
in E. die höchste, in B. die geringste Sedimentierung eintritt; im Zimmer
aber wird wie beim obigen Typus der mittlere Wert verzeichnet:
8. E. 5,2 (1,0); Z. 2,1 (0,7); B. 1,9 (1,0). Eine etwas andere Variante
gibt die nächste Formel wieder: 9. E. 6,0 (0,9); Z. 0,9 (0,5); B. 1,7
(0,8); hier fällt der Höchstpunkt wiederum auf E., dann aber folgt B.
und zuletzt Z. Vergleicht man die Formel 8 mit der Formel 2, so könnte
man sie fast als Spiegelbilder ansehen.
Schließlich wäre noch ein Kurventypus zu erwähnen, bei welchem
eine gleichhohe Sedimentierung in E. und B. eintritt, während der
geringste Wert auf den Zimmertemperaturversuch fällt: 10. E. 5,6
(2,7); Z. 3,3 (1,6); B. 5,5 (3,0).
Die angeführten Kurven sind Typen, die das abwechslungsreiche
Bild der Sg. bei progressiver Paralyse im allgemeinen wiedergeben,
und die es gestatten, in den allermeisten Fällen in geschilderter Weise
eine Gruppierung durchzuführen. Bei der Aufzählung der verschie¬
denen Senkungstypen sind sie der Übersicht halber ohne Rücksicht
auf das klinische Bild schematisiert worden. Es ist aber bei der progres¬
siven Paralyse durchaus möglich, eine Übereinstimmung mit dem
klinischen Befund nachzuweisen, und es tritt uns eine gut erkennbare
Gesetzmäßigkeit entgegen, die mit den in meiner ersten Arbeit aus¬
führlich niedergelegten Befunden des Zimmertemperaturversuches
durchaus übereinstimmt. Die Senkungsgeschwindigkeit ist bei Paraly¬
tikern vom körperlichen Zustand weitgehend abhängig, und dement¬
sprechend ist die Sedimentierung bei Kranken in gutem Ernährungs¬
zustand und beim langsamen Fortschreiten ihres Leidens eine geringe.
Es kann sogar in seltenen Fällen, wie schon oben erwähnt, beim Zimmer¬
versuch ein normaler Wert festgestellt werden und nur im Brutschrank
erfolgt eine pathologische Beschleunigung. Die Formel 1 (Seite 543)
gibt ein solches Verhalten wieder. Sie stammt von einem Kranken,
der sich bereits 2 Jahre in der Anstalt befindet und bald nach der
Aufnahme eine Malariakur durchgemacht hat. Sein körperlicher
Zustand war damals schlecht, er halluzinierte viel und war sehr unruhig;
die Sg. war eine hohe. Der Kranke erholte sich körperlich nach der
Fiebertherapie weitgehend, eine psychische Besserung blieb aber aus.
Seit l 1 /* Jahren erfreut er sich eines blühenden körperlichen Zustandes
bei gleichzeitigem starken psychischen Defekt, der ihn anstaltsbedürftig
macht. Die Krankheit macht bei ihm anscheinend keine oder doch
nur sehr langsame Fortschritte; diesem körperlichen Befund ent¬
spricht durchaus das Ergebnis des Temperaturversuches, wobei in E.
und Z. die Werte durchaus normal, im B. jedoch leicht pathologisch
beschleunigt sind.
geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken. 545
Wird durch die Fiebertherapie eine Remission hervorgerufen, so
geht die Sg. der psychischen Besserung nicht immer parallel, wobei
offenbar eine ungewöhnlich starke Labilität des Blutes aus einer beson¬
ders hohen Senkung inB. zu erkennen ist (Formel 4, Seite 543). Dieser
Befund ist nach Eintritt einer weitgehenden psychischen Besserung
erhoben worden, die es dem Kranken erlaubte, seinen Beruf als Hand¬
werker mit bestem Erfolg wieder aufzunehmen. Anscheinend spiegelt
sich in diesem Verhalten der tiefgehende Einfluß der Malariatherapie
auf die Sg. wieder, der — auf der Höhe des Fiebers stark ausgeprägt —
in diesem Stadium jeglichen Einfluß der Temperatur vermissen läßt.
Formel 6 (Seite 543) mag zur Erläuterung dieser Tatsache dienen.
Von großem Vorteil erwies sich der Temperaturversuch bei Para¬
lytikern im Beginn ihres Leidens. Der körperliche Zustand solcher
Patienten ist nicht selten ein noch befriedigender, und die Sedimen-
tierung gibt — bei Zimmertemperatur ausgeführt — eine nur mäßige
Beschleunigung wieder. Daß aber bereits in solchen Fällen schwere
Veränderungen des Blutes bestehen können, beweist die oft enorme
Beschleunigung der Sg. im E., wie es die Formeln 8 und 9 (Seite 544)
veranschaulichen. Gerade solche Befunde gehören zum Bild der ini¬
tialen Paralyse; bei anderen Psychosen aber habe ich sie nur ganz
vereinzelt und niemals so deutlich ausgeprägt gesehen. Bei Fall 8 und 9
scheinen ganz besondere Verhältnisse vorzuliegen.
Bei hochgradig abgemagerten Kranken mit hoher Senkungs¬
geschwindigkeit ist der Einfluß der Temperatur bei vielen Fällen, aber
nicht regelmäßig zu bemerken; dies entspricht auch den Verhältnissen
während der Fiebertherapie. Zahlreiche Paralytiker im letzten Sta¬
dium ihrer Erkrankung gehören hierher, daneben aber auch einzelne
stark abgemagerte und unruhige Kranke des ersten Stadiums und
schließlich, wie schon mehrfach erwähnt, die mit Malaria Behandelten
(siehe Formeln 6 und 7, Seite 543). Die außergewöhnlichen Verhältnisse,
wie Malariatherapie, hochgradige Abmagerung usw., bringen es mit sich,
daß die Zahl hochsedimentierender Fälle gerade unter den Paralytikern
eine besonders große ist, was dieser Krankheitsgruppe in bezug auf die
Sg. eine Sonderstellung verleiht. Zu einer letzten Gruppe könnte man
zahlreiche Kranke zusammenfassen, deren Leiden lange besteht und
chronisch verläuft, ferner die einen weitgehenden psychischen Defekt
aufweisen, aber in einem leidlich guten Ernährungszustand sich be¬
finden. Die Senkungsgeschwindigkeit eines solchen Falles gibt das
wenig charakteristische Bild der Formel 10 (Seite 544) wieder.
Zusammenfassung: Durch den Temperaturversuch wird das Bild
der Sg. bei der progressiven Paralyse wesentlich vertieft und erweitert.
Trotz einer großen Variationsbreite dieses biologischen Phänomens
läßt sich überall ein gesetzmäßiges Verhalten der Sedimentierung er-
546 K. Löwenberg: Über den Einfluß der Temperatur auf die Senkungs¬
kennen. Das Bild von stationären Paralytikern in gutem Ernährungs¬
zustand verhält sich in E. und Z. wie dasjenige von normalen Indivi¬
duen, zeigt aber im B. ein abnormes Resultat. Die große Labilität
des Blutes bei Kranken im Anfangsstadium ihres Leidens kommt
durch eine starke Beschleunigung der Senkung im B. zum Ausdruck;
nicht weniger interessant ist es, daß gerade in solchen Fällen das Ver¬
halten der Sedimentierung das Entgegengesetzte sein kann und der
Höchstwert auf den Eisschrank fällt. Diese Beobachtungen gestatten
einen tieferen Einblick in die pathologischen Stoffwechselstörungen
dieser Spätsyphilisform. Zu den weiteren Ergebnisse des Temperatur¬
versuches gehört der Nachweis großer Schwankungen nach überstan¬
dener Malariakur, ein Phänomen, das noch zu einer Zeit nachgewiesen
werden kann, in welcher der Zimmerverscuh bereits wenig Bemerkens¬
wertes ergibt. Von Interesse ist schließlich, daß der Temperatur¬
einfluß auf die Sg. bei bestehender sehr hoher Sedimentierung nicht
immer nachgewiesen werden kann und die Senkung des Blutes in allen
Röhrchen gleichmäßig ausfällt.
II.
Ein ganz anderes Bild bietet die Dementia praecox. Hier besteht
fast immer derselbe Senkungtypus mit relativ kleinen Schwankungen.
Der Einfluß der Temperatur ist deutlich nachweisbar; mit deren Zu¬
nahme wird auch die Sedimentierung eine höhere, dementsprechend
erfolgt im E. die geringste, im B. die größte Beschleunigung, während
der Z.-Wert die Mitte innehält. Bei einer Reihe von Kranken kommt
es vor, daß die E.- und Z.-Werte normal ausfallen, was jedoch im B. fast
niemals der Fall ist. Auffallende, durch das Geschlecht bedingte Unter¬
schiede scheinen bei dieser Versuchsanordnung nicht zu bestehen,
obwohl man den Eindruck hat, daß die Frauen im allgemeinen etwas
schneller sedimentieren als die Männer. Doch überwiegen mittlere
Werte bei beiden Geschlechtern, so daß in dieser Hinsicht die Ergeb¬
nisse mit denen des Zimmerversuches sich durchaus decken, wie ich
es in meiner früheren Arbeit erwähnt habe.
Eine Übereinstimmung zwischen der Schwere des klinischen Bildes
und der Höhe der Sedimentierung scheint nicht zu bestehen, weder
in körperlicher noch in psychischer Hinsicht.
Sehr oft sieht man abgemagerte und psychisch schwer erkrankte
Patienten beiderlei Geschlechts, die nur ein geringes Senkungsver¬
mögen darbieten, wobei auch der Temperatur kein besonderer Ein¬
fluß im Sinne einer Beschleunigung zukommt. 2 Formeln mögen dies
illustrieren: Eine stark abgemagerte und verblödete Kranke hatte
folgende Werte: 11. E. 0,4 (0,2); Z. 0,4 (0,2) ; B. 0,9 (0,4). Die Werte
sind nicht als abnorm anzusehen und bedeuten für das weibliche Ge-
Geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken. 547
schlecht keine Beschleunigung. Ein fast gleicher Befund konnte bei
einem 19jährigen, ebenfalls verblödeten völlig und körperlich elenden
Manne erhoben werden: 12. E. 0,5 (0,2); Z. 0,9 (0,4); B. 2,3 (0,8).
Bemerkenswert sind in beiden Fällen die geringen Schwankungen im
Verhalten des Blutes, das nur auf eine höhere Temperatur reagiert. In
die gleiche Gruppe gehören offenbar noch zahlreiche Patienten, die
das gleiche klinische Bild bieten, deren Sedimentierungswerte aber etwas
größer sind und in der Regel eine mittlere Beschleunigung aufweisen:
13. E. 1,8 (0,8) ; Z. 3,0 (1,8); B. 6,0 (3,8). Der Einfluß der Temperatur
ist in solchen Fällen gut erkennbar, er erreicht aber bei weitem nicht
die Höhe, wie man sie bei manchen Paralytikern findet, auch ist der
Senkungstypus ein viel einheitlicherer als bei der Paralyse. Das Aus¬
geführte gilt für beide Geschlechter.
Bei einer Reihe psychisch schwer erkrankter Individuen, die aber
im Gegensatz zu der ersten Gruppe körperlich rüstig bleiben, sieht
man ein anderes Bild: Die Senkung kann bei diesen Kranken in E.
und Z. eine normale oder doch ganz unwesentlich beschleunigte sein,
während im B. eine starke Zunahme der Sedimentierung erfolgt:
14. E. 0,3 (0,1); Z. 0,4 (0,2); B. 5,3 (0,5). Bemerkenswert ist hier die
starke Senkung in der zweiten Stynde. Zahlreiche andere Kranke im
gleichen Zustand bieten das wenig charakteristische Bild einer mäßigen
Beschleunigung, die parallel mit der Temperatur zunimmt und den
Höchstwert im B. erreicht. Diese Gruppe umfaßt eine große Reihe
von Kranken mit verschiedener Sg., so daß es nicht möglich ist, bei
dieser Gruppe die Senkungsgeschwindigkeit in eine Norm zu fassen.
Bemerkenswert ist weiterhin, daß zahlreiche Kranke, die zu einer
wesentlichen Besserung ihres psychischen Zustandes gelangen, so daß
sie eventuell ihrem Beruf nachgehen können, eine mäßige Beschleu-
nigung der Senkungsgeschwindigkeit behalten, welche offenbar keine
Tendenz hat, einem völlig normalen Verhalten Platz zu machen.
Der katatone Stupor bietet anscheinend das Bild einer größeren
Labilität. Man sieht dabei nicht selten den Höchstwert im B., dann
folgt E., der mittlere Wert fällt wiederum auf Z. Solche Befunde
sind bei Dementia praecox selten. Nur ganz ausnahmsweise begegnet
man Fällen, die im E. eine etwas höhere Senkung erreichen als im Z.,
ein Verhalten, ähnlich dem, wie es bei der Paralyse geschildert worden
ist, doch sind die Differenzen niemals so hoch wie bei der letztgenannten
Krankheit. Sie fallen aus dem Rahmen der Werte der Sg. bei Dementia
praecox und lassen sich vorläufig bei keiner der geschilderten Gruppen
unterbringen.
* Einen anscheinend besonderen Platz nehmen die puerperalen
Psychosen ein. Die 3 der Betrachtung zugrunde liegenden Kranken
wurden von klinischer Seite als Dementia praecox aufgefaßt. 2 Primi-
548 K. Löwenberg: Über den Einfluß der Temperatur auf die Senkungs-
parae erkrankten im Anschluß an die normal verlaufene Geburt, die
dritte im siebenten Monat ihrer fünften Schwangerschaft. Von den
2 ersten hatte die eine noch 8 Wochen nach der Geburt eine hohe Sg.,
erholte sich aber psychisch bald weitgehend, so daß sie entlassen wer¬
den konnte. Sie bot das für die Dementia praecox ungewöhnliche Bild
einer hohen Sg. bei schlechtem körperlichen Zustand. Der zweite Fall,
eine 22 jährige Erstgebärende, erkrankte ebenfalls im Anschluß an den
Partus. Sie wurde sehr unruhig, verwirrt, redete ununterbrochen irre,
verkannte ihre Umgebung, magerte sehr stark ab. 3 Wochen nach der
Geburt ergab die Sg. folgende Werte: 15. E. 13,6 (10,8); Z. 14,2 (9,5);
B. 14,9 (12,8). In den nächsten 2 Monaten verschlechterte sich der
Zustand immer mehr, ein psychischer Kontakt ist mit der Kranken
nicht mehr möglich, sie ist äußerst unruhig und hochgradig abge¬
magert. Die Sg. bleibt unverändert. Auch dieser Befund ist für die
Dementia praecox ein ungewöhnlicher, da die meisten an dieser Krank¬
heit leidenden, körperlich elenden Kranken eine mäßige Beschleunigung
der Senkung darbieten. Auch die dritte in der Gravidität erkrankte
Patientin behielt bis jetzt (8 Wochen nach der Geburt) eine hohe Sen¬
kung bei schlechtem körperlichen Zustand.
Zusammenfassung: Das Bild der # Senkungsgeschwindigkeit bei der
Dementia praecox ist im Temperaturversuch ein wesentlich ruhigeres
als das der p. P. Der Einfluß der Temperatur ist deutlich erkennbar,
gewöhnlich wird der Höchstwert im B. erreicht. Weder der körper¬
liche noch der psychische Zustand ist für die Höhe des Sg. bestimmend,
vielmehr scheint oft ein paradoxes Verhalten zu bestehen, wobei körper¬
lich elende Kranke eine geringe und wohlgenährte eine wesentlich
stärkere Sedimentierung aufweisen. Eine straffe Gruppierung läßt
sich nicht immer durchführen. Psychisch leichte Kranke bzw. gebesserte
Patienten behalten eine leichte Beschleunigung der Senkung. Frauen
scheinen etwas stärker zu sedimentieren als Männer, jedoch bestehen
keine besonders hohen Unterschiede. Bei beiden Geschlechtern über¬
wiegen mittlere Werte. Der katatone Stupor bietet im T.-Versuch
offenbar etwas labilere Verhältnisse. Die puerperalen Psychosen haben
eine sehr hohe Sg., welche dem meist sehr schlechten körperlichen
Zustand dieser Kranken entspricht. Dieses Verhalten ist im Rahmen
der Dementia praecox ein ungewöhnliches.
III.
Die Senkungsgeschwindigkeit bei der Epilepsie ist bis jetzt nur
sehr wenig berücksichtigt worden. F . Plant stellte bei Epilektikern
eine mäßige Beschleunigung der Sedimentierung fest, was ich in meiner
ersten Arbeit bestätigen konnte. Es ist aber bis jetzt eine Reihe von
Fragen nicht erörtert worden, die für das Epilepsieproblem nicht ohne
geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken^ 549
Interesse sein dürften. Vor allem mußte der Einfluß des epileptischen
Anfalls auf das Verhalten der Sg. festgestellt und weiterhin nach¬
geprüft werden, ob zwischen dem klinischen Bild und dem Charakter
der Sedimentierung irgendwelche erkennbaren Zusammenhänge be¬
stehen. Bevor ich zur Besprechung dieser Fragen übergehe, möchte
ich einiges über das Gesamtbild der Sg. im Temperaturversuch bei
dieser Erkrankung bemerken: Die Sedimentierung ist in den meisten
Fällen nur mäßig beschleunigt, beim Zimmerversuch sieht man nicht
allzuselten normale Werte, namentlich bei Männern; im Temperatur¬
versuch ist aber in allen Fällen ein pathologisches Verhalten des Blutes
in B. nachweisbar, erreicht aber selten hohe Werte. Der Kurventypus
ist durchaus einheitlich; der Anstieg geht mit der Temperatur parallel;
die Schwankungen sind gering, und das Gesamtbild bietet wenig Bemer¬
kenswertes.
Ich legte mir nun zunächst die Frage vor, ob sich die Sg. bei Epilep¬
tikern ohne psychischen Ausfall anders verhält als bei geistig schwer
alterierten Kranken. Ein solcher Unterschied scheint nicht zu bestehen,
wie es der nächste Fall anzeigt: Ein 22jähriger Student von kräftigem
Körperbau, der an typischen Anfällen leidet, hatte nur eine ganz geringe
Beschleunigung: 16. E. 0,5 (0,2); Z. 1,0 (0,4); B. 2,0 (0,9). Der nächste
Fall, der noch eine viel geringere nur im B. nachweisbare pathologische
Sedimentierung aufweist, stammt von einem völlig verblödeten, 23jäh«
rigen, körperlich sehr heruntergekommenen Kranken: 17. E. 0,4 (0,1);
Z. 0,4 (0,2); B. 1,0 (0,5). Bemerkenswert ist in beiden Fällen die geringe
Einwirkung der Temperatur auf das Phänomen sow r ie eine weitgehende
Unabhängigkeit vom klinischen Bilde. Zahlreiche schwererkrankte
Patienten, die anstaltsbedürftig sind, körperlich aber sich in einem
befriedigenden Zustande befinden, reagieren etwas stärker wie Fall 18
angibt: 18. E. 3,2 (1,4); Z. 4,6 (2,0); B. 7,2 (4,6). Dieser Fall kann
als der Durchschnittstypus der Epilepsie bezeichnet werden, man sieht
ähnliche Befunde bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, jedoch
gehören Formeln 16 und 17 keineswegs zu den Seltenheiten. Wenn auch
der Ernährungszustand keine entscheidende Rolle spielt, kommen ver¬
einzelt Fälle vor, welche diese Regel durchbrechen; so fand ich bei
einer 38jährigen Frau, mit extremster Abmagerung, eine sehr hohe
Senkung; dieser Fall ist auch von klinischer Seite als ein ungewöhn¬
licher bezeichnet worden. Die Höhe der Sedimentierung gibt die
Formel 19 an: E. 8,5 (7,0); Z. 9,5 (6,2); B. 12,4 (9,6). Bemerkens¬
wert ist hier der Einfluß der Temperatur im Sinne einer allmählichen
Beschleunigung der Sedimentierung, obwohl die Senkung in allen
3 Röhrchen eine sehr hohe ist. Die Patientin starb 4 Wochen nach der
Ausführung der Senkungsprobe, die Sektion ergab den bei der genuinen
Epilepsie üblichen makroskopischen negativen Befund.
550 K. Löwenberg: Über den Einfluß der Temperatur auf die Senkungs-
Von größtem Interesse war das Studium der Einwirkung des epilep¬
tischen Anfalls auf die Sg. Zu diesem Zwecke wurde das Blut den
Kranken während der Aura, sofern eine solche einem Anfall voraus¬
ging, sowie unmittelbar nach dem Anfall entnommen und der Tem¬
peraturversuch ausgeführt, schließlich wurde auch zwischen einzelnen
in kurzen Intervallen aufeinanderfolgenden großen Anfällen die Höhe
der Sedimentierung bestimmt und mit den übrigen Ergebnissen ver¬
glichen. Es ergab sich dabei die übereinstimmende Tatsache, daß
epileptische Anfälle, selbst wenn sie Schlag auf Schlag aufeinander-
folgen, eine Änderung der Sedimentierungshöhe oder ein Umschlagen
ihres Typus nicht herbeiführen; das gleiche gilt auch von kleinen
Anfällen sowie epileptischen Verwirrtheitszuständen. Einige Beispiele
mögen das Gesagte erläutern: Frl. F., 23 Jahre, jede Nacht 1—3 Anfälle;
der Zustand bleibt etwa 3—4 Wochen unverändert, danach häufen
sich die Anfälle und treten auch am Tage auf, der Zustand klingt all¬
mählich ab, worauf nicht selten ein mehrwöchiger freier Zwischenraum
sich einzustellen pflegt, schließlich stellen sich wieder nächtliche Anfälle
ein. 18 Stunden nach dem letzten und 48 Stunden vor dem nächsten
Anfall ist die Senkungsreaktion, wie folgt: 20. E. 1,9 (0,5); Z. 2,7 (1,2);
B. 5,4 (2,2). 48 Stunden später bekommt die Kranke nachts 3 Anfälle,
um 10 Uhr morgens 4. schwerer Anfall, der eine halbe Stunde dauert,
um 11 Uhr (die Patientin ist noch benommen) Blutentnahme mit
folgendem Ergebnis: 21. E. 1,4 (0,5); Z. 2,6 (1,0); B. 5,0 (1,9). Eine
Stunde nach der Blutentnahme erfolgt ein 5., ebenfalls schwerer Anfall.
Eine nochmalige Blutentnahme zwischen 2 Anfällen in einem Abstand
von einer halben Stunde am gleichen Tage ausgeführt, ergibt das
gleiche Resultat wie das der Formeln 20 und 21. Bei einem zweiten
Kranken, der im Status epilepticus nach dem 27. Anfall starb, war
das Verhalten der Sedimentierung ein gleiches, und schließlich erwies
sich die Sg. bei einer Patientin, die während der Blutentnahme einen
Anfall bekam, gegenüber dem freien Intervall ebenfalls in keiner Weise
verändert. Bei allen der Betrachtung zugrunde hegenden Patienten,
die zum Teil 2 Jahre lang beobachtet worden sind, war und blieb die
Sg. nur mäßig beschleunigt. Nicht anders liegen die Verhältnisse
wenn es gelingt, durch Luminal die Anfälle zu unterdrücken; auch ändert
sich die Sg. nicht, wenn nach Aussetzen des Luminals die Anfälle
wiederkehren. Schließlich scheint auch die Dauer der Erkrankung
sowie das Alter, in welchem die epileptischen Anfälle zuerst auftraten
(kindliches Alter, Pubertät, Klimakterium) für die Höhe der Sg.
belanglos zu sein.
Nur ganz ausnahmsweise findet man auch bei der Epilepsie Kurven,
die von dem straffen einheitlichen Typus etwas abweichen. Die Sg.
ist dabei im E. und Z. fast gleichhoch; der Typus erinnert an den bei
geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken. 551
der Katatonie geschilderten; die Gesamtsenkung hält sich in mäßigen
Grenzen.
Zusammenfassung: Die Sg. bei der Epilepsie wird durch die Tem¬
peratur im Sinne einer Beschleunigung deutlich beeinflußt, die Höhe
der Sedimentierung hält sich bei der Mehrzahl der Kranken in mäßigen
Grenzen; bei einer Reihe von Epileptikern sieht man nur im B. patho¬
logische Werte. Zwischen der Schwere der psychischen Erkrankung
und der Höhe der Sedimentierung besteht kein Parallelismus, auch
kommt dem Ernährungszustand keine erhebliche Rolle zu. Epilep¬
tische Anfälle und Verwirrtheitszustände scheinen das
Bild der Sg. in keiner Weise zu verändern. Das Luminal
übt keinen Einfluß aus. Mit einer bemerkenswerten
Zähigkeit wird die einmal bestehende Senkungshöhe
offenbar über Jahre hinaus festgehalten. Diese Fragen
werden von uns auch weiterhin geprüft, um die Zahl der
Beobachtungen zu vergrößern.
IV.
Schlußbemericungen: Eine gute Übersicht über das
Gesamtbild der Sg. bei den drei besprochenen Krankheits¬
gruppen gibt die kurvenmäßige Darstellung der Resultate
nach zweistündiger Beobachtung. An der Ordinate sind
die Werte der Sg., an der Abszisse die verschiedenen
Temperaturen notiert. Auf den ersten Blick fällt die große
Variationsbreite und Labilität des Phänomens bei der
progressiven Paralyse auf (Abb. 1). Neben Kurven mit
einem allmählichen Anstieg, mäßigen Gesamtwerten und 2 stunden bei
geringen Schwankungen sieht man solche, bei welchen f^hrankV^^ei
der Temperatureinfluß zu sehr großen Differenzen in den ^i“ mertem ^' d
verschiedenen Röhrchen führt, dabei sind es oft Fälle, im Brutsclirank
deren Sg. sehr stark beschleunigt ist. Bemerkenswert ist
bei diesem Verhalten die Einwirkung niedriger Temperaturen im Sinne
einer starken Beschleunigung der Sg., die nicht selten sogar die Wir¬
kung der Blutschranktemperatur übertreffen kann. Dieses Verhalten
ist für die Paralyse in hohem Grade charakteristisch und trägt dazu
bei, dem Gesamtbild der Sedimentierung im Temperaturversuch bei
dieser Krankheit einen abwechslungsreichen Charakter zu geben, wie
man ihn bei anderen Geistesstörungen nicht findet. Es ist weiterhin
für die progressive Paralyse charakteristisch, daß eine weitgehende Über¬
einstimmung mit dem klinischen Befund nachgewiesen werden kann.
Die mehrfach erwähnte große Labilität des Blutes macht es ver¬
ständlich, daß oft schon im Beginn der progressiven Paralyse der Tem¬
peraturversuch große Abweichungen der Senkungsgeschwindigkeit an-
Z. f. d. g. Neur. n. Psych. XCIII.
e z 8
Abb. 1. Blut¬
senkung nach
3G
552 K. Löwenberg: Über den Einfluß der Temperatur auf die Senkungs¬
gibt, Abweichungen, welche durchweine oft sehr hohe Sedimentierung
im E. und B. zum Ausdruck kommen. Aber auch bei Kranken mit
weitgehenden Remissionen lassen sich durch den Temperaturversuch
noch starke Schwankungen der Sg. feststellen, die beweisen, daß eine
Heilung im biologischen Sinne noch nicht eingetreten ist. Das ein¬
heitlichste Bild ergibt die Untersuchung zahlreicher chronisch Kranker,
die sich in einem relativ guten Ernährungszustand
Psychose befinden und doch ein langsames Fortschreiten ihres
Leidens zeigen. Die Sg. ist bei ihnen oft nur mäßig
beschleunigt; die Einwirkung der Temperatur auf das
Phänomen ist nicht sehr stark. Bei malariainfizierten
und fiebernden Paralytikern mit sehr hoher Senkungs¬
geschwindigkeit sowie bei schwer abgemagerten Per¬
sonen ist der Einfluß der Temperatur auf die Sg.
gewöhnlich nicht zu bemerken.
Die Ergebnisse aller bis jetzt angewandten Ver¬
suchsanordnungen (Zimmerversuch, Austauschversuch,
Temperaturversuch) haben wertvolle Tatsachen er¬
geben, die uns einen Einblick in die komplizierten
pathologischen Stoffwechselvorgänge bei dieser Krank¬
heit gestatten. Alle bis jetzt angewandten Versuchs¬
anordnungen sprechen übereinstimmend im Sinne
einer sehr hohen Labilität des Blutes bei der pro¬
gressiven Paralyse.
Wie groß der Unterschied zwischen der progres¬
siven Paralyse und der Dementia praecox ist, ergibt
der Vergleich mit der Abb. 2. Der Einfluß der Tem¬
peratur äußert sich in einer ganz anderen Weise.
Fast ausnahmslos sehen wir ein allmähliches An-
q x *ormqi steigen der Sedimentierung mit Höchstwert im B.
Der Senkungstypus ist ein und derselbe mit relativ
*Y
tfb
*>Y
9Y
*Y
Abb. 2. Blutsenkung
nach 2 Stunden bei De-
sä" «*««> *i» !■» z
mertemperatur(Z) und
im Brutschrank (J3).
geringen Schwankungen. Nur selten sieht man Fälle
mit mäßiger Sg., die im E. etwas schneller sedimen-
Sie gehören zu den Ausnahmen
mertemperatur (Z) und und erreichen niemals die extremen Differenzen wie
bei der progressiven Paralyse. Ein weiterer grund¬
legender Unterschied liegt darin, daß eine Übereinstimmung mit dem
klinischen Bilde nicht nachgewiesen werden kann. Man hat oft den
Eindruck, daß ein geradezu paradoxes Verhalten vorliegt, da schwer
abgemagerte und verblödete Patienten eine geringe Sg. aufweisen,
während physisch kräftigere Kranke eine bedeutend höhere Sedimen¬
tierung haben. Wesentliche, durch das Geschlecht bedingte Unter¬
schiede wurden nicht beobachtet, wenn man auch den Eindruck
Geschwindigkeit der roten Blutkörperchen bei Geisteskranken. 553
hatte, daß Frauen im allgemeinen etwas schneller sedimentieren als
die Männer.
Ein ganz anderes Verhalten ergab die Untersuchung der puerperalen
Psychosen: Die Sg. ist bei diesen Erkrankungen eine sehr hohe, bei
gleichzeitigem elenden, körperlichen Zustande. (Abb. 2, oberste Kurve.)
Das beständigste Verhalten der Sg. beobachteten wir bei der Epi¬
lepsie (Abb. 3). Der Kurventypus kann hier als fast
einheitlich angesehen werden; der Einfluß der Tempe¬
ratur auf die Sedimentierung ist eindeutig; bei beiden
Geschlechtern überwiegen mittlere Werte. Auffallend ist,
daß der epileptische Anfall, auch bei Summation, keine
Beeinflussung der Sg. herbeizuführen scheint. Damit
stimmt auch die Beobachtung überein, daß die Unter¬
drückung der Anfälle durch das Luminal das Bild der
Sg. in keiner Weise ändert. Der psychische und körper¬
liche Zustand hat auf die Stärke der Sedimentierung
keinen Einfluß. Die Sg. scheint bei der Epilepsie nur
ganz geringen Änderungen unterworfen zu sein.
Wenn wir nun das über die Sg. bei Geisteskranken
Gesagte zusammenfassen, so drängt sich der Gedanke
auf, daß der Einwirkung der Temperatur auf das Blut
verschiedener Geisteskranker ganz wesentliche Differenzen
im Blut zugrunde liegen. Nur mit großen Einschränkungen
gilt daher die von Josephowicz geäußerte Meinung, daß
schnell sedimentierende Fälle nur deswegen Temperatur¬
einflüsse vermissen lassen, weil die Senkung abgeschlossen
wird, bevor das Blut sich genügend abkühlen bzw. er¬
wärmen kann. Dagegen sprechen vor allem die Befunde
bei der progressiven Paralyse, bei welcher, wie ausführlich
dargetan ist, zahlreiche Kranke mit hoher Sg. im E.
schneller sedimentieren als im Z. und sogar im B., und
erst die schweren Blutveränderungen bei den mit Malaria
behandelten Kranken ändern dieses Verhalten. Aber auch
bei anderen psychischen Erkrankungen ist die Einwirkung
der Temperatur auf verschiedene Krankheitsformen nicht
immer einheitlich. Man sieht z. B. bei manchen Epileptikern trotz
sehr hoher Sg. doch noch ein deutliches Parallelgehen der Sedimen¬
tierung mit der Temperatur. Nur in einer relativ kleinen Anzahl von
Fällen scheint das Blut so hochgradig verändert zu sein, daß der Ein¬
fluß der Temperatur nicht mehr zur Geltung kommen kann. Aber auch
diese Gruppe ist alles andere denn einheitlich; man sieht puerperale
Psychosen, Malariakranke, schwer abgemagerte Paralytiker und ganz
gelegentlich Dementia-praecox-Kranke, die das durchschnittliche Ver-
36*
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Abb. 8. Blut¬
senkung nach
2 Stunden bei
Epilepsie im
Eisschrank (B),
bei Zimmer¬
temperatur (Z)
und im Brut¬
schrank (B).
554
K. Löwenberg: Über den Einfluü der Temperatur umv.
halten durchbrechen, es liegen also ätiologisch verschiedene Prozesse
vor, über deren Natur wir noch wenig wissen. Daher ist auch eine Deu¬
tung des Phänomens zurzeit noch nicht möglich.
Die angeführten Tatsachen lassen vermuten, daß der Einfluß der
Temperatur auf die Sg. bei Geisteskranken einen sehr komplizierten
Vorgang darstellt, der auf ganz verschiedene Bedingungen zurückzu¬
führen ist, eine Tatsache, die der humoralpathologischen Forschung
in dieser Frage neue Wege weist, deren Beschreiten für ätiologische
Fragen in der Psychiatrie von Interesse sein dürfte.
Literaturverzeichnis.
l ) Jo'Sephotricz, Med. Klinik 1922, Nr. 40. — 2 ) Höher , Dtscli. mcd. Wochcnschr.
1920, Nr. 16. — 3 ) Löwenberg , Zeitschr. f. d. ges. Ncurol. u. Psyehiatr. 8T.
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Halle a. S. —
Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Anton.)
Untersuchungen über die Muskelhärte bei Encephalitikern
und die Wirkung des Scopolamins auf dieselbe*).
Von
Dr. H. V. Kurelia und Dr. Fr. Schramm,
Assistenten der Klinik.
Mit 5 Textabbildungen.
(Eingegangen am 6. August 1924.)
Die moderne Dualitätstheorie der Muskelfunktion, daß Tonus
und Tetanus zwei verschiedene Prozesse sui generis sind, wurzelt
hauptsächlich in zoologischen und pharmakologischen Befunden.
Bei Seeigeln und Muscheln sind einige Muskeln funktionell und ana¬
tomisch in zwei verschiedene Bestandteile, den Bewegungsmuskel
und den Haltemuskel differenziert. Ferner ist die doppelgipflige Kon¬
traktionskurve des Warmblütermuskels bei der Veratrinvergiftung
von Bottazzi 1 ) als Ausdruck der toxischen Dissoziation des tetanischen
und tonischen Anteils des Muskels gedeutet worden. Die zunächst
sehr widerspruchsvollen Befunde über Energieverbrauch und elek¬
trisches Verhalten dabei haben ihre abschließende Deutung erst durch
die letzten Untersuchungen Dittlers 2 ) gefunden; er hat nachgewiesen,
daß die Kontraktion der Handmuskeln bei der künstlichen Atmungs¬
tetanie aktionsstromfrei verläuft, wenn der zugehörige Reflexbogen
durch Novocaininjektion in den betr. Nerven ausgeschaltet ist, daß
sie dagegen ohne diese Ausschaltung, wenn die afferenten und effe¬
renten Nervenbahnen intakt sind, stets Aktionsströme hervorruft.
Diese sind offenbar als der Effekt einer sekundär durch die tonische
Contractur propriozeptiv ausgelösten reflektorischen, d. h. tetani¬
schen Überlagerung aufzufassen [was durch die Untersuchungen
v. Weizsäcker8 3 ) über die Aktionsströme bei neuritischer Ataxie schon
wahrscheinlich gemacht worden war]; damit erklären sich auch die
äußerlich gegen die Dualitätstheorie sprechenden Befunde früherer
Autoren, vor allem Hansens , P. Hoffmanns und v. Weizsäckers 4 ),
daß nämlich Kontraktionsprozesse, die man unter die tonischen ein-
*) Nach einem im Ärzte verein Halle am 29. II. 1924 gehaltenen Vortrage.
556 H. V. Kureüa u. Fr. Schramm: Untersuchungen über die Muskelhärte
reihte (Starre des Wundstarrkrampfes, katatonische, encephalitische
und Enthimungsstarre), doch u. U. Aktionsströme aufwiesen.
Es erschien somit gerechtfertigt, die genannte Auffassung heuri¬
stisch auch in der klinischen Betrachtung zu verwenden. Der Aus¬
gangspunkt war für uns die auffällige Tatsache, daß das Scopolamin
bei den Erkrankungen der Parkinsongruppe bewegungsfördemd wirkt,
also den Rigor und auch den Tremor verringert (von Erb wurde es
zuerst bei der Paralysis agitans therapeutisch empfohlen), während
es bei Psychosen, bei der Chorea und bei nicht Nerven- und Geistes¬
kranken (Narkose!) eine gerade entgegengesetzte, d. h. bewegungs¬
hemmende Wirkung ausübt. Die genauere Analyse ist sowohl von
klinischem wie physiologischem Interesse.
Als Meßmethode verwandten wir die von Noyons und v. UexkuU 5 )
begründete und von Mangoldt 6 ) verbesserte SJderometrie (Härtemessung)
des ruhenden Muskels, deren Prinzip darin besteht, die Härte eines
Muskels durch seine Eindrückbarkeit durch verschiedene Gewichte
unter verschieden gestalteten Bedingungen zu bestimmen. Schon
bei dieser Art der Messung ergaben sich imerwartete Befunde, die
im folgenden geschildert werden sollen. Eine Untersuchung der
Resistenz des passiv gedehnten Muskels gegen Geschwindigkeits¬
änderungen ist als Ergänzung nötig, jedoch bedarf es dazu wohl noch
einer Verfeinerung der einfachen von v. Weizsäcker 7 ) hierfür ange¬
gebenen Methode.
Das Sklerometer ließen wir entsprechend den Angaben Mangöldts
von einem hiesigen Präzisionsmechaniker anfertigen. Es besteht im
Prinzip aus einem zweiarmigen Hebel, der in der wagrechten Achse
und nur in vertikaler Ebene drehbar an einem Stativ aufgehängt
ist; an dem einen längeren Hebelarm (240 mm von der Achse bis zur
Spitze) trägt er in 40 mm Entfernung von der Achse eine (40 mm
lang) gestielte Pelotte mit ebener ovaler Grundfläche von 7:11 mm
Durchmesser, die auf dem Muskel auf liegt; in 80 mm Entfernung
von der Achse befindet sich ein an einem Metallzylinder befestigtes
Häkchen zum Einhängen der Gewichte; der Hebel läuft am Ende
in eine Spitze aus, die seine Ausschläge an einem in Millimeter ge¬
teilten Maßstab registriert. An dem anderen kurzen Hebelarm ist
ein zylindrisches, verschiebliches Metallgewicht angebracht, das zur
horizontalen Ausbalancierung des Hebels dient. Die genannten Dimen¬
sionen sind so gewählt, daß die Hebelspitze die Einsenkung der Pelotte
in den Muskel in 6 facher Vergrößerung anzeigt.
Als Objekt für die Messungen wählten wir den Biceps brachii, ein¬
mal weil er von den größeren Muskeln die Spindelform am deutlichsten
zeigt, dann, weil er ohne eine zu unbequeme Haltung der Versuchs¬
person in eine genau horizontale Lage gebracht werden kann. Um
bei Encephalitikem und die Wirkung des Scopolamins auf dieselbe. 557
die Versuchßbedingungen möglichst gleichmäßig zu gestalten, lagerten
wir den linken Arm der Vp. in die Manschetten eines Zanderappa¬
rates für passive Bewegungen des Ellenbogens und maßen bei ge¬
strecktem und bei rechtwinklig gebeugtem Unterarm; die Vp. saß
bequem auf einem Stuhl, die Lage der Manschetten für Ober- und
Unterarm, sowie die Stelle, wo die Pelotte aufsaß, wurde auf dem
Arm mit Hautstift genau markiert. Die Ablesung der Ausschläge am
Maßstab, der an einem Stativ verschiebbar (zur jeweiligen Neuein¬
stellung des Nullpunktes) eingespannt war, geschah durch den einen
Beobachter, während der andere die Gewichte einhängte und nach
erfolgter Ablesung sogleich wieder abnahm. Wir haben anfangs stets
mit mehreren Gewichten (1, 2, 5, 10, 20 g) geprüft, später, entsprechend
den Angaben Mangoldis , nurmehr die Gewichte von 10 und 20 g ver¬
wendet. Das Einsinken der Pelotte verlief in zwei deutlich verschie¬
denen Phasen, einer raschen, ausgiebigen, der ein langsames Nach¬
sinken um ca. l l / t mm Hebelausschlag folgte; am Übergangspunkte
beider Phasen, der sich nach einiger Übung leicht erkennen ließ, wurde
abgelesen, d. h. das Nachsinken [bzw. die elastische Nachwirkung
(Mangoldt)], das bei höherer Muskelspannung fast ganz fehlte, wurde
unberücksichtigt gelassen. — Die Scopolamininjektionen wurden zur
Vermeidung lokaler Wirkungen stets in den rechten Arm der Vp.
gemacht, nur der linke Biceps wurde gemessen.
Als Störungsquellen erwiesen sich Schwankungen in der Haltung
der Hand und des Rumpfes einerseits, Ermüdung und Tagesschwan¬
kungen des Allgemeinbefindens (welch letztere ja gerade bei Ence¬
phalitikem sehr deutlich sind) andererseits. Die Vpp. gewöhnten
sich entsprechend ihrem Bildungsgrad mehr oder weniger schnell
daran, immer in der gleichen ungezwungenen Haltung dazusitzen,
sie wurden am Tage der Messung von jeder Arbeit befreit und mußten
sich möglichst ruhig verhalten; dadurch gelang es, die genannten
Störungen, bis auf die Tagesschwankung, die sich auch in unseren
Kurven wiedergibt, einigermaßen auszuschalten.
Im folgenden seien nun unsere Resultate in graphischer Dar¬
stellung aufgezeigt. Die Ordinate bedeutet die Eindrückbarkeit der
Pelotte in Millimeter (öfach vergrößert!), die Abszisse die Zeit. Die
mit 0 bezeichneten Linien geben die Kurven ohne Scopolamin, 8 die
Kurven mit Scopolamin an; der Zeitpunkt der Einverleibung des
Mittels ist durch einen Pfeil markiert mit Angabe der Dosis in Milli¬
gramm. Die gestrichelten Kurven zeigen die Härte werte bei recht¬
winklig gebeugtem Unterarm (im folgenden kurz als B-Stellung be¬
zeichnet!), die ausgezogenen Kurven die Werte bei gestrecktem Unter¬
arm (= S-Stellung!). Sämtliche Kurven sind bei einer Hebelbelastung
mit einem 20 g Gewicht gewonnen.
558 H. V. Kure 11a u. Fr. Schramm: Untersuchungen Aber die Muskelhärte
Abb. 1 zeigt die Schwankungen der Muskelhärte im Verlaufe des
Tages bei einem Normalen. Das Scopolamin wirkt in der B-Stellung
deutlich Härte vermindernd, d. h. erschlaffend, die Eindrückbarkeit
ist vergrößert, wie das auch zu erwarten war. In der S-Stellung ist
die Wirkung weniger ausgeprägt und hält sich innerhalb der Grenzen
der Tagesschwankung.
Bei Messungen an anderen Normalen haben sich ungefähr die
gleichen Resultate ergeben und wir haben aus diesen Befunden die
Mittelwerte für die B- und S-Stellung berechnet, die bei etwa 30 mm
in der B-Stellung und 20 mm in der S-Stellung liegen (bei Ofacher
Vergrößerung!). In den folgenden Kurven sind diese als Vergleichs¬
werte mit einer geraden Linie N eingezeichnet.
Abb. 2 veranschaulicht die Härte bei einem Spastiker (Pyramiden-
läsion unklarer Genese). Die Werte der B-Stellung sind deutlich ver¬
mindert, der Muskel ist härter, weniger eindrückbar; in der S-Stellung
ergibt sich keine konstante Abweichung. Versuche mit Scopolamin
wurden hier nicht gemacht.
Abb. 3 gibt den von uns als „ersten Typus“ der Encephalitiker
bezeichneten Befund weder. Es prägt sich hier das aus, was nach
dem klinischen Bilde des Rigor bei der Encephalitis zu erwarten war:
vermehrte Härte, d. h. verringerte Eindrückbarkeit in beiden Stel-
bei Enceph&litikern and die Wirkung des Scopolamins auf dieselbe. 559
lungen, verglichen mit dem Befunde beim Normalen, sowie Ver¬
schiebung dieser Werte zur Norm hin durch das Scopolamin, d. h.
eine erschlaffende, bzw. Härte vermindernde Wirkung durch dasselbe.
Abb. 4 zeigt den „zweiten Typus“ der Encephalitiker in reiner
Ausprägung: vermehrte Eindrückbarkeit ohne Scopolamin, weitere
Vermehrung derselben mit Scopolamin, sowohl in der B- wie in der
Abb. 8.
S-Stellung. Dabei handelt es sich klinisch um einen unzweifelhaften
Fall von Encephalitis, bei dem die allgemeine Bewegungshemmung
wie speziell der Rigor der Ellbogenbeuger und -Strecker (bei der ge¬
wöhnlichen Prüfung durch das Muskelgefühl des Untersuchers) un¬
verkennbar ist. Das Scopolamin veränderte hier den Zustand der
Härte nicht zur Norm hin, sondern umgekehrt von der Norm weg,
wirkt aber trotzdem klinisch-therapeutisch sowohl subjektiv wie
objektiv günstig, im Sinne der Bewegungserleichterung.
Bei Abb. 5 liegt ein ähnlicher Typus vor wie bei Abb. 4. Jedoch
ist hier die Härte nur in der S-Stellung vermindert, in der B-Stellung
dagegen normal. Das Scopolamin beeinflußt in der B-Stellung die
Härte im Sinne der Verminderung, d. h. von der Norm weg (wie bei
Abb. 4), in der S-Stellung ist die Wirkung nicht eindeutig.
560 H. V. Kurelia und Fr. Schramm: Untersuchungen über die Muskelhärte
Zur Deutung unserer Befunde wäre nun folgendes zu sagen:
Rigor und Härte stehen anscheinend nicht, wie man bisher implizite
annahm, in einem eindeutigen, geraden Abhängigkeits Verhältnis,
sondern können nach unseren Befunden sowohl gleichsinnig wie im
entgegengesetzten Sinne verändert sein.
Mit der unitarischen Theorie dürfte man diesen Umstand, wenn
überhaupt, nur durch Einbau von Hilfshypothesen vereinbaren können;
vom Standpunkte der dualistischen Theorie lassen sich diese Fakten
ohne weiteres in das Bisherige einf ügen: der tonische und der tetanische
Prozeß sind hier im entgegengesetzten Sinne gestört, und zwar be¬
findet sich der eine in Hypofunktion, der andere hingegen in Hyper¬
funktion. Die Entscheidung, ob es sich um Hypotonie und Hyper¬
tetanus (diese Bezeichnungen jetzt nicht klinisch-deskriptiv, sondern
in dem oben definierten Sinne der Dualitätstheorie genommen!) oder
39
32
30
23
26
2H
22
20
9 K) ft 12 1 2 3 0 5 6 7
Abb. 6.
um Hypertonie und Hypotetanus handelt, läßt sich zwingend auf
Grund der bisher bekannten Tatsachen u. E. noch nicht erbringen.
Für den Hypertetanus sprechen die Reflexsteigerung, die man oft,
wenn auch nicht immer, bei den Encephalitikem beobachtet, und
die elektromyographischen Befunde von Mayer und John 6 ); ferner
muß die Resistenz gegen Geschwindigkeitsänderungen (Bremsungen
und Zerrungen) nach den Untersuchungen von P. Hoffmann und
v. Weizsäcker 9 ) dem tetanischen System zugeschrieben werden, und
diese prägt sich bei den Encephalitikem eben in ihrem Rigor aus. —
Für die Hypotonie (d. h. die Hypofunktion des tonischen Apparates)
spricht der klinische Befund, daß bei einigen Muskeln des Encephali-
tikers die Funktionsminderung im Sinne der Schlaffheit überwiegt,
so besonders in den Kopfhebem, Masseteren, im Orbicularis oris, in
den Rumpf- und Kniestreckem, d. h. gerade bei denjenigen Muskeln,
die dem Ausdruck der Willensstärke dienen (man denke auch an die
Etymologie des Wortes „hartnäckig 44 !). Schon H. H . Meyer und
Fröhlich 10 ) haben es wahrscheinlich gemacht, daß die Beziehungen
des quergestreiften Wirbeltiermuskels zum Willens- und Affektleben
den tonischen Anteil betreffen, was in der Theorie der sympathischen
bei Encephalitikern und die Wirkung des Scopolamins auf dieselbe. 561
Innervation weiterhin richtunggebend gewesen ist [vgl. auch
Frank 11 )].
Für die andere Möglichkeit: Hypotetanus und Hypertonie ist da¬
gegen u. E. nichts Positives anzuführen.
Über die Scopolaminwirkung läßt sich aus mehreren Gründen nur
vermutungsweise etwas aussagen. Zunächst kennen wir die Muskel¬
härte bei der Chorea, dem Gegenpol der Parkinson-Encephalitis, noch
nicht (klinisch besteht verminderte Resistenz gegen passive Be¬
wegungen, also das, was der Kliniker kurzweg Hypotonie zu nennen
pflegt); die Wirkung des Scopolamins auf dieselbe ist uns gleichfalls
noch nicht bekannt. Möglicherweise spielt ferner hierbei auch das
Arndt-Schulz sehe pharmakodynamische Grundgesetz eine Rolle (bei
unseren Fällen konnten wir aus äußeren Gründen dies nicht fest¬
stellen, da bei kleinen Dosen die Veränderung innerhalb der Fehler¬
grenzen blieb und große Dosen [über 0,5 mg] aus klinischen Rück¬
sichten nicht angewandt werden konnten).
Augenscheinlich wird aber der Hypertetanus durch das Scopolamin
verringert; das entspräche auch der Wirkung bei den psychotischen
Erregungszuständen und bei der Narkose (wo die Funktion der
pyramidal-tetanischen intentionalen Bewegungen in erster Linie ge¬
lähmt wird). In welcher Weise die tonische Komponente der Beein¬
flussung durch das Scopolamin unterliegt, läßt sich mit Sicherheit
noch nicht bestimmen. Die Muskelhärte ist im wesentlichen wohl
der Ausdruck des Zustandes des tonischen Apparates; da sie nun
durch das Scopolamin immer im Sinne der Herabsetzung verändert
wird, so kann man nicht umhin, eine lähmende Wirkung desselben
auch auf die tonische Komponente anzunehmen. Allerdings spricht
die klinische Erfahrung hinsichtlich der genannten „Willensmuskeln“
nicht in diesem Sinne, dies müßte aber erst noch mit exakten Methoden
gemessen werden.
Die Bewegungsstörung bei der Encephalitis lethargica ist ver¬
mutlich weniger eine Läsion der Funktion des einzelnen Muskels an
sich, sondern vielmehr eine Läsion der Fähigkeit der Muskeln zur
Synergie bei komplizierten Bewegungen. Die Magnusschen Versuche 12 )
haben die labyrinthäre Abhängigkeit der Reaktionsweise des Muskels
auf Reize des zugehörigen motorischen Nerven (Erschlaffung oder
Kontraktion je nach der Stellung des Kopfes zum Rumpf) erwiesen,
was auch mit dem Uexküll&chen Gesetze bei Wirbellosen [speziell den
„Halbtierversuchen“ bei Schnecken von H. Jordan 13 )] in Zusammen¬
hang steht. Die Formung von Bewegungstypen, die Bewegungsfigur,
die aus der Zusammenfassung funktioneller Antagonisten und Syner¬
gisten entsteht, erfolgt wohl in großem Umfange durch solche zentrale
Steuerungen, und diese Synergie ist bei der Encephalitis lethargica
562 H. V. Kurella und Fr. Schramm: Untersuchungen über die Muakelhärte usw.
durch eine Verminderung der Ansprechbarkeit auf die Reize, die zur
Bewirkung der synergischen Funktion ausgesandt werden, gestört.
Dabei bedarf es freilich erst noch der Analyse, welche Rolle bei diesem
Vorgang die tetanische und welche die tonische Funktion übernimmt. —
Das Scopolamin wirkt nun vielleicht nicht nur durch eine Verringerung
des Hypertetanus günstig, sondern auch, infolge einer Vermehrung der
Hypotonie, durch eine Verstärkung der Ansprechbarkeit der tonischen
Komponente des Muskels auf schwache Reize, die zur Auslösung der
Auxiliärfunktion ausgeschickt werden. Dies widerspräche aber in
gewissem Sinne wieder dem oben über die Wirkung auf die Willens¬
muskulatur Geäußerten, wie überhaupt wir uns hier noch im Gebiete
reiner Hypothesen bewegen. Die Übertragbarkeit des Uexhüll sehen
Gesetzes auf den tonischen oder tetanischen Apparat der höheren
Tiere findet ihre Begrenzung wohl schon darin, daß dieses mit zu ein¬
fachen physikalischen Metaphern (meist des Druckes; des Gasdruckes
und des Druckes in einer inkompressiblen Flüssigkeit etwas promiscue)
arbeitet und daß diese Probleme humorale d. h. chemische sind. Die
genauere Analyse der Scopolaminwirkung wird aber in dieser Richtung
zu einer weiteren Klärung beitragen.
Zum Schluß ist es uns eine angenehme Pflicht, Herrn Geheimrat
Anton für seine reiche Anregung und sein wohlwollendes Interesse
auch an dieser Stelle unseren Dank auszusprechen.
Literaturverzeichnis.
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Arch. f. d. ges. Physiol. £01. — 3 ) v. Weizsäcker, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 10.
— 4 ) Hansen, P . Hoffmann und v. Weizsäcker, Zeitschr. f. Biol. 15. — 6 ) Noyons
und v . UexkiiU, Zeitschr. f. Biol. 50. — # ) Mangoldt, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol.
106,108. — 7 ) Claus und v . Weizsäcker, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 15. — ® ) Mayer
und John, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 65. — •) Hoffmann, P., Unter¬
suchungen über die Eigenreflexe (Sehnenreflexe) menschlicher Muskeln. — 10 ) Meyer,
H. H., und Fröhlich, Arch. f. exp. PathoL u. Pharmakol. 10. — ll ) Frank, E.,
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 10. — 12 ) Socin, Ch., und W. Storm v . Leeuwen,
Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 150. — 13 ) Jordan, H., Pflügers Arch. f. d. ges.
Physiol. 106; 110.
Über Höhlenbildungen ini Gehirn von Erwachsenen.
Von
Ludwig Merzbacher,
riiern. Privatduzeut und Oberarzt an der Klinik fdr Gemüt»- und Nervenkrankheiten in Tübingen
und Abteilungsvorstcher der Forschungsanstalt des Hospicio de las Mercedes in Buenos Aires.
Mit 28 Textabbildungen.
(Eingegangen am 15. Februar 1923.)
Einleitende Bemerkungen. Das Material, das den folgenden Aus¬
führungen zugrunde liegt, habe ich während meiner Tätigkeit als Labo-
ratoriumsvor8teher der Psychiatrischen Universitätsklinik des Hospicio
de las Mercedes (Direktor: Prof. Dr. Domingo Cabred) in Buenos Aires
in den Jahren 1910 bis 1913 gesammelt. Die Arbeit kam damals nicht
zum Abschluß, da ich 1914 meine Stellung aufgab und immer hoffte,
später die vielen Lücken, die noch auszufüllen waren, durch Nach¬
untersuchungen ergänzen zu können. Leider ist es mir bisher durch
Ungunst der Verhältnisse nicht möglich gewesen. Ob heute das Material
mir überhaupt noch zur Verfügung stehen wird, ist höchst zweifelhaft. —
Ich habe im Jahre 1913 bereits eine kurze Mitteilung über meine Befunde
in der Sociedad de Psiquiatria y Neurologia machen können. Ich faßte
die anatomischen Befunde unter dem Namen der Encefalopathia lacerni-
ficans zusammen, lediglich um einen generellen Namen zur Verständigung
vorzuschlagen, auch sprach ich von der „Siringoencefalie“. Es soll der
weiteren Entwicklung überlassen bleiben, ob diese Bezeichnungen an¬
nehmbar sind. — Als ich im Sommer 1922 wieder nach Deutschland
zurückkam, nachdem es mir in Argentinien nicht möglich gewesen ist,
über die einschlägigen Arbeiten mich zu orientieren, erfuhr ich zu meiner
angenehmen Überraschung, daß auch andere Autoren meinen ähnliche
Erfahrungen gesammelt haben. An erster Stelle sind die grundlegenden
Arbeiten von SpcUz zu nennen, der sich besonders mit Störungen an in
der Entwicklung begriffenen Gehirnen befaßt hat, auch die Beobach¬
tungen von PA. Schwartz , die zum Teil bereits publiziert, zum Teil, wie ich
einer mündlichen Mitteilung entnehme, zur Publikation stehen. Auch
die Untersuchungen von Schwartz beziehen sich auf Erscheinungen des
Neugeborenen oder ganz junger kindlicher Gehirne. Endlich müßte noch
eine Arbeit von D’Abundo herangezogen werden, der Höhlenbildungen
nach experimentellen Schädigungen neugeborener Tiere beschreibt. —
564
L. Merzbacher:
Ohne Zweifel gehören alle diese Dinge zusammen. In diese Zusammen¬
hänge hineinzuleuchten, muß die Hauptaufgabe der künftigen Forschung
sein. Das Vorstadium ist die Materialsammlung. Nichts anderes kann
ich und will ich heute bringen. Aus dieser Absicht heraus wird man ver¬
stehen, wenn ich nur rein objektiv das Material so schildere, wie ich es
gefunden und gesehen habe. Sehr lückenhaft ist die mikroskopische
Untersuchung geblieben und auch die klinische. Erstere deshalb, weil
ich die Arbeit aufgeben mußte, bevor ich sie abschließen konnte, letztere
deshalb, weil keine genügenden Krankengeschichten Vorlagen. Daß ich es
doch wage, gegen wissenschaftliche Gepflogenheiten verstoßend, meine
Befunde an die Öffentlichkeit zu bringen, möge man entschuldigen mit
der Eigenart meiner Arbeitsverhältnisse, mit dem Wunsche, das sorgsam
zusammengetragene Material nicht ganz zu verlieren, und mit der Er¬
kenntnis, daß die Aufmerksamkeit auf diese Störungen doch eine all¬
gemeine geworden ist.
Den drei Gehirnen, deren Schilderung zunächst folgt, ist gemeinsam
die Bildung großer Höhlen und außerdem eine eigenartige Umwandlung
der weißen Substanz.
Ich gebe zunächst rein objektiv das, was ich gesehen habe, wieder.
Der Leser wird an der Hand der beigefügten Abbildungen der Schil¬
derung folgen können.
Leider kann ich nur äußerst beschränkte Angaben über die Entwick¬
lung der Erkrankung und das Zustandsbild der Kranken bringen. Es
liegen mir nur die Aufnahmebefunde vor — die selbst wieder sehr un¬
genügend sind, und das wenige, was ich mir von dem Pfleger der Kranken
zusammenstellen konnte.
Fall 1. A. B., 16 Jahre alt. War 4 Monate auf der Idiotenabteilung. Er
hat nie schreiben und lesen gelernt. Die Erkrankung soll sich bereits in der ersten
Jugendzeit bemerklich gemacht haben. Er soll vollkommen idiotisch gewesen
sein, ohne Auffassungsvermögen. Häufige epileptische Anfälle bis zu 3 täglich
mit vollkommener Bewußtlosigkeit. Er ist unreinlich, er kann sich selbst nicht
ernähren. — Eine Schwester war geisteskrank, Vater angeblich Potator.
Diagnose: Idiotie.
Autopsie: Die Betrachtung des unzcrlegten Gehirnes bot nichts Ungewöhn¬
liches. Die Meningen erschienen von normaler Beschaffenheit, die Verteilung und
das Aussehen der Windungen gab uns keine Veranlassung, die krankhaften inneren
Veränderungen zu vermuten. Erst die Zerlegung des Gehirnes in Frontalschnitte
offenbarte die Schwere der tatsächlich vorhandenen Veränderungen.
(Abb. 1.) Der rechte Seitenventrikel zeigt eine enorme Erweiterung, und zwar
in einer Ausdehnung, daß die weiße Substanz auf einen schmalen Streifen reduziert
ist. Die Rinde selbst ist in mäßigem Grade gestreckt und verschmälert. Die
Wandungen des Ventrikels springen mit höckerigem Relief in das Lumen des
Ventrikels. Es ist, als hätte sich die Erweiterung zwischen die einzelnen Kuppen
der Windungen gewaltsam eingeschoben und diese nach den Seiten verdrängt.
Am Stimpol des Ventrikels in dem vordersten Anteil desselben findet sich eine
eigentümliche, himbeerfarbige, sulzige Masse. Diese Veränderungen finden sieb
jlttidturMlrfnagen im Gehirn von Knmdjsteneit.
Writer nach hinten mmint che Orö8p der Jinblenbthhing vai ('-siebe Abi», 2 u M*
Der ÜYnis mipraoailo-.-us »st stark gestreckt; der »mm Ubt-r d»-n .HUunmeaneuen
[mae.ude r r<*iJ des Cenirunt seini&vadc ist yersch wunden. Vs bleibt, har dp uuöertt
^bnialer* et^u ? tmu.; li'jwiftair der fetoimtii? die Rinde be^ldtek
Dr^wkensweri in ••eine Portion Km'huMttbstftnz, die mit eitler xcharfon Spji/e
in d** Lumen: v^rspringu ^tn beÄtdtn* den bedeutenden (.».rblknUiitemduVd-
Wij*du*u frei)lern und hrifceui V<*/>triU«d und vor aJlemdie ii'tueixvimaßi^e durch*
a.iwt nidtt abgttmiidef.e t.Wstnlt d* : v? recht» n Ventrikeln. i)'e unter der Höiifcn*.:
Tedi er>iebtdnc‘x) Ui tluw F6rm und Fät burt^ durchaus öbHfiai
In der Hohe der Znri tra Ifu rdien neh meuvhe HoJdrmhiMu »men «ieder na ob hin ton
*h ( \bbr& 4 J>k 1% Abnahme erfpk& loJhhökliÄ iti $#y :Wei>*v jtatt tbv ^r«iöc>
recht* gelegene. zentrale Höhle *tdi immer mobf >w*ngt und ^erscitiH^leri. u.iu
sheli «seldieÖiich in t-men »pin drei. langen Zipfeln hn*teb enden Spalt &u ver*
itetttfjclO (Abb, 4). ,ife k ^inb diefvet Zipfel ^t/senkifielU. nach oben/gervHhtet und
nimmt d»& iVtuikwtuß der oberen StirrwiiidUMg #bk nm. Der zweite Zipfe! flieht
hßijö^hn ^mkr»x?!ii auf und nehtet sieh nach mitten, er juiterhrieht dfe
Ce'^nri racliata. und xivftr die Fa^erp#»ttien, die au * den dr*e fttimwinduupcn und
inm Teil aus der ernten vorderen und hütti-reii ZeiUrahviiidmvj stammet?, er triftr
L. MerzbarVr
sitdi in das >Uiklagcr i|M' Otpfyobs \nMiit'iw vü*. Dii
iiiii*re Ka : p*€*l bitöti
fmi U\ *Iä3 lAUnvn dfe^pr 'y^pmj^n^r nfodf# Höcker. T>r-i rt&hfe
V$tife<A?entnkejl bf >s cndliol) selbst* de* 1 KÜdel : in -vt&Ur jf&jfev
'vijtete ipde*;*JKrn'■'FrontaifcrÄnU'fr'n. findet *;üli die ihn
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rvvvälmtetf '*$}$}$$$%&$• üvjif rt (Abb.\>ju Ht-nditui^
VvrX(^iit/<diif*^;|{jö. l '||(ii;^ '^dtur lvWrrc'tki^c HoUIöiiifc-
•dfe <te& ^fHiifla^a "iW ' : /Wimpii biid tfri$*n Mferrö^imUiög/rt^hW «■dminunT ond
i-,|.i*ti;,.* i«Y 7 r!v'{ ■JlUifo'.U Kl* VlKit Sf./M. ihr: x «lt.~eh.lttl •&(•& 1 W'.ldeU
iUUUi.r f »n>.i >{Mj)/.,f? f Vt. : ,,- -w \t rltrOMV *K‘U p'MKMtt^lSli'hj
b&?& 'im in,.:.-.»••!) « .iini» <\*h /!•;» n*>-tr d,-r .<ul< \ y* vh v'.n t&m
N]>i> 1 t ijas’ .vlavU "d.m-j-KV-t>i.
*■ ufc*^“-
IJhoT JluMenbildimgen inr Gehirn von Erwnrti^^c
Die VeiÄnderun^ta in der Ueotaltüng der Ho^ItmbiJdun^n glaiiob ich am
darob die Wk *\ ergäbe der vörHegendt-ri W- ?.•:<*?t - !*o bPriiparate' ra ver*
Die 2v\Vi, iK4&t?ü$PP > AhhÜdu%eö *ind der D^rstellüriir der ^ßt^ttwierüngen m
den distaifciv' Partien de» Gefvime» gewidmet. A«ch hier äfad die Wrandentagen
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einer hydroeepha lisehen Ei-
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auch auf der Unken Seit*-, ■ »oe
nfmirtteib^r mr*
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lokalisiert hat. kann airfotr*a
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den. Es ist auch hier <vn*.
i de! zncrk» v iUHnt v daßiroMi>'i*
pitajhirn ahnlicU wk in» Fron*
taihirndfr* MiprkrjtHe »*e> \Vijiduiitt.r n ven dünnen zentralen NjudtUiMun^rn diireh-
• * ■' i '</»d. die wieder ,ih Fen dreien der größeren 'Murkiidhleniiädgitigfcsp
Ml•;hw ßi?xi7,*- linke* Hohle erfährt, wenn man ^ ;iri Frontal-
'd.üiii-u «o di-r verfeUd (Abh. 7-, «in* tdnbüdung analog zu der, »ijV* ■wir in den
;ijübcu; sie dehnt sieh zunächst- aus, in
•größer-: 4f.>iv<3 ^ U rii«n;.r : l« •• M^rkwei U verdrängend, da ms verfem wir
Über Höhlenbildungren im Gehirn von Erwachsenen.
569
das Auftreten von Querbalken, die Unterabteilungen, größere und kleinere
Höhlenbildungen schaffen, um dann unter Abnahme ihres Lumens zu ver¬
schwinden; rechts dagegen ist es lediglich zur Umwandlung in die himbeer¬
farbige Substanz gekommen, die von einzelnen milchigen Streifen durchsetzt wird.
Soweit die Beschreibungen der wichtigsten makroskopischen Verände¬
rungen; wir werden später noch auf andere histologische Details in Zu¬
sammenhang mit den übrigen Fällen eingehen.
Die Schnitte, nach der Markscheidenfärbung Weigerts (Abb. 3, 4, 5
u. 7) und nach Weigert-Pal behandelt, dienten uns zunächst zur Fest¬
stellung der makroskopischen Verhältnisse, und ich habe nur weniges
über dieselben hinzuzufügen. Die scharfe Umgrenzung der Höhlen
durch den mehr oder minder feinen Feston der markhaltigen Fasern
ist ohne weiteres verfolgbar. Man erkennt auch, wie in den Hirnschenkeln
und in der Capsula interna die Masse der weißen Substanz nicht erhalten
geblieben ist, eine Ausnahme bilden die proximal gelagerten Teile der
letzteren, die sehr stark reduziert und durch Spaltbildung auseinander
gesprengt oder besser ersetzt worden sind. Die Rinde ist breit und mit
feinen Fasern wohl versehen. Besondere Beachtung verdient der äußerst
schmale Balken. Es besteht zweifelsohne ein bestimmter Zusammenhang
zwischen der Entwicklung desselben und dem eingeschmolzenen Hemi¬
sphärenmark. Stirnpolwärts, dort, wo die Höhlen besonders stark
entwickelt sind und die Masse der Marksubstanz verschwunden ist, ist
die Verkümmerung des Balkens besonders groß, so daß er sich stellen¬
weise auf die Anwesenheit eines dünnen zwirnfadenartigen Gebildes
beschränkt. Ein gleiches gilt von den Fornixschenkeln. Dagegen schwillt
ebenderselbe Balken etwa um das Vierfache an, dort, wo die Höhlungen
sich in langgestreckte spaltförmige Gebilde umgewandelt haben.
Ich möchte nun kurz darauf aufmerksam machen, daß die Basalgang¬
lien anscheinend keinerlei Form Veränderung erlitten haben, trotzdem
sie in die großen liquorgefüllten Höhlen hineinragen.
Endlich verdienen noch die einzelnen hellen Markherde unsere Be¬
achtung, die an verschiedenen Stellen das Schwarz des Markes der
Weigertbilder unterbrechen. Ihre Lage und Gestalt haben wir bereits
beschrieben, und wir haben nur weniges über ihr Aussehen im Weigert-
präparat auszusagen. Im Original Weigert sehen sie braun aus, graugrün
in der Modifikation nach Pal. Sie sind zum Teil von schwachgefärbten
Markscheiden durchzogen, sie verlängern sich stellenweise zu lang¬
gestreckten sehr schmalen Spalten, die das Zentrum eines Markteiles
einnehmen.
Schließlich will ich nicht versäumen zu erwähnen, daß in der Brücke
und dem verlängerten Marke die Pyramidenfasem relativ gut erhalten
wieder zu verfolgen sind. Wenn auch ihre Zahl bei Betrachtung der
Brücke abgenommen zu haben scheint, so kann es sich kaum um ein
37*
L, Mer/bächßr
V^Qbwiöde» vieler Fasern handeln,. $a iti den unteren Abschnitte«
des verlängerten Markes die Vorderbündel wieder .»Ja'Vdmptt-lcfc<s' wobV
geformte Buridol anfl«uchcCu
Fall?. C^kdcmiu B., 2J Jalirt» alt. * KlUm9ciir&' • .4>iagtÄ>JöÄ:;.i
b/fisie. — ihm- &emv Rmnfcvujüttsti\ichte .gönnte roh nur »ehr: Er
füll 'ein ziemlwV tii‘fcslit}iv.i3der Idiot gewesen sei«, der s]wcIj<*w konnte;;
waren röf«*§1s*-rSir/Btt ao ^pifcp^ölcrtj dfe mdh «ut
Häufigkeit ^ieciörlio!t»ni : - ;■ ; \ '* [K ' . /-;!
Im <k>m-nsat* v.\* Fuji iwaren Kiel. dm Veva-ndoningen tatücte bei der Auto^m
ereielitlicht [>io beiden Htirnimk bilden -zsu'i macht tec dünnwandig Sackt .v-von
denen dox rechte foj.ifiji Einhevn m du* Fi imrflu*ttigfec>t..zerredÖt und etwa 400 rem
Flüssigkeit verliert. Die \Vb?)duri£mi .«iiid nbüi planet und stark injiziert. Se ht
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n*i« da* Ohim w»öh vori .der Usriüp&'\w an, so fallt das,Mifiverhättnisr zwischen
(k'f EhHdeklMitg 4c^ mhhrkdta und •tfQ&utfttf & Atetf : FÄ.vVeti>^^dj.jpItÄl*’
teilen andererseits lauf, letztere erscheinen ; Edji dich ajkCAuhäfta*'! des mächtig
enri\..'i »teu Vorder!) bmv.
. 3>ib i^ipdtion dX^ /FtwfaWrnVsi;' JkÜi w • xvirft^kv^;• *v^h«ti!tiy'
\m eine -m4vh't%- An^huhlupc harddo A>u ; Fuß xfcr III.«
nofeeföbr trifft man m, f*UHihih*
wonigbr *n Ali.tIuidank>hoft gcwg^ii>^ü ''kiti afc <to mbfe l>ie iüifefck (hi‘lÄi)
gcfegmcvi) Tidle ämd äuUetsä dünnwnn^fgi die joedi^len dnd sohdor, die bkaalen
Teile *»id olwnfällB sehr schmnE Die. L Frönfcalia rerlits <uv,i)ieint am stärksten
deformiert und äuagezogen; Tmkw rat m die \Uts'St5tft#JBduiig, tu der nkrhto-ü
Heim^phare ösfc diö. Vertrdlnrigl^ Fremtahvindungea atypisch, auch dir terdej d
& qändwiridubgeti sind .'liitks'»bestehen an^hemend
. -nprmide Yorkultttisse. ~— Anr luehteü Hiirnpol. am lateralen Uatuk der' I.- Stirn- ■
windln a: findet aieit eine dmvhsek«; inende1 ist rechts «ehr
•«tarfe >rö : wiekdt, ?>o'di'Ö sie btauahe: zwei Drliitd der ^itiveü lireitt? der Hemrajihäte
öüin)ujmt;
Über Höhlenbildungen im Gehirn von Erwachsenen.
571
Bei der Zerteilung des Gehirnes in Frontalschnitte stellen wir das Vorhanden¬
sein eines SyBtemes großer Höhlen fest, die das ganze Markweiß des Stirnhirnes,
einen großen Teil des Markweißes der Parietal- und Occipitallappen einnehmen.
Es ist nicht leicht, den Zusammenhang und die Ausdehnung der Höhlen zu einer
anschaulichen Darstellung zu bringen; ich hoffe, daß es mir an der Hand der Ab¬
bildungen annähernd gelingt.
Wir können drei große Aushöhlungen auseinanderhalten. Eine sehr große
paarige, die im Frontalhim der beiden Hemisphären sich befindet und sie in
dünnwandige Säcke verwandelt hat. Nach hinten und medianwärts läuft sie
trichterförmig zusammen, um sich neuerdings zu zwei paarigen und ungleichen,
mit den Seitenventrikeln direkt kommunizierenden, schmetterlingsflügelförmigen
Kavitäten zu erweitern. Die im Bereich der linken Hemisphäre erreicht nur
eine bescheidene Ausdehnung und geht allmählich in den etwas erweiterten Seiten¬
ventrikel im Hinterhom über. Die Gesamtheit des Mark weißes des Stirnhirnes
beiderseits wird von je einer mächtigen Höhlung eingenommen, die die Rinde
zu einer feinen Lamelle ausgedehnt hat, die an ihrer dünnsten Stelle lVt^im
breit ist und aus grauer Rindensubstanz nebst eines äußerst feinen Streifens
Marksubstanz besteht. Die oberen Windungen sind am besten erhalten, während
die lateralen, medialen und basalen Partien hochgradig verzerrt und verändert
sind. In die Höhlungen springen zahlreiche Falten und Buckel hinein, die den
Windungen entsprechen, die Innenseite ist glatt, glänzend. Besonders bemerkens¬
wert ist das Vorhandensein einiger weniger, das Lumen der Höhlen quer durch¬
setzender, fadenrunder langer Gebilde, die von der einen Seite zur anderen reichen.
So spannen sich im Orbitalteil des linken Frontallappens zwei solcher Zwirnsfäden
von 1 resp. 2 cm Länge, die sich an ihren beiden Enden an papillenartigen Ge¬
bilden festsetzen.
Nach rückwärts verjüngen sich die Höhlen trichterförmig (Abb. 9, 10, 11).
Die Trichtermündungen konvergieren zur Mittellinie, wo sie in breite Verbindung
miteinander treten. Rechts befindet sich immer noch die größere Kavität, die
durch ein eigenartiges Maschenwerk von Balken und Strängen sich von ihrer
rückwärtigen Fortsetzung abgrenzt. Ins Innere der Höhlung springen als ab¬
gerundete Körper die Köpfe des Schwanzkernes vor, außerdem findet sich eine
Anzahl von Falten und Leisten, die auf der Abbildung zum Teil wieder zu er¬
kennen sind. Die oberen soliden Teile des Stirnhimes sind zum Teü wie angefressen,
zum Teil von im Markstiel zentral gelegenen streifenförmigen Substanzverände¬
rungen durchsetzt. Bei einem Schnitt in der Höhe der vorderen Commissur (Abb. 10)
läßt sich erkennen, welch bedeutende Wandlung diese ursprünglich so großen
Höhlungen erfahren haben. Das Bild hat sich wesentlich geändert. Die beiden
Ventrikel erscheinen eigenartig erweitert zu sein und setzen sich durch das Mark¬
weiß durch bis hart an die Rinde fort. Im ganzen entsteht eine schmetterlings¬
flügelförmige große Höhle. Der rechte und der linke Flügel stehen in der Mitte
miteinander in direkter Verbindung, indem ein Teü des Septums verschwunden
zu sein scheint. Der rechte Flügel ist der größere, er reicht besonders in seinem
medialen Anteü bis an die Rinde heran, nach oben und außen läuft er in zwei
Fortsätzen aus, die die Rinde eines Wellentales umfassen. Nach unten und innen
büdet die natürliche Ventrikelwand längs des kaum deformierten Nucleus caudatus
den Abschluß der Höhlungen. Man achte noch auf folgendes: Auf die ungemeine
Schmalheit des Balkens, der zu einer feinsten Lamelle reduziert ist, die in einer
schönen abgerundeten Schwingung zur Begrenzung der oberen seitlichen Teüe
der Höhlung weiterzieht; auf den Umstand, daß die Kavität nirgends Rinden-
substanz zerstört, sondern überall einen, wenn auch noch so feinen Saum an¬
scheinend normaler Marksubstanz antrifft; auf das normale Aussehen der unter-
L. Mcd’zbaeher
M 1 !,!
r: /.-vASv/V
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: 4 / * v. :-V.
halb vier gro^tt JfiHife fi^JiA'hen HfnU^U^ jCa^Ua interna und t-xt^roa. !^^-
pjngljr'H, r lKT»rpv)rälj^p|)^AK
IVi «kr ih M in-)b>m : j »(-> Abh, 3«unv! 11 robben wir s*frwas langer venu-iln».
■wil V5 Mir »las VV^tiir4oiH dt»r tut?' . fw-seiiaitiuc^fien. Störungen, täjü größter .fe-;
»feitur>t*tfö’leln va?vjmAf\t xwnÄcftat rk>n SebnK fc Ton vorn
so dörß di- rtt-U;*,- H-U ! >:•!»,uv :juf die bnice Sr-üv projiziert orsebetnt. .Per .tfthnitt
über .ütilüeftbüiHfngetj' im Gehirn von Erwachsenen,
geht durch das cihveifcerte rnfimvlihulum, die vordere Coiannssür '^\cm vor
den Corpora nmmillaria ( At>t>. IUJ-
I>io Sebrnetterlirips^-üfalft ist immer noch gut erkt-wibar; Mit können eint'
.gxoöero \rc<rht^scittgo. (d* h. in der rechten HtOiiisphäre sioli- befindliche) '.und eine
kleinere 'li.niksseVtigc, Bildung nnte^ßfeßidcn^ die dhi^ii ein atiecdmks stojlentveiöe
$uivr dünnes Scfd nm voneinander 5trennt sind. Mn Bode» VtmVTikete festiit.
sich die vjfrörölicrtcn ••^o'^^rha-vMöntifi erkennen; das link^-itiuw 15V grft&r wie
das teilte mit dtfty rin teilet Chemien und nach rückwärts ' wo ftwtfid ;' FlpW*
A-Jü nioifiei i Z&'mkip deii beiden Hierein {wir wollen dir#: H$v Klirre
halber so bcÄcichnfm) besteht, ein wtascntlictier Untrrschied:; $üt’ Imkeo ffeoW
«ph^re ..fatil $W Abbildung rechts) ist leicht und ohne weiterf*?» m ^fo^yherc JSr
bildet a fisch oinenil eine Fortsetzung des
Ventrikels und r^Sjhg’i steh
MM 11 .
mäßig nach rückwärts, er stellt dm nnniittelbarr Fört^etojJig. des C^ljUd^ dai;;
iLh* wir auf dem vnre.vjsu^n^ngeuen Sclmitl keimen gelernt haben. Das Innen-
jtwicn ist annähernd aben mit mißdeutend? n tlaelun Erhebungen. Am Grunde
im eigentlichen Bcfciehe des VentukeV findcp Vieh xahlretolm Ciefsirlfcv-dm'siel» auch
n*ek uulh u und üben. .fortse#e«. Die Inprb#l<&; dyf^-dV innere Dberftä^lh der
gafixen HÖbte tragt dürehtiiin «len Clmrahterjiiui?T \\'Ctri^^wacid.üftgAiml <M#bewf
bemte makroskopisch v«>n Kpetidyrn ausg^löuici -* sfo ist nbht giotth a&tftJm/
mit feinsten Ddleubüthmgru behgt. Weit komplizierter sind Ute Verhältnisse
d^r anderen 8e,itc- Der FUigcl mj der AJjbildung links läßt -steh ohne weiten^
on zwei • Unterabteilungen zertege»: eiru? größere- nach oben uhc! mißen hegende
und eine kljeiofere AbteÜUng, itm .de.n inncrnri and unteren Anteil emnimnit» Beide
Abteilungen werden xvm u^iider get rmh t durch eine scliaiBinntigi? kUltcndiildung.
die in leichtem Bögen, dir- fcapv'tr&ii&t ..nach. oben /-von..' außen, «ach innen zieht
und in der Ife.lki?jnDilclu^is<rJb*?itior>d o&rö Abteilung. bildet
eine große : Öe.Uey im velieu INUtküger,
Seine Geaia.lt spricj 1 1 voUkommcsi der JAohJbildüng^ die wir aht «Mn vorau*-
jjj ...
L. Mörsbach**
gegangenen Sclimtte kennen gelernt haben; die nimmt die l, vl II« Frontaiwiml uJt>:
ein und einen Teil der vorderen Zentral Windung; *Vd*eheti L und XL FirmtaÜÄ
apriogt auch hier Wieder. keilförmig ein WuidUn^t#. ^oi^'^'-Salilpeiebe. feine Gefaöe
d^rohzieben die glätte .spiegelnde Innenwand dieser Dnlfe.
.....HH. .. . ^ _. '©fe 'iireiite. kiehfii^;
Abteilung ist nieder ohne weitere# als der ursprüngliche Ventrikel zu erkennen;
deine fanenfjiicbr ist ifhemil mit dfcii. feinen die vir linker-
«eit:- betvife bese}iriibej\ haben.
. Sl^heö wir um niin deö Scbcriit von der Anden?« f hinteren
(Abk. Hj. Der - rechte Gehlrfttaii iie-gv. awn rechte v<«r uns. In ?kr imk^n
Homiephare kbrinett 'ytit kaum etwas Abnormes: 4?rki?pi>eri, dK Vetvtrüttel 'er¬
scheint etwas stark in die tÄägw «nd-naelv. oben verzöge«; der Batketi "M aut
diinne; Jfeöifbfttti ^ctWtevt; - ~ - ^ ‘ * " v
Müd d^^«.^b; v -)i3i^ mdtmv sehr iumiplizicrt. An Stelle
de? VVmirikek hoffe .Wit rinn: uväb^ dio uadv oben wieder vor* einer
MVtnibmti enii freiem .^harffcth. Wink ^Oberhalb dieser Öffnung
öaekt iihibtx die das g&pxe <>bf*rv Markiaget
cl,'? Hc-mlsplitVv einui.nij.nt. Durch' eine- vo.^pririgende I>Ubte, die von oh*?» und
limdi imirii und unU'ü &n den bußefet V i?&e) der V^ntr-kidofirumg zieht,
•wird fliese £kdbn i*iube in zwvi t^ntf-mbteiliingeu seifet; eine tiefe# mediane
und hpU: -fecllteiräh : ln , Der finden .yfe lateralen iKJStehf aus ♦?;in*r dünnen
hiw^UÄfe» M<Mufeui 4 dfetdfe *iic du*^dfei obm afehfek und
dm auf »kr ar.idöf»*n (Vorderd^oite des feteuitn*-als obere Veutr lketeaad; «ü er¬
kennen ist. Fs •'$#; itvideÄ proben flachen Gmben Aurel:
.•Termittlymg' *mvvs Ivinaie* nutv/imteh-r. Dieser Kanal j/sf der HrsfinmciKhe
Ventrikel tind \Wrd obi\n i\tp einer dfiun*?ir Alembran u^rrbrdefe «jUo j^cob. vorn
und' .inaim • iu «lern Zfeen fe flachen Gruben forl^f^t. £>ie
sfroße- Delle -fehtA fevfetfe feh auf vVeHer rückwärts gelogenen FfonUifschöittexr
m fee Hv^dbhgr^ d^) ganzen rechten Oixiplfalpol durefe
•setzt.Und in" Abi». VJ von rudv*vaiU uesobexi erkennbar ist. In dieser Hohe haben
r i(;)\ b»' 1 Qu»?Wjkon gebildet — der obere zuerst fein — , su> daß die ganze Hoble
m drei T*'jk g-^lied-d moleint. Ich möeh’e jetzt, bereits auf eine wesentliche
Eher üö}d«mUkiühgen im Gehirn von Erwachs^mm
^feaehe aufmerksam:; au? rtas.'Verhalten des Hatte rhorxie^. treibe erscheint
ui dnrtftau* normalen Großen Verhältnisse», m k«t k&m &pur einer Erweitern fig
. Im Jmken Oceipitullürn können v.ii keim ii^nnenHwertcn Ver-
ändi*rurig»B2v bpnierkeii Aul FrouialHehmH^n du ich den rechten Oräpitalpol
erkennen vnn wie die Dicke der Querbalken sieh fort sitzt und die Hohle in zwei
fiaohe Gräben umwände] t. Audi diese V/kder haben eine ; glatte, glanzende von
mblreicheu Gefäßen durchzöge ne Inpenvvuiid Bei h j^na\ijer:.Riti
wir vrietdec den uohr achmalen Spödi de«. Hiutarbornofi*
Scriensdioitte geben uns wieder genaue Auskunft über die beste h enden
VrrliÄJtnigsc.. ich gebe in der Arbeit nur einen Srimitt düitdi die mächtig er¬
weiterten Stempelte weder fAbb. l^h Sie zeigen um deutlich die. tmrm# Auz~
dehn«sig der beiden vnwlmrn HdWen* «ias Pejaistiercn der C-FViöem uü( 1 das ieifete^^
förmige Vorspripgwt dimdüei .tnarkücii.eideuh<iger' Teile. Auf der linken Heil v
wir wteiter auf em kleinem heile* Feld, das in einen Markstiel sich
zu einer Jtfhik^lielHfwUjr- wtedühd miikix offeriT^ir vc>n fi*X djiruiidi Ventrited*
wand abgegreitzi WdrU. ' ; -v r ■.. [ ':■ -, ■ • v ' - \ ; ■ • / : '..■ V ,.: ,•/ ,,;•:' • ’ • • • ■ ■ t \ ;i •; ;•
XJjmnr v>. Fall, A-IE. ^trifft iduen I4 jäi>tiieri jriiiWcm*er
mit 2 t Aabrea g&htuw &u!i keine eiru*tlii-he. JTdw-rijftft^ ftrkmnfcxuig dündigemäclit
haben, toi Alter von 4 Aähixm öteilUf« sitjii ri'fer '■ erated )A 4 U?pHselteii Krimmfanfäth 1
war unrdnheb. Gihg -ohne freüj«te KüfUv Gkmr tetwws uwpjmkiekfc.. Aß alJ«ftn
vexldelt sreb ndng. Die Anne. Hände und Fittger beW’e^tic er ohne SuUwderigktnW
Aiüofrtk; der linken AX/I^ntaf^irrdhriß'. An' d?r .Mittellinie stärkere
OejHr-söiön, iVbvnteekt Vf>n verdickter Pia mit 3w*dh'
EntffC-niungvtteT Pikaibht omn die tedaziorte AVimimgc mit leicht; gelblicher Vnr~
farbpng, Im Ulmgeh keine nennenswertet^ Xei^nderurigen in der Könfignratiti»
det Windungen. \t /. :'[•['■''•}?.,■ 1 ;■ V/ : '//yte/■; • ;.'yV< •
Fnmlahdtf fii* (Abb. 14):. Hori^ttntaiseh mt e fn der Hohe der Delle; Die 1 LHt mi
Windung iteJu klein. m daß. zWifecludi E und IH. S'titTiivukiung ömc'-«t-wM l cm
vtrte uig bb'z.tj
10 Ikfmi
at# läftv: Hnhi^Uvm' er angebhcli frei vw
A^fAHen. .Näc
f-iir* .Ct-sl'A
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rn de« Vwivf* h;«tu ih.»r,S^.bii : berelh> in s.'.inr*« erKtvo‘L»:*bcfTW-
in vd h/di h» AivuliVi^' • tvii li i rifirin.tfl ItiATi Kf i/ilv i>r iwit
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i.«iugv üj« rfe'r KJäiälL': ^fir ; tif'feiü,ft«ijcle'r I»tiot, spraah iticht.
U MerAwher;
M&fk&i Vertiefu T*M» ira»>Ä' MatkHpr? iy. Udd*\q Slixv^tm Uhit n üd
wird ersetzt dnndi eitir <)M(kbv.. 'SfA*#., üf/- nlta'-di# «• »*-tf .*Jrn nr*
ha'ltf«n.’Vt we.ifo n }tet,,^7t^'\irn ; r*F 4 ^'ro mr.-*tmi-nf. w «M.
Linkä di'mtai Änb, iut .Ä^tninv ' *r> 4 i d i ■ nfötiilisi «*$ nert c v
Wriu..-v iM*ai>lM' ; TtW'Ljv w. m w'< > .l.kr M>uL-»«■;•* d<-r VVtJvVimärtik Wii^j ^!;if d(uin.
nur 1 2 i*.m feffeif, $i$ : -sböt ÄJ!<y^ciHiän^Di Jtiftf >tufe>rt raKI
4»#siUt; *xm <;i r^ift' *? - *«*)* »$Waa >xnd ha€ die $$atf $ Wte
wir §jje Vi>i /rfit tiiii‘ii Markfatfor bwhn.-ht.r* !u<t« ; n-\;boH*»nd»;r/- .«kHUjm.U wtr
dar Vki pyrne rvy ^is., undic**- •SjwiMbddum» ntb» lü '’»»» lurr>: »<?*. tV** v, .:► v-ümdiiru
d v/u k<*»M*i.t.:H, bi eitet .sich Markw•■•»!.*• wieder aus und f»ft t\o(-
' •:'■ /> *. r’
«VHobiy (i*-h HtjlifQtftte'ih*,. totd<: : ^n ^Jkbnjk>W <ÄKt* r 15): Bulker*
M}' ^d»f dünit .l,»\nker Nut.-mw^nki 1 abnorm <>te}Hdk:»ia<Uv .erweitert und &toüi
v tijjtl tfyify-'* 1 f ib:ekt <t«*he 1$ä&s*i tfgk.;.' ;iäfe ; VVlit rik<t;l(<rweit^TUiV2
/ .alfcmt i'j von VM iU* uv normal an^oiH^vkn Kjs n'l vne maldiadrb JWlds t-F^liemt
<\< x i Ventrikel v.paHfdrntk normal. Oke.h.-of» und meU äu£k;u vom Vnntnk»! ^
pynntif'trix'tu. zur Vi'iönd^ruu^ links &eH-:#*rf e*,' #eKv». wir fciiae .toginni-nd*
HOb Je nf ort r i u t»Ob, die h j konf inu io j hebem Zu^rfuiiv^dmriii mit. der tavÜen zentralen
frontalen“: _I-f»*/r- ■•'mv'Äeiitjiok »liü weiße sfciuhlvn-
!*• irmiu^• ^»d^ta/i,:v«-rindto <*nu. Da? tonuo ^ränderte ■ Mark weiß i«t tief » d»-
Man v!vifa* ; he bikirniiürun m den M«tk : stiejeii > Irk'
\? f eri t cti I«>> t ^IV>le: sl x>ci 1 v i^U t ^h, i-f
'v Pie i^t iib^il x:»ri An^dn*u und normaler ik^ebafftnibeitv
Va- . Cr . I. i'. .. IV. . .. -. . ,-k ., .<Vi. ..... .. •
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\
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Jjiter ll^hienbiJiliiü^en im (rehim vmi Enmhsoom»
N halt? 3 1 > fJv) Hö!j< dt-s Irifor»diL»aiurn$ duivb Oovpoja mamillänui AI>1>. P»|.
i BchFit'Ut fjeJv du die \VirayiH^^)u v iidr-. • *a;
H« ;?uk»? i«m .ßAld»: m-hUM ^ribstivndip*', vom »S.>itonv(*irtrik>d unabliiin^^a iltfhk
Irst ^jvi! i^fvroßvrt: sjk ist rund und (»•'*.! wwa * v , rm Ihtrohm^^i i. nln'ii
sie ro« äfcn Mfyn?r!^U\~n Fasr-m ?dp£^saujttt.* ji-n^Us dvr*dh*»ii wu^vr/rin hinaus
^iatinöaes j?£ld, «las äiulv $*.pa 1hi tih\ Afetk* tu*W erMtiYtokt. X>.hr Boden
dpr Hohle« ist g\*U tuvi ä&ruwn'i.. tbe. X)M‘kc »kt laicht VvMk'k veifaibt und be>
*»iUt £tui kleii?*re w^rin^ende Arkaden; Am unteren Tml befindet
jjffffl fein kleiner sali nab» hxiiiL’M Yoivpnsm 1 , «l«*i tmmiHtdbiir in die {üpsula y.vtcna&
blae,r$öht t :m daß F&«hrn *\<>f öfi^n^ esderna die Höhlt 1 , m ttötfaasen
F
Rk^
•JA-,, .r*' .ti*«
ÄSn§H^J§S
V •*
^nkniw M *
Lc Mmbaeher
Rechte, an synunetrischer Stelle. ebenfalls due Hdhtu$& die al>et seichterist. In
d*r w* Rieh zu eiiafna ttihht^rfömiijfja)- Lck^i.• das vi m suteigier M*äbo
umgeben ist. ^Itenve^tfikel sind mar unbtHi^Htrnd rnveit^ft,, ; •
Schnitt in efer Fe?düt}>MiIi Von vom gesehen ohne jedt BeÄonrt^rheity
4. h, dt.' obr-rj iH:.sdH*i( beneu HohÜmMdungcu sind veisudnvüadeiK äw. Verifrikd
zeigen normale Gr öIk u verhalttiiase Capsula externa normal
Sciiiür.t hiater dem Fmvep»(Abb. 17): l*er finke Vtotfikel isrbedetitend großer*
als de.tr reckte, In der Nähe des linken Ventrikels nach oben und außen befindet,
aieh fein feje.i ner g^latinliaei* Herd, der sieh zu einer .Market! däpältt* Verlängert,
ln «ieif» ^lite Hinfcerhom springe« zwei Vdodungejri scharf kon titriert, keilförmig
m da» Lumen.
Schnitte durch die Oecipitalpole.
Itn ihifan OccipUalpd. ist das er ideale tyarkwedi iq*iiz tlun;}i eine Höhl.
oiügehpiiiineUj in du, ohne Zweifel das Kmlrrhorn eiucelit; nach anfeo H*>d obetl
befindet «ich «tttaye iVIWe. dir jedoch .'.liVTOt» dijhrfi, einxieine.wa$C\ .QnofhHlliCjtl
ubgel« ilt isi ; auch und» miUn brg^neb wir einem KL in; d H«*rd/ dsf Rück¬
seite diesiM begeht eine triehterh/rfnigo l<jV/hdmngs
jedoch .ohne. ^it/*a»nmrnbaoV mit. den jhUfnnc* n d« r Vordi><> Oe si»duk'.:Tn de«
fof^x-cdcM yrbihtKm veVUctt oty >io:h vollkommen. \ /.» / *' '
Im reebfet». um den Vvntifkd, jMueh ohmiliii >etr*\ehcah
finden wir eint bft^t'tilijriuij^'^Y^tÄndrj-UDg., d»fc,&fcfr '^i‘Ü^4t>VL f iöe .'enVbite** und io
einen langen Markstid über^d>i
ll 'k«ms! t iUrren v >1 *hv Loset,d'd>.-n.*n Bchmde nx< Falle 3,
rrp-tht sich:. VF bissen sich dfoie/lu Fmsve '»rrneii des Murk-
Weißr-s fcvdslrjjpn ;.
Über Höhlenbildungen im Gehirn von Erwachsenen. 579
1. Ventrikelerweiterungen, d. h. Höhlen, die mit dem Ventrikel zu¬
sammenfließen und zunächst als Begleiterscheinungen eines Hydro-
cephalus internus auf gef aßt werden könnten.
2. Selbständige, isolierte Höhlenbildungen von mehr oder minder
runder Form, die man als Cysten bezeichnen könnte, und die keinen
Zusammenhang mit den Ventrikeln besitzen. Die Wände sind entweder
ganz platt oder von Trabekeln durchzogen.
3. Sulzige, geleeartige Erweichungen mit Neigung zur Höhlenbildung,
durchzogen von straffen weißen Gewebszügen. —
Die Verteilung dieser Formationen in unserem Gehirn ist etwa die
folgende:
Im frontalen Markweiß finden wir in großer Ausdehnung die unter 3
genannte Mark Veränderungen. Sie liegen an symmetrischen Stellen. Sie
sind vollkommen isoliert ohne Kommunikation mit den Ventrikeln,
unter sich oder mit anderen Hohlbildungen. Kleinere Herde von
gleicher Beschaffenheit finden wir um die Ventrikel und um anders¬
artige Höhlenformationen. Das Hirngewebe hat einen leichten gelb¬
lichen Ton.
In der linken Hemisphäre folgt eine partielle Erweiterung des Seiten¬
ventrikels, der in seinen vorderen zwei Dritteln verändert ist; das hintere
Drittel ist vollkommen normal, das Foramen Monroi von normaler Be¬
schaffenheit.
Außen und oben von dieser Ventrikelerweiterung eine Cyste im Sinne
von 2. Sie beginnt vom mit einer kleinen Öffnung und erweitert sich
nach hinten trichterförmig. Nirgends steht sie mit dem Ventrikel in
Zusammenhang, sie ist von sulziger Masse umgeben, ohne jedoch mit
derselben in kontinuierlichem Zusammenhang zu stehen. Die Höhle
endet blind als tiefe Mulde; sie besitzt glatte Wände, die ganz Ventrikel¬
wänden gleichen. Ihr größter Durchmesser beträgt 7 mm, ihre Länge
15 mm. Im rechten Gehirn an völlig symmetrischer Stelle eine kleinere
Höhle von unregelmäßiger Gestalt, mit dicken, vorspringenden Leisten¬
bildungen in der Wand.
Es folgten Gehirnteile ohne jede pathologische Veränderung, und
schließlich stoßen wir auf eine neue nicht unbeträchtliche partielle Ven¬
trikelerweiterung des linken Hinterhirnes. In unmittelbarer Nähe des¬
selben eine Substanzveränderung, die eine Mittelstellung zwischen 2
und 3 einnimmt.
Ich kann die makroskopische Beschreibung nicht abschließen, ohne
auf das Aussehen des Balkens aufmerksam gemacht zu haben: Er ist
äußerst schmal, stellenweise besteht er aus einem dünnen Blättchen,
das unmittelbar in die Ependymauskleidung resp. in Höhlenwandungen
überzugehen scheint. In seiner Mitte, dem an und für sich tiefen Median¬
spalt entsprechend, trägt er eine Art von Kamm, d. h. eine nach oben
580
L. Merzbacher:
senkrecht vorspringende Leiste. Die Pia in der Medianspalte ist sehr
derb und verdickt (siehe Abb. 15).
Die drei bisher beschriebenen Gehirne möchte ich als die reinen
typischen Fälle hinstellen. Sie bilden den Grundstock unserer Be¬
trachtungen, von denen wir auszugehen haben. —
Man kann wohl annehmen, daß denselben Veränderungen gleicher
anatomischer Natur zugrunde liegen: Höhlenbildungen in den zentralen
Teilen des Gehirnes mit besonderer Vorliebe im großen Markweiß der
Hemisphären; sulzig-gelatinöse Umwandlung in den mehr proximalen
und distalen Teilen des Markweißes; Markstielverschmälerung und
-spaltbildungen im Anschluß an Höhlen und Substanzumwandlung;
Ventrikel Verbildungen nicht im Sinne des gewöhnlichen Hydrocephalus,
sondern ohne Zweifel bestimmt durch die Höhlenbildungen. Endlich
muß noch darauf aufmerksam gemacht werden, daß andersartige Ent¬
wicklungsstörungen an den 3 Gehirnen nicht festzustellen waren. (Es
erscheint mir fraglich, ob die Verkümmerung der 2. Stirnwindung links
im Sinne einer Entwicklungsstörung zu deuten ist.)
Ich möchte nun eine Reihe anderer Befunde anfügen, die als Er¬
gänzungen unserer bisher erhobenen Beobachtungen zu gelten haben
und die pathologische Natur und Stellung derselben weiter aufzuklären
berufen zu sein scheinen. Da ich hier im Laboratorium der Psychiatri¬
schen Universitätsklinik über ein Material verfüge, wie es in gleicher
Reichhaltigkeit in Europa wohl kaum zu finden ist, bin ich in der glück¬
lichen Lage, innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit — es sind 3 Jahre —
mir eine Sammlung zu verschaffen, die einen guten Überblick gestattet.
Zunächst beschreibe ich eine Reihe von Präparaten, die durch ähn¬
liche Höhlenbildungen wie die betrachteten ausgezeichnet sind.
Im ersten Fall handelt es sich um eine echte Porencephalie bei einem
24jährigen Menschen mit rechtsseitiger Hemiplegie. k
In der Höhe des linken Parietallappens, und zwar im Gebiet des Pli
courbö findet sich bei der äußeren Besichtigung eine kraterförmige
Einziehung von etwa Einmarkstückgröße. Die Einziehung bildet das
Zentrum, von dem kraterförmig die verschiedenen Windungen ausgehen
(Abb. 18). Eine Öffnung, die mit dem subduralen Raum kommuniziert,
ist nicht zu sehen, die Pia zieht über den Krater hinweg, besetzt von
einer Unzahl ebenfalls konvergierender Gefäße. Die Windungen sind,
was ihre Breite anbelangt, von normaler Beschaffenheit, nur ihr Verlauf
erscheint abgelenkt. Die 1., 2. und 3. rechte Schläfenwindung sowie die
hintere Zentralwindung derselben Seite weisen zahlreiche Veränderungen
auf, wie sie der Mikrogyrie eigentümlich sind, d. h. es ist zu einer unvoll¬
kommener» Windungsfaltung gekommen. Von besonderem Interesse
sind für uns die Veränderungen der Ventrikel im Anschluß an die Porus-
bildung. Eine schmale, aber lange Öffnung durchsetzt Rinde und Mark
Über l!öldeiiU]hjrigeu irn Gehirn von Envarbsenou
uml: führt m die Ampullru^ des Vent.ribcd«. Eine.fomo
Fiasrhioht, die 33m. Lebhfjgked ?mt. HÜto Anne?
Ist, schliefe die üu.üm*- - tVffmmg *$$fc Vonui die ituiere ht hmgegeovon
einem Wulst eudfaeligefalteter grauer Substanz umgeben-,. die im. Quer *
sehuitt ohie Unmenge Weinei* Windtuigr^ li^iefi^mterkentien ist, Dev
fferas Hegt mttgfefefer : am 'ißber^H>vg-':dfe- 'Hindert)Ornn' m diis ^itejtldrn.
An dieser Stoffe^bat d^r Venirifeel **ueh seine
«mi erstreckt >fefe weit in die weilfe Substanz hinriib Auf Frontal-
schnitten nach bocne erkennt m%ü, .wie db-~e Veotrikeler^eitcrung
nuf Konten der VeVlten.'.um' greift; die Selu>ide\eand
zn* belieft den Ventrikeln M verldreu gegaitgeti, nur in den vordersten
F'artit^n finden tfjt'Pfeifer -VerliSit?}issi\-
\i.i, :>,
Ohm* Zwvtfel hat. hier die direkte Kornmimikatioii dev Vb*nt.r»lu ilföfVIe.
md den Hubpiafeu Kämmern die \b-nt viktL rweiterUng vvrursnehL die
echter ^kündiit^r 11 titist )jr«tirnniitv-^t werden muß —
f di rrwalmedieWt .Fall 1 F?ui m hier besonders deshalb, tim ihn einer
Por?f*crp?mlit : gegeiiübevzusteihm. - Obwpld.rdnmechn-
?>e>ob i:-'u;mc>it4d v zur -fed immm>g der HnhleebiMimg Almfedic V>rhfiH-
•• Avfe irn Fälle echter Ponmeephalfe« ist es
£ur Entwickluiig Läsionen gr-kemoieiv.
Eß handelt-' sich -utp ^jitergen 'Epijeptifc0r Berrtardinö A, -
Von M iner VorgeseilK'lite Tvis*en wir nfehtä,' Er littmn befugen und sieh
häufig WiederholemfeR Vpitepfisehen Krarnpfardälier» und wo* wegen
seiner-' Rc%hftrk^t'- mul Iinpuisivifät auf dev ■Aht^iiutjg-'. gejfütc-htet.
Bei der Autopsie finde ich übei dem linken Stirnbein' eine etwa
rjLrein^arkÄtüekgsrpße Öffnung^ rife; mich yo'jb *‘fer Bfwit übel’^ögrm
.: Mmmm
L. fttmlinehöt°/ v ; v */.5< : V;
ist* -Ata Grugd dyv OffaüMg zeigt sich eiüe dünn*» Membran, aus de*
iinK» herum ft die Dura mil <icii Mcnmt'cn
f$ß viTWrichiMi. Df HijMting U'y.tuiunw.iert direkt mit de» Ventrikel»,
■wie TJiari «<*U fiufdi Si)'»d«tgk »i'tt-'rwiUi^n kminte« Ätn herfiusgenotium-
vii/u 0 * !*;ni hilJt cm*’ lamieOffmisur &\d t dw ohva an 4 M Great*’
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$her llMhlHobilchinfiren im .4'i'birn mi Ero™ v Ü5cn<yu .583
xvrisehen t und 2, F-imkd von <»keü nach unter* >*i^dbb-'juu;n|hi vMc
yieiijan.vimltvf zieht, ! H.-{T’ZiehUüg* n diese/ Sprdlljilduri^ zu den iwieren
J&iV« des O/hirnes, -fezrll zu ijfciif linker» S-iouiventrikel, gehen aus
den' vomeWiden Abbildungen fAfik ÜHn tf(>) hex vor. Man erkennt , wir
der eudi i v* nlt/n* Ante d dter ersten Frcmtal Windung verdünnt ist, und^ichl,,
t£it< die Komronoikat.irm muh außen dmvh eine \v jangljehta» Kanal
» rtulgt, Af in eine gi öftere Höhle führt ; dü se Hohle sjfr Hf , na* Fn»f v
njtrdk dar, ctaß
runde Am|üilie dar,stellt, ^üdelfi) xfeh genau
eii de tir s}>» ünglieli*' l'dno der Windung halt. indem sir den grüßten
Teil der \1Arl<^unsr; unter ßrlriiliurvg Rindenstfi^tnii?; xerntdri
)»/d }>»e Tnnenflüehe der ftoliiung ist glatt . Jedfiefi nmdi wieder von
tk‘fäß. a tt iTiuefised/t
ünd viür eüteui Au^elu-Jg
\tjl ü r e b ,ut #du>in cle3'VVi;trncidnjiii:n>
AAti^|ÜHOhtv- Es; Apringeti
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584
L. Merzbacher:
dungsformation erhalten bleibt, der Prozeß frißt gewissermaßen sub-
cortical das Mark weg und respektiert die graue Substanz, nur ein
ganz schmaler Streifen Mark bleibt erhalten.
In Idiotengehimen , vergesellschaftet mit sklerotischen Prozessen und
mit mikrogyrischen Veränderungen, habe ich die Höhlenbildungen wieder¬
holt gefunden. Meist handelt es sich um kleinere Höhlungen, die den
Charakter von Cysten tragen. Doch können sie ganz ansehnliche Größen
erreichen, wie aus den folgenden Fällen entnommen werden kann.
Zunächst möchte ich zwei Fälle (7 u. 8) beschreiben, die dadurch
sich an unseren letzten Fall anschließen, daß auch hier an das Wirken
eines von den Gefäßen ausgehenden Prozesses gedacht werden muß.
Fall 7. G. Tr., 29 Jahre alt, der unter der Diagnose einer organischen Demenz
zur Autopsie kam. — Auf der rechten Hemisphäre zeigt sich nach Durchtrennung
der Dura eine große dünnwandige Blase, aus der sich helle Flüssigkeit entleert.
Danach bleibt ein leerer schlaffer Sack zurück, der über den Schläfenlappen liegt
und von hinten nach vorn und oben gerichtet ist ungefähr in der Richtung der
oberen Temporal windung.
Die Wandung, die den Sack bildet, setzt sich unmittelbar in die Substanz
der umliegenden Windungen fort, so daß er selbst einen Teil derselben darstellt.
Füllt man ihn mit Kochsalzlösung so sieht man, daß derselbe keine ebene Ober¬
fläche besitzt, sondern noch deutlich die Unebenheiten von Windungskuppen und
Tälern besitzt, somit aus zu einer dünnen Lamelle ausgezogener Rindensubstanz
besteht. An der Oberfläche bemerkt man eine feine netzartige Zeichnung.
Nach hinten setzt sich der Sack bis in das Occipitalhim fort, nach vorn und
unten bis in die Spitze des Temporallappens. Oben geht er in die sehr verschmälerte
vordere Zentralwindung über.
Im Stimhirn zeigen sich bemerkenswerte Anomalien. Der Vertikaltypus dei
Stirn Windungen ist stark verwischt und ist durch einen Horizontaltypus ersetzt,
d. h. die Windungen laufen von außen nach innen anstatt von vom nach hinten,
an der rechten Hemisphäre zeigt sich das noch deutlicher als an der linken. Die
drei Stimwindungen sind dadurch auffallend kurz ausgefallen. Zwischen Stim-
windungen und motorischen Windungen schieben sich links drei große Quer¬
windungen. Die hinterste derselben stellt ein massives Gebilde von etwa 2 cm
Breite dar mit einer nach außen liegenden großen Anschwellung, diese Anschwellung
ist durch eine auf der Medianspalte senkrecht stehende Furche getrennt, die ganz
dem Gyrus sigmoideus des Hundes entspricht. An der Außenseite des rechten
Stirnhirnes sind mikroskopisch verhärtete Windungen sichtbar. Auch die I. Ro¬
landsfurche ist mikroskopisch verändert. Die Windungen links erscheinen relativ
sehr kurz, doch nicht verhärtet. Die rechte Hemisphäre ist bedeutend kürzer und
schmäler als die linke, so daß der rechte Occipitalpol weit über den linken hinaus¬
ragt.
Die Eröffnung des Sackes zeigt uns ein höchst merkwürdiges Bild. Die Wand
des Sackes — den äußersten Teilen der Rinde entsprechend — sind durch ein
Netzwerk feinsten Balkengeflechtes mit den tieferen Teilen verbunden, so daß
ein äußerst zierliches, feinmaschiges Trabekclwerk entsteht, das man etwa mit
dem Maschenwerk eines Corpus cavernosum vergleichen könnte (Abb. 23). Die
Balken sind schneeweiß, meist kreisrund mit Anschwellungen an ihren Enden.
An der Oberfläche des Sackes bilden die Füße eine mosaikartige Zeichnung. In
diesem schwammartigen Wabengerüst ist der größte Teil des Temporallappens,
ein großer Teil des Parietal- und ein kleinerer des Oecipitallappens aufgegangen.
586
L. Merzbacher:
Nach dem Ventrikel zu, der selbst mäßig erweitert ist, befindet sich eine feine,
aber nirgends durchlochte Membran, so daß keine direkte Verbindung zwischen
den Hohlräumen des Netzwerkes und dem Ventrikel besteht. In den hinteren
Teilen ist das Maschenwerk am dichtesten, nach vorn zu kommt der Höhlen¬
charakter mehr zur Geltung, indem nur einzelne Fäden den Raum durchqueren;
der vorderste Pol wird durch eine flache runde Aushöhlung gebildet, der an Stelle
der dritten Frontalwindung liegt. Hier finden sich nur sehr wenige aufsitzende
Bäikchen. Dieser Teil geht dann unmittelbar in mikroskopisch verändertes,
sklerosiertes Hirngewebe über. Innerhalb der großen Höhle selbst lassen sich
einzelne kleinere Höhlen unterscheiden, die durch ihre runde Gestalt und durch
Verdichtung des Trabelkelwerkes ausgezeichnet sind. Der veränderte Anteil
des Parietalhirnes ist vollständig und ohne Verbindung von dem des Temporal-
lappens abgegrenzt , so daß wir zwei große voneinander getrennte Säcke zu unter¬
scheiden haben (Abb. 23). Die solide Masse des Corpus caudatum springt in den
Ventrikel vor, dagegen ist der größte Teil des Thalamus opticus verloren gegangen,
wie man der Abb. 23 entnehmen kann. An seiner Stelle befindet sich eine eigen¬
artige fungöse Masse, die in den Plexus chorioideus sich fortzusetzen scheint.
Von den Ventrikeln ist, wie bereits gesagt, der rechte Seitenventrikel erweitert,
der linke dagegen normal. Der rechte Pedunculus ist schmäler als der linke.
Fäll 8. Das Gehirn entstammt einem 8 jährigen Jungen, Antonio M. — Über
seine Krankengeschichte konnte ich von den Eltern folgendes erfahren. Die
Eltern sind nicht blutsverwandt. Die Mutter hat 9 mal geboren und sehr oft (sie
kann nicht angeben, wie oft) abortiert; meist im 5. Monat. 6 von den 9 Kindern
sind gestorben, die meisten sehr jung. 2 unmittelbar nach der Geburt. Die Geburt
des Kindes war sehr langdauernd und schwierig, erfolgte aber zuletzt spontan,
der Kopf war nicht groß. Unmittelbar nach der Geburt litt das Kind 5 Tage
lang an zahlreichen Anfällen. Dann keine mehr. Ist niemals sonst krank gewesen.
Hat zur richtigen Zeit gezahnt. Sprach nicht, lernte nur — und das nur dürftig —
„Papa“ sagen. Lernte niemals gehen, konnte nur gestützt sitzen. Bewegte etwas
den rechten Arm, Hand und Bein. Kraftlos im Handschluß. Verdreht bei Be¬
wegungen die linke Hand (Ataxien?). Sah schlecht, sehr gutes Gehör. Erkannte
niemand. Weinte sehr viel. Kopf und Rumpf konnte er bewegen. Machte be¬
ständige Bewegungen mit dem rechten Bein, biß sich, schlug sich mit der rechten
Hand und wurde vorzüglich deshalb auf die Idiotenabteilung des Hospicio de las
Mercedes gebracht, wo er nach 6 monatigem Aufenthalt starb. Hier hatte er keine
Anfälle; zeigte das Betragen eines tiefstehenden Idioten, Beine und linker Arm
sollen stets in Beugestellung gewesen sein.
Gehirngewicht 590 g.
Asymmetrisches Gehirn, linke Hemisphäre größer als rechte. Mikrogyrisch
veränderte Windungen auf der rechten Hemisphäre stärker als auf der linken.
In der rechten Hemisphäre im Gebiet des Pli courbd eine nußgroße fluktuierende
Höhle, aus dünner Rindenschicht bestehend, nach vorn und hinten finden sich
mehrere Windungen eil miniature von knorpelharter Konsistenz, fast die gesamte
Unterseite des Occipitallappens der betreffenden Seite zeigt dieselbe Veränderung.
Der Fuß der III. Frontalwindung ist auf einer Strecke von 1 cm stark verkleinert
und fühlt sich sehr hart an. Die Frontalwindungen sind alle sehr dürftig aus¬
gebildet.
Schnitt aus der Mitte der Höhlung an der Grenze zwischen Occipital- und
Parietallappen (Abb. 24):
Die Höhlung rechts hat einen Durchmesser von etwa 4 cm und verjüngt sich
nach hinten, sic schiebt sich zwischen das Hinterhorn und die lateralen Teile
des Parieto-Occipitallappens, ohne an irgendeiner Stelle mit dem Ventrikel zu
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nvhl.ru C:disiama<m**nd tn ;j. IV. ‘Ehec >ljr Krrtnkr?j^K(‘hichtL; &•* MAftnn$ d-ssen
h&t Kr rite i#>jt j; ;üf_r
hs^iu-lmioi. \u st‘irkr ürr^^Mm.* c/uirrun»! da )ini (fliitf. mnmikulief K äun
h mij. jKs tmlum »st 4^ifjuu»>ti r ^(lh ihr linke Hom'i*phitre ist khwi ah $$
Hvlitvv. X»iuli AlitfvtuUmü de* Kleinhirnes wird eine starke Wriiiuhu<n f j hnkv n
i v. imirualix su'hthj.t .Man ftldi starke Finkt»jatfou, din Wmdimprn smd
ü Und hn Oec jpitMlpoL In^mtder^ nm diy (.UI&imKi h trivm
Hn VvvaWiJcrHfi^At. r'. i;lio:* tvifa-furl.-
iJÄ : 7.V einer |»aj>ierdthiW'jjt"i!^iibran uin^waiideU/ Ao dr-rt Xh~
fistet'lädt-Hi h pjohis WAhmdunen, dn-wt Afcrtoäfmttg fcrkfaivit kdimtd.
Ein Kriontf hmn i nein Snlmhetn ( Aide 2<*d näuht uns nv.t bemerk* th»vn : *,
Vtuändi ruf^eu tc>bnv‘ f * 0^ link« Itmfbthont ist erwmmrr. an >t-mer ?md»alm*
jSi^vffc^t' 4/itie oVtite Höid^ f rielit<*rfc>7t% ; .. n<;t -.ii'ii>‘; ; ;vbi• t::.
IK» aet* tim |x»sti-nnrr/‘ l)un;huu:s»rl-r }«’t rnel ^||jjj ,mi , »n< i.Uj UAvW 8 M.KUr.
ibU/tdMte ^VVi(tdtf. • ««ihr yidä]r^ : in»%*rt«ls' Aftpblif &n 1 iii
: Iftrtj. Hüt$t*‘rbi^tr Jniif *19*: .iftfifc;
vßfijt d> i >-iur n . I t 5 H« in phm* Wm-fur,-; i, ni . jrjj Ur\nee * LH. uhi dt > 'd.lAfiilum
Km Kfll Völi tlrrt t m > d j& I < .• I >><' i I e p vvSU i<b-r» dot Hoble. Etf^
M-m*- ;-i b'.iipintw- Höhle fmiVf Heb an -VmmetriMei., » au der n. 1 *, e
H; -n^;h/iria Es h ]■!<•<> als*«.-ItnU» a tn-Ttul «Ich Hipjlui^atupits. di:r :i.v Xiy.ruv :bu-
^ua’i.H um] fitsibann-.. v p!rnh»iu srlr-int AHtn To?l #ÜT iSildunir der eroünli
fiulih* M vtun. Ein Schnitt V-jhyn AitU;h rhckv%ii!t’S ynigtAim, «tft.ii
Jv>^tp «(er W nitiuna» n tre stark Hklet'psiiHt^:hV iinatand \ f orlUir^hm «iid.
ln wuitisi-^ rvieH • iii.nl -*. \i liriieikbü Sdijutf./T» koitbten wU die .sk|rrf i 'ljH.{i«?*p Vnt-
riYiVitnntu^fif) tkutbhh ’wrtoftiVrt; {/!.ar’l«?< iti».r sv litai wir, daÜ im Markla^m ii*\s
Cteeipdalt‘(H.avefi^ii.rieriL' und \ T <?r^itder\üi^- dar ^uWtanz vc>riur«duii
'MüytäfcMfc- U sond« vt; ^‘ hrtn in em>nhje<lr*neM 1A'ilen d^ 4 Marklaeerfi upse tvr dm-
br*>ler^!ti; t hAbc?) Sn d*;r n<lifesn CaU^riwafchd#m ^ieh kleiW
Über Höhlenbildungen im Gehirn von Erwachsenen. 589
Ich habe bisher absichtlich vermieden, auf Details in der histologischen
oder gar mikroskopischen Struktur der uns interessierenden Befunde
einzugehen, in der Absicht, gerade das Wesentliche der Erscheinung,
nämlich die eigenartigen Höhlenbildungen, d. h. die auffälligen makro¬
skopischen Erscheinungen einander gegenüberzustellen.
Auch jetzt bei der Ausfüllung der noch vorhandenen Lücken in
unserer Schilderung will ich nur das hervorheben, das zur Bewertung
und Beurteilung der eigenartigen Erscheinungen absolut notwendig ist.
Wir werden dabei besonders die Beschaffenheit der Wandungen uns
betrachten, die Struktur der vorspringenden und die Höhlen erfüllenden
Leisten und Balken uns ansehen und endlich uns mit der Natur jenes
Gewebes befassen, das als Vorstadium der Höhlenbildung zu gelten hat.
Wir dürfen daher die ersten 3 Fälle als zusammengehörig einer ge¬
meinsamen Besprechung unterziehen — und wollen auch damit be¬
ginnen. —
Wir gehen von einem Weigertpräparat aus, das uns eine Höhle in
seiner größten Ausdehnung wiedergibt (Abb. 3, 4 u. 5).
Wenn wir die Grenzen der Höhlung genau betrachten, so erkennen
wir leicht (und an dem mir vorliegenden Originalpräparat ist das noch
besser der Fall), daß die linksseitige Höhle ausschließlich in die weiße
Substanz sich hineingefressen hat. Rings herum ist sie von einem, wenn
auch stellenweise äußerst schmalen Streifen weißer Substanz umkleidet.
Man sieht aber gleichzeitig — auf der Reproduktion kommt es allerdings
kaum zur Geltung —daß an verschiedenen Stellen ein ganz schmaler
Streifen imgefärbter Substanz zwischen Höhle und dem geschwärzten
Saum des Markstreifens sich einschiebt. Den Mechanismus der Bildung
dieser Teile dürfen wir aus den Verhältnissen der rechtsseitigen Höhlen¬
bindung entnehmen, und zwar aus dem kleinen Felde, das der obersten
Ecke der Höhle anliegt. Hier sehen wir — von innen nach außen schrei¬
tend — einen ganz schmalen Markstreifen und diesem folgend einen
etwa viereckigen hellen Fleck, der in mehrere Zipfel ausläuft. Diese
Zipfel werden in ihrer Verlängerung die Markstiele der medial gelegenen
zwei Windungen ausfüllen. Zum Teil hat bereits eine Lichtung in diesem
Sinne begonnen. Deutlicher noch erkennen wir ähnliche Verhältnisse
auf der folgenden Abbildung, wo zwei kleine helle Felder, oben und
innen und unten und außen, an der rechten Höhlung wahrnehmbar sind.
Die Lichtung hat hier noch stärkere Proportionen angenommen. Denken
wir uns diese Felder mit ihren Lichtungen vergrößert, die durch die
Lichtung geschaffenen Räume erweitert, so kommen wir ohne weiteres
zu einer Bildung, die der linken Höhlung entspricht. Wir dürfen somit
jene viereckigen hellen Felder als die Vorstadien der Höhlenbildung
betrachten. Nun erhebt sich die sehr bedeutsame Frage, in welchem
Zusammenhänge steht die Ventrikelerweiterung zu jener Substanz-
590
L. Merzbacher:
Veränderung, die wir als helles Feld mit ihren streifenförmigen Lich¬
tungen erkannt und beschrieben haben. Es wäre ja denkbar, daß sie
als Folge der Ventrikelerweiterung auf tritt. Eine solche Annahme kann
aus folgenden Gründen abgelehnt werden: 1. deshalb, weil ich bei
echten Fällen von Hydrocephalie, die weit größere Ausdehnung der
Gehirnsubstanz zur Folge hatten, ähnlichen Substanzveränderungen
nicht begegnet bin ; 2. deshalb, weil die Veränderungen auftreten auch
unabhängig von der Ventrikelerweiterung; und 3. deshalb, weil wir an
denselben Gehirnen die Bildungen von Lichtungen von ihren ersten
Anfängen an verfolgen können, die uns dann über die Natur dieser
Erscheinung Auskunft geben. Fall 1 und 3 sind nach dieser Richtung
hin sehr lehrreich. Im Fall 3 konnten wir bereits bei der makroskopi¬
schen Betrachtung — und die mikroskopische bestätigte es noch mehr —
feststellen, daß im Bereich des vordersten Stirnpoles, in einer Gegend,
die weit nach vorne vom Ventrikel liegt, die eigenartigen Spaltbildungen
und Markstiellichtungen auftreten, d. h. ohne jeden Zusammenhang
mit den Veränderungen in und an den Ventrikeln. Trotzdem tritt hier
eine auffallende stark ausgeprägte Markstielspaltbildung auf. Die Mark¬
masse ist im ganzen an und für sich verschmälert, in ihren zentralen
Teilen liegen lange marklose Gänge und Spaltbildungen, die sich nach
rechts auch in die solidere Masse des Markes erstrecken. In demselben
Gehirne konnte ich im Occipitalhirn, an dem bei makroskopischer Be¬
trachtung nichts Abnormes zu erkennen war, das Auftreten eigenartiger
Herdbildungen verfolgen, die meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten.
Ich habe dieselben auf der folgenden Abbildung (Abb. 27) wiedergegeben.
Es sind Schnitte, die mit Thionin gefärbt sind. Die Rinde ist ohne weite¬
res an ihrem Zellreichtum zu erkennen Das Mark, das zwischen derselben
liegt, zeigt an mehreren Stellen dunkel gefärbte strichförmige Gebilde,
die zum Teil in der Mitte, zum Teil exzentrisch parallel zur Rinde sich
hinziehen. Links oben sieht man ein solches Gebilde sich gabeln. Bei
stärkerer Vergrößerung erkennt man, daß es sich um ein sehr kernreiches
Gewebe handelt; bei Behandlung mit meiner Gliamethode unterliegt es
keinem Zweifel, daß auch zahlreiche feine, kurze Fasern eingestreut sind,
so daß wir das Vorhandensein herdförmiger Gliabildung feststellen kön¬
nen. Es handelt sich hier offenbar um frische jüngere Herde. Unter¬
sucht man nämlich die viereckigen Gebilde, von denen wir ursprünglich
ausgingen, so ist die Erkennung der Natur des Gewebes weit schwieriger
Die Färbung ist eine diffuse, undeutliche. Das Gewebe ist kemarm.
Sicherlich fehlen alle Erscheinungen einer Infiltration; auf die absolute
Abwesenheit von Abraumzellen muß ich ebenfalls hinweisen — ein Um¬
stand, der darauf hinweist, daß es sich nicht etwa um einen ischämischen
Herd im Zerfall handeln kann. Ich habe die Herde mit Marchi und mit
Scharlach behandelt und keine Spur von Fett nachweisen können.
m&m
t'i^r Hiijit^nbildaoueri rra Gehirn. von Erwachs^bi
Wir £ feile a hulxglieh ein* streifige Struktur, als: tih es ssieh um Ffbrüien>
hawiehi vyürcie* Ji df »jireiiheirk^ineriei
iA'Ubbs Somit glaub- ich, daß alte tbnstibide aueh hier 0it das:
fdtmui vielleicht m4rotw<*h. veräu$eitetv:
nu» weiten. Daß tatsächlich eine gl id.se Anwandlung eine hervmT.agHKle
Buße !kd *kr Bildung unserer-..Höhlen sj»!>,]t v können wir einem anderen
hvib m angsvollen Umstund entnehmen, I>hs St udium dt r urgaiiart.igen
dte wir in m : ^ielijielier Menge in f&ttsi-. and S
b seht erben kennten/ ei öffnet tm«* bedeutsame Ei nid icke m das Wesen
iUs tbr« >;/>•**♦ ,s. Wir .selten >>er*eiiWaC'her Vgi|crößerU!ig,; wie das gesA^^
••• urtale Marklager in eine .krümelige Masse zerfallen .ist, in der ebuehic
ui der -Mitte «4nef
Uewehes anftauehen, daneben- mivä einzelne Steifer), die gam. !\<niu>i' u
mürben Diese Ge\vet^v(*ränrieriiyig streckt sieh in die stark ve'rsehfulB
leiten Markstiele hinein. — Bei ^ätkmmi Vergrnfku cmge;, läßt] **«*!«
efkennen, daß es <M-h um mne glibse Ümwuudlvvng luHideh, Die kleinen
runden und ovalen Substmmnselehen werden aus engniase}»iguiu
.<ilmr<d;ic.n.lfetm. gb,i>ildot/ da^ ziemlich ßeltavtrf inft- an- dm ludm-ipnen.
^Cvlleiv und dfM Lielitixhgeil der M^.rk^tiVde’lindvt' 4ioh rm dezbe* fa^enge^
filiägewehe, auch wieder /.ellarm.
39 v 2f
.
weyeuüieb anders verhält Sieh dr^ GewH/eM Fälle 1 {
hier die ; F&idrtarktdt Ktäifere' BmUulie, >,.h.
umi der Zc JhoJehtum trerihgCt ?,u v-m.
I5i.ii fM\iistl muß noch erkühnt werden, ine Ujmelemrntö im Folk- <
n-ioj| M\ tdifc-m f^irücöi r^^ii Pfgnkmt, <fa# üiii d]v. KmvV'^re
Ihgert ift urtd auch tu die feiner» >&lr t,' ; IitkvSNjprrb^'t'
iuunusi v mit,- v>.. ^^-TViiiMvVf .r>i
.likuiMr / toi* ; -Midiwjtra$,tT Fäthton afo Gatur v^reiVjnfcvlf Hoh irrlx größere
e"!, :• o»?; <1 ;'«•**'tu Pigment h«.‘laden, ÜM dir Uv fußr }»;n keine Al>^;i loüi
vVfix. to ; ?i Zellen Ki^ltgr-futiden. ?-o. : .
JiÄjfefMv die Uisndnugi^i der Hdh
.langen MudieH. Mir \\uj jh$ vor a-ilmt darum ./,u imf* hMxusteikm,
unvir-tVrjr dfrs-]i}.‘i» von VvnrnheF-p.it hol yunMeide? >md. Mit Sfolierkeii
komm: i<;li hUUtvU* tv *k>fi di; eo»i.v-o fr*ijH;»|eu Heiden, wie* sie uns in»
Falle ! uri.d i. Mtvkvzvo. ein lükle»?: Kmthei tysitxeu* große kuhi^ekr
Zeilen >Mer {ti uM*' Z-it-fi hm * uw m dem lide u meist Xemrid gelogener»
V T e|itrtkv*ls > so lassen
: 0&&. -H*rt
sieh kaum tnoVTik/fiocisrhe Y de< i $p■!>«<■»U vn-jkti. Hingegen j$fc
mir nicht- Epitjudt«mkleidurig dir kaueren,. $dt ; •'d.etn
Über Höhlenbiidungen im Gehirn von Erwachsenen.
593
Ventrikel nicht unmittelbar in Zusammenhang stehenden Hohlbildungen
aufzufinden. Ein straffes Gewebe wohl gliöser Natur scheint diese Höhlen
nach innen abzugrenzen.
Über den histologischen Aufbau der Pfeiler und Leisten, die wir an
verschiedenen Stellen die großen Höhlen überbrückend oder in dieselben
einspringend beobachtet haben, wäre etwa folgendes auszusagen.
Regelmäßig läßt sich an der Außenfläche ein wohlgeschichtetes und gut
ausgebildetes Epithel beobachten, das mit der Heidenhain ochen Eisen-
hämatoxylinmethode besonders gut darstellbar ist. In der Abbildung
(Abb. 28) habe ich ein derartiges Präparat dargestellt. Auch die Färbung
nach Weigert zur Darstellung der Markscheiden liefert demonstrative
Bilder. Je nach der Höhe des Querschnittes, den man zur Untersuchung
heranzieht, sind die Bilder verschieden. In den peripheren Teilen, d. h.
in der Nähe der die Höhlenwand* bildenden Teile findet sich intakte
Rindensubstanz. Die Papillen, mit deren Vermittlung ein Teil der be¬
obachteten Pfeiler breit aufsitzt, sind nur aus Rindensubstanz gebildet.
In Schnitten, die den freien, die Höhle durchziehenden Pfeilerabschnitt
treffen, finden wir sehr gut erhaltene Markfasern, die sich nach Weigert
behandelt intensiv schwärzen. Selbst feinste Fäden, die ohne Vergröße¬
rungsglas kaum erkennbar sind, weisen die tiefgeschwärzten Markschei¬
den auf, und manchmal — wenn der Schnitt gelungen ist — läßt sich
ganz oder teilweise der auskleidende Epithelüberzug darstellen. Einzelne
besonders feine Fädchen jedoch haben ihr Mark zum Teil oder ganz
verloren, und es bleiben nur Gliaelemente zurück.
(Aus der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, Kaiser Wilhelm-Institut, in
München.)
Über die krankhaften Veränderungen im Zentralnervensystem
nach Kohlenoxydvergiftung.
Von
Friedrich Hiller,
Assistent an der II. med. Klinik München, Prof. F. v. Müller.
9
Mit 17 Textabbildungen.
(Eingegangen am 2. Juli 1924.)
Die Veröffentlichung eines Falles von CO -Vergiftung wäre als
kasuistischer Beitrag allein nicht gerechtfertigt. Die Literatur über diese
Erkrankung enthält Beobachtungen aus vielen Jahrzehnten und ist
vor allem in den letzten Jahren in umfassender Weise bearbeitet und
ergänzt worden. Ich verweise im besonderen auf die dieses Thema
behandelnde Monographie von Lewin, Berlin 1920. — Der Zweck vor¬
liegender Arbeit liegt vielmehr in dem Bestreben, für das Zustande¬
kommen ganz bestimmter und — wie sich im Laufe der Beobach¬
tungen ergeben hat — für die CO-Vergiftung charakteristischer krank¬
hafter Veränderungen im Zentralnervensystem eine befriedigende
Erklärung zu finden. Seit ca. 100 Jahren wissen wir, daß das Gehirn
an CO-Vergiftung Gestorbener — unter gewissen zeitlichen Bedingungen
für die Krankheitsdauer — mit großer Regelmäßigkeit Erweichungs¬
herde enthält. Die Untersuchungen von Chiari, Herzog, Klebs, Kolisko .
J . Müller, Photakis, Poelchen, Sibelius, Wohlunll u. v. a., die Buge
in seiner im Archiv f. Psych. Bd. 64, 1921 erschienenen Arbeit über
dieses Gebiet fast vollzählig anführt, haben ergeben, daß es im beson¬
deren die sog. „Linsenkern“-Erweichungen sind, die dem Himbefund
bei CO-Vergiftung sein charakteristisches Gepräge geben. Über die
Prädilektion der Erweichungen für diesen Hirnteil herrscht unter
den Autoren eine weitgehende Übereinstimmung, wobei allerdings
schon vorwegnehmend zu sagen ist, daß leider bis in die letzte Zeit
die Ungenauigkeit der topischen Bezeichnung — „Linsenkem“ für
Putamen + Pallidum — die nachträgliche Beurteilung wesentlich
erschwert. Es soll schon hier darauf hingewdesen werden, daß, w y ie von
autoritativer Seite bereits des öfteren betont wmrde (A. Kappers, Spatz,
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen im Zentralnervensystem. 595
Vogt , de Vries u. a.) es unerläßlich ist, das Striatum (Nucleus caudatus
+ Putamen) vom Pallidum streng zu trennen. — Unter dem Namen
„Linsenkem“-Erweichungen der Literatur sind, soweit dies nach¬
träglich festzustellen war, überwiegend Pallidum-Erweichungen be¬
schrieben worden. In auffälligem Gegensatz zu dieser relativen Ein¬
heitlichkeit in Fragen der prädilektiven Lokalisation der Erweichungen
steht die überraschend große Unklarheit, der wir noch heute in der
Beurteilung des Zustandekommens der Erweichungen bei der CO-
Vergiftung begegnen. Zwei Momente wollen uns hierfür besonders
verantwortlich erscheinen: Einmal ist es die Methodik der Unter¬
suchungen, die gerade für das Zentralnervensystem besondere Anfor¬
derungen an den Untersuchenden stellt und die durch die Menge der
untersuchten Fälle keineswegs kompensiert werden kann; ein Fehler,
den wir der Rüge sehen Arbeit nachsagen müssen. — Und zum anderen
ist es eine gewisse Einseitigkeit, mit der wohl zumeist gerade die Palli-
dumerweichungen im Blickpunkt des Interesses standen und die Auf¬
merksamkeit von den übrigen Himprozessen ablenkten. Der Bericht
unserer eigenen Untersuchungsergebnisse möge bestätigen, wie außer¬
ordentlich wichtig eine Synopsis der verschiedenst lokalisierten krank¬
haften Veränderungen zum Verständnis einer topisch-prädilektiven
Erkrankung ist.
Der Mitteilung des klinischen und anatomischen Berichtes unseres
Falles sei vorausgeschickt, daß wir es uns aus guten Gründen im Rah¬
men dieser Arbeit versagen mußten, an der Hand unseres Falles auch
einen wohlbegründeten Beitrag zur Ix>kalisation klinischer Symptome
im Hirn zu leisten.
Klinischer Bericht.
Marie H.-M., 27 Jahre, wurde am 21. VII. 1921 in leicht somnolentem, apathi¬
schem Zustand in der hiesigen Psychiatrischen Klinik aufgenommen. Sie hat
am Morgen des Einlieferungstages einen Selbstmordversuch mit Leuchtgas gemacht.
Am folgenden Tag leidliches Befinden. Die Anamnese ergibt, daß es sich um eine
psychopathische, haltlose Persönlichkeit handelt, die bereits mit 12 Jahren schwan¬
ger war, seit 10 Jahren regelmäßig Morphium nahm, einen schweren Neuropathen
heiratete, sich mit Go. und Lues infizierte und sehr viel Wein und Likör trank.
Dabei war sie eine beruflich tüchtige Person; durch ihre eigene Haltlosigkeit
bedrängt, schritt sie zum Selbstmord.
Befund: Kräftige, reichlich ernährte Frau, gedunsenes, etwas cyanotisches
Gesicht; weite entrundete Pupillen, die auf Licht und Konvergenz reagieren.
Innere Organe o. B., normale Reflexe, WaR. im Blut und Liquor negativ. Patientin
ist benommen.
Verlauf : In der Nacht zum 22. Kollaps, Unruhe, Dyspnoe, die bis zum 23.
anhält, dann geringe Besserung, normale Temperaturen. 24. VII. Deutliche
Ptosis beiderseits. Augen in Konvergenzstellung, leichte Benommenheit, läßt
Stuhl und Urin unter sich, galliges Erbrechen; Aderlaß. 26. VII. Temperatur 39°,
allgemeine Verschlechten!ng, Sopor, Unruhe, Erbrechen; Anzeichen beginnender
596
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Pneumonie. 27. VII. Wesentliche Besserung; Temperatur 37,5°, noch leicht be¬
nommen, myoklonische Zuckungen im Gesicht und an den Extremitäten; keine
Konvergenzstellung der Augen mehr; Hämorrhagien an den Stichstellen der
letzten Tage. 30. VII. Temperatur 37,5°, wieder Verschlechterung, unregel¬
mäßiger Puls, beginnende Ödeme, starke Hautblutungen, ähnlich einem Morbus
maculosus, auffallendes Zittern der Extremitäten, wechselnde Reizerscheinungen
an den äußeren Augenmuskeln. 1. VIII. Temperatur 37°, wiederholt Kollapse.
2. VIII. Temperatur 40°; Pat. richtet sich bisweilen spontan auf, immer noch
Zittern und Wackeln der Glieder, allmählich tiefe Benommenheit, kleiner racher
Puls, starke Gesichtsrötung; plötzlich vier epileptiforme Krampfanfälle von ca. je
1 / 2 Minute Dauer, tiefer Sopor; motorische und sensorische Lähmung des linken
Armes, Deviation conjugee nach rechts; Zucken im Facialisgebiet. 3. VIII.
Temperatur 40°, geringfügige Zeichen von Bronchopneumonie, tiefer Sopor,
starke Rötung des Gesichts, jagender kleiner Puls, Dyspnoe; alle Extremitäten
außer rechtem Fuß gelähmt. 4. VIII. In tiefem Sopor exitus letalis. •
Sektionsergebnis : Die allgemeine Körpersektion ergab: Petechiale Blutungen
im Magen, Nierenbecken und in der Blasenschleimhaut; schweres allgemeines
Lungenödem; beginnende Bronchopneumonie im rechten Unterlappen, Bronchitis,
alte abgeheilte Endokartidis der Aorta und alte Niereninfarkte.
Die Sektion des Gehirns und Rückenmarks (Dr. Spatz): Gewicht des Gehirns
1435 g. Bei der Eröffnung der Dura fließt in mäßiger Menge Liquor ab. Die Ge¬
fäße an der Konvexität sind enorm geschwollen und von gelbgrünlichen Streifen
bekleidet. Die rechte Hemisphäre wölbt sich stärker vor als die linke. Die Sulci
sind besonders im Parietal- und Frontalgebiet verstrichen und die Windungen
abgeplattet. Beim Betasten hat man das Gefühl eines mit Flüssigkeit gefüllten
Sackes. Über dem Zentralgebiet befindet sich eine flächenhafte Blutung in den
welchen Häuten, die von gelbgrünlichen Gerinnselmassen bedeckt ist. Auch die
gelbgrünliche Färbung der Meningen ist hier mehr flächenhaft ausgebreitet.
An der Basis sind die Meningen frei; die großen Gefäße von mittlerem Kaliber
und ohne Einlagerungen. Bei einem Durchschnitt in der Höhe der meningealen
Blutung sieht man in der rechten Hemisphäre zahlreiche Blutungen sowohl in
Gestalt von Blutpunkten, als auch von größeren Blutungen im Mark. Das da¬
zwischenliegende Gewebe ist völlig erweicht. Die Rinde hat in diesem Gebiet eine
rot-violette Farbe und das Mark ist etwas gelblich verfärbt. Die größte mit Blut
gefüllte Höhle ist etwa hühnereigroß. In den Stammganglien beiderseits eine sehr
scharf umgrenzte Veränderung des Globus pallidus beiderseits; undeutliche Zeich¬
nung, vermehrte Blutpunkte; an manchen Stellen auch ausgedehntere Blutungen.
Die Zeichnung der Substantia nigra ist verwaschen.
Als Todesursache sind somit neben schwerster Kreislaufschwäche,
die in dem hochgradigen Lungenödem ihren Ausdruck fand, ausge¬
dehnteste cerebrale Blutungen anzusprechen.
Bevor wir in die ausführliche Beschreibung der mikroskopisch
sichtbaren Veränderungen eintreten, sei zur besseren Veranschaulichung
eine kurze Übersicht gegeben, über die schon mit bloßem Auge bzw.
mit schwacher Lupen Vergrößerung sichtbaren Veränderungen. Beson¬
ders instruktiv erscheinen diese am Herxheimer Fett- und Mark¬
scheidenpräparat sowie an den nach Nissl gefärbten Schnitten.
Überall, wo es gelang, die Pia im Zusammenhang mit der Himsubstanz dar¬
zustellen, fallen ihre enorm erweiterten und prall gefüllten, buckelförmig die
Oberfläche überragenden Gefäße auf. Ihr Inhalt erscheint inhomogen, so wie bei
»1
■
tni.«adv Kwbl&i;<iydyt>Tifi;ftunj
Pr^U a/rfüllt/* vt'mh äiiHi ti'idit. jakt»* $ü' efirehlMi vrxxviV^H tir>'W*iHi
»ydrin.-’irfiV Pik vi** K^*)jvf»trii^ r der MH(qfb) und rlej? Rucken mark>
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AM* I ftntlwJUllfe Brt&H *it?r i*i* tliffu* birJüs fmbiüme Pj» bwaiienjfiiv w*wiSst*ftdjtf< s
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?> »vt *ifi 'mfikmirmfl* rifir imiwr >'ifMj^rkebp’rui»' V ‘Cvoiuoruue.
f»t all den vielen. von den vergeht» dtHwten Hirnre^iow-n -«t am mindert örtoit-
t>A fcimj^.'briieJi ihrer Lokal h::; tun v;>*i überrag dmo der '.SJidrliiurmiglvdj »wi. l)Hn r
• ; hVh sfebmikm Xi^(-Vn%^vij. besondere itsKfruhttv jedoeh am l^ttprüpAt^ finden
*Hi* iinsnhwef -als »\V"* o:kve>e ; a k^tmfih he Hfctdi* in der nerton Kuulen^c hmJtl
b*W A an ihrer fj&ag*. /um <»b«Mrf Iftf h) iVHevi.Mbrk Üir Aid» } di,- Lni.v dieser
ttmie Uhutt.rierwn l>h- hfrikr » lieber Rfrik« besdironkt
*idi aber webt nur auf - rhr- liü^.UBtiijb.iwxbu.s Vorkomiiien in d t*t 'feinde tmJ
*wi anjrretir.endetJ Mark, ^tndhrn -ist, Hitirvrkiii fkv.(h dadurch«;ctbi«viüf<tii5<)e.i^- Jr dkÜ
<irb die** Erw'fK’iiUwäfhitmttvkTmiW^H«*i/MrnäßiL r kt'i: vaf der Hohe d»;r H*n?wmdqre
spn Jiüdruk. Hn*r und -ddrt webt matt »it* wohl onuh .nach tfcm WitidjiogHiAlf rn 7Ai
hinabttdtS&iV «*' !**■■ jedoch-' unverkennbar,. d&Ö tiit*eJr ;lt 4 txtd>h*Vi.- fthpte ‘'sowohl an
Raufigkeit kt? ytirh nn trrxVlUrna««debiiuri^ denen anf. der Wiridimgähöln' w* it
Pt: HiUet: Über die krankhaften Verftniderai^mi
nattatfebrn. (tx\ Uefat^n Wellental filmen eich an klar deutbaren Rindeneehm11en
überhaupt keine Hojrdt
Minen ganz .m^rk^urdijkam Anblick, bieten die Ainrnr/h^hitr.;- and t in
völliger Ütercüiatinunttng/'dfi^- rechte tia? linkte •Ähb.^-Vyh i d''iia{V hö&ier -vep*
S!Wcliöu!ich«»ix;.Hfo. jeti* Bc^ehrcibiina.
Wir sehen hier eine Erweichung* die bi* auf ein «rhm&Je* Stück ^diehr^iu
Banden das ganze .Stratum pyramidale dei*' Amrotmshom*. fast hin zum Sübkuluw
und den Hikte des. Gyms dentotn* in sich ^bezogen tun. Wh der No»vmnkh\tm
von (J. und 6h Yo$l w&rrii afe enyeieiu zu .foeisach len der ilihü* der. IWia dental*,
da* KnclbJatt* T>orsai>i.latt bw auf einen mivk * swie
der w eitaus größte Teil das Yeiihu) blatte* <j<% l>er
Er\\v}t<I|un^ ini Aminvi**s» 1*Prn <y.t u»Vi uti tfflji** tffcr w»^G *lent?Un (byi iiptniäbs*
de« * f tf iahten U«ml<y‘" <>/>/.
Sekt ar wäre somit in erster Lüne behvllm. •außerdini.-al/^s^tHdv eiäs *Är>^lbla
itnd tW Hilus. Am Subiyrildt^ .fefc Aon;::.pr\VHeimfit* •''m«;fct;v zu Wfiem v . V
hw* i'Xnvdeus; eaudaiu.- — Pu tarnen) Veisf keine ’ Kränk bähe*, - Vei
ändern^«: aut; anders jedoch <1«* PvltUhiw.
frvhrn \r» sviia rn «ri\fe*Vn Vb*«btdU< beginnt di( i ia einem Front#)*
eehruW in Höhe ‘dk* C’hiä^rrtad id Mi die Schede*' Pidibimrcv *üh- 4^r^:>;uebüogF/
herd gei.Teteru der. unter ^dtyuer Xac hahrnung d*n nunrmlen Pa 11 i(iumbegrt*uziiig.
defi yauz»>n llanrn di^ GidbuF paUrduk ausfullt; der Herd ist dorsal begTonzd 'von
der Gapsuia i fttet*tu, venfcral \m\ der Cmhinissiim aateriov und lateral vom Striatum,
\VoiliM i; kaMdal«:4T , bs äitdit.das Syke-iTu* einen QAiet^ohmlt in der ^rößti'ö Atis-
delntuf! j ds Glonns p.»jhd»>*. du. Im Zoehmme hüM Urei *Gne ganze Anzahl *m»
! ; .r v l .•j.'litiii’jKherdeu erben mm tlcren auf ifcu ersten Blick auffällige Eigem iinilirh-
keit !<♦, .dvJi si» duer Amrdmmc e«*u i-srrniaben di»* begrenzende Struktur d*^
Pallidum*« iu 'i Tvd^u, »vie Hueb jo sc*mer Grenze zur Gapstila interna ver«
Ijriy'' m f r np?rsrte Imne wirb
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftnng.
599
scheinung noch präziser fassen. Außer diesen Herden fällt noch ein kleiner in seiner
Form den umgebenden Markfasern gleichgerichteter Herd zwischen den absteigen¬
den Fasern der Capsula interna — des caudalwärts sich bildenden Pes pedunculi —
auf. Es erscheint nun von
prinzipieller Wichtigkeit,
daß dieser Herd an einer
Stelle liegt, wo Spatz und
Haüervorden die oralsten
Anteile der Substantia nigra ,
und zwar ihre rote Zone
feststellen konnten. Eine
Bestätigung dieser Ansicht
bringen die Verhältnisse,
wie sie sich ein Stück weiter
caudalwärts auf der gleichen
Seite finden. Wir sehen hier
vom Pallidum nur den cau-
dalsten Teil, der gegen das
Pu tarnen durch eine breite
Erweichung, die sich ent¬
sprechend der Abb. 3
gleichfalls im obersten Ab¬
schnitt nach oben lateral
an die innere Kapsel an¬
lehnt, getrennt ist. An
Stelle des zuvor beschrie¬
benen kleinen Erweichungs-
Erweichungsherde
Abb. 8. Erweichungsherde im Pallidum und ein kleiner Er¬
weichungsherd im Gebiet der „Inseln* 4 zwischen den ab¬
steigenden Fußfasern.
herdes in der roten Zone findet sich hier seitlich vom lateralen Kern des Corpus
mamillare ein Komplex kleiner Erweichungsherde, genau an der Stelle, wo wir die
Erreichung sherd an der
lat. Grenze des Pallidums
2 kleine Erteeichu ngsherde
in der Substantia nigra
Abb. 4 . Erweichungsherd im äußeren Glied des Pallidum and 2 kleine Erweichungsherde
in der Zona rubra der Substantia nigra.
Substantia nigra zu finden gewohnt sind. Einer etwaigen Zufälligkeit dieser Lokali¬
sation einer Erweichung wird schließlich vollends der Boden entzogen durch den
Befund in den Stammganglien der anderen Seite. Abb. 4 (nach einem Fettpräparat
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 39
600
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
schematisch gezeichnet), zeigt wieder eine Erweichung im Pallidum, die auf dieser
Seite allerdings nur das äußere Glied, und zwar mit Einschluß der das Pallidum
vom Putamen trennenden Marklamelle betrifft; daneben zwei kleine Erweichungen
an genau der entsprechenden Stelle, wie sie im vorher beschriebenen Schnitt der
anderen Seite genannt wurden. Es kann schon bei makroskopischer Betrachtung
kaum einem Zweifel unterliegen, daß hier nicht etwa die Fußfasern, sondern viel¬
mehr ein Grau, d. h. die Substantia nigra, und zwar der Örtlichkeit nach ihre rote
Zone, teilweise erweicht ist. Ein weiteres Stück caudalwärts bietet sich folgendes
Bild (Abb. 5). Hier hat sich bereits Hirnschenkelfuß und Substantia nigra völlig
voneinander getrennt und dem entsprechend finden wir die Erweichung ganz auf die
Substantia nigra beschränkt, und zwar auf ihre laterale Hälfte. Verfolgen wir die
Substantia nigra noch weiter caudalwärts, so erscheint diese kleine Erweichungs¬
zone auf beiden Seiten ganz an ihr laterales Ende gerückt, und zwar findet sie sich
auf der einen Seite in der Höhe des Corpus geniculatum laterale dicht über dem
Erweichung sherd an der
lat. Grenze des Pallidums
Erweichungsherd in der raten Zone
der Substantia nigra
Abb. 5. Erweichungsherd im Pallidum und in der roten Zone der Substantia nigra.
Himschenkelfuß und auf der gegenüberliegenden Seite, noch eben sichtbar, wiederum
im lateralsten Teil der Substantia nigra dicht über den Pyramidenbahnen in Höhe
des oralsten Teiles der Bindearmkreuzung.
Das Kleinhirn sieht auf Schnitten im allgemeinen intakt aus, es fällt jedoch
auf, daß ganz umschriebener weise an einzelnen, und zwar im tiefsten Furchungs¬
gebiet befindlichen Rindenabschnitten seine sonst so klare Struktur völlig ver¬
wischt und stellenweise selbst von der Körnerschicht nichts mehr zu sehen ist.
An der Medulla oblongata und am Rückenmark ist makroskopisch außer den
bereits beschriebenen Veränderungen der Pia und ihrer Gefäße nichts Abnormes
zu sehen.
Mikroskopische Untersuchung:
Die Pia der Großhirnrinde zeigt im allgemeinen schwere Veränderungen.
Strecken, im Verlauf deren sie ein normales Aussehen bewahrt hat, sind durchaus
in der Minderheit und betreffen mehr die Gebiete der Furchen, als die der
Windungshöhen. Allenthalben sieht man schwere und ausgedehnte Blutungen ,
wobei es zumeist unentschieden bleiben muß, ob es sich nur um venöse Blutungen
oder auch um Blutaustritte aus den kleinen Arterien handelt. Soweit die Gefä߬
struktur eindeutige Schlüsse erlaubt, handelt es sich um venöse Blutungen. Die
Lumina der Arterien sind meist nur erblich erweitert. Die Blutungen werden
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung. 601
verständlich, wenn man die enorme Füllung der meisten Gefäße betrachtet. Hier
und da ist es auch zu echten Thrombenbildungen in den Randbezirken großer
erweiterter Venen gekommen. Die zu Haufen geballten Leukocyten befinden
sich zum Teil bereits in Zerfall (karyorrhektische Trümmer). Die strukturlosen
Blutmassen nehmen im Van-Gieson -Präparat eine schmutzig-rote Farbe an und
sind durchzogen von dichten Fibrinnetzen. Diese Gerinnungen lassen jedoch einen
Teil des Gefäßlumens frei. — Die Blutungen sind bald auf die unmittelbare Nachbar¬
schaft der Gefäße beschränkt, bald ist die Pia auf weite Strecken hin mit Blut
imbibiert. Dabei ist es vielerorts zu massenhaften Leukocytenauswanderungen
aus den geschädigten Venen, aber auch aus den erweiterten Arterien gekommen.
Die Leukocyten liegen oft zu Haufen in der Pia, die selbst durch Blutungen
und seröses Exsudat wie aufgelockert erscheint. Die mesodermalen Zell-
elemente sind an diesen so alterierten Stellen im Zustand der Wucherung. Sie
haben sich mit lipoiden Zerfallsstoffen beladen und sich zum Teil zu Makro¬
phagen und mesodermalen Körnchenzellen umgewandelt. Diese diffuse Schädigung
der Pia macht im allgemeinen an der Rindengrenze Halt. Dies gilt im besonderen
von den leukocytären Extravasaten, die die mesodermale Grenze nicht über¬
schreiten. Große Rindenblutungen stehen augenscheinlich stets in Zusammen¬
hang mit kompakten Rindenmarkblutungen.
Eine genaue Betrachtung der I. — subpialen — Schicht lehrt, daß diese,
wenn sie auch zumeist nicht in die Veränderungen der Pia mit einbezogen ist,
doch auf die krankhaften Vorgänge in der Pia reagiert, bzw. auch selbständig
erkrankt ist. Man findet besonders unterhalb einer stärker geschädigten Pia
recht häufig die alleroberflächlichste Himschicht mit Erythrocyten dicht imbibiert,
ferner sieht man sehr viele frische kleinste Blutungen sowohl um die Capillaren,
als auch um größere Gefäße. Diese Dapedesisblutungen umgeben meist mantel-
artig die feinen Gefäße oder beschränken sich, wie es an größeren Gefäßen zu sehen
ist, nur auf eine Füllung der Adventitial- bzw. Gliakammerräume mit Erythrocyten.
Hier und da sind auch Leukocyten in größerer Menge mit durchgewandert. Eine
strikte Abhängigkeit dieser feinen Blutungen von Schädigungen im zugehörigen
Gefäßgebiet der Pia ist nicht nachweisbar. Eher gilt dies von den Leukocyten-
ansammlungen in den venösen Gefäßen der ersten Schicht. Bei ihrer Betrachtung
gewinnt man recht oft den Eindruck, daß es sich um rückläufige Prozesse handelt,
die von teil weisen Thrombosen pialer Venen ihren Ausgang nehmen. Diese Leuko-
cytenanhäufungen sind aber recht vereinzelt und sowohl ihre Zahl als auch ihre
Qualität entspricht keineswegs den so häufigen und schweren Störungen im pialen
Gefäßgebiet. — Den vasculären Störungen gegenüber treten die krankhaften
Erscheinungen an den ektodermalen Zellelementen der I. Schicht recht in den
Hintergrund. Man kann von einer allgemeinen leichten Vermehrung der Glia-
zellen und geringfügiger protoplasmatischer Wucherung sprechen, von einer
herdfömigen Reaktion auf die Blutungen jedoch kann nicht die Rede sein.
Der relativ große Fettreichtum der mäßig protoplasmatisch gewucherten Glia-
zellen gibt einen unverkennbaren Hinweis auf die wohl primäre Alteration des
Gewebes.
Wir sehen also, daß nur ein geringfügiger Teil der Veränderungen in der ersten
Schicht im Zusammenhang mit den krankhaften Vorgängen in den Meningen zu
bringen ist. Der weitaus größere Teil stellt eine anscheinend selbständige Er¬
krankung der Großhirnrinde dar.
Die Veränderungen der Großhirnrinde insgesamt haben einerseits
einen vorwiegend diffusen, andererseits einen mehr herdförmigen
Charakter.
39*
602
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
A. Diffuse Veränderungen.
Diese betreffen sowohl das ektodermale, wie das mesodermale Gewebe. Daß
das Gros der Ganglien- und Gliazellen nur leichte Veränderungen erfahren hat,
beweist schon die im allgemeinen erhaltene Rindenarchitektur. Wir sehen lediglich
eine etwas mangelhafte Färbung der Zellleiber der Ganglienzellen, im besonderen
eine schlecht und wenig distinkt gefärbte Nissl- Substanz. Wie so oft sind dabei
die großen Pyramidenzellen der vorderen Zentralregion besser erhalten als die
übrigen Ganglienzellen. Die Gliazellen zeigen wohl hier und da leichte Prolifera¬
tionserscheinungen, verhalten sich im großen und ganzen jedoch normal. Die
Fettfärbung läßt erkennen, daß sowohl in den Ganglien- wie in den Gliazellen etwas
mehr scharlachfärbbares kleintropfiges Fett vorhanden ist als normalerweise;
dabei ist die tiefste Rinde etwas fettreicher als die mittleren Schichten. Auch die
Gefäßwandzellen sind im allgemeinen reichlich mit Fett beladen, ohne daß man
jedoch von einem besonders hohen Grade der Verfettung sprechen könnte. Die
einzige, in die Augen fallende krankhafte Veränderung der Rindengefäße insgesamt
besteht lediglich in ihrer allgemeinen, oft sehr erheblichen Erweiterung und starken
Füllung. Die Gefäßwandzeilen zeigen im allgemeinen ein normales Verhalten.
Die so oft beobachtete Erweiterung der Gliakammerräume muß wohl zum guten
Teil artefiziellen Einflüssen zugeschoben werden. Generelle Gefäßwanderkran¬
kungen konnten nicht aufgedeckt werden. — In allen Rindenschichten finden sich
Blutungen , die meist an Zahl und Ausdehnung hinter denen in der ersten Schicht
Zurückbleiben, in den tiefsten Rindenschichten jedoch jene an Mächtigkeit oft
weit übertreffen. Die allerorts gut erhaltenen, im Gewebe liegenden Erythrocyten
und auch Leukocyten weisen auf die relative Frische dieser Blutungen hin. Fibrin
wurde nur in ganz unbedeutenden Spuren in Gestalt feiner Fäserchen innerhalb
der Blutungen gefunden.
B. Herdförmige Veränderungen.
Wie schon im makroskopischen Teil betont, ist die Rindenerkrankung charak¬
terisiert durch die in der tiefen Rinde und in der Rinden markgrenze lokalisierten
herdförmigen Erweichungen. Welche Aufschlüsse über ihre genaue Lokalisation
ergeben nun die mikroskopischen Untersuchungen? Die sorgfältige Durchmuste¬
rung einer großen Zahl von Rindenpräparaten von den verschiedensten Hirn¬
gegenden und mit den mannigfachsten Färbungen läßt keine Zweifel darüber,
daß diese Erweichungsherde sämtlich — wenigstens bis zu einem mittleren Grade
ihrer offenbar zeitlichen Entwicklung — der tiefsten, d. h. VI. Rindenschicht
angehören. Haben die Herde erat einmal einen sehr großen Umfang angenommen,
dann findet sich wohl auch ein Teil der V. Schicht und die oberflächlichste Mark¬
zone mit in die Erweichung einbezogen. Aber dies ist zweifellos die Ausnahme
und nur an Windungen mit besondere schmaler Markeinstrahlung häufiger zu
sehen. Hier finden sich allerdings bisweilen auch größere Bezirke des oberfläch¬
lichen Markes völlig erweicht. Nirgends sieht man jedoch isolierte Markerwei¬
chungen oder auch nur vorzugsweise Erweichungen im Mark bei geringerem Be¬
fallensein der Rinde. Die Form der Herde ist nur selten rund, d. h. die Herde
zeigen fast nie eine gleichmäßige Ausbreitung nach allen Richtungen und damit
auch in die Höhe und Tiefe, sondern sie sind überwiegend länglich, in ihrem größten
Durchmesser der Rinden markgrenze parallel gerichtet. Gar nicht selten verläuft
ein solcher Erweichungsherd, bzw. mehrere miteinander verschmolzene Herde,
so geradlinig im Bereich der VI. Schicht über einen so ausgedehnten Abschnitt
einer Hirnwindung, daß man geradezu von einer Sequestierung der Rinde zu
sprechen versucht ist (vgl. Abb. 1).
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•i»t SdrwitüiaUeller» Nesteln. • ,'fto- FeUa.W^rtiiif^ in den iMä&wamlr.efleit half
dcKhi Ja*t norriiÄleii.ßronäpMi «uU ^neit an üeu durch Blumigen fite-,
^li^aTjfkn ntfiwi nif^WK-iHdas Anft-rivten.Vdrt tWflüren ^rfailspnalukten auf »Imdir/y
Vor^inie in den Waiideltmwhton hin. Üie ÄdvcfitHiJi^c'jlcn y/^ßv.ßiit'h
■**it*n* prcHti/v&tivfi Diffe/en?»eriiiic>vornanindem au* ihnpp eni Teil i'e.oer
&ü*4emt>ntc: «sich eni yvickelt. cicV in grd&H Üiv^wi iin • Zenmim' '
Wrlt> vlje (iefiißc umcelK^i. }L< tüiitl dir/ in der. Hauptsmrh»> fypttebe Knrru Ix e
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604 Fr* Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Sichere Ubergangsformen jedoch von protoplasmatisch gewucherten fixen Ad-
ventitiazellen mit typischem Kern zu mehr abgerundeten, anscheinend aus dem
Verband gelösten Elementen begründen die Annahme von der fakultativen Ent¬
stehung der Körnchenzellen auch aus mesodermalen Elementen. Außer den
Körnchenzellen, deren Zellleib zum Teil eine ganz gigantische Größe angenommen
hat und deren Kerne oftmals bereits regressive Merkmale (starke Wandhyperchro-
matose und Pyknose) aufweisen, liegen zerstreut im desintegrierten Gewebe eine
große Menge Protoplasma- und Kerntrümmer, zum Teil wohl Reste der völlig
abgestorbenen Zellen. Die Körnchenzellen und die gewucherten gliösen Zellele¬
mente sind alle dicht mit kleintropfigem, im Zentrum der Herde auch oft mit
großtropfigem, scharlachfärbbarem Fett angefüllt. Pigment von gelbgrünlichem
Farbton, das keine Eisenreaktion gibt, findet sich in den Rindenherden nur in
Spuren in den Gefäßwänden.
Die beherrschende Stellung, die die Körnchenzellen im Zentrum der Erwei¬
chung einnehmen, ändert sich, je mehr wir uns der Peripherie des Herdes nähern.
Die an Zahl erheblich vermehrten, protoplasmatisch gewucherten, fixen Gliazellen
und hauptsächlich eigentümliche langgestreckte Zellen mit oft wurstförmigem
Kern charakterisieren hier den histologischen Prozeß. Diese letztgenannten
Zellen erweisen sich als zumeist erheblich proliferativ veränderte Hortega- Zellen.
Ihr Anteil an der Bildung von Kömchenzellen ist anscheinend mindestens so
groß als der der Gliazellen und mesodermalen Zellen. Bisweilen hat man sogar
den Eindruck, als ob die Kömchenzellen außer aus mesodermalen Elementen nur
noch aus Hortega-Zellen entstünden. Man sieht wenigstens sehr häufig Hortega-
Zellen mit mehr abgerundetem Kem und vermehrtem wabigen Protoplasma,
die als unmittelbare Vorstufe zu freien Kömchenzellen angesprochen werden
müssen. Das Fettpräparat (Abb. 7), in dem diese Hortegazellen dicht mit Fett¬
kügelchen erfüllt erscheinen, illustiert dies Verhalten am besten. In dieser Rand¬
schicht gewucherter Glia- und Hortega-Zellen trifft man hier und da auch auf die
noch kenntlichen Trümmer von Ganglienzellen. Kaum mehr als ein blasser,
strukturloser ovaler Kem mit einem winzigen exzentrischen Kemkörperchen,
inmitten eines kleinen Restes krümeligen und wabigen Protoplasmas ist von ihnen
übrig geblieben.
Diese Grenzzone geht ziemlich unvermittelt in Rindengewebe über, das sich im
Verhalten seiner zelligen Bestandteile nur wenig von der übrigen Rinde unter¬
scheidet. Im Nissl -Bild ist das Protoplasma der Ganglienzellen hier noch etwas
krümelig und blaß, auch lassen es kleine Vakuolen am Rande bisweilen wie ange¬
nagt erscheinen. Die Kerne der Ganglienzellen sind meist groß und etwas hell;
die Kemkörperchen oft etwas exzentrisch und gleichfalls lichter als normal. Die
proliferative Gliawucherung tritt ganz in den Hintergrund und findet sich nur hier
und da in Form kleiner Häufchen gewucherter Gliazellen, die bisweilen geschädigte
Ganglienzellen neuronophagisch umgeben.
Gegen das Mark hin verhält sich die äußere Grenzschicht des Herdes insofern
etwas anders, als hier von typischen Hortega-Zellen so gut wie nichts zu sehen ist.
Näheren Aufschluß über die Zell Verhältnisse an dieser Stelle gibt uns das Alz¬
heimer-Mann-Fr äparat. In der Grenzzone der Erweichung zum Mark fällt die
große Zahl proliferativer faserbildender Gliazellen auf. Ihr Protoplasma ist ver¬
mehrt und ihre zahlreichen Fasern sind weithin verfolgbar; recht oft finden sich
die bekannten Gliafüßchen solcher Fasern an den Capillarwänden. Die Durch¬
musterung der die Erweichungsherde zusammensetzenden Zellen ergibt ein völliges
Fehlen primär-regressiver Gliaelemente von der Art der amöboiden Glia. Von
sogenannten eiweißartigen Abbauprodukten ist im Herd bereich nicht viel zu
sehen. In den Wänden der größeren abführenden venösen Markgefäße finden sich
i{i den Adventiti&zelkm
maß! . t __ v „.. ■. mH .Hl_
bxw. il Iiokan» nu ttö 11 dien rimjzf' Tmt ^it>ßtrr/jif ijern Fett beladene Körne hetn
ieJlett.
Da* Markse-kcideribijd <ici}\ou^n<r\ &#U klarste, wir verhältnismäßig «cJh*r{.
die F/vrithin'i^hcrd^ sieb geuer» dtf* : Hv*|MispitÄrf'nni»rk absetzen ; aur die uinffiiur-
reixbeivn Herde greifen aiah auf die oberflächliche Marksubstanz über, wahrend
At>l>. j ErwrichuttgÄbsrd «ter tiotatep lüade.
a ^ Mlavf<iif!rr»*a »ü{#fi>y ; an der OfSßwaud mvsoderciittle
KöfoölUHh? w (et in der Bildhaifte (fei fnttbeladene flortega-
zi^fea €. 1'. itf biusniädUm* tu Kbmßhen zellen; in der unteren ÜtAlfUv (<fj
• v . .• K <:*rtu- 1 i»*nteUw». (Fetfprftnand»)
die kleineren und niit-tejgroiieu siel. fasi aü^ehiießlirL auf die Laruiüß infra*
striata beseitränkeri. Innerhalb Vier Herd** ai/id die Markscheiden *o jgjtji wie rest¬
los •unk-ncygrtngen, mWI nur bbliirrau'kleine brücke! und SeholJeü in
den R^mehenzfUen VerknSebabiiehen dienen Abb;iupn>zr&‘
Auch d{e ximftingrfkh'iKv EfwChui'tjxhzriU ' buben jin VeTv;le?eH ziitö. durch*
schnitt liehen Ftp der ^v^Hildejrten k*i!n>; -..Br-
»onderheJt^n.. Die Yat$acl»j jmlörlf, daÖ j^rade sie* irr AVbi,^ fituf'der
llohe iter; Hirnwindungen zU finden aimvj/äiviääl doti’ n BevfebWg
Fr. Hiller £ die krankhaften Veränderungen
in den tief in i »yrt am#.trii^il.ie9t^rd9 iMajrkiäÄisjf^ii in Ifeu knintnt. daß
.Ä%t>flL^iheinH<*h• üi« scrdütTe il 4 he m>d.Ä-hmalht:iit. «»nwr Windung ua<i •.i.frnu -.k-r
geringe* lnm fnnesHer des. IJArkänt^il« in ftineta dwvkieä Vrthältnfef -iur önöfle-
^iner Eräeit hung iin t\pfatto\ ftimlengebirj xfer Windtitt^fj^he sieht Ä*>
ttc*d/e> Mark m *. iwr khm §t.r»iilOfjg *vis.ehe.n der» ? mi ßimfciasi• heöfedfi
«dner Windung gi'wuttijti ist, dmgfericbert *ucii dort» vtn eior Windung
eiw ; r« kranken Kmck ^dvht. Mark in vtiuMU:h?t&
Ausmaß dkt '^ f 5 r\v^fcu«g N anhni.mgr*faÜen. a - Xa di»^ 6 : .grViÖi^n • \Krwei»i)if:Uiib?;
ij^rtieu treten min mit i^f»nder^ aber nur quantitativ imii'-sqchiedzxi
afcfc?
“ Ut) in rler III. Solueht. Ausfall von ifak#!i<n&ävlirn ; IlerUi?*- und
0|M*all^m>Uv*rutog tiniöfafcu iir^d^ r ;^j#*kbUd.
Aehernun#, \Vie die mich Mionttt Mi&tvrtictm >XoktiH^* ßiüdegow* i.fsfcärhuncen
diartunk.'mt. w:inh Xentrairi gr rjßgr -ju> fciuer inte^ivati. W**bh*rorig
der. <&♦>£* ■ ’Sübuil&sern' aller' $*!&&.’. ü5?k>.4nin^ai‘.-fe timfefc *ieh swohi eino deui-
Jjtrhv* V^rn^brung dyr t^ipilkren, aJi< nmff Ixvoftfani eine Massen- und Vfiiqitfen*
mtuihini: ■ K&wrntttyti® der iWfalW'. Kinn eigi-nt*
liehe l*yir>nr?m?t* Orjräj»haiinn der .Erw^idinni: hat liier aUf?rdmg*-.uwb nicht •?♦«.<*-
gesetzt« • Itiesmn Bilde völlm entspm'hrnd v-hen u*»r norh im V*vre^i>>.^Pi» :
parat eine V^iTiietexUg- koüu^ener Fasern imd eme «stärkere IWijdrö^alipn der
?örhmid*r»m. X?md^^et>siÖ8Wdi!ßt5 mit KpÜ^gejrt; > • '•/ J:i : .i;k ; ! ; vv, : Wv«••£••'>■k^-Tjv
ft v gilt. weimiim 2« nxm rsricfxwi, ob .stylt meid^ in der oier Jetter Rmd^ v
ifcltiilliv^xid^ltöebene; Veriiiidcntncr'n des- ^kr^di^tii^- sotcht:* .an tWtfs A^eläßfe«
mdtind^n-Heßerk die man älft : • .^‘wrkptmt?
Oie ’thtrfeiiiiipbt yielpi nach $f^r.jsefä$^ (ie^ nrm ^rkeraier»»
daß a&fi innntten der kaum .gcwchäciiv'.ton*:^ <kvi%fteu-i'-iwifi'XSllÄzelle^i hier und il»
i)ii.nach
Afcb. £.. Kleiner Ttertf an der Oron^ d« 11. zur T1I. SjchitÜU l'rrt » tu enyfrffcttes i/efiiU fdj uü$*
gedi'iifder fiatf'glienzellefifin'ter^^g 'V/j.ivulajffe WuHierunp; vrui H.utyKay.Wirn r» t§n;i i.lhmtimv •</>
in t)t:r *.i»tjb*r$obÄit ites IJerde* <!«?liiide Hak* • >'.ftrfc*re prclifefativt Ueaktmn der uiia
Vprtfifjhnu»« der TrabnfdJtelh'n, BtirJeji^zeUku utui det llbrigfui Ojfi» um weiuper iuteiwiT ^re
: t ’ '9ztoääigt&- diirtellftnaelli-c .Vl^ifßild.
St'tzt!'*. M<? GI.ia7.eUen verhalten sich yi r*i dlieden, Sie. sind bald kaum ?rrm*‘hrt
Uptl tagt nwrrn«! bald' im Zugtand <ter Prnjäforfttioti. Ihr fVotppJasnva mt dann
haufäg deutlich *iebtha.r und Uir Kyrtt^Äktiviett. Vutdi Tegtes&Xve
zu jB.. Wandhyjmrdiromai »se. t reten m Erscheinung. Die TrahanUclkm auwl ki»~ :
weilen xmxQ&bxt. und mm Teil v,u iyf te-bed • XitirnnophnV^ft probferfeii. Pit*
Gt#üe Verhalten sieh, nh&&lwn 'ytiti ihrer aikwueineii Er\v^‘<terdrr^ und den
Ueiiien Blutungen, nicht wiheitikh, Bald vermißt ttmri krankhafte Veramtenrii-
gao, bald sind tief EmlotheUen und JWvenivU/iieJIen#
Hellst einzelne Kundzeilen in Adv * *utitUrnurtien zu sehen, ^ermehrfe l^ukocyten
im turnen ivurden ri&ht gelten gegefrert bhn* tft.de&: den • Fahdrücfc von thrombo-
tuchen Gef aß Vorlegungen r.n machen
Ahbc O gibt wie h$$bn*> bfidfbrnkgdV
(iüS Fr/ di** kmiiklrnften .Veränderuiitren
clor Thtmze der II. zur UI. SdiuJht wieder die in Ihryi. Art »J* typt** h
Ä 4Se Wi'ifi^n nhkrobiotiscböü Pr^^t'H^e der Hirni*' ItaM riarl
Hm proper Teil der schwer veränderten Gmiglienxf Ihm der V\ Helu* b\ ihu- •■■
denen, die $}ti*>1wf:ytr uJs i ^xhimtsrhv Z*IUrkrunk\w$ ahTäldet. nml detdfd... t-V
fcirtd il(f4'.{füii^ieimdien. die eifiy atatk^ Ver^.hÄ^ieriijfie..
gefüsieiTirig* meud, nl>er ein katiin fdi hb»r»*s. v : iiüid '$$$$
(v/klyen, ölt :<IimkIeo. tmchijtHikörten iU*rf <iu!^Äaj r . Ht» w. sieht rofeit buiihk
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AbU. JÖ. Herd m der Mrlfctea Kimle (I niti u Ista d iiufi tu r^xivV v* /?i chuü£ j. Massen bah, gevvuctKtte
Hüjritegit- »irui t?jja/>»]|«ü ioi Bw&ic.U »^hyrer gt^c.UÄdigidf «nd daßgb»xix?Uen.
£mri und Kemk<:»r|>erehi'ri oft, wiitiiViü klein und exr.oritriscii eeleuon er-
feduvi’i. l'm -'ilche nauLdi« nreU< n aeigt da- (TJia die typi*eheii Merkmale f/inrr
\VWjJicrWia, Nhber* oft j^*Kf gito04‘i}. pr otnpIa>?niar<>tchef>
MiwUnJI |p| aktivierten Kenei? },. ^-v;K‘P um mit großer Ht^eliHiißigko-ir. Nt-mono
phaghfd WnU ^’htießiicli >j»iurji ,,T^iU’jiJa(krnfeS^E^l\4^ tT»yt>i wr miss den* atW--
-ilÄ.eiduvhen Mark haken», nm }m mehr ti’et^n Ufee Bddor m den Vnnler^runci.
ih der Alfltk^cWpW «dbst biTfndei’&<kh Mn? TUift in» Z’iikl^nd;;
Vl e.-.ti.ov^.Ir‘n Wui ifv-nm^ piul rdl.ürujKTiK'r ynflifn*# Trohtmatiou. -- An ander:^
d>-r Airinen Kind*. Mi ld m«ii fieniwiHn die i^nylivn^dk-n in hck hyrh**erer
] %mf 4n< 1' vifdl ITfind in t|'••'nebett’ patio->
fMia der 4ßtyi f»e'stfhrinbV^en'Menge in AViiehe-;
■ Td-nc h-cnd.-ruT 11ortI*-n. An den <dTißen ist. außer Krw ; eit<*rnng und *ti*f'k&:-
r.BXtii&Uki': mv.h.t*; -' AI>norm«S ?\\ >idinn .
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
609
Solche Bilder bieten offensichtlich den Übergang zu herdförmigen Verände¬
rungen, wo in umschriebenem Bezirk die Ganglienzellen zum großen Teil ausge¬
fallen und das Gewebe dicht erfüllt von protoplasmatisch wuchernder Glia und
einer Unmenge gleichfalls proliferativer Hortega-Zellen ist. Die eingehendere
Untersuchung lehrt, daß die Ganglienzellen, soweit überhaupt von ihnen noch
etwas zu sehen ist, sich im Zustand der Auflösung finden. Das Gewebe ist über¬
sät von feinen Zellen, deren Tönung sowohl auf Protoplasma- als auch auf Kern-
zerfall schließen läßt. Die wuchernden Gliazellen, die bisweilen kleine, häufig
auch größere aktivierte Kerne zeigen, ebenso die wuchernden Hortega-Zellen
haben sich anscheinend zum Teil mit solchen Trümmern beladen. Die Gefäße
zeigen hier wieder die typischen proliferativen Wandzellveränderungen. Im
Fettbild gewinnt man den Eindruck, daß neben den dicht mit klein- bis mittel¬
tropf igem Fett beladenen ektodermalen Elementen auch diese Wandzellen oft
recht fettreich sind. Dabei sind die Gefäße weit, meist mit Erythrocyten ange¬
füllt, Blutungen sind bald vorhanden, bald fehlen sie völlig.
Im großen ganzen entsprechen diese „ Initialstadien “ also durchaus den Bil¬
dern, wie wir sie in den Grenzbezirken der Erweichungen sahen (Abb. 10). Ganz
analog den definitiven Erweichungen sind sie nie in der Tiefe der Windungen zu
sehen.
Zusammenfassend ergibt sich also, daß ausgeprägte Erweichungen —
d. h. nekrotische Herde mit Kömchenzellen — nur in den tiefsten
Rindenschichten aufgefunden werden konnten, daß sich jedoch daneben,
beginnend bereits in der II. Schicht, mehr oder minder herdförmige
Veränderungen der Ganglien- und Gliazellen fanden, die offensichtlich
nekrobiotische Vorgänge darstellen, die am Ort ihrer stärksten Ent¬
wicklung (in den tiefsten Rindenschichten) den Charakter von begin¬
nenden Erweichungen tragen.
Ammonshörner.
Den Erweichungsherden der Hirnrinde entsprechen die folgenden höchst
charakteristischen Veränderungen beider Ammonshömer, deren grobe Lokali¬
sation schon oben dargelegt worden ist. Hinsichtlich der feineren Struktur ent¬
sprechen sie im Prinzip durchaus den geschilderten Rindenveränderungen, und
doch finden sich wiederum Eigenheiten, die sich letzten Endes wohl nur auf die
besondere Schichtentwicklung und Gefäßversorgung des Ammonshoms und der
Fascia dentata zurückführen lassen dürften. Der eigentliche Sitz der Erweichung
ist die Lage der Riesenpyramidenzellen des Ammonshoms und zum Teil die im
Hilus der Fascia dentata liegende Masse der polymorphen Zellen. Die Verände¬
rung beginnt ganz abrupt dicht am Subiculum und befällt bis auf einen kleinen
Sektor des Pyramidenzellbandes das ganze Band des Ammonshoms. Ausgebildete
Erweichungen in Gestalt von Körnchenzellherden finden sich namentlich in den
zentraleren Partien des geschädigten Gewebes; in intensivstem Grade ungefähr
ira mittleren Teil des Dorsalblattes und vor allem im Endblatt; in etwas schwä¬
cherem Grade auch im Hilus der Fascia dentata. Diese Erweichungen sind typisch
und bedürfen keiner besonderen Beschreibung. Die übrigen Partien der befallenen
grauen Substanz sind — ganz ähnlich den Grenzbezirken in corticalen Erwei¬
chungsherden — umgewandelt in enorm zellreiche Herde, die ihrerseits aus einer
Unzahl von gewucherten Hortega-Zellen und gewöhnlichen protoplasmatisch
gewucherten Gliazellen bestehen. Noch prägnanter als in den oben beschriebenen
Rindenherden erweist sich hier die Reaktion des corticalen Graus auf die statt¬
gehabte Schädigung als eine vorwiegende protoplasmatische Wucherung und Ver-
610
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
mehrung der Hortega-ZeUen. Als eine — vielleicht nur an das Alter der Herde
gebundene — Besonderheit der Gewebsreaktion im Ammonshora dürfte auch
das auffallend aktive Verhalten der Gefäßwandzellen in den geschädigten Teilen
anzusprechen sein. Namentlich die Adventitiazellen befinden sich in einem Zu¬
stand äußerst starker Wucherung und Vermehrung. Dementsprechend sehen
wir hier auch eine besonders intensive Proliferation des Gefäßbindegewebes, die
jene in den oben beschriebenen großen Rindenherden an Intensität noch über¬
trifft. — Die großen Pyramidenzellen sind restlos untergegangen und nur an den
scharfen Grenzen zum Normalen sieht man ein paar Exemplare, die in Gestalt
eines körnigen Zerfalls oder im halbneuronophagierten Zustand gewissermaßen
in der Agone liegen. Während die Riesenpyramidenzellen im Herdbereich völlig
zugrunde gegangen sind, fällt auf, daß in der Lage der polymorphen Zellen des
Ammonshorns noch recht viele Exemplare erhalten sind. Auch sie weisen —
allerdings nur zum Teil — schwere Veränderungen auf und dürften in nicht ge¬
ringer Zahl ganz untergegangen sein. — Recht eigenartig ist die Reaktion, die
die Molekularlage des Ammonshoras auf die benachbarte Erweichung aufweist.
Daß sie nicht primär erkrankt ist, beweist schon die Örtliche Abhängigkeit ihrer
Veränderungen von denen des Pyramidenzellbandes. In dieser Molekularlage —
weit weniger in der benachbarten der Fascia dentata — sieht man protoplasmatisch
gewucherte GJiazellen in großer Menge. Am intensivsten ist die Veränderung
dicht an der erweichten Pyramidenschicht. Diese Gliazellen, die — soweit es im
Nissl -Bild erkennbar ist — zum großen Teil faserbildende Gliazellen sind, ähneln
hinsichtlich ihres voluminösen Protoplasmas häufig den gemästeten Gliazellen;
nur ihr Kern ist, wenn auch groß, doch immer noch etwas kleiner als der der typi¬
schen Gemästeten. Auch Mitosen, bisweilen atypische, und Amitosen finden sich hier
recht häufig; hingegen fehlen die Hortega-Zellen fast ganz. — Das ganze Bild ähnelt
ungefähr dem, das als Reaktion des Hemisphärenmarkes dicht am Erweichungs¬
herd des Rindengraus beschrieben wurde. — Die Körnerzellen der Fascia dentata
sind im allgemeinen kaum geschädigt (nur stellenweise sind anscheinend einige
Exemplare untergegangen und durch protoplasmatisch gewucherte Glia ersetzt
worden).
Veränderungen des Markes.
Die bisherigen Untersuchungen blieben auf das Rindengrau als den Vorzugs -
weisen Sitz krankhafter Veränderungen beschränkt und streiften die Mark Ver¬
änderungen nur insoweit, als sie Komponenten einer Läsion vorwiegend des Graus
waren. Es finden sich jedoch auch Veränderungen, deren Sitz hauptsächlich das
Hemisphärenmark, und zwar dessen subcorticale Schichten sind. Es sind dies
die ausgedehnten, schon makroskopisch sichtbaren Blutungen , die zum Teil auf
das Mark ganz beschränkt bleiben, zum anderen Teil aber auch vom Mark durch
die ganze Rinde hindurch sich bis an die Pia erstrecken können. Diese Blutungen
bestehen zum großen Teil aus anscheinend völlig unversehrten Erythrocyten
und dürften aller Wahrscheinlichkeit nach sehr jungen Datums sein. Irgend eine
Abhängigkeit der Blutungen von den Erweichungen oder vice versa ist aus den
Befunden nicht zu ersehen. Wohl sieht man unterhalb größerer Erweichungen
mit reichlichen perivasculären Blutungen auch im Mark meist eine Anzahl kleinerer
Blutungen, aber diese finden sich auch sonst, wenn auch vielleicht spärlicher, im
Mark. Die großen Markblutungen trifft man sowohl in der Nachbarschaft von
Erweichungen, als auch unter einer nicht herdförmig erkrankten Rinde. Die
Vorbedingungen zu Blutungen sind im Mark genau wie in der Rinde allerorten in
Gestalt der oft sehr stark erweiterten und prall gefüllten Gefäße gegeben.
Die Reaktion sowohl des Marks als auch des Rindengraus auf diese diffusen
Blutungen bedarf ihrer Eigenart wegen einer kurzen Beschreibung. Es findet
im Z eiitcal nervet i system auch Kohlmoxydv argift ung.
an
sich da eine Ditergeitc in tler Reaktiv dex ^kt>>'^rjfiiaJwn und mcsodermAlm
Gewebsanteile. Verhalten #ix*h die erster©»' ..gal&iy,;-z4.n^eK.'.die XHz- ^ ■
temn einen iteoktionstyp, der zürn Bild einer Krttzüwliifng fuhrt *
d. h. iwi Bezieh und ^raacWeit \t±&. wä j ttu;;
zu »rtp^r massigen, ieukoey täreri
wänile- g*kumm«ri.. AuÜerhatb der Oefalje begegraen uns L^ukcKsyte« m ßmßer
31 eng© und m .allen. .xrrögiinberi Übergangstonneu von gut, erhaltenen bis zu
#ertr ihn merte» - Exemplaren. BisweUen sieht man in Hanfe« gai;z phabtasiiWh
konfigurierte* zu langer» lverrifä(f>;ii^ auögezogene LeiikicieyteiskicnföAtfcs in
aUeiri eme .Reaktion, wie wir ?»e ähnlich bereite fri der tdutiii ^nbibierten Pia
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uftöe ftUarf.aktitm. .NiiwUdihl,
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Das eigentliche Markg.tdveiiff; ist diw.h jlW^ifei&n' Bhiimfrn^eh'. "' •
tjgb Aii^mander gedrängt•. ■‘..0^ -‘atücl hier und da
tekht /rlwÄü vermehrt, zeigen jt-doeli irn allgemeinen gmngfuuigc Pn>lileratioiLs-;
cTseheirriingen. Die kleinen dunklen Gliakeroe übertreffe« an &ihl bei. Latein
*ik, Zellen rnit gröberen hellen Kernen und gewnehartem rVotop]temi£ Oh und
iii/rt liegen -t besondere in NiiehbHm'haft kleiner ^eftiße ■ •—w^hi sätieh einigü
>r?;u\ abgerundete Könichenzeiler»; xü yiiner eig^fttUoi«?»^ JÄrw^icfemtr^'ist jedoch
nirgends gekommen- XtK'h passiv er als rm - Mü'rk veth<-■ eich die VAih in den
verJSmderungeo, bald tnebr .K^cmjd^fej.die .^ich- mieten' in einem 2uat«fjd k^mtged
v y C:> : *• ; r ‘., ;••;
612
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Zerfalls befinden. Dabei kommt es oft zum Auftreten grob-klumpiger basophiler
Substanzen in der Peripherie schwer veränderter Ganglienzellen oder aber auch
zum Sichtbarwerden „imprägnierter Golgi-Netze“. An manchen Stellen ist das
Gewebe übersät von Ganglienzelltrümmern. Und bei all diesen schweren Paren¬
chym Veränderungen verhält sich die Glia eigentümlich passiv. Da und dort sieht
man wohl eine leichte Vermehrung ihrer Elemente, auch einen schüchternen An¬
satz zur Neuronophagie, aber die Mehrzahl gliöser Zellen sind kleine Zellen mit
etwas hyperchromatischen Kernen und nur selten sichtbarem Protoplasma.
Nirgends ist von einer Vermehrung der Hortega-Zellen etwas zu sehen; auch
Körnchenzellen werden vermißt (Abb. 11). — Kurzum, bei einer Ganglienzell¬
veränderung, die der oben näher ausgeführten in der tiefsten Rinde weitgehendst
entspricht, findet sich doch ein durchaus verschiedenes Verhalten der Glia. Auch
die Wucherung der Gefäßwandelemente, besonders der Adventitiazellen fehlt
hier vollkommen und dementsprechend auch jedwede bindegewebige Hyperplasie
in den Gefäßwänden und eine Capillarsprossung.
Stammganglien.
Schon die Lupenbetrachtung hatte verraten, daß es sich auch bei diesen,
das Pallidum und die Substantia nigra befallenden Herden um Erweichungen
handelt. Die mikroskopische Untersuchung bestätigt diesen ersten Eindruck.
Betrachten wir entsprechend unserem Vorgehen bei der Untersuchung der Hirn¬
rinde zunächst die Erweichungsherde selbst, so ergibt sich hinsichtlich ihrer Lo¬
kalisation und ihres Aufbaues folgendes:
Den oralst gelegenen Erweichungsherd fanden wir in der Nöhe des ersten
Auftretens des Globus pallidus, ungefähr über dem Chiasma. Diese Erweichung
geht nicht über die das Pallidum vom Pu tarnen trennende Marklamelle hinaus.
Da dabei diese Markschicht fast völlig in der Erweichung aufgegangen ist, be¬
rührt es um so merkwürdiger, daß die angrenzenden Putamenteile so gut wie
völlig unversehrt sind. Daß sich geringfügige degenerative bzw. reaktive Er¬
scheinungen in der Putamenrandschicht hier und da finden, kann natürlich den
Wert dieser prädilektiven Lokalisation der Erweichung keineswegs beschränken.
— Zwischen der Commissura ant. Und der Erweichung liegt eine Zwischenschicht
noch nicht erweichten, jedoch schwer geschädigten Pallidumgewebes. — An der
Capsula interna macht die Erweichung ziemlich scharf halt und greift nur unbe¬
deutend auf deren Fasermassen über.
Die nächst untersuchten Erweichungsherde waren in ihren topographischen
Verhältnissen durch Abb. 3 veranschaulicht worden. Die Beziehungen des late¬
ralsten der Erweichungsherde im Pallidum zu der äußeren Marklamelle ergänzt
die mikroskopische Untersuchung insofern, als sich feststellen läßt, daß größere
Teile der oberen zwei Drittel dieser Lamelle von der Erweichung verschont ge¬
blieben sind, daß hingegen in deren unterem Abschnitt die Erweichung unter ihrer
Miteinbeziehung scharf gegen das Putamen abschneidet. Zur mittleren und in¬
neren Marklamelle liegen die weiter medial folgenden Erweichungen (wie auch aus
dem Schema ersichtlich) so, daß sie zum mindesten einen Teil der grauen Faser¬
massen lateral von sich lassen, ihren inneren Teil jedoch mit in sich einbeziehen.
In all den verschiedensten Querschnitten durch die Stammganglien konnte
nirgends ein Übergreifen der pallidärcn Erweichungen auf die angrenzenden Him-
teile festgestellt werden; im besonderen ließ die eingehende Betrachtung ein
nur irgendwie wesentliches Übergreifen der Erweichungen auf die Capsula interna
ganz vermissen.
Hinsichtlich des eigentlichen cvtologisehen Befundes der pallidären Erwei¬
chungen genügt die Beschreibung eines der Erweichungsherde mitsamt der ihn
im Zentralnery ensysrtetii mudr KoW^nfayjvergiftun
tiinuebe.mfcn Cfiewefis^^rhältmsski. iolhttd;.'da»; u&kHr :BjihT*Kykrt üfortttiU• wieder.
pa*> Zent mm dü^er Krm4nhuVi^he>de. 2*?st*ht aut$fciner tfnrrrmge f« 3 t epitbei-
ariK* dicht aneinander yclcgeuor t,ypj*.*h 0 - K^nn hc 7 v^ (Iens'dir md viel
j^oBtTopfierrcii* Fett. als die Kdrnrhrm'llrri m ii*vn tsindehhetden beiadejv
Von nervösem (>:w*>bc- ist hier kehie Spur mehr m ächem Xbe Gebtße z*\g*x\ eine
tfthhbliebe • l^rolili?rö.t : ion iliriT.W&ndfcelfeni &^8c*dWtvgi*r nicht «cito iy" 0 )pl^ytÄre
hifiltrationen firade^ dfiddäuftd döft aucli *4njge 3£ri(iiiib*d~
^[trr^suns? ; \it$i' ^^piIfetWniHidöh^ i*h sl&vhtslh *sx \^h&vh^p A uiudi dem
tf«?rtdVadien .^Wfißöoöt^' FtfiiUMlife lassen; **er
ansefwirtieht y- • :dne sehr ntfWb}fote HypnrpiöjsH? des mcshalcrnialeii (liebes
*thv J~ ii»)r^ßer Erweic^ungslu^i im Jt<iMör(»^ ; <7Jied vltJB F'nttämtDß mH bpRUinender Organt-
fcalio«, KtfpitUrHprcaüniig laut • Hyperplasie '$$%• »ipso ttarirt h faii tfrwvbea. bipndi*Präpttrnt.
m dm KirWdehungfhrrilrn rrkehnvifi Ergänzt_ ‘ werden■ üi«#>e Bilder durch Fx*H>;
ijitäm- Präparate, in 'den Reichtum der Er weichungs*
iimie an. kollagencn Fasern mmicrki. Ift den verschiedensten Präparaten jst
ersichtlich, daß dir Gefäße in alt dcti er>ycftcri;.'tmd mnwii*X prall mit 25tut
gefüllt «und. Vpti Thronthaacn öder Bfdtungerit on Werfettungeh ^dcr auch
..Ccrkaikuhgen 1 " dt'f Ocfußwanik* ist mebts Öhy eigentlich« Erwochung
ttiHfhmr nicht wie in der Kinde dm» h emo urHiri 'hWrfäOitf* vnm normalen Gewebe
getrennty viclitvclir ji%£ aut eiiw> v e!liidtnisn\>>Üig ^dinuth.- Zon^ pröt^plftsmatisch
jf"X\u Vtcrter Olia/ieileri und /wisrhen ihnen Papillären »mV gleichfalls proliferatmu
W^TtdÄeUivn — 0ft. aueh.m^ edh KKVrnchepzeüen —■ in
der Peripherie der eigentlichen Erweichung; Bier. sieht m*n mich einige prolifo-
rfertey imsdicineml fa«e>hi!ilyf$4e .gliibse* Klcmcwii^'. ein «ge >}mu£fc Gliamitosen und
und in nparlfefmu IfetvMk in dm
614
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
des Unterganges. Aber auch diese unterscheiden sich von denen in der Rinde ge¬
kennzeichneten Formen. Ischämische Veränderungen wurden z. B. nie gesehen,
hingegen meist Zellen mit homogenisiertem Protoplasma, großem hellen Kern
und pyknotischem, exzentrischem Kernkörperchen. Oder aber geschwollene,
abgerundete Exemplare mit großem, strukturlosem Kern und kaum mehr sicht¬
barem Kemkörperchen. Man vermißt Zellen mit den Zeichen schwerster Er¬
krankung, von der Art des krümeligen oder ähnlichen Protoplasmazerfalls u. dgl.
Meist finden sich geschädigte Ganglienzellen nur in der alleräußersten Zone zum
Normalen und liegen oft dicht neben nur geringfügig veränderten Exemplaren. —
Hortega-Zellen fehlen, hingegen sieht man im Nissl- Bild entsprechend den physio¬
logischen Eigentümlichkeiten des Pallidums reichlich grünlich-blaues Pigment,
sowohl frei als auch in normalen und gewucherten Gliazellen der verschiedensten
Form. Dieses Pigment gibt zumeist eine positive Eisenreaktion. Außerdem konnte
in den nach der TumbuU- Methode hergestellten Eisenpräparaten die Eigentüm¬
lichkeit festgestellt werden, daß in diesen Erweichungsherden ein Teil des Eisens
anscheinend gelöst, die Gefäßwände diffus imbibiert hat. Es wurden so Präparate
erzielt, die infolge der elektiven Blaufärbung der Gefäßwände und auch der Ca-
pillarsprossen höchst anschauliche Bilder der Gefäßverteilung und ihres Reich¬
tums im Herdbereich gaben. — Die Markscheidenbilder sagen nichts Neues aus.
Die Untersuchung des die Erweichungen umgebenden pallidären Gewebes
ergab: die typischen großen spindeligen Ganglienzellen sind, wenn auch nicht
erheblich, vermindert. Vereinzelte schattenhafte, noch als Ganglienzellen erkenn¬
bare Gebilde bezeugen dies. Die erhaltenen sind zumeist in recht gutem Zustand.
Bisweilen ist allerdings ihre N ^«/-Substanz recht verwaschen; Zeichen einer
schwereren Erkrankung bieten sie jedoch nicht.. — An der zeitigen Glia sind —
wenn überhaupt — Proliferationserscheinungen nur in unbedeutendem Ausmaß
vorhanden. — Die Gefäße sind zum Teil weiter als normal, vor allem einige größere
anscheinend arterielle Gefäße. Eine Gefäßwandveränderung wurde nicht gefun¬
den, im besonderen auch nicht die selbst unter normalen Bedingungen sonst so
häufigen sog. „Kalk“ablagerungen; desgleichen vermißten wir jedwede Blu¬
tung und Thrombosen. Lediglich dicht neben einzelnen Erweichungsherden
fanden sich vereinzelt Leukocytenansammlungen in mittelgroßen venösen Ge¬
fäßen und auch da und dort einmal eine kleine frische Blutung in den Adventitia-
und Gliakammerraum eines Gefäßes. — Fett fand sich in mäßig vermehrter Menge
in den Glia- und Ganglienzellen sowie in den Adventitiazellen der kleinen Ge¬
fäße; desgleichen auch (namentlich im dorsalen Teil des lateralen Gliedes) das
physiologische großtropfige Pallidumfett. — An Hand der Eisenreaktion wurden
normale Pigmentverhältnisse ermittelt.
Das Claustrum , Putamen , der Nucl. caudatus , der Thalamus , die Capsula
interna , das Ventrikelhöhkngrau und die basalen Kemgebiete weisen weder auch nur
die kleinsten Erweichungsherde, noch sonst irgendwelche umschriebene oder
diffuse krankhafte Veränderung auf. Nicht einmal die Menge des sichtbaren
Fettes übertrifft in einem Grade die Norm, daß irgendwelche Schlüsse daraus
gezogen werden könnten. Einzig allein die immer wieder hier und da stark er¬
weiterten Gefäße sind als nicht normal zu betrachten. Anders verhält sich — wie
schon oben kurz ausgeführt — die
Substantia nigra.
Wenn es sich nun auch an sich erübrigen würde, die celluläre Zusammen¬
setzung der in ihr befindlichen Erweichungsherde zu schildern — denn sie gleichen
völlig den im Pallidum gefundenen —, so müssen wir uns doch in Kürze über die
Art des geschädigten Gewebes informieren, da es von vornherein ja noch dahin-
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxyd Vergiftung.
615
steht, ob tatsächlich graue Substanz eingeschmolzen ist und nicht etwa (wenigstens
in den oralst gelegenen Schnitten) nur umschriebene Gebiete der Fußfasem der
Capsula interna der Erweichung anheimgefallen sind.
Betrachten wir zu diesem Zweck einen Schnitt, der der schematischen Abb. 3
entspricht. (Etwas weiter oralwärts liegende Schnitte ergaben den gleichen Befund.)
Der vorliegende Schnitt ist nach der Herxheimer sehen Fettmethode gefärbt.
Es handelt sich hier um zwei kleine Herde, von denen der innere im Fußfasergebiet
der inneren Kapsel nur durch einen schmalen Streifen vom Corpus mam. und dem
lateral von ihm gelegenen Grau getrennt liegt. Der zweite Herd befindet sich etwas
lateral von jenem. Das die Erweichung umschließende Gewebe zeigt einen für
die graue Substanz typischen helleren Farbton und weist eine Verminderung der
in diesem Gebiet ventralwärts verlaufenden und zum Teil quer getroffenen Fu߬
fasern auf. Nur diese helleren Gewebspartien sind zum Teil von der Erweichung
betroffen, nicht aber das unter ihnen und neben dem Corpus mam. gelegene Grau.
Die Form der Herde ist durchaus der der grauen Inseln zwischen den Fußfasem
angepaßt. — In den Herden selbst findet man zum Unterschied gegen die Palli-
dumherde auch fettbeladene Zellen von der Form der Hortega-Zellen. Über die
feinere Struktur der Zellen — vor allem auch in der unmittelbaren Umgebung
des Herdes — gibt ein Nissl -Bild Auskunft, das der anderen Himseite angehört
und von einer nur wenige Millimeter caudalwärts gelegenen Stelle gewonnen wurde.
Die Lokalisation der Herde ist wieder annähernd die gleiche. Hier nun erbringt
die Anwesenheit der spindeligen pigmentfreien Ganglienzellen sowie das Vorhan¬
densein des typischen grünlichen Pigments in den Gliazellen (das übrigens in den
Gliazellen des Fußfasergebietes völlig fehlt) den überzeugenden Beweis dafür,
daß diese Herde tatsächlich in der roten Zone der Substantia nigra gelegen sind.
Die Lage dieser Herde zur schwarzen Zone (Zona compacta) verdeutlichen einige
in dichter Nachbarschaft der Erweichungen gelegene große melanotische Pigment¬
zellen. — Den eigentümlichen Pigmentverhältnissen der roten Zone entsprechend
liegt in den Körachenzellen der Erweichungsherde ziemlich viel grünliches Pigment,
desgleichen auch in den proliferativ veränderten übrigen Gliazellen. Von den
spindeligen Ganglienzellen finden sich in den Herden selbst nur einige Trümmer,
hingegen sieht man in den Grenzzonen einige mit schwergeschädigtem Proto¬
plasma, krümlich zerfallener, oft am Rand zu Klumpen verbackener Nissl- Sub¬
stanz. Die Begrenzung dieser Ganglienzellen ist meist unscharf, oft zeigen sie
varikös gequollene Fortsätze mit zusammengesinterter A T wsJ-Substanz; ihre Kerne
sind oft vergrößert und hell, die Kernkörper sind klein, exzentrisch und oft pykno-
tisch. In der weiteren Nachbarschaft findet man noch Hortega-Zellen und proto¬
plasmatisch gewucherte Gliazellen, außerdem schollige Massen, die als Zerfalls¬
produkte anzusehen sind. Die Gefäße zeigen die in allen Erweichungsherden
gefundenen Eigentümlichkeiten; auch mäßige lymphocytäre Infiltration der
Wandung, selbst hier und da einmal eine Plasmazelle konnten festgestellt werden.
In den gewucherten Advent ltiazellen liegt häufig klein- bis groß tropf iges gold¬
gelbes Pigment und um die Gefäße zum Teil im erweiterten Gliakammerraume
sowie in gewucherten Gliazellen und Körnehenzellen das grünliche Pigment der
roten Zone. — Leukocytenthromben finden sich innerhalb der Erweichung nicht.
Zwischen diesem inneren und dem lateralwärts von ihm gelegenen zweiten Herd
finden sich in schmalen grauen Inseln zwischen den Fußfasern kleinste Degene¬
rationsherde, die wohl als Initialstadien von Erweichungsherden zu betrachten
sind. Man sieht da einige in Untergang begriffene Ganglienzellen, wuchernde
Glia- und Hortega-Zellen, proliferative Erscheinungen an den zentral gelegenen
Gefäßen, jedoch keine Körachenzellen. In den — wie stets — weiten Gefäßen
finden sich auch hier keine Thromben. — Der ganz laterale dritte Herd nimmt
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCm. 40
616
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
insofern eine etwas abweichende Stellung ein, als hier ganz wie in den sicher schon
alteren Pallidumherden die Hortega-Zellen fast fehlen, von den Ganglienzellen
keine Spur mehr vorhanden ist und von der einen Herdseite aus eine auffällige
Sprossung parallel gerichteter, langer, spindeliger mesodermaler Elemente statthat.
— In der Umgebung der Herde liegen hier und da prall gefüllte Venen, bisweilen
mit kleinen Blutungen in ihrem Umkreis, jedoch ohne nennenswerte Reaktion
in der Peripherie. — Im Eisenpräparat erkennt man den typischen Eisenreichtum
dieser roten Zone, einmal in dem in den Gliazellen gespeicherten, die Eisenreaktion
gebenden Pigment und dann — noch viel deutlicher als im Pallidum — an der
diffusen Imbibierung der Gefäße der Erweichungsherde mit Eisen. Dieses Präparat
gibt wieder ein Bild von der intensiven Gefäßbindegewebswucherung innerhalb
der Erweichungen.
Daß der in der schematischen Abb. 5 eingezeichnete Erweichungsherd in
der roten Zone der Substantia nigra tatsächlich in diesem Grau liegt, bedarf einer
näheren histologischen Begründung nicht mehr. — Notwendig erscheint dies jedoch
an jenem caudalsten Herd, der sich im lateralsten Teil der Substantia nigra in
der Höhe des Corpus geniculatum mediale fand. Dieser Herd beginnt medial
unterhalb des lateralsten Teiles der schwarzen Zone im Bereich der roten Zone
und geht nach lateral und oben etwas über das Gebiet der schwarzen Zone hinaus.
Diese selbst ist anscheinend nur zum geringsten Teil in die Erweichung mit ein¬
bezogen. Man sieht an der dorsalen Herdgrenze einige schwer geschädigte melano-
tische Ganglienzellen der schwarzen Zone. Einige dieser Ganglienzellen sind offen¬
sichtlich bereits untergegangen. Ihr frei gewordenes Pigment ist in den gewucherten
gliösen Elementen auf genommen worden. Dies Pigment ist schon seiner Farbe
nach ohne weiteres von dem Gliapigment in der roten Zone zu unterscheiden.
Diese degenerativen Veränderungen im Randgebiet der schwarzen Zone sind im
ganzen spärlich und machen den Eindruck eines mehr sekundären Prozesses.
Von einer eigentlichen Erweichung der schwarzen Zone kann keine Rede sein.
In den noch weiter caudalwärts gelegenen Abschnitten der Substantia nigra
ist nichts mehr von Erweichungsherden zu sehen; das Gewebe erweist sich da
überall ab völlig ungeschädigt. Es erhellt daraus , daß die Erweichungen mit dern
Aufhören der roten Zone ihren Abschluß finden .
Kleinhirn.
Den makroskopisch sichtbaren Veränderungen der Kleinhirnrindenstruktur
liegt — wie die mikroskopische Untersuchung ergibt — eine schwere Veränderung
der Kleinhirnrinde zugrunde. Bei schwacher Vergrößerung bieten die von der
Erkrankung betroffenen Windungen ein Bild, wie es Abb. 13 wiedergibt.
Bereits die Betrachtung der in pialen Septen zwischen die Kleinhirnwindungen
hineinziehenden Gefäße läßt krankhafte Veränderungen erkennen. Diese pialen
Gefäße, die normalerweise ab zarte, dünne, w T enig zellreiche, feine Röhren, nur
von einer schmalen Bindegewebslamelle bekleidet, zwischen die einzelnen Läppchen
hineinziehen, bieten am Ort der Erkrankung ein Bild, wie es Abb. 13 zeigt: wir
sehen diese Gefäße nicht unerheblich erweitert und sowohl das perivasculäre Ge¬
webe wie auch die umgebende Molekular läge des Kleinhirns von einer massigen
Zellansammlung eingenommen. Diese reicht zumeist bis an die Kömerschicht
und hat zu einem völligen Verlust der Purkinje-Zellen geführt. Betrachten wir
diese Veränderung näher, so ist folgendes festzustellen: Solange das Gefäß ge¬
sondert vom umgebenden Rindengewebe zu erkennen ist, sieht man eine erhebliche
Wucherung der adventitiellen Zellelemente. Da liegen neben typischen Adven-
titiaelementen mit leicht gewuchertem Protoplasma solche mit oft wabigem,
stark proliferiertem Zellleib und andererseits auch länglich-spindelige Formen, die
riri Zentr ai n e rv s*t e ui iraoh Kohlennxyt 1 vor# i ftoi hg
Kihi:iiKlaftt»!?ti' ^rtri^hira;- • föiu kurzem KttiOh: inder Kk-htunii %tif die Win-
f!umii>ti^. zu ifti Pitup Tronmmj du-M-r penvastubiren ZeÜ wurhrruhtf von der
tn.dfcr.Äf(lckaU-J , «c*.hK\bt njeht mehr moülieh. ilier traten amdi tvpia< l](ir
K»riK‘ijtnr/.^llcr» auf, die zu<üieh*r in igv&er M*nü<r du kt Um du- i'krfüiV att 2 *nr<dt* n
^iirly 4P den tkfer>\H Srbicb.t«*»; der Mojekidammf; aber ^hiu\tfb<*h inpper meljr
md .tsitöbr 'v r <*r^ehyttiden.. fttuit ihrer liefen dprtf überwiegend prrf!öpi««n v iiiiük*li
Zellen, deren m&njte\h&itv- Abrü#tl4it£' tyN • ubi % cwn«'t irn.inetiiier
KtrvtKUtr «ra \%.trslufe zu KdrpfdieTi^tdleri, <j tv ata ^Wurfierte Zellen v?dW
Herkunft erkv>tiiy*n ixßi/ AvdJerdem siehh ir«is**?nhaif Hortetdo
iUV. t&.. Schwer A'erfcntlerter ÜtyiJ /. ttorKkUihimrlnU^ Stark ♦inv-viffW-. peJ^Ü»? ih ät*ii ir*.tcr-
I^Ä^piVf.» 10 mit Wiwh&ruu.*} titrier <*«'«äü\v«H<!^41‘*n f#i; T. »atenoo MlvviulWtu»#
trt ,t»fcvtto' Bia'dfctuchjüjt; .<#>. die’ jari wAzünet) HiiflKtn 4jj). : >'»«4 tu die* korur^'lUcht
jrtc^tfcvKU Nixsl-Btlil,
Zellen ndr uhm Idalta ihrtoUrhei :t«>)ii i oft wa bi um in IV<>h. plasitia, ferner hnw'lk'he
Zellen., die den aJ< Fibroliiavtvn ürvüH H|av( brn'-n /,elk-n dei'hvn nnd
^«^H’dhrtKelj liTtiBe Zelleii tobender' Afl:, Ihr Zejftaib tat rumilieh, f*dtener\ tmldd
Qfig N»*t /cemer -mharT Ku-ren/l. mriM olmc hdrWiixe U»; Protoplasma iH glßit h-
tt&öii - HB ^VPsd f.bld IHB »nl<>H - üehicbL: Ti iiuden *ielv seilen. dt-
■dvu'.t-w itpitiittfi'wtrxi^i ,'tiun^ ni rioeli. KinU‘:< r.nk'en m ihnen eine
Ihr Kmt* im v'roö. yph/u »^'h, I dit•>*' heuh>nnxv»*truiiie$en *i. ohne Kvrnai ift^irurffc.
Ne Ui :jrhen sthfi die fvrm vmiopjali bzw. *:t ; Zustand otypr^her Mitose bsiuu
wdlviiwUrr Pude- Zdtan fxn^Wn sieh ir» aü«*n Vhitiiren tier urkra.nktvn
' MoIektitarU^: IVis' «/* die frrenze. der •K'öri^rseivfeiit, &owoftI rndt^n isn Bern wie
a:wdi in ^itser hu liapdirvdfkt liege’ti die ]>ro)ibrierivn Zellen Wi-tn^v
♦licht ite
^ />•)!' 7 » ^euinneti
618
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Schicht finden sich schließlich überwiegend vermehrte und protoplasmatisch ge¬
wucherte Bergmannsehe Zellen. Deren intensivstes Wucherungsgebiet betrifft
ganz offensichtlich die Stellen untergegangener Purkinje-Zellen. Von diesen sieht
man zumeist kaum noch ein paar Krümel von rosa Protoplasma, überdeckt und
umlagert von den gewucherten gliösen Elementen. Ihre Fortsätze sind als abge¬
schmolzene Rudimente da und dort zu sehen und bisweilen sind sie dicht besetzt
mit einigen hintereinander gereihten, gewucherten Hortega-Zellen bzw. prolife¬
rativ veränderten Gliazellen. Diese Ganglienzellfortsätze weisen bisweilen auch
auf ihrer Oberfläche schwach basisch imprägnierbare Brockel auf. Alles in allem
ähnelt das Bild in dieser Schicht den Purkinje-Zellen und etwas darüber ganz
auffällig den Bildern, wie sie Spielmeyer zur Demonstration seines Gliastrauch-
werkes in der Kleinhirnrinde gegeben hat. Von einer homogenisierenden Zell¬
erkrankung der Purkinje-Zellen nach Spielmeyer ist hier allerdings nichts zu sehen,
vielmehr gewinnt man den Eindruck, daß — wohl infolge des stürmischen Ablaufs
des krankhaften Geschehens — die Auflösung der Purkinje-Zellen äußerst rasch
vonstatten gegangen ist. Die dem Herd benachbarten, nicht oder nur leicht er¬
krankten Rindengebiete zeigen noch kaum veränderte Purkinje-Zellen. Nur ihre
Nissl- Struktur ist allenfalls etwas verwaschen und ihre Kernwand leicht hyper-
chromatisch. Die Körner in der Kömerschicht sind etwas rarefiziert, sonst o. B.
Unterhalb der Körnerschicht ist das Mark intakt.
So gestaltete Herde finden sich nun beliebig viele; sie zeigen alle das gleiche,
immer wiederkehrende, morphologische Verhalten, immer wieder die Rindenerkran¬
kung derselben Form, eng verknüpft mit der oben beschriebenen Veränderung
der interlobulären Gefäße. Andererseits erweisen andere Bilder, daß Leukocyten-
anhäufungen in den erweiterten pialen Gefäßen nur selten Vorkommen, also keines¬
falls zum Wesen des Prozesses gehören. Erweitert jedoch, oft in extremem Grade,
sind diese Gefäße immer. Wenn ihre Wand Veränderungen nicht in jedem Fall
in Verbindung mit Läsionen der Molekularzone zu bringen sind, so erklärt sich
dies befriedigend daraus, daß zu- bzw. abführende Pialgefäße und Rindenverände¬
rungen nicht immer in der gleichen Schnitthöhe getroffen werden konnten.
Es ist ferner zu erkennen, daß die Windungstiefen zwar den Prädilektionssitz
der Erkrankung darstellen, daß jedoch oft bereits „auf halbem Wege“ die Gefäß-
und Rindenerkrankung eingesetzt hat.
Allen Herden ist gemeinsam, daß die gewucherten Zellen — bis auf die Fibro¬
blasten und die geschilderten, ungewöhnlich großen Gliazellen — dicht mit Fett-
tröpfchen oft von recht beträchtlicher Größe vollgepfropft sind. Die Purkinje-
Zellen sind außerhalb der Herde fettfrei; die innerhalb der Herde an ihrer Stelle
liegenden gewucherten Gliazellen, auch die gewucherten Bergmann sehen Zellen
dicht mit Fetttropfen angefüllt.
Neben diesen Herden finden sich aber nun auch größere, die eine von den
erstgenannten etwas abweichende Struktur haben; vgl. Abb. 13d. Dieser Herd
hat auch die Körnerschicht stellenweise völlig zum Schwund gebracht. Hier und
da hat das bunte Durcheinander gewucherter ekto- und mesodermaler Elemente
bereits einem mehr organisierten Gewebe Platz gemacht. Die große Menge peri-
vasculärer, protoplasmatisch gewucherter Adventitiazellen ist ersetzt durch weniger
zahlreiche fibroblastische Elemente. Die Molekularlage der Kleinhimrinde ist
nicht mehr so zellreich und — was das wesentlichste sein dürfte — die hier gelegenen
Zellen sind fast ausnahmslos „gerichtet“, d. h. sie stehen fast ganz parallel, senk¬
recht zur Oberfläche in einer Richtung mit zahlreichen, anscheinend neugebildeten
Capillaren. Auch die Gestalt der Zellen hat sich geändert. Die großen gliösen
Elemente, ebenso die Körnchenzellen, sind ganz verschwunden und an ihrer Stelle
finden sich kleinere, längliche und spindelige Elemente mit ziemlich dunklen, oft
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
619
hyperchromatischen Kernen und deutlicher beginnender Faserbildung. Es han¬
delt sich sowohl um Hortega-Zellen ähnliche Gebilde, wie auch um Fibroblasten.
Je weiter wir uns freilich vom Zentrum des Herdes entfernen, um so mehr nimmt
die Gewebsveränderung wieder einen akut-proliferativen und degenerativen
Charakter an. In der Körnerschicht, wo von vielen Körnern kaum nur ein paar
tief dunkle Bröckel zu sehen sind und die meisten Ganglienzellkeme pyknotisch
und hyperchromatisch oft auch karyorrhektisch sind, finden sich wieder zahl¬
reiche typische, protoplasmatisch gewucherte Gliazellen. — Wie haben es hier
offenbar mit deutlich zeitlich-differenten Rindenerkrankungen gleicher Art zu tun.
In dem subcorticalen Mark trifft man nur selten auf einige proliferativ ver¬
änderte Gliazellen; ein eigentliches Ubergreifen des Rindenprozesses auf das
Mark hat auch in den größten Herden nicht stattgefunden.
Die elektive Bindegewebefärbung läßt — ganz analog den Verhältnissen im
Großhirn — wieder eine Proliferation des mesodermalen Fasergerüsts der fast
stets erweiterten Gefäße in den alterierten Partien erkennen. Diese betrifft in
erster Linie die pialen Gefäße, greift aber auch auf die geschädigte Molekularlage
über. Hier ist auch eine Neubildung von Gefäßen zu sehen. — Durchaus ent¬
sprechende Bilder liefert auch die 1 7 an-Qieson - Färbung, die in besonders schöner
und instruktiver Weise die zum Teil enorm erweiterten, mit dicken kollagenen
Wänden versehenen Piagefäße und die bindegewebig-proliferativen Prozesse in
der Molekularschicht erkennen läßt. — Von Fibrin sieht man nur hier und da ein
paar feine Fäserchen, sowie einige Manasse sehe Kugeln. Von einer fibrinen Throm¬
benbildung kann keine Rede sein.
Von diesen herdförmigen Veränderungen abgesehen, ist die Kleinhirnrinde
über weite Strecken fast völlig normal und nur an einigen Stellen sind die Pur¬
kinje-Zellen vermindert. In einzelnen Abschnitten ist dieser Ausfall nicht unbe¬
deutend. Hier sieht man bisweilen kaum noch einige feine rosa Protoplasma¬
schatten als Reste der untergegangenen Zellen. Krankhafte Veränderungen der
Glia treten dabei meist nicht in Erscheinung, an einigen wenigen Stellen findet
sich aber doch in der untersten Molekularschicht eine mäßige protoplasmatische
Wucherung der Glia. — Die anscheinend gesunden Purkinje-Zellen sind etwas
blaß und ihre N ^«/-Struktur ist wenig distinkt.
Der Nucleus dentatus ist geschädigt. — Man bemerkt schon bei schwacher
Vergrößerung einen mäßigen Ausfall der großen Ganglienzellen. An ihrer Stelle
liegen zumeist rosa Schatten, die zum großen Teil noch die ungefähre Form der
Ganglienzellen beibehalten haben. Daneben finden sich schwer geschädigte blasse,
kaum gefärbte Elemente, zum Teil umgeben von einigen fein fingierten, baso¬
philen Bröckeln. Die Gliazellen im Kerngebiet sind vermehrt und zum großen
Teil auch protoplasmatisch gewuchert. Übergangsbilder zu Körnchenzellen
sind genau so wenig zu sehen, wie Hortega-Zellen. Im Fettpräparat erscheinen die
Ganglienzellen ziemlich stark verfettet, weniger die Gliazellen. Die Gefäße sind
häufig erweitert und zeigen bisweilen eine leichte Vermehrung der Adventitia-
zellen, die häufig recht viel grünliches Pigment gespeichert haben. Die Gefäß-
endothelien sind in solchen Gefäßen hier und da etwas gequollen. Es sind weder
Thromben noch Blutungen zu sehen. — Die krankhafte Veränderung des Nucleus
dentatus ist diffus und entbehrt des herdförmigen Charakters.
Mittelhirn, Endhim und Rückenmark.
In den Schnitten, die aus dem Gebiet der Corpora quadrigemina und des Pons
angefertigt wurden, waren keine krankhaften Veränderungen erheblicher Art auffind¬
bar; nur hier und da erscheinen die Gefäße etwas weit, bisweilen mit reichlichen
Mengen Leukocyten im Lumen; das ektodermale Gewebe erwies sich als intakt.
620
Fr. lliller: Über die krankhaften Veränderungen
Um so überraschender mußten herdförmige Erkrankungen in der Medtdla
oblongnia wirken, zumal sie einen, von allen bisherigen Veränderungen ganz ab¬
weichenden Charakter aufwiesen. In fast symmetrischer Anordnung fanden sich
in Schnitten, die die Olive noch in größter Ausdehnung trafen, in der Substantia
gelatinoea n. trigemini beiderseits kleine Herde, bestehend aus dicht gelagerten,
gewucherten Gliazellen. Diese kleinen Zellkonglomerate stimmen histologisch mit
den von Spielmeyer als Gliaknötchen bezeichneten herdförmigen Wucherungen
der Glia überein und könnten genau so gut einem Fall von epidemischer Encepha¬
litis oder Fleckfieber zugehören. Ein kleinerer, aber ganz entsprechender Zellherd
findet sich noch in der Region des Burdach sehen Kernes auf der einen Seite. In¬
mitten dieser Herde sieht man neben noch recht leidlich erhaltenen Ganglienzellen
auch Ganglienzelltrümmer und Bilder von Neuronophagien. Es läßt sich ferner
nachweisen, daß diese Hcrdchen zumeist in dichtester Nachbarschaft eines er¬
weiterten capillären Gefäßes liegen, dessen Wandungen zumeist protoplasmatisch
gewucherte Wandzellen auf weisen. Kleine Capillaren in der Nachbarschaft dieser
Herdchen sind da und dort auf eine kurze Strecke von protoplasmatisch gewucher¬
ten Gliazellen ziemlich dicht umgeben. Andererseits finden sich aber auch unter¬
gehende, meist schwach gefärbte, etwas schattenhafte Ganglienzellen und um
sie herum protoplasmatisch gewucherte Gliazellen. — Infolgedessen erscheint es —
wie ja nicht selten — schwer möglich, eine Entscheidung dahin zu treffen, ob die
Gliawucherungen — rein topisch — in Beziehung zu Gefäßveränderungen oder
aber zu Ganglienzell Veränderungen zu bringen sind.
Ganz leichte Veränderungen unscheinbarer Art fanden sich schließlich in
den Oliven, wo hier und da ein paar Ganglienzellen ausgefallen zu sein schienen,
bzw. eine Alteration in Gestalt einer allgemeinen Abblassung, Verwischung der
Struktur und Verkleinerung einiger Elemente nachweisbar war. Eine merkliche
gliöse Reaktion konnte nicht festgestellt werden.
Im Plexus chorioideu* des IV. Ventrikels fand sich erhebliche Füllung der
Gefäße und auch Blutungen, vor allem in der Taenia ventriculi IV. Diese Blu¬
tungen nehmen stellenweise einen erheblichen Umfang an, eine zellige Reaktion
des Grundgewebes und der Gefäßwände, ist aber nur in geringem Grade vorhanden.
Da und dort sieht man eine Mastzelle in der Gefäßwand und ein paar Abräum-
zellen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Die Blutungen sind sichtlich sehr frisch.
Die gleichen Verhältnisse gelten auch für die Gefäße der Pia im Bereich der Me-
dulla oblongata.
Das Rückenmark ist — soweit einige Stichproben ein endgültiges Urteil ge¬
statten, abgesehen von einer erheblichen Blutfülle der pialen Gefäße und einigen
kleinen, anscheinend frischen Blutungen aus — ihnen frei von Veränderungen.
Zusammenfassung.
Eine 27 Jahr alte Frau, in deren Anamnese wohl eine angeblich
luische Infektion genannt ist, bei der aber weder klinisch-serologische
Untersuchungen, noch die Obduktion Zeichen einer luischen Erkran¬
kung auf decken konnten, erlag 15 Tage nach einer CO-Intoxikation
ihrer Vergiftung. Aus der Krankengeschichte verdient hervorgehoben
zu werden, daß am 10. Tag sehr starke Hautblutungen und am 13. Tag
eine starke Gesichtsrötung auf traten. Außerdem bot die Patientin
Lähmungs- und Reizungserscheinungen, die auf eine schwere Erkran¬
kung des Gehirns hin wiesen. Als unmittelbare Todesursache ließ die
Körpersektion ein Erlahmen des Kreislaufs und ausgedehnte Hirn-
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung. 621
blutungen erkennen. — Die eingehende Untersuchung des Zentral¬
nervensystems ergab diffus verbreitete Schädigungen verschiedenster
Art. Es fand sich eine enorme Blutfülle sämtlicher Hirngefäße, nament¬
lich der weichen Häute ; außerdem ausgedehnte Blutungen und begin¬
nende inkomplette Thrombosen der pialen Venen. — Die Großhirn¬
rinde zeigte diffuse Veränderungen in Gestalt einer leichten allge¬
meinen Ganglienzellschädigung, einer allgemeinen, bisweilen äußerst
starken Gefäßerweiterung, sowie kleinerer Blutungen, die sich zwar
ubiquitär, besonders reichlich und ausgedehnt jedoch in der 1. und
den tiefsten Rindenschichten fanden. Hauptsächlich fanden sich aber
typisch lokalisierte Erweichungen in den tiefsten Rindenschichten mit
stellenweisem Übergreifen auf das oberste Mark und symmetrische
Erweichungen der Pyramidenzellbänder beider Ammonshömer. Als
Initialstadien dieser Erweichungen konnten nekrobiotische Rinden¬
herde auf gedeckt werden, die von den oberen nach den unteren Schich¬
ten an Intensität und Extensität Zunahmen. Nie wurden in den oberen
Schichten komplette Erweichungen festgestellt; wohl aber hier und
da als Nekrosen anzusprechende herdförmige Veränderungen. — Die
Stammganglien wiesen große symmetrische Erweichungen im Globus
pallidus und der roten Zone der Substantia nigra auf. Diese letzteren
waren auf beiden Seiten bis weit ins Mittelhirn verfolgbar. — Im Klein¬
hirn konnten schwere Veränderungen der Rinde aufgezeigt werden,
die zum Teil zu kompletten Erweichungen geführt hatten, zum Teil be¬
ginnende Organ Veränderungen degenerativ-proliferativer Art darstellten.
Die Veränderungen schienen ihren Ausgang von den oft enorm er¬
weiterten interlobulären Piagefäßen zu nehmen. — Die Betrachtung
aller herdförmigen Veränderungen in den verschiedensten Himteilen
ließ erkennen, daß wir es im Grunde überall mit Hirnschädigungen der
gleichen Art zu tun haben. Es besteht ein kontinuierlicher Übergang
von den leichtesten degenerativen Prozessen mit eben angedeuteter
Reaktion des ekto- und mesodermalen Gewebes im Herdbereich zu den
kompletten Erweichungsherden, in denen die Reparation im Sinn eines
intensiven Abräumprozesses und beginnender Organisation, ausgehend
vom mesodermalen Gewebsanteil, im vollen Gange ist. Es ging weiterhin
aus den Untersuchungen hervor, daß die einzelnen Himteile in etwas ver¬
schiedener Art auf die gleiche Noxe reagierten; es sei nur auf die bedeu¬
tende Rolle, die die Hortega -Zellen in der Rinde und die faserbildenden
Gliazellen im Mark spielen, hingewiesen. — Sowohl aus der Größe der
Herde, als auch aus dem Stadium der Reparation und Organisation
können — wenn auch nur mit großer Reserve — Schlüsse auf ihr Alter
gezogen werden. Und da ergibt sich denn, daß wir — wie es ja aus
den vielen Mitteilungen in der Literatur nicht anders zu erwarten war —
die ältesten und damit frühesten Veränderungen im Pallidum zu sehen
622 Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
haben und daß in der Folge Bezirke in der Kleinhimrinde, in den tiefsten
Großhimrindenschichten und den Ammonshömem der Schädigung
zum Opfer gefallen sind. Eine zuverlässige, chronologisch geordnete
Reihe der einzelnen Himveränderungen aufzustellen ist allerdings
unmöglich. Dieser Versuch müßte schon daran scheitern, daß die Inten¬
sität einer Reaktion einzelner Hirnteile auf gleichartige Schädigungen
äußerst verschieden ist. — Im Großhirnmark fanden sich keine selb¬
ständigen Erweichungen, hingegen ausgedehnte frische, große Blu¬
tungen, die zu einer von den genannten herdförmigen Veränderungen
durchaus verschiedenen Reaktion des betroffenen und umgebenden
Gewebes Anlaß gegeben haben. Schließlich wurden degenerative Pro¬
zesse in Nucleus dentatus und in geringerem Grade in den Oliven,
Blutungen im Plexus chorioideus des 4. Ventrikels, degenerative und
proliferative kleinherdförmige, symmetrische Veränderungen in der
Medulla oblongata und endlich neben starker Blutfülle der meningealen
Rückenmarksgefäße auch kleine Blutungen in den weichen Häuten
des Rückenmarks gefunden.
II.
Es wird nun zu prüfen sein, ob es auf Grund unserer Kenntnisse
von dem Ablauf krankhafter Prozesse im Zentralnervensystem mög¬
lich ist, alle die genannten verschiedenen Veränderungen zueinander
in Beziehung zu setzen und sie möglicherweise auf eine einheitliche
Ursache zurückzuführen. Die notwendige Folge des Gelingens eines
solchen Versuches wäre, daß wir den unserer ganzen Fragestellung
zugrunde liegenden Einblick in das Zustandekommen der für die CO-
Vergiftung typischen Veränderungen gewönnen. — Bevor wir uns
diesem letzten und wichtigsten Teil unserer Untersuchungen zu wenden,
ist es jedoch erforderlich, uns in aller Kürze über den bisherigen Stand
der Untersuchungen über die Frage nach der Genese der Himverände¬
rungen bei der CO-Vergiftung zu unterrichten.
Kritische Literaturübersicht.
Eingangs ist hervorgehoben worden, daß die der CO-Vergiftung eigentüm¬
liche und charakteristische Hirnerkrankung die Pallidumerweichung ist. Diese
Tatsache ist heute unbestritten und es ist letzten Endes nur die Frage nach
der Entstehung dieser so typisch lokalisierten Erweichung, die immer wieder
der Gegenstand histologischer und auch experimenteller Untersuchungen gewesen
ist. Man hat natürlich dabei verschiedentlich auch auf das sonstige Verhalten
des Zentralnervensystems geachtet und dessen Veränderungen zur Erklärung
der Erweichungen heranzuziehen versucht. Wie weit wir trotz alledem bisher
noch von der endgültigen Beantwortung der Frage nach der Natur der Pallidum-
erweichungen bei der CO-Vergiftung entfernt waren, ist — um nur ein Beispiel
herauszugreifen — z. B. daraus zu ersehen, daß Pfeifer in der neuesten Auflage
des Oppenheim sehen Lehrbuchs sich damit begnügen muß, zu schreiben: „Bei
der CO-Vergiftung kommen Erweichungen vor, deren Genese noch nicht völlig
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
623
aufgeklärt ist.“ Dies ist mit wenigen Worten das gleiche, was Lewin in seiner
Monographie über die CO-Vergiftung (1920) des weiteren ausführt. Die Erklärungen,
die sich allenthalben in der Literatur für das Zustandekommen der Erweichungen
finden, scheinen auch Lewin „nicht sicher, nicht einmal wahrscheinlich“ und
nötigen ihn zu einer eigenen, jedoch nicht durch Belege erwiesenen Annahme,
mit der wir uns weiter unten noch beschäftigen werden.
Die Anschauungen der verschiedenen Autoren lassen sich im großen und
ganzen in zwei Gruppen teilen. Die eine legt den wesentlichen Nachdruck auf
die im Zentralnervensystem gefundenen Gefäßveränderungen bzw. Eigenheiten
der Gefäßversorgung und schuldigt diese als die Ursache bestimmt lokalisierter
Erweichungen an. Die Ansicht der anderen Gruppe hingegen findet ihre Bedeu¬
tung mehr im negativen, in der Verneinung einer ursächlichen Bedeutung irgend¬
welcher Gefäßveränderungen und will die Erweichungen als eine Art Encephalitis
aufgefaßt wissen (M. B. Schmidt). Wir finden die Bezeichnungen wie „Encepha¬
litis haemorrhagica partialis“ ( Lesser ) oder „disseminierte Encephalitis“ (Bruns).
Andere Autoren (Runeberg und Robert , desgl. Boni) legten den Hauptwert auf die
von ihnen experimentell nachgewiesene direkte Ganglienzellschädigung durch
CO, und wieder andere ( Sibdius , Lewin , Rüge) versuchten die beiden Anschauungen
miteinander zu verbinden, indem sie Parenchym- und Gefäßschädigungen zu¬
einander in ein kombiniertes und gegenseitig abhängigss Verhältnis brachten.
— Es muß — etwas vorwegnehmend —- schon an dieser Stelle gesagt werden,
daß eine Stellungnahme zu der Ansicht, es handle sich bei den CO-Vergiftungs¬
folgen um eine Encephalitis , schon aus dem Grunde auf nicht geringe Schwierig¬
keiten stößt, weil die Frage der Entzündung im Zentralnervensystem ein ihrem
Wesen nach stark umstrittenes Thema ist. Wer, wie wir es tun, in einer Entzündung,
ganz gleich, ob sie sich im Zentralnervensystem oder irgendwo sonst im Körper
abspielt, in allererster Linie die besondere Reaktion der Gefäße, sowohl ihres
Inhalts als ihrer eigentlichen Gewebsbestandteile sieht, wird sich schon aus Prin¬
zip mit der Definition des Entzündungsbegriffes, wie ihn die oben erwähnten Au¬
toren sich zu eigen machen, und der mit den Anschauungen Friedmanns und Bon-
figlios übereinstimmt, nicht befreunden können. Es widerstrebt uns infolgedessen,
auf solche Erweichungsherde — wie es u. a. auch Lothmar tut — den Begriff einer
irrititativen Encephalitis anzuwenden. Es erübrigt sich jedoch, im Rahmen dieser
Arbeit diesen großen und nur zu heiß umstrittenen Fragenkomplex noch näher
zu berühren und ausführlich zu begründen, warum wir in bestimmten Prozessen
eine Encephalomalacie 9 nicht aber eine Encephalitis erblicken, denn das für uns
Wesentliche liegt in unserem Fall in der Verneinung einer ursächlichen Gefä߬
erkrankung in Hinsicht auf das Zustandekommen der Erweichungen seitens jener
Autoren.
Sibelius und Lewin könnte man schon zu der Gruppe jener Autoren rechnen,
denen die Gefäßveränderungen das wesentlicherem Moment für die Genese der
Erweichungen bedeuten; denn wenn Lewin als das Primäre Ernährungsstörungen
des Gewebes anschuldigt, so ist, wenn er auch die generelle Bedeutung von Ge¬
fäßveränderungen der verschiedensten Art, wie sie andere vor ihm annahmen,
ablehnt, schwer einzusehen, wie es zu diesen Ernährungsstörungen kommen soll,
wenn nicht über den Weg irgendwie krankhaft abgeänderter Blut Versorgung.
Ausführliche Einzelheiten, wie Lewin sich diese primären Ernährungsstörungen
denkt, vermißte ich in seiner Arbeit; die kompletten Erweichungen beruhen
nach ihm auf der Einwirkung sekundär gebildeter, giftiger Produkte chemischer
Umwandlung des Gewebes; diese hätten entzündungserregende Eigenschaften
und führten zu einer groben oder hämorrhagischen Encephalitis. Die Möglich¬
keit einer Mitwirkung einer besonders gearteten Gefäß Versorgung der Stammgang-
624
Fr. Ililler: Über die krankhaften Veränderungen
lien (Kolisko) oder aber die einer besonderen chemischen Dignität dieses Gewebes
gegenüber dem übrigen Hirn hält er für gegeben. — Auch Sibdius, der eine
Linsenkernerweichung bereits 40 Stunden nach einer CO-Intoxikation beobachtete
und Gefäßveränderungen dabei vermißte, infolgedessen geneigt ist, die Hirnver¬
änderungen bei CO-Vergiftung in der Hauptsache als Merkmale einer Encephalitis
aufzufassen, neigt trotzdem in gewissen Fällen zu der Annahme primärer Ge¬
fäßschädigung, die er sich in Gestalt entweder von Blutungen allein oder geringer
Gefäßwanddegenerationen, zum Teil mit sekundären Ischämien vorstellt. —
Auch Rüge endlich möchte ich — selbst gegen seine eigene, am Schlüsse seiner
umfangreichen, 12 Fälle von CO-Vergiftung behandelnden Arbeit ausgesprochene
Ansicht — zu den Bekennern einer vasculären Ätiologie der Erweichungen zählen.
Es ist mir nicht möglich gewesen, in seinen Angaben über die mikroskopischen
Verhältnisse der Erweichungsherde, die leider nicht den Anforderungen einer
exakten neuro-histologischen Untersuchung entsprechen, eine Bestätigung seiner
gewissermaßen a priori gebildeten Überzeugung von einer primären Schädigung
des nervösen Gewebes zu sehen. Seine Befunde lassen m. E. nur den Schluß einer
primären, vasculären Ätiologie zu und das Wesentliche seiner Untersuchungen
scheint mir darin zu liegen, daß die Pallidumerweichungen ihr Entstehen und ihre
besondere Lokalisation vor allem der besonders gearteten Gefäßversorgung und —
wie Rüge hervorhebt und auch aus seinen Versuchen beweisen zu können vermeint—
einer Arteriosklerose der pallidären Gefäße verdanken. Damit befinden wir uns
bereits im Ideenkreis jener Autoren, die sich für eine primäre Bedeutung der
Gefäße für das Zustandekommen der Erweichung einsetzen. Wir ordnen der
besseren Übersicht halber diese Anschauungen in Gruppen, wie sie sich ganz na¬
türlicherweise ergeben:
1. Da ist denn zunächst ganz unabhängig davon, ob die Erweichungsherde
selbst Gefäßschädigungen aufw r eisen oder nicht, die besondere Art der arteriellen
Blutversorgung der Stammganglien als das wesentlichste Moment für den prä-
dilektiven Sitz der pallidären Erweichungen angesehen worden. Diese Anschauung
vertreten mehr oder minder ausschließlich Herzog , Kolisko, Poelchm , Photo kis.
Lewin und Rüge. Aus den Untersuchungen von Kolisko , Monakow , Goldstein u. a.
geht hervor, daß der Globus pallidus versorgt wird von kurzen, sog. Zentralarterien,
die von der Art. cerebri ant., aber auch zum Teil von der A. cerebri media und
A. choreoidea ant. abgehen können. Diese Arterien zeigen über eine lange Strecke
hin einen rückwärts gerichteten Verlauf, sind angeblich besonders feinwandig
und haben keine Anastomosen. Ihr olt frühzeitiges Befallensein von Arterio¬
sklerose ( Herzog ) würde ihre besondere dispositionelle Bedeutung noch erhöhen.
Außerdem hat Kolisko noch darauf hingewiesen, daß einer Verschiebung der
Ursprungsstellen der genannten Arterien infolge der abnormen Erweiterung und
Schlängelung der Carotis eine große Bedeutung beizumessen sei. — Wir werden
im folgenden Abschnitt zu prüfen haben, inwiefern diese Ansichten berechtigt
sind und ob sie imstande sind, uns einer befriedigenden Lösung näherzubringen.
2. Gefäßveräriderungen im Bereich der Erweichungen wurden von den meisten
Autoren als die Ursache der Läsionen angesehen.
So glaubt Podchen , die primäre Läsion in degenerativen Prozessen an kleinen
Gefäßen (Verfettung und Zerreißung der Intima und Muscularis) Blutungen aus
diesen Gefäßen und bisweilen in ihrer Obturation sehen zu können. Außerdem
mißt er den Wand Verkalkungen der pallidären Gefäße noch eine akzidentelle Be¬
deutung zu.
Klebs meint, daß es auf Grund durch O-Mangel bedingter parenchymatöser
Gefäßwandveränderungen zu einer Atonie und Erweiterung der fraglichen Gefäße,
Stase und so zu Gewebstod käme.
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
625
Sibdius spricht in gleichem Zusammenhang von geringen Wanddegenerationen,
kleinen Blutungen und kleinzelligen Infiltrationen.
Cramer glaubt arteriosklerotische Veränderungen der kleinen Arterien, glasig¬
verdickte Wände und vereinzelte Blutungen als wesentlich betrachten zu können.
Simon und Becker lassen die Ernährungsstörungen durch fettige Wand¬
degenerationen entstehen.
Herzog hebt hyaline Wand Veränderungen, proliferative Vorgänge an der
Intima, schwere Wand Verkalkungen der pallidären Gefäße als das Wesentliche
hervor.
3. Von wieder anderen Autoren werden die Erweichungen auf Thrombosen
kleiner Gefäße zurückgeführt.
So Weimann, der besonders starke Endothelschädigungen und hyaline und
leukocytäre Thromben beobachtet hat und — obwohl in seinem Fall Erweichungen
nicht zur Beobachtung gelangten — diese Veränderungen für das Primäre bei
den CO-Schädigungen hält.
Herzog spricht gleichfalls außer den Gefäßwandschädigungen hyalinen Throm¬
ben eine große Bedeutung zu.
Lancereaux und Boullocre weisen auf Thromben und Embolien durch ge¬
schädigte Erythrocyten hin.
Heinecke glaubt, daß es auf dem Wege über eine Fermentintoxikation zu aus¬
gedehntem Leukocvtenzerfall, Bildung fibrinoplastischer Substanzen, Gerinnungen
und so zu Thrombenbildung käme.
Auch Hedven , Chiari u. a. sehen in den Thromben das Wesentlichste.
Schließlich wird von einzelnen, z. B. Günther, auf Blutungen besonderer Wert
gelegt. So ist u. a. auch die Vermutung ausgesprochen worden, daß in Mengen
ausgetretene Erythrocyten schließlich das zugehörige Gefäß seitlich komprimieren
und auf diese Weise eine Ischämie des benachbarten Gewebes herbeiführen könnten.
Noch eingehendere Literaturangaben, die aber keine neuen Gesichtspunkte
ergeben, finden sich bei Rüge und Lewin.
Die zum Studium der uns interessierenden Frage angestellten tierexperimen¬
tellen Untersuchungen ( Fuerstner , Geppert, Photakis) haben teils zur Annahme
primärer Gefäßwandschädigungen geführt, teils (Wachholz) die Bedeutung der
Thrombenbildung durch Stase in den Vordergrund gerückt.
Bevor wir nun an der Hand unserer eigenen Beobachtungen daran
gehen, alle die genannten Anschauungen zu würdigen und schließlich
unsere eigene Auffassung mitzuteilen, ist es notwendig, sich darüber
ins klare zu kommen, ob unser Fall von CO-Vergiftung in seiner
Gesamtheit typisch genug ist, um unseren Schlüssen eine verallge¬
meinernde Bedeutung beimessen zu können. Unter diesem Gesichts¬
winkel werden wir die einzelnen Veränderungen unseres Falles noch
einmal kurz zu überprüfen haben:
Die enorme Blutfülle des Gehirns und besonders der meningealen
Gefäße ist ein Befund, wie er in der Literatur der CO-Vergiftung fast
durchwegs beschrieben worden ist. Ich verweise auf die Beobachtungen
von Klebs , Kolisko , Photakis , PoeUhen , J. Müller , Rüge, Schmort ,
Sibelius Simon , Weimann u. a. — Eine Anämie wurde nur höchst
selten gesehen und war in diesen Fällen auf besondere zeitliche und
abnorme circulatorische Verhältnisse zurückzuführen. — Daß die
beschriebenen kleinen Blutungen gleichfalls ein sehr häufiger Befund
626 Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
sind, geht schon daraus hervor, daß man von einer hämorrhagischen
Encephalitis nach CO-Vergiftung zu sprechen versucht war. So große
Blutungen, wie wir sie im Hemisphärenmark fanden, sind allerdings
selten beschrieben worden; sie würden jedoch neben den üblichen
kleinen Blutungen nur eine Besonderheit in rein quantitativer Hinsicht
darstellen. — Die symmetrischen Pallidumerweichungen sind der
charakterische Befund bei der CO-Vergiftung. — Erweichungsherde in
der Rinde sind anscheinend nicht so selten. Ich fand sie erwähnt u. a.
von J . Müller , Pfeifer und Sibelius , der sie, wie wir, ausschließlich im
Rindengrau fand, und zwar bevorzugterweise in den tieferen Schichten
von der 3. Rindenschicht an abwärts. — Erweichungen im Kleinhirn
erwähnt Herzog. — So blieben denn als Besonderheit nur die verschie¬
denen, weniger in die Augen fallenden Rindenveränderungen, die der
Ammonshörner, der Substantia nigra und schließlich die unbedeuten¬
deren in der Medulla oblongata übrig. Hierzu ist jedoch zu sagen, daß
dies Veränderungen sind, die wenigstens zum Teil vielleicht nur durch
die sehr eingehende histologische Untersuchung auf gedeckt werden
konnten und die unter den gleichen Voraussetzungen in ähnlicher
Form sich auch in manchem anderen Fall auffinden lassen dürften.
Wir sind daher mit gutem Grund berechtigt, unseren Fall als einen
typischen Fall von CO-Vergiftung zu betrachten, dessen krankhafte
Veränderungen infolge des Zusammentreffens ganz besonders günstiger
Bedingungen uns in die Lage versetzen, die Frage nach dem Entstehen
der für diese Intoxikation charakteristischen Hirnveränderungen mit
Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen. Daß die oft ausgeführte
Untersuchung der kompletten pallidären Erweichungen allein zu keinem
sicheren Urteil über ihr Zustandekommen führen konnte und daß bei
einer beschränkten Einstellung auf diese gerade hier lokalisierten
Erweichungen Hypothesen höchst fraglicher Art aufgestellt werden
mußten, war vorauszusehen. Wie sich aus dem Folgenden ergeben ward,
ist daher in der Reichhaltigkeit der krankhaften Veränderungen unseres
Falles sein besonderer Wert gegründet; denn sie verschafft uns die
Möglichkeit, zu vergleichen und — vorausgesetzt die verschiedenen
herdförmigen Rindenerkrankungen sind den pallidären Erweichungen
wesensgleich — aus dem Studium jener Schlüsse für das Zustande¬
kommen aller dieser Erweichungen überhaupt zu ziehen, die die Betrach¬
tung der ausgebildeten pallidären Veränderungen allein kaum ermög¬
lichen dürften.
Unsere Untersuchungen haben nun ergeben, daß die kompletten
Erweichungen sowohl im Bereich des Globus pallidus, der Substantia
nigra, als auch in den verschiedenen Bezirken der Großhirnrinde alle
prinzipiell von gleicher morphologischer Beschaffenheit sind. Wir
dürfen uns daher für berechtigt halten, unsere Anschauungen von der
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
627
Entstehung der corticalen Erweichungen auf die Genese der Erweichun¬
gen im Pallidum und in der Substantia nigra zu übertragen.
Wir konnten ferner zeigen, daß sich in der Hirnrinde außer den
typischen Erweichungen in den tiefsten Schichten noch andere Ver¬
änderungen fanden, die zum großen Teil als herdförmige Läsionen in
Erscheinung traten und als Initialstadien von Erweichungen aufgefaßt
werden mußten. In allen diesen Herden hat eine degenerative Erkran¬
kung der Ganglienzellen zu einer gliösen Reaktion ganz maßgeblich
der Schwere und Ausgedehntheit des degenerativen Prozesses geführt.
Diese Erkrankung der Ganglienzellen kann nicht mit jener leichten
diffusen Schädigung der Ganglienzellen aller Rindenschichten auf eine
Stufe gestellt werden; vielmehr zwingt uns sowohl die besondere
Schwere der Erkrankung, als auch der ausgesprochen herdförmige
Charakter jener schwereren Schädigungen außer einem Allgemein¬
faktor noch einen besonderen für ihr Entstehen ins Auge zu fassen.
Als solcher kommt allein ein nutritiver in Frage. Die Art der herdför¬
migen Veränderungen weist darauf hin, daß diese Gewebsteile in ihrer
Ernährung schweren Schaden gelitten haben. Wir haben inkomplette
Erweichungen vor uns und werden daher in erster Linie unser Augen¬
merk auf die Gefäße im Herdbereich und deren Umgebung zu richten
haben. Finden sich hier Thrombosen oder Embolien ? Diese Frage ist
unbedingt zu verneinen; wir können in diesem Punkt die Sibeliusschen
Angaben nur bestätigen. Bei aller Aufmerksamkeit, die dem etwaigen
Vorkommen von Thromben gewidmet wurde, konnten lediglich hier
und da Ansammlungen von Leukocyten im Gefäßlumen beobachtet
werden, die jedoch ganz offensichtlich in keinem ursächlichen Zusam¬
menhang mit den Ernährungsstörungen standen. Sie fanden sich ein¬
mal sehr selten, und dann noch zumeist nur in der Nachbarschaft der
Erweichungen oder sogar im normalen Gewebe, so daß sie den Ein¬
druck sekundär-reaktiver, wenn nicht überhaupt nur agonaler Vor¬
gänge machen mußten. Corpusculäre Gefäßverschlüsse müssen wir
daher ablehnen. Die stellenweise beobachteten wandständigen, inkom¬
pletten Thrombosen in pialen Venen stehen sicher in keinem ursäch¬
lichen Verhältnis zu den Erweichungen. Wir werden später noch auf
sie zu sprechen kommen.
Wie verhält es sich mit Schädigungen oder anderweitigen Verände¬
rungen der Gefäßwände , die in der Literatur als ätiologisch wichtigster
Faktor eine so große Rolle spielen? In unserer mikroskopischen Be¬
schreibung wurden häufig Veränderungen der Gefäßwände angegeben.
Sie sind zweierlei Art: es fanden sich Schädigungen, die zum Durch¬
tritt von Blutelementen Anlaß gegeben hatten, andererseits aber auch
Wand Veränderungen, die mit der Läsion des benachbarten Gewebes
in einem Zusammenhang zu stehen schienen. Die Frage ist nur, sind
628 Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
sie primärer oder sekundärer Natur; sind sie von der Art, daß sie zu
einer Ernährungsstörung des umgebenden Gewebes den Anstoß geben
konnten, oder sind sie nicht vielmehr als sekundär, als mesodermale
Reaktion auf den degenerativen, ektodermalen Prozeß zu deuten?
Diese Wandveränderungen bestehen — wie dies ja oft und ausführlich
gezeigt wurde — in einer protoplasmatischen Wucherung und Ver¬
mehrung der Zellelemente und fanden sich am ausgeprägtesten in den
kompletten Erweichungsherden. Diese Veränderungen, in die wir
die Bildung mesodermaler Gitterzellen, wie auch die Vermehrung von
Bindegewebsfasern, die stärkere Imprägnierung mit Collagen, die Neu¬
bildung von Gefäßen als sämtlich in eine Kategorie gehörige Vorgänge
einbeziehen müssen, sind nun alle proliferativer Natur. Daneben treten
degenerative Prozesse ganz in den Hintergrund. Vor allem gilt dies
von den seitens anderer Autoren immer wieder erwähnten „fettigen
Degenerationen“. Gewiß konnten auch wir feststellen, daß Fett in
Tropfenform in den Gefäßwandzellen vermehrt war; aber daraus auf
„fettige Degeneration“ zu schließen, hieße den tatsächlichen Verhält¬
nissen Gewalt antun. Die feineren Rindengefäße zeigten im allge¬
meinen mehr fettige Einlagerungen als normalerweise; das wird jedoch
verständlich, wenn man bedenkt, daß sie den Weg des ständigen
Abtransportes großer Fettmengen aus den geschädigten und erweichten
Bezirken darstellen. Unter solchen und ähnlichen Verhältnissen stoßen
wir ja mit großer Regelmäßigkeit auf Fettablagerungen in den Gefä߬
wänden, ohne dabei auch nur an degenerative Wand Veränderungen zu
denken. Zum andern ist hervorzuheben, daß gerade in den schwerst
geschädigten Bezirken, also inmitten dicht gehäufter, fettbeladener
Kömchenzellen diese Gefäß wand Verfettungen ziemlich unbedeutend
sind; es dürfte dies wohl der Ausdruck eines insofern andersartigen
Vorganges sein, als in diesem ausgeprägten Erweichungszustand den
Kömchenzellen die Hauptrolle bei der Aufnahme jener Produkte zu¬
gefallen ist. Es wird auch damit zu rechnen sein, daß aus diesen
Körnchenzellen das Fett in einer färberisch nicht darstellbaren Inter¬
mediärstufe die Gefäßwände passiert und deshalb inmitten großer Er¬
weichungsherde nur in ganz unvollkommener Weise zur Darstellung
gelangt. — Müssen wir also degenerative Gefäßwandprozesse als Ur¬
sache dieser nekrobiotischen Prozesse ablehnen, so bliebe immer noch
zu entscheiden, ob nicht die geschilderten proliferativen Gefäßprozesse
die Ernährungsstörungen des ektodermalen Gew r ebes bedingt haben.
Widerspräche das nun schon an und für sich allgemeingültigen Er¬
fahrungen, so wird dieser Auffassung für unseren Fall der Boden
vollends entzogen, wenn wdr auf die Parallelität dieser proliferativen
Prozesse mit dem offensichtlichen Alter der ektodermalen Schädigungen
achten. Da ergibt sich folgendes Verhältnis: Einer geringfügigen Schädi-
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
629
gung der Ganglienzellen entsprechen fehlende Gliareaktionen und fehlende
proliferative Vorgänge am Gefäßapparat, während offenbar ältesten
Erweichungsherden eine bereits beginnende reparative Organisation des
erweichten Gewebes, ausgehend vom Gefäßbindegewebe, eigen ist. —
Wir müssen also auch die proliferativen Prozesse in den Gefäßwänden
als Ursache für die fraglichen degenerativen Prozesse im nervösen Ge¬
webe ablehnen.
Wie verhält es sich nun mit den Störungen in der Kontinuität der
Gefäße ? Haben wir Anhaltspunkte dafür, daß die so häufig gesehenen
Blutungen etwa im Sinn einer von außen wirkenden Obturation der
Gefäße oder einer direkten Schädigung des umgebenden Gewebes zum
Ganglienzelluntergang und seinen Folgeerscheinungen geführt haben
könnten? Es ist leicht, diese Frage zu verneinen. Denn einmal sind
alle diese Blutungen offenbar sehr jungen Datums, viel frischer jeden¬
falls als die Erweichungen, inmitten deren sie sich so häufig finden;
die blutenden Gefäße sind auch stets auffallend weit und nie kompri¬
miert, und schließlich betreffen die Blutungen diffus verstreut —
wenn auch graduell verschieden — die ganze Rinde und stehen durch¬
aus nicht in irgendwelchem örtlichen Zusammenhang mit den geschil¬
derten Läsionen. Überdies haben ja außerdem die Verhältnisse in
Nachbarschaft der großen Markblutungen ergeben, daß das ekto-
dermale Gewebe auf Blutungen durchaus anders reagiert als auf die
fraglichen Schädigungen, die zu den Erweichungen geführt haben.
Fanden wir also nirgends in einer organischen Schädigung der
Gefäßwände den ursächlichen Faktor für die Ernährungsstörungen des
nervösen Gewebes, so wird daran zu denken sein, ob nicht rein ,»funk¬
tionelle“ Anomalien die Bedingungen zu dem Zustandekommen dieser
schweren Hirn Veränderungen abgegeben haben könnten. Wir würden
freilich mit dieser Vermutung ganz und gar auf dem Boden einer reinen
Hypothese bleiben, gäbe uns nicht die objektive Betrachtung der
Hirngefäße Anhaltspunkte für eine solche schwere Funktionsstörung
des Gefäßsystems. Es konnte immer wieder darauf hingewiesen wer¬
den, wie enorm erweitert sowohl die pialen Gefäße, als auch die kleinsten
Gefäße und Capillaren waren. Diese Erweiterung fand sich nun in
hervorragendem Maße gerade in den tiefsten Rindenschichten und
ganz besonders im Bereich jener herdförmigen Veränderungen der
Rinde. Die Gefäße sind hier bisweilen auf das Vielfache des normalen
Durchmessers erweitert. Es ist ohne weiteres klar, daß eine solche
enorme Dehnung und Erschlaffung der Gefäßwände — denn eine
solche müssen wir annehmen — nicht ohne schwerwiegende Bedeutung
für die Ernährung eines so außerordentlich empfindlichen Gewebes,
wie es das nervöse darstellt — sein kann, zumal wenn, wie der Allge-
meineindruck lehrt, dieses Gewebe durch eine leichte Allgemeinschä-
630
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
digung bereits in den Zustand einer erhöhten Vulnerabilität versetzt
worden ist. Wir müssen uns vorstellen, daß das CO die Kontraktilität
der Gefäßwände auf das schwerste geschädigt hat und daß sich jener
Zustand entwickelt hat, den Ricker in überzeugender Weise als sog.
„Prästase“ formuliert hat. Unsere Anschauung gewinnt nur an Sicher¬
heit, wenn wir bedenken, daß es sich hier um die Wirkung eines Giftes
handelt, dessen schädlicher Einfluß sowohl auf den Gesamtkreislauf,
als auch besonders auf das nervöse Gewebe bekannt ist. — Die Zirku¬
lationsstörungen im Gehirn sind zu deuten als die Folge einer schweren
Störung der nervösen Selbststeuerung der Gehimgefäße (O. Müller)
und einer dadurch bedingten Atonie der Gefäßwände. Wir bleiben
nun ganz im Rahmen dieser Vorstellungen, wenn wir annehmen, daß
dieser prästatische Zustand der kleinen arteriellen Himgefäße stellen¬
weise schließlich in seiner Wirkung einer völligen Stase gleich geworden
ist und daß sich daraufhin Verhältnisse entwickelt haben, die denen
gleichen, die Marchand als Folgezustände einer sekundären Stase nach
Verschluß kleiner Pialarterien beschrieben hat. Der prästatische
Zustand hat in unserem Fall offenbar über sehr geraume Zeit ange¬
dauert; denn die verschiedene Größe und Intensität der einzelnen
Himveränderungen weist auf ein sehr verschiedenes Alter der einzelnen
Prozesse hin. So sahen wir Erweichungen, die offensichtlich bereits im
Frühstadium der Intoxikation entstanden sind und solche, die noch
mitten in ihrer Entwicklung zur völligen Erweichung begriffen zu deuten
sind; fanden ausgedehnte, sicherlich schon ältere Blutungen in den
Meningen und frische große im Mark und ebenfalls frische kleine in
großer Zahl über das ganze Hirn verteilt. Es ist natürlich nicht mehr
zu beweisen, ob diese Prästase während des ganzen KrankheitsVerlaufes
unverändert angedauert hat. Unseres Erachtens spricht vieles für diese
Annahme. Man könnte sich aber mit gleicher Berechtigung — wie es
Ricker in einem analogen Fall tat — vorstellen, daß nach einem initialen
Zustand einer Prästase und Stase, der zu den frühesten schweren Ver¬
änderungen — also den ältesten Erweichungen und den Veränderungen
in den Meningen — geführt hat, für kurze Zeit eine Besserung des
Kreislaufs eingetreten ist, die jedoch unter Einwirkung anderer Faktoren
— schwere Störung der Allgemeinzirkulation, Bronchopneumonie usw\ —
auf den Gefäßnervenapparat im Gehirn wieder zu einer Prästase und
wiederum endlich hier und da zur völligen Stase übergeleitet worden ist.
Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht vielleicht weniger
die Störung im arteriellen Teil des Kreislaufs — also die eben geschil¬
derten Verhältnisse — zu den umschriebenen herdförmigen nekro-
biotischen Vorgängen geführt haben, als vielmehr die venöse Stauung
und vielleicht die, w r enn auch nicht vollständigen Thrombosen der
meningealen Venen. Da ist denn von vornherein zuzugeben, daß eine
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung. 631
vollkommene funktionsmäßige Trennung der Störung in den beiden
Kreislaufschenkeln weder möglich noch statthaft ist. Die gleiche
Ursache hat sich am arteriellen wie venösen Gebiet des Kreislaufs
ausgewirkt und beiden superponiert ist mit allergrößter Wahrschein¬
lichkeit ein Erlahmen der motorischen Herzkraft. Wichtige erfahrungs¬
mäßige Tatsachen sprechen jedoch dafür, daß wir mit Recht die Ursache
der Erweichungen im Versagen der arteriellen Blut Versorgung sehen
müssen und der allerdings enormen Stauung mehr die Rolle eines Hilfs¬
moments zuzuschreiben haben. Wir wissen — die Untersuchungen von
R. Beneke , Marchand u. a. haben das ergeben —, daß Thrombosen
pialer Venen, wie überhaupt eine Zirkulationsbehinderung in den
großen Himgefäßen meist eher zu einer Anämie als einer Hyperämie
der Himsubstanz führen und daß sie in erster Linie Erweichungen in
dem weit spärlicher mit Capillaren versorgten Gebiet des Markes zur
Folge haben; sie würden also Veränderungen zeitigen, die von den
unsrigen ganz verschieden sind. Beneke hebt hervor, daß zu einer
starken Hyperämie stets die unmittelbare Beteiligung des Capillar-
systems im Sinne einer Stase erforderlich ist.
Wir haben es also im Fall der CO-Vergiftung mit schweren pri¬
mären Störungen im arteriellen Capillargebiet zu tun, die zu Zustands¬
veränderungen führen, wie sie auch H. Oeller bei der Embolie kleiner
Himarterien beschreibt, und müssen uns die thrombotischen Vorgänge
in den Venen — mit Vorpahl — als einen mehr sekundären und koordi¬
nierten Prozeß vorstellen.
Daß das CO in der von uns angenommenen Weise auf das Gefä߬
system und den Gesamtkreislauf einwirkt, bestätigen die vielerseits
erhobenen Befunde auch in den anderen Organen. Da finden sich
Anzeichen einer mangelhaften Ernährung des Herzmuskels und der
quergestreiften Muskulatur im Sinne nekrobiotischer Prozesse, Blu¬
tungen in der Retina, dem Endokard und der Haut (siehe auch unseren
Fall), Blutungen und Nekrosen im Magen-Darm-Traktus und schlie߬
lich mit sehr großer Regelmäßigkeit schwere Schädigungen des Lungen¬
gewebes, auf die sich allermeist die gefürchtete, zum Tode führende,
pneumonische Entzündung aufpfropft. (Lewin spricht sogar von einer
Pneumonia endotoxica.)
Wir werden nun ferner unsere Ansicht über die Entstehung der
Himerweichungen daran zu prüfen haben, ob die Art der sonstigen,
von uns gefundenen Hirn Veränderungen in Widerspruch steht zu der
von uns angenommenen Ursache der nekrobiotischen Prozesse in der
Rinde und den Stammganglien.
Die Allgemeinveränderungen der Großhirnrinde, die wir als eine
Schädigung der Ganglienzellen mäßigen Grades gedeutet haben, könn¬
ten als der Ausdruck einer direkten CO-Schädigung auf gef aßt werden.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCI1I. 41
632 Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Beweisen läßt sich das freilich kaum, einmal aus dem Grunde, weil,
wie so häufig, auch in unserem Fall dem Zustand einer akuten Ver¬
giftung eine Besserung des Allgemeinzustandes — wenn auch nur für
kurze Zeit — folgte, und vor allem, weil es sich nicht in dem Maße um
eine Allgemeinschädigung des gesamten Zentralnervensystems, son¬
dern um eine, vorzüglich die Großhirnrinde betreffende Schädigung
handelt. Ihr entsprechen eigentlich nur noch die wenig auffallenden
Veränderungen in dem bekanntlich besonders empfindlichen Nucleus
dentatus und in den Oliven. Immerhin wäre daran zu denken, daß die
verschiedenen grauen Massen ein und derselben Noxe gegenüber eine ver¬
schiedene Widerstandskraft haben.
Die krankhaften Veränderungen der ersten Rindenschicht —
frische Blutungen, Leukocytenanhäufungen in vielen Gefäßen, leichte
proliferative Vorgänge an der zelligen Güa — widersprechen gleich¬
falls nicht unserer Ansicht. Wir müssen diese Veränderungen im großen
ganzen als relativ frische Reaktionen auf die sich darüber befindlichen
Veränderungen in und um die meningealen Gefäße auf fassen.
Die großen Markblutungen bedürfen zu ihrer Erklärung keiner
anderen Gesichtspunkte als die bereits auf ihre Genese betrachteten
kleinen ubiquitären Blutungen. Diapedasisblutungen — eine Folge
einer ,,Hyperämia e stagnatione“ (Marchand) kombiniert mit einem
schließlichen Versagen der Herzkraft — finden sich auch im Mark
und sind gewissermaßen als die Vorstufen der großen Markblutungen
anzusehen. OeUer beschreibt einen ganz analogen Fall einer Ence¬
phalitis, indem auch Blutungen „per rhexin“ durch solche ,,per diape-
desin“ eingeleitet erklärt werden.
Auch die nekrobiotischen Prozesse in der Kleinhimrinde sind offen¬
sichtlich vasculär bedingt. Unsere Beschreibung und die beigegebenen
Abbildungen haben dies deutlich genug illustriert. Der von den Gro߬
hirnherden etwas abweichende Aufbau dieser Herde ist sicher nur der
Ausdruck einer besonderen Reaktion eines anderen Himteils auf die
gleiche Noxe.
Was die in der Medulla oblongata gefundenen Gliaknötchen anbe¬
langt, so war im deskriptiven Teil gesagt worden, daß angesichts ihrer
dichten Lage zu kleinen erweiterten Gefäßen und ihrer Anordnung
um schwer geschädigte Ganglienzellen eine Entscheidung über ihre
Abhängigkeit von der Läsion des einen oder anderen Gewebebestandteil
nicht zu treffen sei. Unter dem Gesichtswinkel unserer nunmehr aus
dem Komplex der Rindenveränderungen abstrahierten Ansicht über
die Genese dieser Läsionen lösen sich auch diese Schwierigkeiten auf.
Auch hier sprechen erweiterte Gefäße, schwer geschädigte Ganglien¬
zellen und herdförmige Gliareaktion für den gleichen ätiologischen
Zusammenhang, wie in der Rinde.
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung. 633
Wir glauben überzeugend dargetan zu haben, daß die durch das CO
schwer geschädigte Capillarfunktion und die gleichsinnige schwere,
allgemeine Kreislaufstörung gewissermaßen die Plattform sind, auf
der sich die Hirn Veränderungen bei der CO-Vergiftung entwickeln.
Unbeantwortet jedoch blieb bisher die Frage nach den Bedingungen,
die — für die Gesamtheit fast aller CO-Vergiftungen — zu der typischen
Lokalisation der Erweichungen im Pallidum und — in Hinsicht auf
unseren Fall — auch zu dieser auffälligen prädilektiven Erkrankung
der tiefsten Rindenschichten, der Ammonshömer und schließlich
auch der der roten Zone der Substantia nigra führen konnten.
Vor der Tatsache prädilektiver Lokalisation von Erweichungen
in besonderen Himteilen steht offenbar der Umstand, daß fast alle
genannten Prozesse, jedenfalls die kompletten und inkompletten
Erweichungen, einzig und allein die graue Substanz des Gehirns zu
befallen pflegen. Wenigstens gehören Fälle, in denen eine Beteiligung
des Markes bzw. der inneren Kapsel an den Erweichungen vermerkt
ist, zu den Seltenheiten, wobei es außerdem auf Grund der einfachen
Tatsachenübermittlung der Literatur natürlich unmöglich ist, zu ent¬
scheiden, inwieweit da sekundäre Prozesse im Spiele gewesen sind. —
Wir sind also berechtigt, von einer Erkrankung des Graus zu sprechen.
Eine solche vorzugsweise Erkrankung der grauen Substanz finden
wir nun außer bei Polioencephalitiden verschiedener entzündlicher
bzw. toxischer Genese, u. a. beim Fleckfieber (Spielmeyer), wo das
fast ausschließliche Befallensein der grauen Substanz bisweilen recht
schwer erklärlich ist, auch bei Ernährungsstörungen des Hirns.
Wir sehen sie bei multiplen embolisch-metastatischen Rinden¬
erkrankungen (Oeller), bei experimentellen Vergiftungen, z. B. mit
Guanidin (Rosental) und Toxinen (Lotmar). Im Fall der CO-Ver-
giftung macht ihre Erklärung unter Annahme unserer Auffassung
von dem Wesen des Prozesses keine Schwierigkeiten. Bekennen wir
uns zu der Annahme einer die nekrobiotischen Vorgänge bedingenden
Ernährungsstörung infolge Prästase und Stase im atonischen Capillar-
gebiet, so erscheint es fast selbstverständlich, daß der gegen solche Stö¬
rungen empfindlichste Teil der Hirnsubstanz, das die Ganglienzellen
enthaltende Grau, weit früher einer Ernährungsstörung erliegen muß,
als die viel weniger empfindliche Marksubstanz. Die Versuche von Ehrlich
und Prieger betr. experimentelle Rückenmarksdegenerationen nach Unter¬
bindung der Bauchaorta, die nekrobiotische Prozesse in der grauen Sub¬
stanz bei intakter Marksubsfanz ergaben, bestätigen diese Auffassung.
Wie aber haben wir uns die prädilektive Erkrankung des Pallidums
und in unserem Falle außerdem die anscheinend gleichfalls eine beson¬
dere „Auswahl“ verratenden Erweichungen ganz bestimmter Rinden¬
abschnitte und der roten Zone der Substantia nigra zu erklären?
41*
634
Fr. HilJer: Über die krankhaften Veränderungen
Es sind schon zuvor verschiedene Erklärungen anderer Seite für die Er¬
weichungen gerade im Pallidum genannt worden. Einmal wurden die besonderen
krankhaften Verhältnisse der pallidären Gefäße ( Cramer , Herzog , Poelchen , Rüge
u. a.), ferner die besonders durch Kolisko klargestellten eigentümlichen Gefä߬
versorgungsverhältnisse der basalen Ganglien und schließlich eine Verknüpfung
beider Tatsachen miteinander als das ursächlich ausschlaggebende Moment hin¬
gestellt. Für einen Teil dieser Gefäßveränderungen — degenerative Wandver¬
änderungen im allgemeinsten Sinn — haben wir unsere ablehnende Stellungnahme
bereits begründet. Die Annahme einer degenerativen Erkrankung der kleinen
pallidären Gefäße im Sinne einer Arteriosklerose , wie sie namentlich Rüge immer
wieder hervorhebt und auch abbildet, beruht nun ganz offensichtlich auf einer
ganz irrtümlichen Auffassung der gegebenen Verhältnisse. Wer sich die Mühe
macht, eine größere Anzahl von Stammganglienpräparaten zu durchmustern,
wird davon überrascht sein, einen wie häufigen, ja fast regelmäßigen Befund diese
fälschlich als Arteriosklerose gedeuteten „Kalk“inkrustationen in den kleinen
und größeren pallidären Gefäßen ausmachen. Dieses häufige Vorkommen von
„Kalk“ — der sich bei näherer Untersuchung übrigens als Pseudokalk heraus¬
stellt (er gibt nicht die chemischen Kalkreaktionen), sowohl in den Gefäßwänden
wie auch in Form freier oder in Gliazellen eingeschlossener corpusculärer Elemente
gehört ganz, wie auch das reichliche großtropfige Fett und der hohe Eisengehalt,
zu den physiologischen Bestandteilen des Pallidums. Wir kennen zwar zur Zeit
weder seine Herkunft, noch seine etwaige funktionelle Bedeutung, können jedoch
das eine mit Bestimmtheit sagen, daß er weder mit der Arteriosklerose irgend
etwas zu tun hat, noch eine Besonderheit geschädigter Gehirne darstellt. Im übrigen
wollte es der Zufall, daß gerade in unserem Fall dieser Pseudokalk im Pallidum
völlig fehlte.
Auf dem Boden einer arteriosklerotischen Gefäßerkrankung ent¬
wickelt sich die prädilektive pallidäre Erweichung also ganz bestimmt
nicht.
Kolisko u. a., deren Namen zum Teil schon oben genannt wurden, haben
die Ursache dieser Erweichungen in der ganz besonders ungünstigen und allge¬
meinen Kreislaufstörungen besonders leicht ausgesetzten Versorgung des Pallidums
seitens der großen basalen Gefäße gesehen. Einzelheiten betreffend, muß ich auf
die einschlägige Literatur verweisen. Gegen die Richtigkeit dieser Ansicht spricht
jedoch im wesentlichen eine Tatsache: Bei den vielfältigen Störungen der Ernäh¬
rung des Gehirns auf dem Boden von Blutungen, Thrombosen oder Embolien,
also unter Bedingungen, wo der Verlauf und diese Besonderheit gerade der größeren
und mittleren Arterien eine entscheidende Rolle spielt, sehen wir ganz anders
lokalisierte Hirnveränderungen als bei der CO-Vergiftung. Die „Arterien der
Erweichung“, xax sind nicht die kurzen, das Pallidum versorgenden
lenticulo-striären Arterien, sondern die längeren, das Striatum und die innere
Kapsel versorgenden Äste der Aa. cerebri ant., chorioidea ant. und cerebri media.
So finden wir als Prädilektionsstellen so entstandener Erweichungen den Kopf
des Nucleus caudatus, den vorderen Teil des Putamens und den Thalamus.
Wenn es auch nicht bestritten werden soll, daß der rückwärtige
und anastomosenfreie Verlauf aller dieser, die Stammganglien ver¬
sorgenden Arterien eine gewisse, anderweitig bedingte Ernährungs¬
störungen der Stammganglien begünstigende Bedeutung haben kann,
so ist er als alleinige und hervorragendste Ursache der pallidären
Erweichungen ganz gewiß nicht zu betrachten.
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
635
Nun hat bereits Lewin darauf hingewiesen, daß vielleicht die beson¬
dere chemische Dignität “ des Pallidums die Ursache seiner prädilek-
tiven Erkrankung abgeben könnte. Und Jalcob , C. und 0. Vogt sind den
kleinen Schritt weiter gegangen und haben in Konsequenz modernster
Anschauungen von der Pathoklise des Pallidums bei der CO-Vergiftung
gesprochen.
Schon der aktuellen Bedeutung dieser Frage wegen werden wir
uns auch mit diesem Erklärungsversuch beschäftigen müssen. —
C. und 0. Vogt verstehen unter spezifischer Pathoklise die Neigung einer
topistischen Einheit, d. h. grauer Massen, die ihre funktionelle Zusam¬
mengehörigkeit durch ihre Faserverbindung verraten, auf spezifische
Schädigungen besonders leicht mit bestimmten pathologischen Ver¬
änderungen zu antworten. Handelt es sich darum, daß solche Ein¬
heiten nur leichter als andere erkranken, so sprechen sie von einer
generellen Pathoklise. Um diese letztere müßte es sich konsequenter¬
weise im Falle der CO-Vergiftung handeln. — Es ist keine Frage, daß
eine solche Auffassung für unser Problem recht viel Verlockendes an
sich hat. Allein schon die Miterkrankung der roten Zone der Substantia
nigra, die wir auf Grund der Spateschen Untersuchungen in nähere
Beziehungen zum Pallidum setzen können, nötigt uns, die Möglich¬
keit einer echten Pathoklise eingehender zu würdigen.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß, angenommen diese beiden
Lokalisationen der Erweichungen seien die einzigen im Gehirn, eine
pathoklitische Auswahl a priori möglich erscheinen könnte. Es handelt
sich nun aber bei der CO-Vergiftung nicht um eine bestimmte patho¬
logische Gew r ebsreaktion auf spezifische Schädigung im ursprüng¬
lichen Sinne Vogts , sondern offenbar um sekundäre, durch Ernährungs¬
störungen eingeleitete Vorgänge. Die Plattform, auf der sich die um¬
schriebenen Erweichungen entwickelten, ist, wie wir darlegten, die
allen beschriebenen Hirn Veränderungen zugrunde liegende schwere
Störung der Blutversorgung. Die Zirkulationsstörungen allein genügen
aber nicht, die prädilektive Auswahl zu erklären; vielmehr müssen
wir annehmen, daß ein bisher noch unerwähnt gebliebener Faktor x
sich in gewissen Himteilen vermittelnd zwischen die allgemeine Störung
der Blutversorgung und das nervöse Gewebe eingeschoben und zu der
frühzeitigen und prädilektiven Erkrankung bestimmter grauer Massen
Anlaß gegeben hat. Dieser Faktor x müßte hier logischerweise eine
dem Pallidum und der roten Zone der Substantia nigra eigentümliche
Besonderheit sein. Nur im Hinblick auf diesen vermittelnden Faktor x
können wir daher die Frage einer Pathoklise diskutieren. Ich möchte
infolgedessen von einer ,, mittelbaren Pathoklise “ sprechen. Im Rahmen
einer solchen Betrachtungsweise wäre anzunehmen, daß irgendwelche
biologische Eigentümlichkeit oder spezifische Funktion gerade dieser
636 Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Gewebe jenen vermittelnden Faktor x gebildet hätte, durch dessen
Hinzutreten die primäre, allgemeine Zirkulationsstörung des Gehirns
in dieser besonderen topistischen Hirneinheit zu einer für dies Gewebe
deletären Intensität gesteigert wurde. Wir werden auf diesen Faktor x
sogleich zu sprechen kommen.
Nun fanden wir aber in unserem Fall noch alle die verschieden! -
liehen Veränderungen der Großhirn- und Kleinhirnrinde und die weniger
bedeutenden in der Medulla oblongata. Sehen wir selbst von den
Blutungen und leichteren degenerativen Allgemeinschädigungen ab und
betrachten wir nur die Erweichungen in der Großhirnrinde, den Am-
monshömem und die schweren Veränderungen der Kleinhimrinde,
so geraten wir mit unserer Pathoklise sehr rasch in die ärgsten Schwie¬
rigkeiten. Ganz abgesehen davon, daß es sich bei allen diesen Verände¬
rungen auch um höchst eigentümlich lokalisierte Erweichungen —
also durch Zirkulationsstörungen bedingte Läsionen — handelt und
auch für die Betrachtung dieser nekrobiotischen Himveränderungen
immer nur der Begriff einer ,,mittelbaren Pathoklise “ in Anwendung
käme, ist nicht einzusehen, welche funktionsmäßige oder biologische
Verbundenheit oder gemeinsame Eigentümlichkeit zu dieser gleich¬
artigen Erkrankung einzelner voneinander so unabhängiger Himteile
geführt haben könnte. Es sei denn — und davon würde die Anwend¬
barkeit des Begriffs auch der „mittelbaren Pathoklise “ abhängen —,
daß wir in der Lage sind nachzuweisen, daß in all diesen Himteilen
der gesuchte Faktor x gleicherweise auffindbar ist.
Welches ist nun dieser Faktor x, der unter den Bedingungen allge¬
meiner schwerer Kreislaufstörungen und unter gleichzeitiger Wür¬
digung der vielleicht ungünstigen Emährungsbedingungen für die
Stammganglien in so elektiver Weise gerade das Pallidum und die rote
Zone der Substantia nigra der Erweichung hat anheimfallen lassen ?
Betrachtet man Präparate normaler Stammganglien, die nach
einem das mesodermale Gewebe elektiv darstellenden Verfahren her¬
gestellt sind — wir selbst haben uns der ausgezeichneten Methode
Biondis bedient —, so erhält man außerordentlich instruktive Bilder,
die bei bester Technik das Capillarsystem völlig klar zur Darstellung
bringen.
Es ist nun zwar schon von anderen Autoren, z. B. Spatz , darauf
hingewiesen worden, daß sich die Capillarversorgung des Striatums
von der des Pallidums unterscheidet, jedoch fehlen bisher diese Frage
betreffende ausführliche Untersuchungen. Die vorhandenen spärlichen
Angaben blieben auch bis heute unberücksichtigt, und man hat dieser
Tatsache einer besonders gearteten Capillarversorgung anscheinend
keine Aufmerksamkeit widmen zu müssen geglaubt. Unsere Unter¬
suchungen haben uns eines besseren belehrt, und die nachfolgenden
Xocnerv e 11 mich K^hievioxyclvc^iftiui^r
Befunde stellen nur: einen kMnco 'Atiftfehnitt am einer* Reihe von
Untersuchungeü dar, die tvb auf Urund von Klektivfarbimgen <iml
Injektio/iHveHähren dei^eit noch yervqllkeünmneLi und gesondert mit-
teilen werden
Aid?.. 14 steHt » in Mikrvrpbotogrrourü eines Miehigeti' Ausschnittes
unnnuleo StriatniiiH (Fntamen) dar. Wir erkennen das auii<?rurdex.it-
jkd* nneh v*erxw<ugfe und dielitv jtiliarnetz fljeaeM Uratts , :r Bk’ s(di\vürz-
Irch gefärbten Körperchen außerhalb der BapÜkrert sind keine 'Nieder-
mmmm
AM:; i h ptt^llUn Tuktfrier». Biön<fi-ÄÄj>anrt
>vhla^'. sondern ein Ted der Oatiglam- und Cd mellen. deren f’Vu-
komheit sikii mtTfärdd stark“ ; iri>pTagiiiert h-aben : : •• Um Befnud, den wvf
immer wvalbr erhebeirk-mnKm und der HOKohr-Hieod (‘ine UesetzTnaibg;
ke*t darsieüt. Verglmciien vrirmm mit diesem Bild die folgende Ahle < ">,
die das vom Put am (Mi durch dir dünn- Marklaaielle getrennte uuberc
«died de> Pallidums darsteilT, so fällt der imterschied im CVipii large halt
sogleich in die Augem Es ist dies, ein BikT das <Uro gnuxen PaÜidum
zukommt -das >,'-wie an Präparate?] der V^nschtbieTksteh Palle p&clu
geprüft Wuidi- — obligaten Befund (tfarsteilU; ;JÖie. Sp-civeJ^-.diweT
Bildet ist so emdvotfg. <ial> war uns mit dem Hinweis auf sie begnügen
kommt?. . > ', ' '; *> '[ ,. 1 , ,
$38 Fr. HiJIrr: ("Ihm* die kia/i'k.haftf>n VerlüidefUHeen
Es erhellt aus ihnen, tiaß das jmllidär^ tVwidn* viue vi«d diVrftighiv
Oipiliar versorgt mg hat ah das angrenzende Striatum
Den iVijnUarverhahnissinif des ftirtatumf* entspiwh^ii mit geringen
gradut>)!^n tjte hx den J&riipxi ,'■ <fc# Tliafain
ruber, i.m ßotpus fflAmtJIacir, Uh Poppin* Luf/$i r in den basalen Ivem
gebieten; inouTninatav Nm I su^m<>piieu5i irir
iiiip- in, Vt*f4tnkefe> das J>espridvf^ dätke"und breite Övpiilareit ajiftftUHl»
•und ih : eiviein Tferl der Subatantva digni, — t>iü t-a}>illurverhalhliÄ^ in
der ^obstantin ijigra mOgen 7.wei weitere Abhüdungt*n dlnstneivn Sie
f Ti- (V jYiliur exsergu nx PaHrdfr««. ^i^ii‘jherHi<hr5».t.
summen von einem Ndmitt eines normalen fast '.der glitiehen
ITahe/aus der unsere seheuuitiÄftU Abli; S gewönne»» wurde. Ahb. ln
gibt einen AnsseluüH .aus den medialen Teilen dfer Snbstanthi nigra;
also der Zona eompaetii u, jeder. Wh* sehen hier ein Ciipilkvrnetz, vh*>ma
Dhrlitigkeit sieh kaum, von dem de* Striatums miterseheidet Betraehnm
v >}v dagegen -ln: folgende AM*. H, die ans dein {ufemk u Teil der Sun
^tnritia nigra stammt; die v»*ir in unserem Falle ervreh hl famloi» und die
Mir auf t*rurtd wiH^rer rntercmehungeu ffoi aü^eHfieli}k?h di*f roteü
Ämw.* ^tigcbdTig.. 1 te^rhf ign &onjfK£f& M.* gel-ui'i v* ir. daÖ hier xl&s 'Capillar-
• Hk1;e wüii dürftiger ah m .der -3$tf m**- e<mrp»u*b* ist uinl sieh
P elH re in arm de* t’aUrkuns amiahert,
im Z' *<i %nt lue f vensy siem nach Iv^hlönoxydveririftim:
t>fe i>ü^ftigk^it d*r CapÜlarr^F^pgöiig dos ii$d der
rufon* uigra fcind <»b}ekt4y kJurgO*i#llte ^fifsHacheve
thre ßrkjtiRMig und Begründung seiet* 4^r fnlgwHb/?> l'nU /nsuyhrmg
interessfeit-es; <ub die?« -ßr^biii«'
ans zu omor I>i 3 fru*digend-eii Braiötivortutig der Frage zu verhfcdfjnV,
warum die in den StHmtagangUetr bei der
eine so* fast' ‘|^.#önS^^e; l^ikdisat'i'ori Ätifweja^n.
Wir rt^hert utlü meht an. die^e Tatsache einer hesemdm geartete»;
Cafdllarvcrsf-^giiiig^ n.W. d^i ;g<^!iebten Faktur x zu betraeht^i* d^sen
Ttillarv^fö<‘fj|itum <jkr* »cftuHmi* !6wt* d«*r ^xj^stmiria Öii>p<a»t*rn;.'Hru
Uiuzutrrton zu der erwif'seue«. allgr-metern *eh.wm»ti Kreidau?^it)riing
in einem an sich vielfeieht .sehnn zirfculatomch :g^fSh.rdet>n Hihigofriet'
zu einem i^M^NUiü.ergnng’ iMnlgk : itiangeJhaÜer Ernährung geführt
hat. Wiir;dii^rt: tv'ofol mnvAitübn, <bÖ ein OrmJ.. das im Bu ( hn^yt;i-
'fhy^iolöjgiseheri F unktion mit einer relativ mindereri • BtnU'-erisorgung
avir-kointid, xndvr krankhaften Verhall t»i>sen diesen seiner*' eigeiit&l)6v'
liehen V-rrhaltni^en der Blut Versorgung ■ xnm Opfer fallt ,
K by n Jndh %
.Wie. verhält es .«ich nun rmt der CK^rtmguhg .'dieses al* J-fespmW^
heit der OifdJlarveTwrgijng erkumdeu Fftktpf $ auf die iibngen, durch
nvkr^dnotrseb^ lYozesse gesehudigiei'4 Hindeik 1 ;
Fr, HiJler; Über die k rankhaft ea yAn^wlemngph
Für die Großhirn r*vtk können /wir diesem Faktor Bereite mein
mehr die ; gleiche Bedeutung beiiiK^en. Wir iephfen zwim*
<1*11 inj (if'&ywtiii«. zu der her^ehenden Ansduuning, di«. de« v»her-
flächlschen Und Iunrteusehieht mn besonders d'iehtes Fajvdhir*
mVk zumißt; die tieften ftünleri^ekiC*hten entschieden spärlicher mit
äk die der t
ist jedoch 'Mi' 13 1 1 iclit 'sp ^Ipiant
XTiifl iihvr<\W:} hätiiMi rz sich bei dreien. Erweichungen tief Üroßldn^.
Finde doch v:t^ ; nyutöt:di nür tuü fSn^ • lyadtfektu;.^ det
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AM». IT. • i^ivUittfV^erg^ä^ roten ^ der SatuUvutm uiRra. BiomlM’rfipaffUv
fee-e*r< Sei;« iiim.. Wir kennen jedtHitnllfc Befunden sohle*
(Mi v :i^äLß\ hKlA4^ufittiöf^ tiucb die höheren Rinden-
^cMehton der Erweichung äoht imgbf&Jtefl u jlre?i Einen analogen
Schluß i-am dem JBeffuid-fn 41 -zu zd^iHv^ähul:>yir-‘BWk
etvfen nirhl berochMgl I>ie hesumkrs fnrhz^ftigrv und mtonrsiVv
• ßrkrai>fo?ng der Rinde wiVfe in dkfr^fedi^^ebei* : Wei§e
damit zu 'erklimm, doli - w ie es j ?l . auch nur :oi initurficb kt - zur
Füllung. cfei tieferen BindeneupiilaTnetz»?., die ihren lAlutzufhißhek*mnt-
.iiiib dureli die Icingeti. Bin;d(ü)^ai 5 e erhalten, ein hbh^rer i^md örfe-
ri*d|ej* Xjsomüng notig j#? ; als Xu.. der der ei»erfhiehii( heren. Darauf hat
Gebern ;VMt MoHt/hoU' hif>guvde^di* ;V '* v :Jy ’ ' • v t;. : :'
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung. 641
Bei der CO-Vergiftung, bei der eingehendste histologische Unter¬
suchungen nur in sehr geringer Zahl vorliegen, hat nur Sibelius ein in
ähnlicher Weise bevorzugtes Befallensein der tiefen Rindenschichten
vermerkt; in Fällen schwerer Zirkulationsstörung anderer Herkunft
beschrieben S. Rosental und OeUer ähnliche Bilder.
Wir sehen, wie wir uns, je mehr wir uns bemühen, den Prozeß
eigentümlich lokalisierter Erweichungen in die einzelnen Faktoren
seines Zustandekommens aufzulösen, immer mehr davon entfernen,
den Begriff auch nur der mittelbaren PathoJdise in Anwendung bringen
zu können. Die Voraussetzung, einen gemeinsamen Faktor x für alle
nekrobiotischen Prozesse gleicher Art auffinden zu können, ist bereits
durchbrochen. Konnten wir ihn in den Stammganglien mit einer mangel¬
haften Capillarversorgung bestimmter grauer Massen identifizieren,
so scheinen in der Großhirnrinde in erster Linie dynamische Faktoren
diese Rolle übernommen zu haben.
In der vorzugsweisen Erkrankung der tiefsten Rinde, etwa im Sinn
von K . Schaffer , eine Neigung einzelner Rindenschichten zu bestimm¬
ten Erkrankungen wiederum unter dem Gesichtswinkel der „Patho-
klise“ zu sehen, halten wir für völlig abwegig. Denn abgesehen davon,
daß wir in unserem Fall die ontogenetisch ältesten Rindenschichten
am frühesten und stärksten erkrankt finden, was der Schaffer sehen
Anschauung völlig widerspräche, wäre es absurd, durchaus hypothe¬
tische, dunkle endogene Faktoren vor den ganz offensichtlichen exo¬
genen mechanischen in den Vordergrund rücken zu wollen.
Wie haben wir uns aber nun zu erklären, daß diese Rindener¬
weichungen außerdem noch die Eigentümlichkeit zeigen, sich in erster
Linie und am frühesten auf der Windungshöhe zu entwickeln? Ich
glaube dies nur vermutungsweise deuten zu können und finde auf
Grund verschiedenster Untersuchungen und Überlegungen als Ursache
nur einen mechanischen Faktor. Es wird angenommen, daß der Abfluß
des venösen Blutes — wenigstens der tiefen Rindenschichten — zum
Teil piawärts, zum andern Teil aber auch markwärts erfolgt. Man
könnte sich sehr wohl vorstellen, daß im Zustand einer starken
Schwellung und Hyperämie des Gehirns und unter so krankhaft
abgewandelten Zirkulationsverhältnissen in den Meningen, wie wir sie
in unserem Fall sahen, der Abfluß des Blutes innerhalb der längsten
und schmälsten Markstrahlen am stärksten behindert ist, und daß
dadurch die in der tiefen Rinde bestehenden Zirkulationsstörungen
noch verstärkt werden. Außer dem auffällig geringen Fettgehalt der
Wandzellen dieser abführenden und auch die Zerfallsprodukte der
Erweichungsherde abtransportierenden venösen Markgefäße und ihrer
relativen Enge fehlt allerdings ein Beweis für die Richtigkeit dieser
Vermutung.
642 Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Was nun die topische Eigentümlichkeit der Erweichung in den
Ammonshörnern betrifft, so verbietet uns die große Zahl einschlägiger
Beobachtungen (vgl. auch Spielmeyer ), diese als den Ausdruck einer
eiektiven Erkrankung eines bestimmten Rindensystems zu betrachten.
Wenn wir sehen, daß das Ammonshorn nicht nur bei der Epilepsie,
sondern auch bei der Paralyse, Dementia senilis, Alzheimer sehen
Krankheit, Lyssa, und, wie neuerdings Spatz nachwies, bei der Per¬
tussis-Eklampsie, wie die Neuburger sehen Untersuchungen lehren, bei
Fettembolie und, wie schließlich unser Fall zeigt, bei der CO-Vergif-
tung besonders früh und intensiv und dabei immer höchst charakte¬
ristisch erkrankt, so können wir nur das eine mit Sicherheit daraus
schließen, daß im Ammonshorn bestimmte nervöse Strukturen gegen
verschiedenartigste Prozesse besonders empfindlich sind ( Spielmeyer).
Wir stehen hier der gleichen Tatsache gegenüber wie hinsichtlich der
früh und unter verschiedensten Bedingungen auf tretenden degenera-
tiven Prozesse, z. B. im Nucleus dentatus. In unserem Fall sind wir schon
aus Gründen der Analogie befugt anzunehmen, daß auch in diesen
Gebieten die Gewebsernährung bis über die Grenze der Lebensfähigkeit
hinaus Schaden gelitten hat. Daß diese Grenze im Ammonshom
anscheinend so bald überschritten ist, beruht wahrscheinlich auf ver¬
schiedenen Eigentümlichkeiten dieses Rindenteiles; im Fall so typischer
Erweichungen wie hier, wohl auf einer schon aus der komplizierten
Entwicklung dieses Rindenteils erklärlichen besonderen Gefäßver¬
sorgung. Die grauen Massen des Ammonshorns — vor allem das Band
der Pyramidenzellen — werden ja nur von den im Sulcus zwischen
Gyrus dentatus und Subiculum eintretenden meningealen Gefäßen
ernährt. Direkt von der Oberfläche — also dem Alveus aus — eintre¬
tende Gefäße fehlen ja vollkommen. — Eine mangelhafte Capillar-
vereorgung des Pyramidenzellbandes konnte nicht nachgewiesen
werden.
In Hinsicht auf die Veränderungen in der Kleinhirnrinde ist die
ausschlaggebende Bedeutung besonderer mechanischer bzw. dyna¬
mischer Bedingungen noch auffälliger. Hier, wo sich uns ein Zusam¬
menhang zwischen schweren Kreislaufstörungen in den interlobären
Gefäßchen und den Veränderungen der Kleinhirnrinde geradezu auf-
drängt, spielt eine besondere Capillarvereorgung sicherlich keine Rolle.
Vielmehr müssen wir — so grob mechanisch diese Vorstellung auch
klingen mag — eine wohl durch den Druck der umgebenden, vielleicht
ödematös geschwollenen Gyri bedingte Behinderung der an sich schon
schwer geschädigten Zirkulation in den interlobären Gefäßchen als
Ursache der Erweichungen annehmen. Die vorzugsweise Erkrankung
der Windungstiefen ist nur geeignet, diese Anschauung noch wahr¬
scheinlicher zu machen.
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxyd Vergiftung.
643
Aus alledem erhellt, daß nicht ein und derselbe Faktor x in den
verschiedenen Himteilen die allgemeine Kreislaufstörung bis zu einem
deletären Ausmaß gesteigert hat. Schon dieser Umstand allein macht
uns die Anwendung des Begriffs der Pathoklise — auch einer „mittel¬
baren 4 ‘ — unmöglich. Aber auch hinsichtlich der pallidären Ver¬
änderung, die ja so häufig dies einzige Kennzeichen einer CO-Vergiftung
ist, will uns eine Variante der Capillarversorgung als Faktor x einer
„mittelbaren Pathoklise “ als nicht möglich erscheinen. Denn wenn wir
es auch als feststehend betrachten, daß das Ausmaß der Capillar¬
versorgung gew issermaßen ein in der phylo- und ontogenetischen Reihe
durch die bestimmte biologische Wertigkeit eines Organs oder Organ¬
teiles erworbener und durch sie bedingter Zustand ist, so müssen wir
doch bekennen, daß hier eine Anwendung des Begriffs der „Pathoklise * 4
— verständlich nur aus entwicklungsmäßigen Geschehnissen ab ovo —
äußerst untunlich ist. Wir wissen ja nur höchst unvollkommen, welche
besonderen biologischen Faktoren einzelne Hirnteile von den anderen
unterscheiden, welche hier eine reichliche, dort eine spärliche Capillar¬
versorgung im Laufe der Entwicklung bedingen, und — was für den
Begriff der Pathoklise sensu strictiori am wichtigsten wäre — ob schlie߬
lich funktionell zusammengehörige graue Massen auch in Hinsicht
ihrer Capillarversorgung weitgehende Gemeinsamkeiten aufweisen.
Wir müssen uns infolgedessen damit begnügen — und werden damit
nur im Sinne einer größeren Klarheit der Auffassung handeln — zu
sagen, daß im Fall der CO-Vergiftung die Eigenheit des Pallidums
und eines Teils der Substantia nigra, und zwar der roten Zone, eine
spärlichere Capillarversorgung aufzuweisen, gemeinsam mit den übrigen
genannten den Kreislauf betreffenden Faktoren die Prädilektion der
Erweichungsherde bedingt.
In anderen Hirnteilen tritt eine besondere Capillarversorgung als
ursächliches Moment in den Hintergrund oder verschwindet ganz
hinter Faktoren dynamisch-mechanischer Art oder solchen einer ent¬
wicklungsgeschichtlich bedingten, relativ ungenügenden Gefäßver¬
sorgung.
Was nun schließlich die fast regelmäßig beobachtete Symmetrie
der Erweichungsherde in den Stammganglien betrifft, so steht die
Erklärung, die man dieser Tatsache unterlegte (H. Günther ), durchaus
mit unserer Ansicht von der ausschlaggebenden Bedeutung der Capillar¬
versorgung dieser Zentren im Einklang. Angesichts der generalisierten
Wirkung des CO auf den Gesamtkreislauf und das ganze Zentralnerven¬
system bedeutet von diesem konditionell erklärenden Standpunkt aus
die in symmetrischen, grauen Zentren nachweisbare Dürftigkeit des
Capillametzes einen, und zwar den wichtigsten Faktor für das früh¬
zeitige Auftreten von pallidären Erweichungen bei der CO-Vergiftung.
644
Fr. Hiller: Über die krankhaften Veränderungen
Schlußwort.
Die vorstehenden Untersuchungen haben auf die Frage nach der
Entstehung der für die CO-Vergiftung eigentümlichen Veränderungen
im Zentralnervensystem eine Antwort gegeben, die geeignet erscheint,
unsere bisherigen lückenhaften Anschauungen über das Wesen dieser
Krankheitsprozesse auf eine neue Basis zu stellen. Wenn wir uns auch
dessen völlig bewußt sind, daß die Ableitung allgemeingültiger Schlüsse
auf Grund von Untersuchungen an einem einzigen Fall stets ein etwas
mißliches und gewagtes Unterfangen ist, so glauben wir doch auf Grund
dessen, daß unser Fall ein an unseren bisherigen Kenntnissen und den
Angaben der Literatur gemessen völlig typischer Fall von CO-Ver¬
giftung ist, die Berechtigung zu haben, unsere Untersuchungsergebnisse
zu verallgemeinern. Diese Ergebnisse sind:
Das CO, dessen hochgradig toxische Wirkung auf den Gesamt¬
kreislauf bekannt ist, erweist sich als ein exquisites Gefäßgift. Wie
unsere Untersuchungen ergaben, findet jedoch diese toxische Wirkung
ihren Ausdruck nicht in einer primären, anatomisch-kenntlichen, krank¬
haften Veränderung der Gefäßstruktur, sondern äußert sich in einer
schweren Funktionsschädigung der Gefäße. Wenn wir auch derzeit
noch nicht in der Lage sind, etwa in einer histologisch erkennbaren
Alteration der Gefäßwandnerven den anatomischen Parallelvorgang zu
dieser Funktionsstörung zu erfassen, so gestattet doch immerhin der
vom Normalen sehr verschiedene Anblick der Gefäße hinsichtlich ihrer
Weite und Füllung auf ihre veränderte Funktion zu schließen. Wir
sehen in der zum Teil enorm starken Gefäßerweiterung den Ausdruck
einer Atonie der kontraktilen Gefäßwandelemente, als deren funk¬
tioneile Auswirkung wir in Anlehnung an die Ricker sehen experimen¬
tellen Untersuchungen eine Prästase und schließlich Stase in den betrof¬
fenen Gefäßgebieten betrachten. Es ist naheliegend genug, daß ein
solcher Vorgang in dem gegen Ernährungsstörungen so überaus empfind¬
lichen Gehirn — und hier in erster Linie im Grau — zu frühzeitigen und
besonders intensiven Schädigungen führen muß.
Prästase und Stase sind die Plattform, auf der sowohl die ver¬
schiedenen für die CO-Vergiftung typischen nekrobiotischen Prozesse,
wie auch die multiplen kleinen und großen Blutungen entstanden zu
denken sind.
Den bisherigen Anschauungen, die die CO-Schädigungen entweder
als eine irritative Encephalitis oder als die Folge degenerativer Gefä߬
wandveränderungen aufgefaßt wissen wollten, konnten wir nicht
beipflichten.
Wir haben in diesen Himveränderungen echte, durch Ernährungs¬
störungen bedingte Encephalomalazien zu sehen.
im Zentralnervensystem nach Kohlenoxydvergiftung.
645
Auch hinsichtlich der Frage nach den Bedingungen der auffälligen
Prädilektion gewisser Hirnteile für diese Erweichungen führten unsere
Untersuchungen zu Ergebnissen, deren Beweiskraft wohl die bisher
zum Teil recht hypothetischen Annahmen erschüttern dürfte. Wir haben
dargelegt, warum wir uns mit dem von anderer Seite angenommenen
ursächlich-ausschlaggebenden Einfluß der imgewöhnlich verlaufenden
und gestalteten größeren und mittleren arteriellen Gefäße der Stamm -
ganglien für die Ernährung des Pallidums allein nicht einverstanden
erklären können. Wir konnten ferner nachweisen, daß der Annahme
einer besonderen Erkrankungsbereitschaft der pallidären Gefäße, z. B.
im Sinne lokaler arteriosklerotischer Veränderungen eine irrtümliche
Deutung noch-physiologischer Vorgänge zugrunde liegt. — Dementgegen
wurde von uns als ausschlaggebender Faktor für das Zustandekommen
gerade der typischen Erweichungen im Pallidum eine Besonderheit
seiner Capillarversorgung angesprochen. Es konnte nachgewiesen wer¬
den, daß das Pallidum und die rote Zone der Substantia nigra — die
sich gleichfalls Ernährungsstörungen gegenüber als elektiv gefährdet
erwies — mit einem viel dürftigeren Capillametz ausgestattet sind als
die übrigen grauen Gebiete der Stammganglien. — In dieser prädilek-
tiven Erkrankung des Pallidums den Ausdruck einer Pathoklise dieses
Hirn teils zu sehen, mußte als nicht statthaft bezeichnet werden. Denn
abgesehen davon, daß eine Pathoklise sensu strictiori mit dem Wesen
durch Kreislaufstörungen bedingter Ernährungsstörungen des Gewebes
kaum in Einklang zu bringen ist, standen der Einordnung unter diesen
Begriff die in unserem Fall in anderen Himgebieten gefundenen gleich¬
artigen, nekrobiotischen Prozesse entgegen. Für die zum Teil gleich¬
falls gesetzmäßig erscheinende Lokalisation auch dieser Prozesse
konnten nicht die gleichen Anomalien der Capillarversorgung ange¬
schuldigt werden; er mußte vielmehr funktionell dynamischen bzw.
mehr mechanischen Faktoren ein ausschlaggebender Einfluß zuge¬
schrieben werden.
Herrn Prof. Spielmeyer , der mir diesen Fall zur Bearbeitung gütigst zur
Verfügung stellte, und Herrn Dr. Spatz fühle ich mich für die bereitwilligst
gewährte Unterstützung zu großem Dank verpflichtet.
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Der Inzest.
Mit kasuistischen Beobachtungen an Berliner weiblichen
Fiirsorgezöglingen.
Von
Dr. Helene-Friderike Stelzner.
(Eingegangen am 25. Juli 1924.)
Inhaltsverzeichnis.
Einleitung (S. 647).
Geschichtliches und Kulturgeschichtliches zur Beurteilung von Konsanguinitäts-
fragen und Inzest (S. 648).
Biologisches zur Inzestfrage (S. 660).
Inzestscheu und Ethik (S. 672).
Zusammenstellung der beobachteten Inzestfälle (S. 681).
Die Verführer und die Umwelt der Inzestopfer (S. 691).
Zur Psychologie der Inzestopfer (S. 700).
Schlußbemerkungen (S. 717).
Literaturverzeichnis (S. 718).
Einleitung.
Die wenigen der überhaupt vorkommenden Inzestfälle, die bekannt
werden, vor den Strafrichter kommen oder sonstwie die Öffentlichkeit
beschäftigen, sind mit vielleicht 1% Ausnahme solche zwischen Mäd¬
chen etwa bis zum 15. Lebensjahr mit deren Erzeugern oder mit ihren
Brüdern. Die letzterwähnten, vielleicht häufiger als die erstgenannten,
entziehen sich der Aufmerksamkeit der Umgebung um so leichter,
als sie fast ausnahmslos in kameradschaftlichem Einverständnis, als
Endprodukt sich langsam entwickelnder schlechter Gewohnheiten und
ohne jeden Zwang vor sich gehen. Bei dem erstgenannten Vater-
Tochter-Inzest ist physisch und psychisch das Ereignis viel mehr
gewaltiger Natur, ohne daß, wie später auseinandergesetzt werden soll,
immer von einem Notzuchtsattentat gesprochen werden könnte. Die
mir zur Verfügung stehenden Fälle enstammen einer von mir ärztlich
versorgten Fürsorge-Erziehungsanstalt mit vorwiegend der kindlichen
und jugendlichen Prostitution zugewandten Zöglingen. Durch Ver¬
mittlung des Jugendamtes wurden mir die meisten solcher letzthin
bekannt gewordenen Fälle dorthin überwiesen, so daß ich in einem
verhältnismäßig kurzen Zeitraum 9 Fälle gründlich kennenlemen
konnte. Ich spreche der Leitung des Jugendamtes in der Person der
Frau Dr. Weyl meinen Dank für die Bereitwilligkeit aus, mit der mir
gestattet wurde, meine Erfahrungen an den Jugendlichen zu publizieren.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 49
648 H. Fr. Stelzner: Der Inzest Mit kasuistischen Beobachtungen
Die mir zur Verfügung stehenden Fälle bilden zahlenmäßig und
sachlich nur einen kleinen Ausschnitt aus der Fülle der überhaupt
vorkommenden. Von seiten des Angreifers sind es meist Abirrungen
auf dem Boden ethischen Verfalles wuchernd, ohne welchen so tief
bedauernswerte Verbrechen, die schlimmer sind als Kindesmord,
überhaupt nicht gedeihen können.
Geschichtliches und Kulturgeschichtliches zur Beurteilung von
Konsanguinitätsfragen und Inzest
Es ist unmöglich das Wesen des Inzestes zu beleuchten — selbst¬
verständlich abgesehen von ethischen Erwägungen —, ohne gleichzeitig
Inzuchtsverhältnisse mit zu berühren. Schon ältere Autoren haben
Beobachtungen an menschlichen Gemeinwesen gemacht, die infolge
völliger Abgeschlossenheit von der Umwelt innerhalb des engen Kreises
zu regelmäßigen Ehen unter Blutsverwandten führten. Voisin**)
berichtet über die Mitglieder der Gemeinde Batz auf einer Halbinsel
nördlich der Loiremündung, ferner über die Bewohner der Insel Schock¬
land im Zuidersee, deren weitgehende InzuchtsVerhältnisse keinerlei
Herabminderung im Gesundheitszustand der Einzelnen nach sich
zogen. Daß solche aber auch einen ungünstigen Verlauf nehmen kön¬
nen, zeigen Oöhleris lz ) Berichte über die jüdische Karaitengemeinde
in Halicz, die seit Jahrhunderten engste Blutsverwandtschaft pflegend,
einen sehr hohen Prozentsatz geistig und körperlich Minderwertiger
stelle.
Das für die Nachprüfung der Produkte allernächster, also inzestuöser
Verwandtschaftsgrade zur Verfügung stehende Material ist ein außer¬
ordentlich beschränktes, teils halb sagenhafter, teils geschichtlicher
Überlieferung angehörendes, teils gelegentlichen in unserem Sinne
verbrecherischen Inzesthandlungen entstammendes. Bezüglich der
ersten Gruppe liegen zwar eine Reihe von Forschungen, Nachprü¬
fungen und sich darauf stützende Hypothesen vor. Wenn aber nach¬
träglich bei einem verhältnismäßig jungen Volke, den Inkas, festgestellt
werden konnte, daß im alten Peru der Kaiser immer nur seine leibliche
Schwester heiraten durfte und dies in der 14. Generation bei dem
letzten Inka noch zu keinem nennenswerten geistigen oder körper¬
lichen Rückgang geführt habe, so drängt sich die naheliegende Frage
auf, ob in dieser Reihe auch immer die entsprechenden natürlichen
Schwestern vorhanden waren, und wenn dies nicht der Fall, ob nicht
durch Unterschiebung fremden Blutes oder aus der Schar von Neben¬
gattinnen stammenden Halbschwestern das Fehlende ergänzt wurde.
Jedenfalls war der letzte der Regentenreihe Atahualpa selbst mütter¬
licherseits ein Fremdblüter. Sein Vater gab ihm, dem Sohn einer nicht
vom Inkablut stammenden Gemahlin den Vorzug gegenüber Huaskar,
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
649
dem der Ehe mit seiner jüngsten Schwester entsprossenen und echten erb¬
berechtigten Sonnensohn. Der Historiker Dyroff spricht übrigens von
seinem Standpunkt aus schon von weitgehenden Ermüdungserschei¬
nungen bei der so einseitig gezüchteten Rasse, wenn er sagt, „nur die
Altersschwäche beider Kulturen, die der Azteken und der Inkas und
die in ihnen auf gespeicherten Zersetzungskeime erklären den unglaub¬
lich raschen Erfolg der Cortez und Pizarro, die mit einer Handvoll
hungernder Abenteurer große Reiche zertrümmern konnten.“
Betreffs der zweiten Gruppe, der in verbrecherischer Blutschande
gezeugten Kinder allernächster Verwandtschaftsgrade läßt die umfang¬
reiche Literatur die genaue Untersuchung dieser Produkte in körperlicher
und seelischer Hinsicht vermissen, oder richtiger gesagt, in der ganzen
reichen Literatur ist keines wissenschaftlich beobachtet oder beschrie¬
ben, obwohl sie doch namentlich dem forensischen Psychiater häufig
zugänglich sein müßten. Das Interesse an den Fällen scheint immer
nur auf die beiden Attentäter oder auf den verantwortungsvollen Teil
von beiden sich bezogen und mit der forensischen Auswirkung der
Angelegenheit sich erschöpft zu haben. Nun gehört Inzest im allge¬
meinen zu den Verbrechen, von denen nur ein geringer Prozentsatz
der Fälle — Kauffmann 19 ) spricht von 60% — zur Kenntnis des Rich¬
ters gelangt. In einem noch geringeren Prozentsatz kommt es zu einer
lebensfähigen Nachkommenschaft; denn entweder wird die Frucht
absichtlich zerstört, oder Fehl- und Totgeburten sind als die Folgen
des zu jugendlichen Alters eines oder beider Eltemteile anzusehen.
Bei Ploss-Bartels M ) findet sich in dem Kapitel über indische Kinder¬
ehen eine Illustration zu den Verheerungen, welche zu früher geschlecht¬
licher Mißbrauch an den kindlichen Frauen anrichtet, ein Hinweis
darauf, was auch bei uns an den jungen vergewaltigten Mädchen, nur
rein physisch betrachtet, geschadet wird. Es war die verdienstvolle
Arbeit einer britischen Ärztin, Dr. Hansell, in einer Petition an die
englische Regierung auf diese Zustände in Indien hinzuweisen. Sie
berichtet über besonders krasse Fälle, wo eine 7-, eine 8-, zwei 9-,
drei 10-, eine 11- und eine 12jährige Frau für ihr ganzes Leben körper¬
lich verdorben wurden; andere, z. B. Ryder 3 *), schildern den traurigen
seelischen und leiblichen Allgemeinzustand dieser kindlichen Frauen.
„Nie“, sagt er, „vermag ich den Herzenskummer zu schildern, welchen
ich empfand, wenn ich diese halbentwickelten Frauen sah mit ihrem
Ausdruck hoffnungsloser Duldung, ihren skelettdürren Armen und
Beinen und sah, wie sie in dem vorgeschriebenen Abstand hinter
ihren Gatten einherschritten, niemals mit einem Lächeln auf ihrem
Antlitze.“ Haben wir Ärzte nicht alle bei uns ähnliche Dulderinnen
zu sehen bekommen? Gesetzlich ist die Kinderehe bei uns nicht, aber
in jeder Großstadt finden sich Typen wie die von Ryder geschilderten,
42*
650 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
und wir können nur ahnen, was den Bedauernswerten geschah. Gerade
der Inzest bedroht in erster Linie Jugendliche, richtiger Kinder. Neben
dem allgemeinen körperlichen Verfall der mißbrauchten Geschöpfe
wird aus Unachtsamkeit, gelegentlich aus Aberglauben mit dem Inzest
Gonorrhöe oder Lues übertragen, die das Ausreifen der Frucht ver¬
hindern. Dazu kommt die unsorgfältige Pflege erst der Schwanger¬
schaft, dann des Säuglings von seiten derer, denen die Geburt eines
Kindes aus solcher Verbindung äußerst peinlich und nachteilig erscheint,
aber auch jener, welche unbeteiligt zwar, aber infolge der glücklicher¬
weise allgemeinen Inzestscheu unseres Volkes diese am unschuldigen
Opfer zum Ausdruck bringen.
Meine eigenen Untersuchungen an jugendlichen Inzestuösen gaben
mir keine Gelegenheit, die aus Blutschande stammenden Produkte
kennenzulemen. In einem Falle — Vater-Tochter-Inzest — kam am
normalen Ende der Schwangerschaft ein luetisches Kind tot zur Welt,
in einem anderen Falle — Geschwisterinzest — verlor sich die Spur
der am Ende der Gravidität stehenden 13 jährigen Mutter.
Große Zahlen betreffs verwandtschaftlicher Blutmischungen wur¬
den aus den Ehen zwischen Ascendenten und Deseendenten indirekter
Verwandtschaftsgrade — Onkel und Nichte, Tante und Neffe — und
besonders aus der Konsanguinität des gleichen Stammbaumniveaus —
Geschwisterkinderehen —, die in gewissen Ländern und durch bestimmte
Kulte verboten, aber meist lizenzfähig sind, gewonnen. Die Behand¬
lung der einschlägigen Fragen legte den Nachdruck entweder auf die
rein anthropologische oder auf die psychiatrische Seite, da die geistigen
Erkrankungen in hervorragender Weise als solche erblich sind oder
indirekt aus einer ungünstigen Blutmischung hervor sich entwickeln
sollen. Stellt doch schon eine landläufige Ansicht nahe Verwandtschaft
der Eltern als ein für geistige Erkrankungen disponierendes Moment
hin. Die Arbeiten besonders der letzten 30 Jahre haben diese Ansichten
zum Teil begründet und vertieft, zum Teil mit neuen Motiven durch¬
setzt, während Denays 10 ) in seiner aus dem Jahre 1862 stammenden Studie
auch schon ganz ausdrücklich hervorhebt, daß die Folgen der Inzucht
sich hauptsächlich auf geistigem Gebiete zeige, in angeborenem Schwach¬
sinn, Blödsinn, Idiotie, außerdem aber in Taubheit, Blindheit usw.
Die nicht auf Konsanguinität beruhenden, aber gesetzlich als
inzestuös verbotenen Verbindungen zwischen Stiefeltern und Stief¬
kindern oder zwischen Schwager und Schwägerin haben in den Kultur¬
ländern überhaupt nur ein historisches, kein biologisches Interesse.
Die anglikanische Kirche, die 30 Verwandtschaftsgrade unter¬
schied, innerhalb welcher nicht geheiratet werden durfte, handhabte
die peinlichen Eheverbote schon immer ziemlich lax, erkannte z. B.
, Ehen innerhalb der verbotenen, aber in anderen Kulturländern gestat-
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen. 651
teten Verwandtschaftsgraden an, wenn die Trauung der Betreffenden
außerhalb der englischen Grenzen stattgefunden hatte und das Gesetz,
wie die Formel lautete, „sich vor der vollendeten Tatsache beugen
mußte“. Eine praktisch außerordentlich wichtige Entscheidung nahm
das Oberhaus im Jahre 1895 an, indem eine Bill durchgebracht wurde,
welche dem Manne gestattet, die Schwester seiner verstorbenen Frau
zu heiraten.
In größerem Maße vorkommend, damit dem Forscher eine breite
Beobachtungsfl&che bietend und wegen ihrer Häufigkeit vom rassen¬
hygienischen Standpunkt aus sehr wichtig sind die Geschwisterkinder¬
ehen. George Darwin 8 ), der Sohn des großen Charles, bemächtigte
sich, wohl durch ChipauU 6 ) angeregt, als einer der ersten dieses Stoffes
und ließ im Jahre 1867 sein Büchlein über die Ehen der Geschwister¬
kinder erscheinen, in denen er den alten populären Überlieferungen über
die Verwandtschaftsheiraten kritisch gegenübertritt. Er stellt zunächst
einmal mit großer Mühe die Verhältniszahlen zwischen Geschwister¬
kinderehen und der Gesamtsumme aller Ehen in England fest. Damit
verwandte er Zeit und Mühe an eine Arbeit, die sich von seiten seiner
Landsleute kaum einer besonderen Schätzung erfreuen durfte, da wir
von ihm selbst hören, daß gelegentlich der Beratung über das Volks¬
zählungsgesetz im Jahre 1871 hubbock, Play fair und andere führende
Geister vorschlugen, eine Frage über das Vorkommen der Geschwister¬
kinderehen einzufügen, diesen Antrag aber unter dem Hohngelächter
des Hauses verworfen sahen mit der Begründung, daß man die müßige
Neugierde der Philosophen nicht zu befriedigen gewillt sei.
Darwins Forschungen ergeben, daß 3—4% sämtlicher in England
geschlossener Ehen zwischen Geschwisterkindern zustandegekommen
waren. Durch Sammlung der Statistiken aus den größten Irrenanstalten
der drei Inselreiche erweiterte er sein Material und kam zu dem
Resultat, daß der Prozentsatz der Nachkommenschaft aus Geschwister¬
kinderehen unter den Insassen geschlossener Anstalten dem von solchen
unter der allgemeinen Bevölkerung so naheliegt, daß, was Irrsinn und
Blödsinn betrifft, ein aus Ehen zwischen Blutsverwandten erwach¬
sendes Unheil von dieser Seite nicht nachgewiesen werden kann. Die
Geschwisterkinderehen in bezug auf Unfruchtbarkeit und ein hohes
Sterblichkeitsverhältnis unter der Nachkommenschaft zu beleuchten,
standen Darwin nur sehr beschränkte Zahlen zur Verfügung. Immer¬
hin leitete er das Recht daraus her, das von anderen Autoren be¬
hauptete hohe Sterblichkeitsverhältnis unter den Kindern von Bluts¬
verwandten als Gesetz umzustoßen, während ein Schatten von Gewi߬
heit übrigbleibt, daß es immerhin etwas höher ist als unter den Fami¬
lien nichtblutsverwandter Ehen. Seine weiteren Untersuchungen an
Leuten mit hohen sportlichen Leistungen nach eventueller Geschwister-
652 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
kindschaft hat bei ihm wegen der geringen Anzahl der Einbezogenen nur
unsichere und wenig wertvolle Resultate ergeben. Namentlich bei uns
in Deutschland mit der nach dem Fehlen militärischer Ausbildung so
ungeheuer ansteigenden Sportbetätigung und Sporthygiene wäre es
leicht und wichtig genug, an den Schulen und aus den Sportvereini¬
gungen Jugendlicher ein breites Material für eine Statistik über das
Verhältnis zwischen Geschwisterkinder- und Fremdensprossen bezüg¬
lich sportlicher Eignung zu gewinnen, die außerdem auf die Zentren
der neuen Wissenschaft der Berufsberatung auszudehnen wäre. G. Dar¬
wins Feststellungen bewegen sich im allgemeinen in optimistischer
Richtung, jedenfalls stellt er zwischen zwei möglichen oder wahr¬
scheinlichen Ausblicken — und jede Statistik ist dehnbar — die
für die Verwandtenehe günstiger lautende in den Vordergrund. Im
übrigen zitiert er mit der größten Hochachtung vor der Meinung anderer
die gegenteiligen Behauptungen berühmter Kollegen, wie die Mitchells,
welcher gegenüber Darwins Ansicht — Blindheit und Taubheit zeige
innerhalb der Verwandtenehen keinen erhöhten Prozentsatz — aus
der irischen Statistik ableiten wollte, daß Taubstummheit unter den
Kindern von Verwandten häufiger die angeborene Form zeige als in
Ehen nichtverwandter Personen. Darwin setzt sich weiterhin über
die Schäden der Konsanguinität auch mit Mantegazza 21 ) auseinander,
die dieser besonders hoch anschlägt und die er in 8 Thesen festgelegt
hat, deren praktisch wichtigsten die unter 5. und 6. angeführten
sind. Sie lauten: 5. Die am besten bewiesenen Folgen konsanguiner
Verbindungen sind: Ausbleiben der Empfängnis, verkümmerte Emp¬
fängnis und Fehlgeburt, Neigung zu nervösen Beschwerden, gehemmte
Geistesentwicklung, Anlage zu Skrofeln und Tuberkeln, verringerte
Lebensfähigkeit, hohes Sterblichkeitsverhältnis besonders unter Kin¬
dern, Dysmenorrhöe, geringe Zeugungskraft, pigmentale Netzhaut¬
entzündung. 6. Je näher die Verwandtschaft, desto größer die Gefahr.
Wenn bei Besprechung von insgesamt 512 Fällen, deren einer Teil
noch dazu der Mitchellschen Statistik entstammt als Folgen der Kon¬
sanguinität solch spezielle Faktoren wie z. B. Dysmenorrhöe, also ein
einzelnes nervöses, doch nicht immer auf organischer Basis beruhendes
Symptom hervorgehoben wird, so ist man geneigt, dies als einen sta¬
tistischen Zufallsbefund zu deuten, namentlich wenn es ungewiß bleibt,
ob es sich nicht um ein bestimmtes Gut aus der Erbmasse eines der Eltern¬
paare handelt, das einfach von einer der Stammütter weitergegeben
wurde. Es war ja erst einer späteren Forschung Vorbehalten, die
Konsanguinitätsverhältnisse nicht nur aus dem Produkt, sondern auch
aus den Faktoren zu deuten, indem man die Ascendentenreihe soweit
als möglich zurückverfolgte, um Konsanguinitätsschäden von ein¬
fachen Erbübeln zu trennen. Bei Geschwisterkinderehen tritt zwar
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
653
50% Ahnen Verlust ein, aber jedes der Eltern bringt doch noch 50%
fremder Ahnen mit, aus welcher Erbmasse der Sproß seine Auswahl
treffen kann. Dr. Howden, bei Darwin zitiert, sagt gelegentlich der
geistigen Erkrankungen und ihrer Beziehungen zu Geschwisterkinder¬
ehen, welche nach seiner Meinung, wenn nicht erbliche Anlage vor¬
handen ist, nicht die Tendenz haben, Irrsinn hervorzubringen: „Weder
beim Irrsinn, noch bei einer andern Anlage gibt 2 + 2 = 4. Es ist
immer noch ein anderer Faktor tätig, der die Steigerung neutralisiert
und die Sache auf den normalen Standpunkt zurückführt.“ Es ist,
als habe Howden die neuzeitlichen Gesetze der Erblichkeitsforschung
vorausgeahnt, die Mendel fast ohne sein Wissen begründete und für
die Johannsen 18 ) das X in der Formel Howdens fand. Die Verwandt¬
schaftsehen in legaler Blutnähe, Geschwisterkinder, Tante-Neffe usw.,
führen nicht zur Degeneration, aber selbstverständlich gelten für die
Produkte aus diesen Ehen die übrigen Erblichkeitsgesetze, die sich
besonders ungünstig auswirken, wenn die beiden Eltern gemeinsame
Ahnenreihe mit seelischen oder körperlichen Erbübeln behaftet ist.
Was die einen der Konsanguinität züschieben, ist häufig Vererbung,
und die Gesetze können im geraden oder im rückläufigen Sinne ange¬
wandt werden.
Wenn z. B. Richard 0 ) darauf hinweist, daß die Juden zu der Zahl
der Idioten und Irren ein weit höheres Kontingent stellen, was übrigens
von neueren Forschem (Poll) in Abrede gestellt wird, als die beiden
christlichen Konfessionen zusammengenommen und dies auf die Häu¬
figkeit der vom Ritualgesetz begünstigten Blutsverwandtenehen schiebt,
so könnte ebensogut gefolgert werden: weil weitgehende bekannte
soziale und politische Schädigungen degenereszierende Wirkungen auf
den jüdischen Gesamtorganismus hervorgebracht haben, führen die
konsanguinen Ehen infolge Häufung kranker Erbmassen, die sich
sowohl auf seiten der verschmolzenen Familie, den verschwisterten
Großeltern des Produktes der Konsanguinität, als auch auf seiten
eines oder beider zugeheirateter Großeltemteile finden mögen, zu den
genannten Schädigungen.
Viel ventiliert wurde auch die Frage, ob die Schädigungen in den
Fällen uteriner Verwandtschaft näherliegen als bei den Ehen zwischen
Bruderkindeskindern. Mantegazza (1. c.) bejaht dies emphatisch „weil wir
ganz Söhne“ — an die Töchter denkt er gar nicht — „unserer Mutter,
aber nicht in demselben Grade und nicht immer Söhne unseres Vaters
sind“. Die Tierzüchter scheinen darüber anderer Meinung zu sein,
was später noch näher ausgeführt wird, da in den Stammbüchern
der Zuchtgebiete, also in wissenschaftlich geleiteten Versuchsanstalten
in hervorragender Weise das männliche Tier berücksichtigt wird. Mir
liegt gerade eine Arbeit von Bekker-Kid 1 ) über die hervorragendsten
654 H. Fr. Stelzner: Der Inzest Mit kasuistischen Beobachtungen
Stämme des dänischen Pferdes vor, das zwar die Stuten im Stamm¬
baum ausführlich behandelt, aber doch den Nachdruck auf die Zucht
der Hengste legt, wie ja auch der auf den wirtschaftlichen Gebrauch
Züchtende darauf sein Hauptaugenmerk richtet, nach einem Gesetz,
das die Vererbbarkeit der väterlichen Eigenschaften als über allen
Zweifel erhaben annimmt. Interessant ist übrigens hier eine gelegent¬
liche Bemerkung über ein weibliches Inzestprodukt : „Sehr bemerkens¬
wert ist, daß auch hier, wie es so oft in ähnlichen Fällen wiederkehrt,
der fremde Hengst Buckingham seinen Anschluß durch eine stark
ingezüchtete Stute finden und mit ihr seine beste Hengstlinie begrün¬
den konnte; denn Baldur, einer der bestgezüchteten Söhne Bucking¬
hams, ist das Produkt von Vater und Tochter. Ein Wechsel von
Fremdzucht und allernächster Inzucht scheint demnach auf dem
Gebiete der beabsichtigten Hochzucht mit guten Resultaten verwandt
zu werden. Ich komme im biologischen Teil der Arbeit auf die neu¬
zeitliche Lösung der Erblichkeitsfragen und die wertvollen züchterischen
Versuche an höheren Tieren zurück, da sie viel deutlichere Hinweise
für die Verhältnisse beim Menschen liefern als die wenigen mensch¬
lichen Inzestprodukte, die allenfalls beobachtet wurden. Geben doch
ausgezeichnete theoretische Forscher wie Hey 11 ) in seiner Arbeit über
Vererbungsprobleme zu, daß alle bis jetzt beim Menschen festge¬
stellten krankhaften und abnormen Zustände bezüglich der Regeln,
nach welchen sie vererbt werden, noch keineswegs restlos erforscht
sind. Vielleicht wäre man sich sonst über die Lösungen der Konsan-
guinitätsfragen heute schon etwas näher gerückt, als es trotz der regen
Beteiligung der Autoren, die allerdings die Sache von den verschie¬
densten Standpunkten beleuchteten, geschehen ist. Mantegazza (1. c.)
zählt in seiner im Jahre 1868 erschienenen Arbeit 57 Schriftsteller,
welche Gegner, und 15, welche Verteidiger der blutsverwandten Ehen
sind. Seitdem hat sich sicher die vielfache Zahl von Autoren an diesem
Streit beteiligt. Eine Reihe neuer Gesichtspunkte ist mit den erleich¬
terten Verkehrsverhältnissen, wie sie sich bis zum Jahre 1914 ent¬
wickelt hatten, von den Ethnographen beigesteuert worden. Die letzte
Auflage von Plo88-Bartels Werk bringt auch aus den ehemaligen deut¬
schen Kolonien, besonders aus Neuguinea Berichte, aus denen nicht
immer klar hervorgeht, ob der Ausdruck „Blutschande“ in unserem
Sinne als ein ein Verbrechen kennzeichnender gebraucht wird oder
ob, wie es z. B. von Missionar Kaysser berichtet wird, der Verkehr
zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn ein nach den Ansichten
der dortigen Eingeborenen erlaubter ist. In Niederländisch-Indien,
auf Madagaskar sollen blutschänderische Verhältnisse zwischen noch
kindlichen Geschwistern an der Tagesordnung sein. Bei den Einge¬
borenen des Kiwai Islands in Britisch-Neuguinea dürfen sich Geschwister
an Berliner weiblichen Fttrsorgezöglingen.
655
ebensowenig heiraten wie Geschwisterkinder, dagegen darf der Vater
nicht nur seine Stieftochter, sondern auch das eigene Kind zur Frau
nehmen. Bei den Malaien, den Samoanem und den Gilbertinsulanem
gilt jede Art von Blutsverwandtschaft als Ehehindemis, während die
Maori Heiraten zwischen Nächstverwandten, auch unter Geschwistern
gestatten. Wenn biologische Betrachtungen Vettemehen zwischen den
Kindern zweier Schwestern dort ablehnen wollen, so ist dies aber auch
für die Kinder zweier Brüder verboten, während sich die Kinder von
Schwester und Bruder ohne weiteres heiraten dürfen, was sogar beson¬
ders häufig Vorkommen soll. Die Weddahs auf Ceylon gestatten dem
Bruder eine jüngere, nie die ältere Schwester zu heiraten, und bei den
Kolangs auf Java sollen manchmal Söhne mit ihren Müttern als Mann
und Frau leben. Bei den Makutsindianem besteht ein Eheverbot
zwischen Oheim und Nichte, da jener wie bei den alten Germanen als
der nächste Verwandte dieser angesehen wird. In dem Falle aber ist
unter Oheim nicht wie bei unseren Vorfahren der Mutter Bruder,
sondern offenbar der Bruder des Vaters zu verstehen; denn es ist nicht
verboten, die Tochter seiner Schwester, die Frau des verstorbenen
Bruders oder nach dem Tode des Vaters die Stiefmutter zu ehelichen.
Aus welchen Überlieferungen, Glaubens- oder Aberglaubenssätzen
diese krausen Bestimmungen hervorgegangen sind, läßt sich bei der
geringen Kenntnis, die wir immerhin von den hier erwähnten Natur¬
völkern noch haben, nicht feststellen. Keinesfalls können es rassen¬
hygienische Beobachtungen sein, welche so entgegengesetzte Anord¬
nungen zur Auswirkung bringen. Gelegentlich liegen wohl auch Beobach¬
tungsfehler der Reisenden vor; letzten Endes gehen die Ansichten
jedenfalls ebensoweit auseinander wie die der von Mantegazza zitierten
Gelehrten. Zu bedauern ist es auch hier, daß die Forscher, welche
eine große Fülle von Material aus beiden Hemisphären zusammen¬
trugen, das für das Studium der Konsanguinitäts- bzw. Inzestver¬
hältnisse Wichtigste ausließen, nämlich eine Untersuchung der aus
gleichem Blut, und zwar recht häufig in allernächster Verwandtschaft
Gezeugten. Da man mit menschlichen Fortpflanzungsergebnissen nicht
experimentieren kann, so ist es von weittragender Bedeutung, wich¬
tige, durch den Zufall gegebene Anordnungen zu studieren, was, wie
es scheint, hier auch vollständig unterblieben ist.
Die Kenntnisse über Konsanguinität beim Menschen beschränken
»ich daher auf Hereditätsforschungen an legalen Verwandtenehen im
Sinne der George Darwinschen Darlegungen, ferner an ärztlich gut
beobachteten Geschlechterreihen, wie sie in den Herrscher-, Aristo¬
kraten- und Patrizierfamilien gegeben sind, weiter auf die in rück¬
läufiger Richtung liegende Untersuchung an den Familien Geistes¬
kranker nach etwaiger Konsanguinität bei den Voreltern.
656 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
Bahnbrechend war Dijerines 9 ) Arbeit mit seinen Untersuchungen
an der Geschlechterreihe der spanischen Habsburger, deren vielfache
Verwandtenehen unter Belasteten zu einer außerordentlichen Fülle und
Variabilität geistiger Erkrankungen bei den Deszendenten führten.
Oöhlert ging D&j&rine voran, als er andere, darunter zur Zeit seiner
Studien noch blühende Regentenfamilien durchforschte. Seine Statisti¬
ken ergaben ein wahrhaft wertvolles und zahlenmäßig sorgfältig belegtes
Material. Indem er als Degenerationsresultat ein Einzelsymptom, die
Kinderlosigkeit, heranzieht, fand er in der Dynastie der Capetinger
unter 118 Ehen 41, in der der Wettiner*) unter 28 Ehen 7 und bei
den Wittelsbachem unter 28 Ehen 9 imfruchtbar. Von insgesamt
175 Ehen zwischen Blutsverwandten in Familien, wo nach Lage der
Sache Nachkommenschaft nicht nur erwünscht, sondern eine erste
Bedingung, eine beabsichtigte Kinderlosigkeit also ganz auszuschließen
ist, sind demnach 57 imfruchtbar. Daß diese 31,6%, die gegen alle
Staatsraison gehen, nicht den die Völkerschicksale leitenden Politikern
zu denken gegeben haben, daß kluge Ärzte nicht längst auf diese Übel
hinwiesen, beweist einmal, daß die Staatsklugheit im allgemeinen bei
Festlegung der Ehemöglichkeiten in Herrscherfamilien mehr an die
näherliegenden Vorteile dachten, die in dem „tu felix Austria nubes“
ausgedrückt sind, als an die Fortpflanzungsfähigkeit der Einzelpaare.
Vielleicht wurden infolgedessen die Ratschläge der Leibärzte gelegent¬
lich überstimmt. Noch näher liegt die Annahme, daß die Wissenschaft
der Erblichkeitsforschung doch noch eine recht junge ist und der
denkende ärztliche Berater in einem so hochwichtigen Falle, wie eine
Fürstenehe dies war, unmöglich mit allgemeinen Hindeutungen, denen
der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Kernes fehlte, Erfolg haben
konnte.
Rohleder 31 ), der sich mit den hier angezogenen Fragen in vielen
seiner Schriften energisch beschäftigte, will, was etwas ganz Nahe¬
liegendes ist, scharf unterschieden wissen zwischen Inzest und Inzucht.
Er definiert; „Inzest ist die Kindererzeugung bzw. Begattung in allzu¬
naher Blutsverwandtschaft im gesetzlich verbotenen Sinne, Inzucht
die in weiterer Blutsverwandtschaft im gesetzlich erlaubten Sinne.“
Nach Schiller-Tietz 35 ) haben die Tierzüchter für die verschiedenen
Grade von Blutdifferenz, d. h. für die Intensität der Blutsverwandt¬
schaft zwischen den beiden zur Nachzucht bestimmten Geschlechtern
eine bestimmte Terminologie geschaffen. Paarung von Geschwistern
= Inzestzucht, von Geschwisterkindern oder unter sonst nachweisbar
*) Allgemein bekannt ist die Sage vom Hause Wettin. Da ein im Purpur ge¬
borener Thronfolger zum Protestantismus übertreten müßte, sei einem solchen
Ereignis, wie das Volk glaubt, durch angeblich konfessionelle, okkult gedachte
Einflüsse bisher immer gewehrt worden, eine ganz interessante ätiologische Mythe
zur Erklärung der Kinderlosigkeit.
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
657
nahen Verwandten = Familienzucht, von Angehörigen derselben Herde,
desselben Stammes oder Schlages = Inzucht im engeren Sinne, bei
größerer Differenz Kreuzung. Im übrigen teilt Schiller- Tietz Charles
Darwins , des Vaters Ansicht, daß es auch eine zu große Blutdifferenz
geben könne, die zu Atavismus und Verwilderung führe. Darwin hat
sich bekanntlich energisch gegen alle Arten von Mischlingsrassen unter
den Menschen ausgesprochen. Von Livingstone aber solle das seither
viel zitierte Wort stammen, das er gelegentlich der sehr schlecht aus¬
gefallenen Mischungen von Negern, Indianern und Spaniern geprägt
habe: „Gott schuf die schwarzen Menschen, und Gott schuf weiße
Menschen, aber der Teufel machte die Halbrassen.“
Wenn die vielfach angenommenen oder durch Erfahrungen belegten
Schädigungen der Inzucht — z. B. ganz fehlende oder degenerierte
Deszendenz — von den Autoren betont oder in den Vordergrund
gestellt werden, so wissen wir über die Früchte des Inzestes, wie
schon erwähnt, fast gar nichts. Wir nehmen die bekannten Teil¬
strecken zu Hilfe, um uns den Überblick von den noch nicht be¬
kannten Gipfeln vorzustellen. Als Etappe auf diesem Wege hat die
Familienforschung an infolge ihrer prominenten Stellung gut beobach¬
teten Geschlechterreihen gute Dienste geleistet. Untersuchungen, die
sich über breite Massen erstrecken, sind meist nicht von so bestechender
Einfachheit und Klarheit, doch nicht von geringerem Wert. Die Erb¬
lichkeit einzelner imponierender Eigenschaften zog schon vor der
Entdeckung der Mendelschen Gesetze die Aufmerksamkeit der
Forscher auf sich. Orandidiers 14 ) bekannte Arbeiten über die Bluter
von Tenna z. B. brachten ein gut erfaßtes Material betr. Vererbung
einer krankhaften Einzelveranlagung, der so charakteristischen Hämo¬
philie, aus einer durch jahrhundertelanges Durcheinanderheiraten aus¬
gezeichneten, zahlenmäßig sehr beschränkten Volksgruppe, den Ein¬
wohnern eines abseits und hochgelegenen Alpendorfes Graubündens.
Als Übergang ins Allgemeine kommen weiter gefaßte Arbeiten in Frage,
wie die Krauß sehe tabellarische Durchforschung der Verwandtschafts¬
ehen in Frankreich, Bayern, Preußen und Ungarn, verbunden mit der
Prüfung der Erblichkeitsverhältnisse in den preußischen Irrenhäusern.
Gleich vorweggenommen sei, daß dieser Verf. eine Verstärkung der
Erblichkeitseffekte eben durch die Blutsverwandschaft sehen will.
Immerhin glaubt er sich weder für noch gegen die Verwandtschafts¬
ehen entscheiden zu sollen, schlägt aber vor, daß man sich vor dem
Eingehen einer solchen Ehe mit dem praktischen Arzte beraten möge.
Wenn pathogene Eigenschaften bei den meisten Forschem als Ver¬
erbungsgut ganz besonders bezüglich inzüchterischer Verhältnisse ge¬
wertet wurden, so geht Reibmayr *•) bei seinen auf große Massen und deren
geschichtliche und politische Entwicklung hinzielenden Betrachtungen
658 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
auf ganz neue Gesichtspunkte hinaus. Er sucht Zusammenhänge, die
zwischen dem politischen Charakter einer Bevölkerung und deren
eventuellen Verwandtschaftsehen bestehen. Er unterscheidet Staaten-
leben von konservativem und von liberalem Charakter. Den ersten
weisen nach ihm alle Kasten und Völker auf, die das Inzuchtsprinzip
exklusiv betonen. Der Grad der konservativen Gesinnung stehe im
gleichen Verhältnis zu dem Grade der Inzucht. Dagegen kämen Völker¬
schaften, welche einer fortwährenden stärkeren Vermischung mit
einem von dem ihren an Charakter verschiedenen Blute ausgesetzt
sind und bei denen es nie zu einer über mehrere Generationen wäh¬
renden Inzucht kommen kann, zu eminent liberalem politischen
Charakter. Daß im übrigen der aus Reibmayrs Prämissen hervor¬
gehende Gesamtcharakter eines Volkes — konservativ oder liberal —
sich nicht immer mit der Parteizugehörigkeit gleichen Namens und
gleicher Farbe deckt, läßt sich am jüdischen Volke beweisen. Reibmayr
sagt: ,,Die beiden Musterinzestvölker des Altertums — die Ägypter
und die alten Juden — haben darum auch den konservativsten poli¬
tischen Charakter aufzuweisen.“ Die Erscheinung, daß die Juden,
soweit wir sie in Europa zwischen ihnen rassefremden Elementen
lebend kennen, durchweg liberal und studiosi rerum novarum sind,
erklärt sich wohl damit, daß ihre konservativen Anschauungen alle auf
Erhalten ihres Stammes und seiner Eigenheiten hinausgehen, der
politische Liberalismus aber, den sie innerhalb ihres Wirtsstaates
entfalten, ja nur ein Mittel ist, um ihre eigenen orthodoxen Einrich¬
tungen innerhalb der fremden Umwelt zu stützen, was selbstverständ¬
lich unter liberalen Einrichtungen bei den Wirten am besten möglich
ist. Ihr Liberalismus ist im Grunde nur ein weiterzielender, verdeckter
Konservativismus. Reibmayr gibt einen Ausblick auf eine andere Er¬
klärung des heftigen Liberalismus bei fast allen europäischen Juden. Er
sagt, im jüdischen Volkskörper habe es immer etwas Mischblut gegeben:
Saduzäer, Galiläer, Samaritaner, die liberaler Gesinnung waren. Der
orthodoxe Inzuchtjude sei aber stets konservativ gewesen. Indem
Reibmayr betont, daß konservativ oder liberal sein stets eine Wir¬
kung des ererbten Blutes ist, weist er darauf hin, daß diese Tatsache
mit der Beobachtung der Tierzüchter übereinstimme, wonach durch
künstliche Zuchtwahl ein bestimmter Charakter nur durch eine Inzucht
von mindestens 6—7 Generationen fixiert, konservativ gemacht werden
kann, während durch öftere Vermischung besonders mit einem Blute
von weit abstehendem Charakter wohl eine größere Variation des
Charakters, aber auch fortwirkende Rückschläge und darum im bio¬
logischen Sinne geradezu charakterlose Individuen hervorgehen müßten.
Die Ansichten über Konsanguinität und Geisteskrankheiten bzw.
abnorme geistige Veranlagung sowohl im superioren als im inferioren
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
659
Ausmaß lassen sich schließlich dahin zusammenfassen: Blutsverwandt¬
schaft in legaler Distanz, wie zwischen Geschwisterkindern, Oheim-
Nichte, Tante-Neffe, ist als solche nicht als ätiologischer Faktor für
Geisteskrankheiten anzusehen. Häufigere Inzuchtheiraten innerhalb
derselben Familie sind geeignet, eine allmähliche Degeneration, Ge¬
burtenrückgang, Kindersterblichkeit und Auftreten von abnormen
Charakteren von Geistesschwachen und Willensschwächen hervor¬
zubringen. In belasteten Familien oder Stämmen (belasteter Genotyp:
Karaitengemeinde in Halicz) wirkt die Konsanguinität durch die
Akkumulation kranker Erbmassen als ein die Psychopathie innerhalb
der Gruppe steigerndes Moment, da die Reinigung durch den aus¬
giebigen Zufluß fremden Blutes fortfällt.
Die Neigung zu Verwandtenehen läßt sich übrigens für den Einzelnen
als Degenerationsmoment nicht ganz von der Hand weisen, da sie
namentlich oft von seiten des Mannes aus Bequemlichkeit, aus Mangel
an Eroberungsgelüsten und aus Widerständen gegen Kämpfe, welche
eine andere Ehewahl herbeiführen könnten, eingegangen werden. Auf
der anderen Seite ließe sich, ohne an die berüchtigten Ödipuskomplexe
zu denken, die Wahl einer Gattin, eines Gatten innerhalb der eigenen
Familie als eine Art potenzierten Rassegefühles ausdeuten, das die
schätzenswerten Eigenschaften des eigenen Verwandtentypus, die be¬
wunderten der Mutter, die respektierten des Vaters, die sich bei einem
Vetter, bei einer Base wiederfinden, gern in das eigene Heim verpflanzt
und bei seinen Kindern wiederzufinden hofft.
Über die Deszendenten sogenannter blutschänderischer Beziehungen,
Kinder von Vater und Tochter, von Mutter und Sohn oder von Ge¬
schwistern ist zu wenig bekannt, als daß eine psychopathische Heredität
wissenschaftlich daraus bewiesen werden könnte. Anzunehmen ist sie
überall da, wo die Zivilisation neben einem inneren mit der Furcht
vor der Strafe auch einen äußeren Widerstand geschaffen hat, wo
demnach ein heftiges Begehren sich bis zum Krankhaften steigern muß,
um die von der Kultur gesetzten Schranken zu durchbrechen. Ihre
Lockerung ist nur allzuhäufig eine pathologische infolge von Alkoho¬
lismus, sexueller Übererregbarkeit, psychoneurasthenischen Affekten
und einer damit zusammenhängenden Willensschwäche usw. Daß im
übrigen unbewußte blutschänderische Verbindungen infolge illegaler
und ehebrecherischer Geburten Vorkommen, durch welche das Blut
zu seinem Ausgangspunkt zurückfindet, ist wohl nicht als so häufig
anzunehmen, wie Ibsen das der Frau Alving in den Gespenstern in den
Mund legt, als sie den Plan, ihren Sohn mit seiner illegitimen Halb¬
schwester, also zwei Kinder desselben Vaters zu verheiraten, erörtert
und dem schaudernden Pastor Manders sagt: „Glauben Sie nicht, daß
es da draußen im Lande viele Ehepaare gibt, die ebenso nahe verwandt
660 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
sind?“ Bemerkenswert ist nur, daß eine Richtung wie die damals
als Mode in Skandinavien herrschende, welche die Umwertung der bis
dahin gültigen Gesellschaftsmoral gleichzeitig mit Hereditätsfragen
verknüpfte, so gar keine Scheu vor dem Weitergeben und Potenzieren
der Erbmasse zeigt. Gerade in den Gespenstern, die gewissermaßen
um das als Ausfluß der Erblichkeit ungünstiger Eigenschaften Frau
Alving revoltierende Erlebnis im Blumenzimmer und dessen erotische
Momente herumgeschrieben sind, muß ein solches Spiel, wie Ibsen es
Frau Alving zuschiebt, überraschen.
Biologisches zur Inzestfrage.
Es war nicht durchführbar, die historischen Erwägungen des vorher¬
gehenden Abschnittes ganz von biologischen Bemerkungen zu trennen,
wie es andererseits nicht anging, den biologischen Teil ganz frei von
historischen Bemerkungen zu lassen, und sei es auch nur, um auf die
Entwicklung der biologischen Gesetze und ihres historischen Werdens
gelegentlich ein Streiflicht zu werfen.
Seit der Wiederentdeckung der Mendelschen 24 ) Gesetze, also seit
Anfang dieses Jahrhunderts, haben sie eine Reihe von Autoren zum
Studium der einschlägigen Verhältnisse im Tier- und Pflanzenreich
angeregt. Die Gesetze der exakten Erblichkeitsforschung wurden,
womit Mendel schon den Anfang gemacht hatte, in der Mehrzahl von
Botanikern und an Pflanzenmaterial gefunden. Auf Mendels Lehren
fußend, diese aus- und auf ihnen weiterbauend, haben Johannsen 18 ),
de Vries 40 ), Correns 7 ) und viele andere an dem großen Bau der Erb¬
lichkeitsgesetze gearbeitet. Namentlich Johannsen gelang es, durch
Festlegen eines Phänotyps neben dem die identisch vererbbaren Eigen¬
schaften umfassenden Genotyp bis dahin Unerklärliches zu erklären.
Der Begriff der Varianten und Modifikationen ( Nägeli) wurde er¬
weitert, und die schon lange praktisch bekannten Mutationen nach
de Vries als den Gesetzen der Vererbung folgend erkannt. Die Ver¬
suche der Botaniker gingen Hand in Hand mit den Versuchen an
niederen Tieren.
Die Analogien zwischen Menschen und tieferstehenden Gliedern
der Entwicklungsreihe sind zwar Wegweiser, aber keine Zielzeiger,
besonders wenn sie sich auf so femliegenden Gebieten bewegen, wie
z. B. die, über welche in einer neueren Arbeit von Meisenheimer a )
berichtet wird, nach welchem freilebende Nematoden in steter Selbst¬
befruchtung über 40 Generationen weit ohne jede Schädigung gezüchtet
werden konnten, oder fortgesetzte Kreuzungen einer Fliegenart (Droso¬
phila ampelophila) in jahrelang durchgeführter Geschwisterzüchtung
bis zu 75 Generationen keinerlei störende Beeinflussungen der Vitalität
ergaben. Daneben führt der Verf. andere Beobachtungsreihen an,
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
661
welche ebenso offenbar eine schädigende Wirkung fortgesetzter Inzucht
erkennen lassen, die sich in einer Herabminderung der Fruchtbarkeit
ausdrückt. Sie wurde an einer anderen Zucht der Drosophila beobachtet,
ferner bei Batten, wo die Abkömmlinge der 20. Inzuchtsgenossen¬
schaft 40—50% unfruchtbare Paarungen ergaben. Bei Mäusen trat
schon nach wenigen Generationen von Geschwistermischung hoch¬
gradige Unfruchtbarkeit ein. Eine weitere Degeneration zeigte sich
bei Batten in der Form geringer Körpergröße, weitgehender Hinfällig¬
keit und großer Sterblichkeit.
Nachdem das zerstreute Material über Inzestverhältnisse beim
Menschen keine verwendbaren Grundlinien zeigte, dasjenige über
Inzucht zum Teil entgegengesetzte Resultate ergab, die Experimente
an niederen Tieren auch keine genügende Klärung schufen, verdanken
wir den wissenschaftlich geleiteten Tierzuchtanstalten eine außer¬
ordentliche Förderung der einschlägigen Fragen auch bezüglich des
Menschen, soweit das Experiment an höheren Tieren für ihn in Betracht
gezogen werden kann und Analogieschlüsse gestattet. Besonders
interessante Beobachtungen sind in den Flugschriften der Deutschen
Gesellschaft für Züchtungskunde — zunächst sei an Henseler 16 )
erinnert — zusammengetragen worden.
Weit entfernt von ethischen Erwägungen und beim Tierversuch
nicht von ihnen beschwert, gingen die Autoren auf ihr Ziel los, den
Zusammenfluß naher und nächster Erbmassen zwecks Bildung neuer
Individuen zu studieren und daraus die Berechtigung oder Nicht¬
berechtigung inzestuöser und inzüchterischer Elternschaft herzuleiten.
Nur beim Pflanzen- und Tierversuch war es überhaupt möglich, die
verschiedensten Grade verwandtschaftlicher Nähe in abwechslungs¬
reichen Kombinationen und in absichtlich gewählten Reihen besonders
unter Vermischung einmal von Aszendenten mit Deszendenten und zum
andern von Kollateralen miteinander in der Unmittelbarkeit zu stu¬
dieren, wie es zwischen Eltern und Kindern einerseits und Geschwistern
anderseits gegeben ist.
Noch ehe die praktischen Versuche der Tierzüchter gemacht wurden,
lag es nahe, die Zuchtbücher und Stammbäume der landwirtschaft¬
lichen Versuchsanstalten nach Fehlprodukten zu durchforschen; doch
ergab dies wenig für das Studium, da die mit Fehlem behafteten, dege¬
nerierten Tiere als wertlos zur Zucht aus den Anstalten entfernt und
in den Stammbüchern nicht weitergeführt werden.
Einen interessanten historischen Abriß über den zeitlichen Wechsel
der Ansichten über Inzucht und Inzest bei den Tieren gibt der Wissen¬
schaftler der deutschen Haustierzucht Wilsdorf 12 ), der durch Pusch -
Webers 21 ) Versuche über die Verwandtschaftszucht in geistvoller Weise
ergänzt wird. Die hier wirklich naheliegenden Analogien mit mensch-
662 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
liehen Verhältnissen sind meines Wissens noch viel zu wenig beleuchtet
worden. Wilsdorf weist darauf hin, daß schon die älteren griechischen
und römischen Züchter eine Inzestscheu ablehnten und die Vererbung
eines günstigen Komplexes für viel sicherer hielten, wenn unter den
Ahnen dasselbe gute Tier mehrmals vorkomme, indem z. B. ein Stamm¬
vater mit seiner Tochter gepaart wurde. Weber ergänzt diese Mitteilung,
indem er Aristoteles zitiert, nach welchem die Hengste sich ohne Scheu
mit ihren Müttern und Töchtern gepaart hätten. Eine Stuterei galt
damals erst für vollkommen, wenn die Hengste ihre eigenen Nachkommen
belegten. Später hätten die Griechen und Römer die Ehen zwischen
nächsten Blutsverwandten auch im Tiereich für unnatürlich gehalten.
Weber zitiert Varro — gemeint ist wohl der 116 v. Chr. Geburt lebende
römische Gelehrte Marcus Terentius Varro , der neben seinen poetischen
Werken ein Buch „Vom Landbau“ schrieb — als Beweis dafür, daß
bei den Pferden geradezu ein Widerwillen gegen Inzestpaarung als
bestehend angenommen wurde. Ein Hengst, der seine, arglistiger¬
weise mit einem Fell bedeckte Mutter belegt hatte, habe, als er den
Irrtum bemerkte, den Stallknecht totgebissen, und nach dem ums
Jahr 200 lebenden Dichter Oppianos rannten sich unter den gleichen
Umständen Hengst und Stutenmutter die Köpfe an einem Felsen ein.
Diese der spätklassischen Zeit angehörenden Ansichten erhielten sich
zum Teil in populärer Form weiter in den Kreisen der Tierzüchter
eine weitgehende Anhängerschaft, offenbar in innigem Zusammenhang
mit den Wandlungen der Anschauungen über den humanen Inzest
von den Natur- zu den Kulturvölkern, welche ihn für den Menschen
als moralisch verwerflich unter hohe Freiheitsstrafen stellten, nach
Weber wahrscheinlich aus folgenden Gründen:
1. Furcht vor Schwächung der Nachkommen,
2. Verhütung der Unzucht innerhalb der Familie,
3. Verhütung der Ansammlung großer Vermögen.
Von diesen Gründen kommt für die Tierzucht nur 1. in Betracht;
aber die Übertragung der Inzestscheu ist so stark, daß eine wissen¬
schaftliche Zusammenfassung der herrschenden Ansichten durch Prof.
Hermann Settegast 36 ) an der Tierärztlichen Hochschule Berlin sich zur
Lehre von der Degeneration infolge von Inzest und Inzucht verdichtet
und die Züchter, besonders Deutschlands, wie Wilsdorf berichtet, lange
Zeit zu einer Mischung von Blut aus allen Zuchten und Zuchtgebieten
trieb. Bei diesen Zuchtmethoden und bei der Nichtachtung der Fami¬
lienzucht wurden, wie die Erfahrung zeigte, viele vererbungskräftige
und leistungsfähige Stämme geschwächt und viele wertvolle Tiere aus
der Zucht eliminiert. Wilsdorf spielt dann zugunsten der Inzucht auf
die menschlichen Verhältnisse auf dem Lande und in kleinen Städten
mit seßhafter Bevölkerung an, wo die Verwandtschaftsbeziehungen unter
an Berliner weiblichen Fttrsorgezöglingen.
663
den Familien sehr groß sein kann und immer wieder verwandtschaftliche
Linien Zusammenkommen, ohne daß die Erhaltung der Basse, ihre Gesund¬
heit und kulturelle Entwicklung geschädigt wäre, Ansichten, mit denen
er sich ungefähr zu Reibmayrs Ideen über Inzucht und deren Folge¬
erscheinungen bekennt. Im ersten Viertel dieses Jahrhunderts wurden
denn auch die Ansichten der wissenschaftlichen und praktischen Tier¬
zucht gründlich geändert, nachdem man beim Studium über den
züchterischen Aufbau in solchen Landesteilen, in denen wenig gemischt
wurde, die überraschende Entdeckung machte, daß gerade die besten
Einzeltiere zu Familien gehörten, die oft von einem einzigen Individuum
ausgingen, ein Umstand, den Settegast gerade vermieden wissen wollte.
Weber illustriert die Inzucht-Inzestfrage im ersten Teil seiner Arbeit
durch folgende Beobachtungen:
1. In Amerika wurde über glänzende Erfolge unter Ausschaltung
fremden Blutes und unter Ausschaltung inzestscheuer Bedenken bei
Shorthomvieh und einigen Hunderassen berichtet.
2. Im Kladruber Gestüt im damaligen Böhmen, das seinerzeit die
historischen Hofzüge nach Wien, also ein tadelloses Material, zu liefern
hatte, konnte man bei lOOjähriger Anwendung inzüchterischer Ma߬
nahmen trotz engster Verwandtschaft über keinen Rückgang an Größe,
Masse, Gesundheit und Knochenbau berichten. Schließlich ließ die
Fruchtbarkeit etwas nach, bis ein geeignetes fremdes Blut eingeführt
wurde.
3. Weniger günstige Erfolge sind von der 100 Stück zählenden
Rosensteiner Herde schneeweißer Rinder zu berichten, die mit einer
einzigen, nicht allgemein durchgeführten Auffrischung seit 1861 inzüch¬
terisch behandelt wurde. Der Stamm blieb gesund und fruchtbar bis
ins folgende Drittel des Jahrhunderts. Dann nahmen die Kühe schwerer
auf, die Kälber wurden leichter und feingliedriger und neigten zu Tuber¬
kulose. Durch Einführung fremden Blutes sind diese Schäden nur
zum Teil ausgeglichen worden.
In Rücksicht auf die mehrfach erwähnten Analogieschlüsse für
menschliche Verhältnisse muß angesichts dieser Tatsachen darauf hin¬
gewiesen werden, daß vermutlich jede andauernde Inzucht zu Schä¬
digungen führt, indem durch sie vorhandene degenerative Eigenschaften,
die dominant oder recessiv jedes menschliche Einzelwesen in sich birgt,
eine stärkere Steigerung erfahren und die Individuen, die einen früher,
die anderen später, je nach der Kraft der Rasse, d. h. je nach dem
Fehlen oder Überwiegen der degenerativen Eigenschaften, bei völliger
Inzucht erliegen. Das Kladruber Gestüt, ein Stamm Schimmel und ein
Stamm Rappen, hat von Anfang an eine bestimmte nicht erst erzüchtete
Farbenauslese getroffen und damit lange Zeit gute Erfolge erzielt.
Die Rosensteiner weißen Rinder aber waren ein Ausles eprodukt und
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII. 43
664 H. Fr. Stelzner: Der Inzest mit kasuistischen Beobachtungen
mit ihnen eine blonde Tierrasse von größerer Zartheit gegeben, woraus
die schnelle vollständige Degeneration sich erklärt, die nicht auf die
züchterischen Versuche der letzten Jahre, sondern auf die vielleicht
viele Jahre vorher schon beginnende Auslese der seltenen weißen
Rinder sich bezieht. Bei den Shorthoms und den stabilen Hunde¬
rassen hatte man von Anfang an vermutlich auf alle guten und tüchtigen
Rinder- bzw. Hundeeigenschaften Gewicht gelegt, ohne sich um die
eine oder andere vielleicht nur äußerliche Einzeleigenschaft zu küm¬
mern. Auf den Menschen übertragen, würde das bedeuten, daß Indi¬
viduen mit einer guten mittelständigen und ausgeglichenen physischen
und psychischen Veranlagung ohne Schaden eine weitgehende Inzucht
vertragen, daß dagegen über und unter dem Mittel stehende Einzel¬
wesen bereits als Degenerationsprodukte anzusehen sind und wo
innerhalb einer autochthonen, eng umfriedeten Gemeinschaft solche
gehäuft auftreten, mit allen Mitteln gegen die Inzucht zu arbeiten ist.
Das Genie verzehrt die Kraft seiner Nachkommen mit und hinterläßt
ihnen selten eine günstige Erbmasse. Man denke an Goethe und viele
andere. „Nur selten findet auf der Enkel Brauen der Ahnen große
Züge ihr geschrieben.“ Dagegen hat der Schwächling als Aszendent
überhaupt nicht über Schätze mehr zu verfügen, und seine Nachfahren
sind infolgedessen auf Zufallsgewinne aus der Gesamterbmasse ange¬
wiesen. Alle Individuen der superioren oder inferioren Richtung inner¬
halb eines Clans können zu Inzuchtschäden werden, wenn nicht ge¬
nügendes und günstig gemischtes Fremdblut zuströmt.
Die Inzucht ist, rein biologisch gesprochen, letzten Endes als eine
quantitative Abart des Inzestes aufzufassen. Ihre Spuren konnten
an vielen menschlichen Gemeinden verfolgt, die Verhältnisse mit denen
bei den Tieren verglichen werden. Bei beiden Kategorien ergaben sich
ähnliche Befunde, worauf später noch hingewiesen werden soll (Juden
von Halicz, Bewohner der Insel Schokland u. a.). Mit dem Ausschalten
der SeUega8t sehen Lehren läßt sich auch Rohleders Behauptung nicht
mehr voll aufrechterhalten, die er in den Worten niedergelegt hat:
„Es resultiert bezüglich der Blutsverwandtschaft das wichtige Gesetz,
daß in Blutsverwandtenehen die Nachkommen degenerieren, in Ehen
zwischen Fremden die Nachkommen regenerieren.“
Etwas anders liegen die Konstellationen beim Studium des Inzestes.
Greif- und verwertbare Erfahrungen liegen nur für die historisch beglau¬
bigten Geschwisterehen der ägyptischen Königshäuser und der Inkas
vor, bei deren Sprossen ein Rückgang der verstandesmäßigen Kräfte
in langen Generationsreihen nicht zu konstatieren ist. Wie weit ander¬
weitige seelische Schädigungen, z. B. psychopathische Konstitutionen
der verschiedensten Grade, Vorgelegen haben, ist von der Geschichts¬
forschung nicht bestimmt überliefert — Dyroff hat für die Inkas darauf
an Berliner weiblichen Fürsorge Zöglingen.
665
hingewiesen —: auch besteht wohl kein Zweifel, daß Kleopatra, die
willens- und verstandesstarke Ptolomäerin, eine Reihe psychopathischer
Züge auf wies: Grausamkeit, Sinnlichkeit und schließlich mit 38 Jahren
Verneinung des Willens zum Leben, weil es ihr nicht gelang, die Liebe
des Caesar zu erwerben. Dieser Zug deutet bei der hochintelligenten
Liebeskünstlerin, die aus eigenen Erfahrungen wußte, daß die Objekte
der Liebesrichtung wechselvoll und ersetzbar sind, auf einen krank¬
haften melancholischen Zustand, der ihr klares Denken einengte. Auch
was über den letzten der Sonnensöhne berichtet wird: übertriebene
Eitelkeit, mystische und abergläubische Erwartungsschauer vor dem
weißen Heiland, die seine Energie lähmten, neben Instinkten der Grau¬
samkeit ein weichlicher Charakter, lassen Atahualpa auch als dögön^rö
supörieur erscheinen. Jedenfalls haben wir hier hochrassige Geschlechter
vor uns, deren Inzest eine Regentenpflicht war und nicht etwa aus
defektiver insonderheit verbrecherischer Anlage hervorgegangen ist.
Da das moderne Leben noch immer genügend Gelegenheit gibt,
Inzestpaarungen kennenzulernen und einen weitaus größeren Teil nicht
bekannt werdender anzunehmen, so bleibt es sicher von Bedeutung, auf
das Wesen der Inzestfrüchte näher einzugehen. Dazu haben wir aber
praktisch nur den Weg der Analogie mit Inzestpaarungen bei höheren
Tieren. Der 2. Teil der Pusch- Weber sehen Arbeit gibt über dieses
Kapitel wichtige Aufschlüsse. Weber beobachtete die durch Prof. Pusch ,
Lehrer an der Tierärztlichen Hochschule Dresden, zum Zwecke einer
weitgehenden Inzestzucht gehaltenen Tiere — 9 Böcke und 18 Ziegen —,
zwischen denen a) Fremdpaarungen, b) Paarungen in weiterer Ver¬
wandtschaft und c) solche in engster Verwandtschaft vorgenommen
wurden. Die daraus sich ergebenden Resultate publizierte Weber
und berichtete zunächst folgendes:
1. 12 Fremdpaarungen mit 6 Ziegen lieferten 26 Zickel, von denen
25 gut, 1 (= 3,83%) schlecht waren.
2. 9 Paarungen in engerer und weiterer Verwandtschaft mit 7 Ziegen
lieferten 18 Zickel, von denen 15 gut, 3 (= 6,07%) schlecht waren.
3. 8 Paarungen von Sohn und Mutter mit 3 Ziegen lieferten 15 Zickel,
von denen 10 gut, 5 (= 33,33%) schlecht waren.
4. 6 Paarungen von Vater und Tochter mit 6 Ziegen lieferten 7 Zickel,
von denen 2 gut, 5 (= 71,4%) schlecht waren.
5. 5 Paarungen zwischen Zwillingsgeschwistem lieferten von 5 Ziegen
5 Zickel, von denen 2 gut, 3 (= 60%) schlecht waren.
6. 2 Paarungen zwischen Halbgeschwistem mit 2 Ziegen lieferten
5 Zickel, von denen 2 gut, 3 (= 60%) schlecht waren.
Ohne die Eltemqualitäten näher zu beleuchten, ergibt diese Tabelle
mit Gewißheit eine Zunahme der schlechten Eigenschaften, von der
Fremdpaarung mit 3,83% angefangen bis zu 71,4% Fehlprodukten
43*
666 H. Fr. Stelzner: Der Inzest Mit kasuistischen Beobachtungen
bei den Vater-Tochter-Paarungen ansteigend. Ob ein Gesetz aus dem
Umstand herauszulesen ist, daß gerade die letztgenannte Paarungs¬
einstellung soviel schlechtere Resultate, auch nach Richtung der
Jungenzahl ergibt (6 Paarungen lieferten nur 7 Zickel) gegenüber dem
Sohn-Mutter-Inzest (liefert 33,33% Fehlprodukte und aus 8 Paarungen
15 Zickel), bleibt zu erwägen und weiter zu verfolgen. Paarungen zwi¬
schen Zwillings- und zwischen Halbgeschwistem ergeben nach Rich¬
tung der Fehlprodukte das gleiche Resultat (60,0%), dagegen haben
die letztgenannten mit einer Jungenzahl von 5 auf 2 Paarungen erheb¬
lich bessere Erfolge als die 5 Zwillingspaarungen mit nur 5 Zickeln.
Von größter Wichtigkeit ist es, daß Pusch- Weber nicht davor zurück¬
schreckten, degenerierte Individuen in inzestuöser Paarung weiter¬
zupflanzen, weil das im Tierexperiment Gebotene den blutschänderi¬
schen Beziehungen unter Menschen mit degenerierter Veranlagung
nahekommt, zu der das Inzestverbrechen in innigem Zusammenhänge
steht.
Ein kurzer Abriß der aus stärkster Inzestzüchtung hervorgehenden
Familie ergibt folgendes:
Eine gesunde Toggenburger Ziege wird, trächtig von einem imbe¬
kannten Bock, aus der Schweiz an die tierärztliche Versuchsanstalt
nach Dresden gebracht und bringt hier einen scheinbar gesunden Sohn,
Anton I, zur Welt.
Diese Toggenburgerin wird gedeckt:
1. von ihrem Sohn Anton I, 1 / 2 Jahr alt. Aus dieser Paarung ging
neben einem sehr gut entwickelten Bock ein degenerierter — müdes
Auge, verdickte Backenknochen, gespreizte Körperstellung wegen
Knochenschmerzen, Tod im Alter von 2 Jahren an Hinfälligkeit —
hervor;
2. von ihrem Enkel Anton II, dem Sohn des Anton I und einer
fremden Saanenziege. A. II entwickelte sich anfangs gut, mußte aber,
1 Jahr alt, wegen Knochenweiche getötet werden. Das Produkt von
A. II aus der Toggenburgerin ist A. III, der bis auf geringes Zurück¬
bleiben der Körpergröße normal war;
3. von ihrem Sohn A. III. Das Produkt ist der stark degenerierte
A. IV, der sich schlecht entwickelte und schließlich an allgemeiner Ent¬
kräftung und Nierenentzündung, fast 2 Jahre alt, einging;
A. III deckte unter anderen eine gesunde Erzgebirgsziege. Das Produkt ißt
eine zunächst gesunde Ziege, die aber wenig widerstandsfähig war und wegen
einer leichten Lungendrüsentuberkulose getötet werden mußte. Vorher war sie
von ihrem Vater A. III gedeckt worden, das Produkt ein rachitisches Zickel, das
im Alter von 18 Tagen getötet wurde.
4. von ihrem Sohn A. IV. Das Produkt, eine Ziege X, zeigt starke
Entartungserscheinungen, geringes Körpergewicht, schlechten Emäh-
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
667
rungszustand, ist gleichgültig und stumpf gegen die Umgebung, hat
aufgetriebene Hinterkiefer, hält den Kopf dauernd zur Erde geneigt,
breitbeinige Stellung, schwankender, unselbständiger Gang, Fehlen des
Orientierungssinns. Im Alter von 5 / 4 Jahren getötet, ergibt die Autopsie
Knochenweiche, chronische Wassersucht der Himventrikel, chronische
Entzündung des Kleinhimüberzuges;
Dieses Mißprodukt, von ihrem Vater A. IV gedeckt, bringt ein hilfloses, ganz
schwaches Bocklamm, das nicht aufstehen konnte, ohne Pause schrie und 2 Tage
alt starb, zur Welt.
Der degenerierte A. IV deckte u. a. die vorerwähnte gesunde Erzgebirglerin.
Das Produkt ist der gesunde Bruno II, bei dem sich das fremde Blut sehr vorteil¬
haft bemerkbar machte. Er entwickelte sich zu einem ausgezeichneten Zuchttier.
5. von untenerwähntem Bruno, der ihr Enkel väterlicherseits ist.
Das Produkt ist der gesunde A. V, der mit Erfolg im Rassestall einer
Zuchtgemeinschaft verwandt wurde;
6. von A. V. Das Produkt A. VT blieb in Größe und Gewicht etwas
zurück, wurde im Alter von 5 / 4 Jahren hinfällig und lebensschwach
und starb, fast 2 Jahre alt, an Nieren- und Hamröhrensteinen;
7. Von A. VI. Das Produkt, eine Ziege, entwickelte sich schlecht,
besserte sich aber nach dem ersten Zickeln.
Ihr Vater A. VI befruchtet sie. Das Produkt bleibt im Gewicht zurück, ist
im übrigen munter und brachte, von einem fremden Bock befruchtet, ein Zickel
im Geburtsgewicht von 3 kg zur Welt.
Neben der ausgesprochenen Inzestgeneration: Toggenburgerin und
der gesamte Antonstamm, läuft eine durch Fremdzucht entstandene
kräftige Generation.
1. Anton IV (degeneriert) zeugt mit gesunder, blutfremder Erz¬
gebirglerin den gesunden Bruno I und eine gut entwickelte Ziege.
Diese Ziege brachte von ihrem gesunden Zwilling Bruno I ein Böckchen zur
Welt, das sich als weitgehendes Inzestprodukt zu einer sogenannten Ohnmachts¬
ziege entwickelte. Körperlich kam es die ersten 4 Monate gut voran, dann traten
Wachstumsstillstand und gleichzeitig die nervösen Störungen auf, die man bei
Ohnmachtsziegen zu beobachten pflegt. Nach starkem Erschrecken oder wenn
es schnell fortspringen wollte, fiel es um und blieb unter tonischen Krämpfen
am Boden liegen. Währenddes erschien das Sensorium ungetrübt, die Augen
wurden verdreht und unter Schreien starke Angst bekundet. Allmähliche Er¬
holung. Gelegentlich traten die Anfälle ohne jeden Vorboten mitten in der Be¬
wegung auf; durch Schreck konnten sie sofort ausgelöst werden. Stellte man das
Tier während der Anfälle auf die Füße, so blieben die Hinterbeine steif und wurden
nachgeschleppt. Nach jeder Ruhe bestand ohnehin Steifheit im ganzen Hinter¬
teil. Im Alter von 6 Monaten nahmen diese Symptome zu, dazu gesellte sich all¬
gemeine Schwäche, so daß man das Tier tötete. Die Sektion ergab keine Beson¬
derheiten.
Für den Neurologen handelt es sich nach meinem Erachten bei diesem Zu¬
stand um hysterische Anfälle, die ja in den verschiedensten Variationen, beson¬
ders bei Hunden und Pferden, domestizierten Tieren, deren Eigeneinstellung
vielfach die egozentrische Note nicht vermissen läßt, beobachtet wurden.
668 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
2. Bruno I deckt seine Mutter, die Erzgebirglerin, aus welcher
Verbindung 4 hervorragende Zickel hervorgehen, darunter Bruno II.
3. Bruno II deckt ebenfalls seine Mutter, die Erzgebirglerin, daraus
entstehen 4 zunächst sich gut entwickelnde Zickel, darunter 2 Böcke.
Einer davon, Bruno III, entwickelt sich vorzüglich, befruchtet tadellos
und vererbt sich durchschlagend.
In Pusch-Webers Arbeiten ist eine Fülle von Beobachtungen zur
Frage der inzestuösen Degeneration und Wege zur Regeneration gegeben.
Weber betont, daß in der vorgeführten Tierreihe die Inzucht teilweise
recht wunderliche Tiere hervorgebracht habe, und faßt die entstandenen
Nachteile als im Nachlassen der Körpergröße und des Gewichtes, in
dürftigem Ernährungszustand, in Knochenweiche, Stumpfsinn und
Gleichgültigkeit bestehend, zusammen. Dazu kommt noch das labile
Nervensystem der Ohnmachtsziege. Auf menschliche Verhältnisse
übertragen, würde es sich um eine Reihe körperlicher (Rachitis), intel¬
lektueller (angeborener Schwachsinn) und nervöser (Ohnmachtsziege)
Symptome handeln.
Auf eventuelle idiopathische Ursachen der Schädlingsgeburten geht
der Verf. nicht ein. Er schiebt die Minderwertigkeiten der Zuchtpro¬
dukte alle auf den weitgetriebenen, ja krassen Inzest, zu dem man
die Tiere getrieben, betont aber trotzdem, daß die hier gemachten
Erfahrungen die neuzeitlichen Lehren von den Vorteilen hervorragender
inzüchterischer Blutströme in der praktischen Tierzucht nicht abändem
können. Die Versuche waren in ausgiebiger Weise akademisch gedachte
Inzestzuchtversuche, den Inzest betonende. Andererseits aber lie¬
ferte die zweite Versuchsreihe, mit Bruno I angefangen, geradezu
die Beweise dafür, daß die neuzeitlichen Lehren mit Recht verbreitet
würden und daß man in Erkenntnis der richtigen Ausmaße sogar
ohne Schaden bis zur Inzestzucht gehen könne. Webers Ansichten sind
um so mehr zu billigen, als er die angerichteten Schäden lediglich auf
den Inzest schiebt und etwaige originäre Schädigungen aus der Erb¬
masse ganz vernachlässigt, die als entlastend für die Inzestpaarung
anzusehen wären. Aus der Mutter-Sohn-Paarung der Toggenburgerin
mit A. I geht z. B. ein degeneriertes Individuum hervor. Über den
Vatersvater dieses Produktes, der in der Schweiz verblieben ist, weiß
man gar nichts. Von ihm aber scheint das degenerative Element zu
stammen, das durch seinen gesunden Sohn Anton I, bei dem defektive
Erbeigenschaften des Vaters recessiv geblieben sind, auf einen Spröß-
ling gleich beim Beginn der Inzestreihe weitergegeben wurde, während
der andere sich gut entwickelte. Anton II, ein anderer Sohn von A. I,
aus einer gesunden Saanenziege, leidet an Knochenerweichung. Wieder
möchte man auch hier an recessiv gebliebene und hier erst dominant
gewordene Erbeigenschaften denken. Es handelt sich bei Ausstattung
an Berliner weiblichen Ftlrsorgezöglingen.
669
des Individuums um durch Inzucht erworbene und um ererbte Eigen¬
schaften. Die letzten traurigen Glieder der Reihe zeigen das deutlich,
aber daneben auch die Promptheit, mit der andere Individuen auf
Erneuerung durch fremdes Blut unter Ausschaltung der degenerativen
Ahnen antworten. Die nur 2 Tage alt gewordene Mißgeburt eines hilf¬
losen Bocklammes stammt nicht nur aus stark inzestuösen Verhält¬
nissen, sondern sein Vater A. IV leidet bereits an hochgradigen Dege¬
nerationserscheinungen, an noch viel weitergehenden seine Mutter,
die von mir mit X bezeichnete Ziege.
Für die analogen Verhältnisse, wie sie beim Menschen vorliegen
können, ist das außerordentlich wichtig; denn heute wird der Inzest
innerhalb kultivierter Völker kaum anders als unter nervös und psy¬
chisch sowie physisch Degenerierten geübt werden.
Dem Studium menschlicher Inzestfrüchte noch näherzukommen,
wären Beobachtungen an Menschenaffen wichtig und ausschlaggebend
gewesen. Leider teilte mir Herr Prof. Köhler , der Direktor des Physio¬
logischen Institutes der Universität Berlin, auf meine Anfrage mit,
daß die von ihm geplanten Familienforschungen an seinen nach hier
gebrachten Schimpansen, die aus Kamerun stammen und zunächst
in Teneriffa gehalten wurden, durch den Krieg in diesem Sinne unter¬
brochen worden seien, da es ihm unmöglich war, nachträglich die
richtigen Stammbäume zu erfahren, und so wisse er nicht einmal, ob
die einzelnen Tiere überhaupt in irgendeinem näheren Verwandt¬
schaftsverhältnis zueinander gestanden hätten. Vielleicht gibt eine
künftige friedlichere Zeit Gelegenheit, weitere Untersuchungen über
Menschenaffen und deren Inzestprodukte anzustellen, besonders auch
darüber, ob bei den Anthropoiden Andeutungen von Inzestscheu vor¬
handen sind. Jedenfalls ist die Ausbeute zur Klärung der Inzucht-
und Inzestfrage, auch in Beziehung auf den Menschen, durch die Ver¬
suche der wissenschaftlich arbeitenden Forschung an höheren Tieren
eine sehr umfangreiche. Alles, was am blauen Bande der Hypothese
in der Luft schwebte, hat sich zu Wahrheiten verdichtet, die erst
durchdringen konnten, nachdem alte Irrtümer wie die Settegast sehen
Lehren, die immerhin den Anfang der Forscherarbeit bedeuteten, aus
dem Wege geräumt waren. Aschgraue Theorie, Versuche mit Fliegen,
Ratten, Meerschweinchen und anderen Laboratoriumstieren brachten
die Sache nicht viel voran. Der Schritt mußte weiter genommen wer¬
den, und die deutsche Züchtungskunde nahm ihn von den Erbsen
des Pater Mendel bis zu den höheren Haustieren. Während uns die
kleinen Versuchstiere zum Studium der pathogenen Mikroorganismen,
für die Toxikologie und für die Physiologie z. B. der Ernährung die
wichtigsten Dienste geleistet haben, erwarten wir von züchterischen
Versuchen an großen Haustieren noch viel mehr und Wertvolleres
670 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
für die Erblichkeitswissenschaft. Das eng mit dieser verbundene Feld
der psychologischen und psychopathologischen Forschung am Tier, die
selbstverständlich bei den Züchtungsexperimenten einen breiten Baum
einnehmen müßten, ist Neuland, auf dem als erstes Produkt die Gesell¬
schaft für Tierpsychologie die Grenzen nach oben festzustellen suchte.
Die von ihr herausgegebenen Berichte 48 ) über die neuen Beobach¬
tungen an Pferden und Hunden erzählen von den erstaunlichsten
Höchstleistungen. Besonders wertvoll ist Zieglers Vorrede zu den
Berichten, die den wissenschaftlichen Kern der Tierpsychologie erfaßt,
dem begrifflichen Denken bei Menschen und Tieren einige Seiten
widmet, die damit schließen, daß die Tiere von Natur keine Sprache
und kein begriffliches Denken haben, daß sie aber die Sprache der
Menschen verstehen lernen und dadurch gewissermaßen zu begrifflichem
Denken kommen. Die Alalie der Tiere wäre demnach der Haupt¬
grund zum mangelhaften Verständnis der Tierseele. Indem die Experi¬
mentatoren Krall, v. Osten, Frau Möckel im Zählen und Buchstabieren
ein Auskunftsmittel der Verständigung gefunden hätten, habe es sich
gezeigt, daß sie — wie z. B. die Pferde Kraüs — so abstrakte Begriffe
wie Summe, Quersumme, Potenz und Wurzel zu verstehen befähigt
seien (?). So weit werden wenige dem Verf. folgen, auch wirkt seine
Erklärung des Wurzelziehens durch die Tiere nicht überzeugend, aber
durchaus glaublich ist seine Behauptung, daß Pferde und Hunde ein
sehr gutes Gedächtnis haben, auf welcher Eigenschaft das erstaunliche
Kopfrechnen bei ihnen beruhe, vor allem auf einer Merkfähigkeit,
welche größer ist als die der meisten Menschen.
Wissenschaftlich fast ganz vernachlässigt sind bis heute die unteren
Grenzen der Intelligenz beim Tiere, der Übergang zum Schwachsinn
der verschiedenen Grade, wie es bei Weber an einigen der inzestuös
Geborenen angedeutet ist. Der eine aus der ersten Mutter-Sohn-
Paarung hervorgegangene, immer nur als degeneriert bezeichnet# Bock
hat nach dem sehr guten Lichtbild ein müdes und uninteressiertes,
um nicht zu sagen unintelligentes Aussehen. Die aus Anton IV und
der Toggenburgerin hervorgegangene Ziege war während ihres ganzen
Lebens sehr abgestumpft und gegen die Umgebung gleichgültig, das
Orientierungsvermögen so wenig ausgebildet, daß sie ihren Stall bei
der Rückkehr aus dem Laufhofe niemals von selbst fand, also gemessen
an den normalen Intelligenzleistungen dieser Tierart schon als Schwach¬
sinn 2. oder 3. Grades zu bezeichnen. Das Lichtbild dieses Tieres er¬
innert an das zwecklose uninteressierte Herumstehen von Idioten oder
Kretinen. Ganz besonders interessant für den Neurologen und Psychiater
ist die Ohnmachtsziege mit ihrer Überempfindlichkeit gegen äußere
Reize und Schreck, auf die sie mit tonischen Krämpfen ohne Bewußt¬
seinsverlust antwortet, auf menschliche Verhältnisse übertragen, am
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
671
nächsten dem von Salcaki M ) geschilderten Imubacco des Ainu-Volkes
stehend. Hier könnten sich neue Ausblicke auf das Wesen der Hysterie
entwickeln, einer Hysterie, die losgelöst ist von tiefersitzenden Erinne¬
rungsmomenten, die sich demnach auch nicht ganz mit den Freud sehen
Lehren decken würden. Im übrigen ist gerade über Hysterie bei weit¬
gehend domestizierten Tieren, z. B. bei Hunden, schon verschiedenes
berichtet worden. Wichtige, wenn auch nicht wissenschaftlich durch¬
gearbeitete Fingerzeige zur Tierpsychologie und Psychopathologie
gibt Hagenbecks 15 ) in angenehmem Plaudertone, unter dem sich aus¬
gezeichnete Beobachtungen verbergen, geschriebenes Buch. Intelligenz¬
leistungen betreffend, stellt er den Elefanten am höchsten, dessen
Gemütsleben in Liebe und Haß schon als wunderbar differenziertes
aufzufassen ist. Die Intelligenz der anthropomorphen Affen schätzt er
außerordentlich hoch ein, nimmt aber an, daß sie erst durch den intimen
Umgang mit dem Menschen ausgelöst wird und dadurch recht zur
Geltung kommt, also gewissermaßen über das Stadium der Reproduk-
tivität nicht hinausgelangt. Depressive Gemütskrankheiten, reaktive
Psychosen, das Verhalten eines Hundes beim Tode seines Herrn deuten
auf eine hochentwickelte Gemütssphäre. So berichtet Hagenbeck , daß
die von Natur außerordentlich sanguinischen Schimpansen, nach
Europa gebracht, gesund und wohl bleiben, sofern sie nur Spielgenossen,
entweder ihresgleichen oder andersartige, um sich haben. Ganz anders
ist die gemütliche Einstellung des Gorillas, der bei uns selten längere
Zeit am Leben erhalten werden kann. Schon wenige Wochen nach
ihrer Ankunft werden diese Tiere teilnahmslos gegen ihre Umgebung,
verweigern die Nahrung und liegen eines Morgens tot im Käfig. Hagen¬
beck nimmt an, daß seelische Leiden die melancholisch veranlagten Tiere
dahinraffen. Das Studium der metasyphilitischen geistigen und nervösen
Erkrankungen, über deren Eintreten und Ausbleiben wir bisher doch
nur hypothetisch urteilen, ergäbe, sofern man der Tierpsychopatho¬
logie ein weitergehendes Interesse widmen würde, sicher bedeutungs¬
volle Resultate.
Nach den Ergebnissen der Inzucht- und Inzestforschung auf dem
Gebiet der Tierzucht scheint es, als ob die wichtigsten noch ungelösten
Fragen der Neuro- und Psychopathologie nur mit Hilfe der Tier¬
versuche beantwortet werden könnten, nicht mit den künstlichen Labo¬
ratoriumsexperimenten, sondern mit den lebendigen Kräften der Züch¬
tung, mit denen die Deutsche Gesellschaft für Züchtungskunde in so
erfolgreicher Weise arbeitet. Für Inzestfragen wird es für lange hinaus
die wichtigste Quelle der Bereicherung des Wissens über sie sein.
Eine Zusammenfassung, was neben den historischen Inzestbeobach¬
tungen und der psychiatrischen Erblichkeitsforschung in erster Linie
die tierzüchterischen Versuche gezeitigt haben, ergibt folgendes:
672 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
Inzest in hochrassigen Geschlechtern bedingt keine ausgesprochene
körperliche und intellektuelle Degeneration. Neben neuropsycho-
pathischen Schädigungen kommt es zunächst zu einer Herabsetzung
der Geburtenzahlen.
Inzest plus Erbschädigungen des einen oder beider Paarungsteile,
die bei diesen eventuell latent geblieben sein können, führen zu weit¬
gehenden Schädlingsgeburten, selbst wenn der andere Teil eine durch¬
aus gesunde Erbmasse zubrachte.
Der gebotene, nichtkriminelle Inzest, der bei hochrassigen Ge¬
schlechtern langsame ethische und charakterologische Psychopathien
zeitigt, läßt bei Vergesellschaftung mit degenerativen Anlagen weit¬
gehende körperliche und seelische, meist verstandesmäßige, und zwar
himanatomische Störungen beobachten.
Die schon von früheren Forschem als Resultat längerer Inzucht
angenommene krüppelhafte Entwicklung der Sinnessphäre, angeblich
häufige Taubheit und Blindheit, ist wohl in vielen Fällen auf in der
Geschlechterreihe vorkommende Lues, also auf Erbsyphilis zurück¬
zuführen.
Die Tierversuche zeigen mit nicht zu übersehender Deutlichkeit,
daß die als genobiologisch anzusehenden Hereditätsschäden in erheb¬
lichem Maße die Inzestschäden übertreffen, daß letztere durch Zu¬
strömen fremden Blutes wieder ausgeglichen werden können, vererbte
defektive Anlagen dagegen in der einen oder auch in mehreren Gene¬
rationsbreiten gelegentlich latent bleiben, um sich in folgenden wieder
durchschlagend zu vererben.
Inzestscheu und Ethik.
Aus dem vorhandenen Material, das sich auf den Tierversuch und
auf die Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse bei unkultivierten
Völkern bezieht, und aus den Zusammenstellungen legaler konsanguiner
Verbindungen, aus der Überlieferung und der Geschichte lange fort¬
geführter inzestuöser Familien — Ptolomäer, Inkas — ergibt sich,
daß keine so ausgesprochenen Schädigungen der Produkte naher und
nächster Konsanguinität bekannt geworden sind, daß sich etwa daraus
in Ansehung zu erwartender vieler Mißbildungen eine Konsanguinitäts-
oder selbst eine Inzestscheu bei der Allgemeinheit hätte herausbilden
können. Die ganz überzeugenden neuzeitlichen Tierversuche sind
selbstverständlich noch gar nicht Allgemeingut geworden und deuten
ja energisch in derselben Richtung wie die oben angeführten Ver¬
hältnisse. Die Ursachen für die Inzestscheu sind demnach auf anderen
Gebieten zu suchen.
Von einigen Autoren wird bestritten, daß eine gewissermaßen als
Sittengesetz, als kategorischer Imperativ eingeborene Inzestscheu bei
an Berliner weiblichen Flirsorgezöglingen.
673
vernunftbegabten Wesen vorhanden sei. Die Moderichtung will auf
dem Wege der Psychoanalyse sogar zu dem Resultat gekommen sein,
daß der Inzest in jedem Menschen als Komplex verankert sei und daß
der Widerstreit zwischen dem natürlichen Empfinden, d. i. einer
sexuellen Liebe zu dem andersgeschlechtlichen Elter und den aner¬
zogenen historischen Moralbegriffen als eine gewisse Naturnotwendig¬
keit in die Erscheinung trete und die Hemmungen, die erst später als
bewußte sich manifestieren, zu allerlei psychotischen Zuständen führen.
Weder das domestizierte noch das freilebende Tier kennt eine
Inzestscheu. Wie die Ethnographen berichten, werden Sexualvergehen
in unserem Sinne bei vielen heidnischen Naturvölkern ganz anders
bewertet. Kein Naturinstinkt, aber auch kein kategorischer Imperativ
warnt sie vor dem Inzest. Betreffs der Tiere weist Westermarck 41 )
im Gregenteil auf jenen mächtigen Trieb hin, den er das Ähnlichkeits¬
gesetz nennt, nach welchem die Tiere meist Paarung mit anderen
Grattungen ablehnen, dafür eher geneigt sind, innerhalb ihrer engsten
Verwandtschaft zu wählen. Dagegen betont er bezüglich der Ein¬
stellung des Menschen zur Blutschande, daß die Menschen diese nicht
nur etwa deshalb vermeiden, weil sie dazu angehalten werden. Weder
Gesetze, noch Gewohnheiten, noch Erziehung kämen hier in Betracht,
sondern ein Naturtrieb von solcher Gewalt, daß geschlechtliche Liebe
unter nächsten Verwandten zu einer seelischen Unmöglichkeit werde.
Und die Naturvölker tiefstehender Rassen? Abschwächend fährt er
fort, daß eine angeborene Abneigung gegen die Ehe unter nahen Ver¬
wandten zwar nicht vorhanden sei, wohl aber eine Abneigung gegen
eine Ehe zwischen Personen, die von Kind auf nahe beieinander
gewohnt haben. Eine Fülle ethnographischer Tatsachen beweist, daß die
Heiratsverbote weniger gegen die Verwandten als gegen Zusammen¬
lebende gerichtet seien; daraus sei erst das Verbot von Verwandt-
schaftsehen herausgewachsen. Weil aber Verwandtschaft häufig mit
Namensgleichheit Zusammenfalle, so werde gelegentlich auch die Ehe
zwischen Namensvettern ohne jede verwandtschaftliche Beziehung
verboten.
Wo es keine Gesetze gibt, die den Inzest als schuldhaft bezeichnen,
wo kulturelle und zivilisatorische Hemmungen nicht zu durchbrechen
sind, läßt inzestuöses Verhalten keine Rückschlüsse auf seelische
Abnormität zu. Ob bei ungehinderter Liebeswahl, d. h. überall da,
wo reichliche Auswahl vorhanden ist, Vater oder Mutter mit Vorliebe
auf die eigenen Kinder oder Geschwister aufeinander verfallen, oder
ob dies nur in Zeiten sexueller Not bei den Naturvölkern geschieht,
geht aus den Berichten der Reisenden nicht hervor. Im übrigen bedeutet
die Hemmungslosigkeit des Trieblebens in gewissem Sinne auch die
Unterschätzung des weiblichen Teiles. Bei den meisten Naturvölkern
674 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
wird das Weib als Last- und Lusttier betrachtet und findet in diesem
Sinne wahllos Verwendung. Es ist auch möglich, daß, abgesehen von
dem Mangel an gesetzlichen Widerständen, die Entwicklung des Scham¬
gefühles infolge des Mangels an Bekleidung eine andere Richtung
genommen hat und damit zu anderer Einstellung gegenüber dem Inzest
führte.
Mit Einsetzen der ersten gesetzlichen Schranken oder richtiger
mit dem Beginn ethischen und kulturellen Denkens erwacht die Inzest¬
scheu auch bei den tieferstehenden Naturvölkern, die bei höherer Ent¬
wicklung sich herauskrystallisiert als Verneinung geschlechtlicher
Gefühlstöne gegenüber den Eltern, die gleichzeitig Vorbilder und
Erzieher, gegenüber den Geschwistern, die Kameraden sind. Mit dem
Herausheben aus dem animalen Stadium differenzieren sich Geschlechts¬
liebe einerseits und geschlechtslose Zuneigung, die für die Eltern und
Geschwister in erster Linie in Frage kommt, andererseits. Das man¬
gelnde erotische Empfinden innerhalb der engeren Familie beruht
nicht, wie einige Autoren, darunter Marcuse 22 ), wissen wollen, auf Ab¬
stumpfung durch Gewöhnung, sondern ist das Produkt einer höheren
Entwicklungsstufe, welche für die nahen Familienmitglieder andere
Empfindungen bereithält. Welche Imponderabilien bei diesen Akten
feinerer Differenzierungen mitwirken, läßt sich ohne weiteres nicht
festlegen; daß aber solche am Werke waren, ohne daß die Erziehung
hier mit rohen Worten einzugreifen braucht, kann man in jeder Familie
beobachten.
Balk 1 ), ein älterer Rechtsgelehrter, ist im Gegensatz zu Marcuse der
Ansicht, daß das nahe Beisammensein der Blutsverwandten von Kind¬
heit an, die dadurch verringerte Zartheit des Schamgefühles bei sehr
erregbarer Sinnlichkeit zu den Verbrechen des Inzestes führen. Neben
der von Natur vorhandenen und durch uralte sittliche Einflüsse
gewachsenen Inzestscheu muß auch an das Respektsverhältnis erinnert
werden, dessen Mißbrauch häufig auch einem Inzest gleichkommt
und gesetzlich 3 ) ähnlich gewertet wird. Die erotische Note, die z. B.
bei heranwachsenden Mädchen den Lehrern gegenüber mitschwingt
und die sich darauf gründet, daß sie eigentlich nicht den Mann, sondern
die von ihm vorgetragenen Lehren, die Schönheit der Künste, den
Eindruck der Wissenschaften, die Ethik der Religion, mit denen er sie
bekannt macht, bewundern, verstummt in der Regel sofort bei
normal Eingestellten, wenn der Betreffende als Mann und nicht als
Respektsperson darauf reagiert. Der Widerwillen gegen die Verschiebung
der ethischen Grundeinstellung im Verhältnis zwischen Tochter und
Vater, Sohn und Mutter geht auch auf die Beziehungen zwischen
Lehrer oder Erzieher und Schülerinnen, eventuell Schülern, über. Ge¬
rade beim Weibe ist die Erschütterung, aus einem Ideal- ein Sexual-
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
675
Verhältnis werden zu sehen, außerordentlich stark und kann nament¬
lich in einem durch die Pubertätsvorgänge ohnehin aufgewühlten
Organismus und bei der Unmöglichkeit, durch eine Aussprache eine
Reaktion auszulösen, geradezu zu psychotischen Erscheinungen führen.
Ich erinnere mich eines charakteristischen Falles, wo eine Familie in
die größte Bestürzung versetzt wurde durch das Verhalten der eben
vor der Konfirmation stehenden etwa 15jährigen Tochter. Sie weinte
viel, war in ihrem Wesen völlig verändert, erklärte sich unwürdig, zur
heiligen Handlung zu gehen, war aber nicht zu einer Aussprache zu
bewegen. Erst nach Jahren gestand sie ihrer Mutter, daß der zur Zeit
eben erkrankte Religionslehrer sie durch eine Mitschülerin hatte auf-
fordem lassen, ihm einen Krankenbesuch zu machen, da er sie vor der
Einsegnung noch sehen wollte. Bei dieser Gelegenheit hatte der bis
dahin in der reinsten Weise von dem Mädchen hochverehrte Mann
ihr von seiner unüberwindlichen Neigung zu ihr gesprochen, ihr einen
Kuß geraubt, aus welcher Situation sie sich nur durch rasche Flucht
retten konnte. Mit dem Gefühl, daß es nichts Hohes und Heiliges auf
Erden mehr für sie gebe, war sie, dem Selbstmord nahe, umhergeirrt
und bot monatelang ein depressives Bild, aus dem sie als gesunder
Mensch schließlich hervorging, als sie etwas mehr von der Welt kennen-
lemte und einsah, daß sie jedenfalls unschuldig an der Sache war. Sie
verweigerte aber die Schule, von deren Lehrer ihr so Schlimmes geschehen
war, weiter zu besuchen, was die Eltern, ohne den Grund zu kennen,
gestatten mußten. Bei ihnen war ja immer eine heimliche Angst ge¬
blieben, daß dem Mädchen irgend etwas noch viel Schlimmeres in
sexueller Richtung geschehen sein könnte, und die Mutter war erst
nach dem späten Geständnis ganz beruhigt. Scheinbare Charakter¬
veränderungen, Stimmungsumschläge nach der melancholischen Seite,
scheues und gedrücktes Wesen und ähnliches können dem Pädagogen,
dem Schularzt Fingerzeige geben, auf unausgesprochen in der oben
angedeuteten Richtung liegende Leiden zu fahnden. Dem Kinde war
in leichtfertiger Weise ein Himmel zerstört und die Erde um etwas
Köstliches gebracht worden. Schlimmer als das ist der Schock, der
damit auf das Nervenleben ausgeübt wurde. Die Nähe der heiligen
Handlung, die religiösen Erwägungen einer protestantischen Christin,
ob sie unter diesen Geschehnissen noch würdig sei, vor den Altar zu
treten, führten zu Angstzuständen, damit zu Lebensüberdruß, und
wenn die Gelegenheit günstig gewesen wäre, so hätte das gequälte Kind
ohne weiteres einen Selbstmordversuch unternommen.
Ein Blick auf die kulturelle Entwicklung der Inzestscheu führt
weit zurück in die Mythe. Die heidnischen Kulte zeigen unter den
Göttern und Halbgöttern fast ausnahmslos inzestuöse Beziehungen,
die häufig vielleicht nur als Allegorien aufzufassen sind, jedenfalls
676 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
zunächst in naiver Weise keinerlei ethische Bewertungen derselben
betonen. In der nordischen Mythologie geht Wotans Liebe zu seinem
herrlichen Kind, die Geschwisterehen der Wälsungkinder und anderes
bereits die Wandlung zum Schicksalsmotiv ein, verwandt der ödipus¬
sage, wo das Walten des blindwütenden Fatums ,,den von dem Fluch
beladenen, von den Göttern ach so tief gehaßten Mann“ und seinen
Anhang schuldhaft macht. Die psychoanalytische Nomenklatur beging
übrigens einen Denkfehler, als sie die von ihr angenommene sexuelle
Neigung des Kindes zur geschlechtsungleichen Eltemhälfte als Ödipus¬
komplex bezeichnete. Das Motiv sinnlicher Zuneigung ist im Sopho-
kleischen Ödipus so tief vergraben und nebensächlich behandelt, die
fatalistische Note steht so sehr im Vordergrund der Vorstellungen,
daß seine Patenschaft für den von der Psychoanalyse gefundenen
Komplex nur mit Hilfe einer oberflächlichen Betrachtung der Sache
annehmbar erscheint.
Wenn in den Göttersagen der verschiedenen Volksstämme eine
ethische Verdammung des Inzestes kaum zum Ausdruck kommt, so
finden wir in den mosaischen Gesetzen dafür klare Richtlinien und eine
scharfe Verurteilung. Ganz ausführlich werden die für geschlechtlichen
Verkehr verbotenen Verwandtschaftsgrade festgestellt, als welche in
erster Reihe die zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern
und Halbgeschwistem liegen. Die Bestimmungen gehen aber auch
über den Kreis der Blutsverwandtschaft hinaus, zielen demnach auf
ein Reinhalten von sexuellen Beziehungen zwischen Personen über¬
haupt eines Verwandtenkreises ab. Diese Gruppe hat demnach nichts
mit rassehygienischen Erwägungen, sondern nur mit ethischen und
politischen Einstellungen zu tun. Das durch die Verwandtschaft
erleichterte häufige Zusammentreffen der Familienmitglieder soll nicht
zu störenden Einverständnissen zwischen einzelnen führen. Während
bei Inzestfällen innerhalb enger Blutsverwandtschaft beide Inkul¬
paten des Todes sterben sollen, sind die Strafen bei Inzest — sit venia
verbo — ohne Blutschande gemäßigter; aber auch hier werden streng
zu bestrafende Fälle vorweggenommen, so z. B.: „Nimmt ein Mann
ein Weib und ihre Mutter dazu, den soll man mit Feuer verbrennen
und sie beide dazu.“ Milder als die anglikanische Kirche ist dagegen
die Fassung des folgenden Gesetzes: „Du sollst auch deines Weibes
Schwester nicht nehmen neben ihr, weil sie noch lebt“
Blutschande, ebenso wie Sodomiterei und gleichgeschlechtliche
Liebe, waren den Völkern des Alten Testamentes keine unbekannten
Übel. Die Gebote dagegen sind in ihrer Gesamtheit zunächst an den
Mann als den Täter gerichtet, die Frau als Mitschuldige betrachtet,
während § 173 StGB, nur von Verwandten in auf- oder absteigender
Linie spricht und denen der aufsteigenden Linie, ganz gleich ob Frau
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
677
oder Mann, die strengere Bestrafung androht. Der männliche Teil
kann, sofern er das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht hat, als straf¬
freies Objekt und nicht als Teilnehmer gelten. Die mosaischen Gesetze
behandeln ziemlich ausführlich die Verhältnisse zwischen Neffen und
Tante, sogar die Blutsverwandtschaft ausschließenden mit Bruders
Frau, während die Beziehungen des Onkels zur Nichte nirgends erörtert
werden.
Während fast alle Gesetzgebungen kultivierter Völker, ob sie auf
Lykurg, Solon, Papirius, Mohammed, Eycke von Repkow und andere
zurückzuführen, ob sie aus theologischen, philosophischen, biologischen
oder staatstechnischen Erwägungen herausgewachsen sind, Eheverbote
bzw. Verbote sexueller Handlungen zwischen Aszendenten und De¬
szendenten und zwischen Geschwistern in sich begreifen, fordert ein
altes Gesetz der Araber, daß der Sohn die verwitwete Mutter heiratet.
Ein direktes Gebot der Geschwisterehe bestand bei den Ptolomäem,
indem Könige und Königinnen von Ägypten sich nur mit ihrem eigenen
königlichen Blute vermählen durften und Bruder und Schwester als
König und Königin geboren wurden. Ähnlich war es bei den schon
vorher erwähnten Inkas, und zwar galten diese Gesetze gerade zur
Zeit der Hochkultur dieser Völker. Rohleder 81 ) nimmt die Sitte der
Geschwisterehe auch für das Persien des Altertums an. Das Inzest¬
gebot bzw. die Inzestlizenz gelangen aber niemals aus dem götter¬
gleichen Herrscherkreise ins Volk, für das dieselben Inzestverbote
vorgesehen sind wie bei anderen Kulturvölkern.
Im Mittelalter und in der vorhergehenden Zeit, dem das Hesär
Afsäneh, das Buch der 1000 Abenteuer der 1001 Nacht entstammt,
scheint die Duldung der Geschwisterliebe ins Gregenteil umgeschlagen
zu sein; denn in diesen Erzählungen, die homoerotische Beziehungen
ohne Scheu verherrlichen, wird Geschwisterinzest auch von könig¬
lichem Blut als abscheuliches Verbrechen gekennzeichnet. In den
Geschichten der 11. und 12. Nacht wird berichtet, wie der König
seinen toten Sohn mit der toten Schwester eng umschlungen findet,
diesen in schimpflicher Weise schlägt und seinem bestürzten Neffen
erklärt, daß er als Vater mit Zorn und Kummer sehen mußte, wie sein
Sohn eine leidenschaftliche Liebe zu seiner Schwester gefaßt habe.
Er tadelte ihn mit den Worten: ,,Hüte dich vor dieser Schande,
welche weder vor dir jemand begangen hat, noch nach dir begehen
wird usf.“ Daraus geht ebenso die Seltenheit einer derartigen Ver¬
fehlung wie ihre Stellung vor dem Gesetz hervor. Der König spie
seinem toten Sohn ins Gesicht und rief: „Dies ist die Strafe dieser
Welt, aber die Strafe im Jenseits wird noch größer sein.“
In der Renaissance wird „der Borgia Lust, vor dem’s dem Teufel
graust“, nicht vereinzelt dastehen, und wenn das gegenwärtige Absinken
678 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
der Moral in Sieger- und Besiegtenstaaten auf der einen Seite ein Zurück¬
sinken in alte Kulturlosigkeiten bedeutet, so sehen wir gleichzeitig
auf der anderen Seite das Raffinement in den Kreisen des Luxus und
der Dekadenz unerhörte Orgien feiern, ohne daß damit ein Grund
gegeben wäre, von einem modernen Laster zu sprechen. Es sind Krank¬
heiten der Staatsumwälzungen, wie sie in der großen und in der späteren
französischen Revolution z. B. auch gegeben waren.
Wenn die Ethnographen berichten, daß bei ganz tiefstehenden
Völkern eine Inzestscheu sich noch kaum entwickelt hat, so ist anderer¬
seits nicht von der Hand zu weisen, daß eine gewisse Überkultur in
ihrem Drange nach Emanzipation von vorhandenen Gesetzen zu primi¬
tiven Lastern zurückkehrt. Der Reizhunger der Übersättigung greift
gern nach denselben Früchten wie die naive Schamlosigkeit.
In den unter dem Pseudonym Lynkeus veröffentlichten ,,Phan¬
tasien eines Realisten“ findet sich eine — vielleicht frei erfundene,
aber — den Sitten des 15. Jahrhunderts eingepaßte Geschichte einer
Florentiner Witwe, die ihren im 16. Lebensjahr stehenden Sohn in die
Geheimnisse der Liebe einweiht und mit ihm, selbstverständlich unter
Geheimhaltung der Vaterschaft, eine Tochter zeugt. Läuft diese Dar¬
bietung trotz der poetischen Einkleidung schon dem normalen Emp¬
finden zuwider, so noch vielmehr das über die Frau gehaltene Gericht,
in dem Machiavelli die Klage wegen des nicht in das öffentliche Recht
gehörenden Inzestes zurückweisen will und dies mit weitgehender
Frivolität begründet, während der anklägerische Savonarola mehr in
der Rolle des von der Geistreichelei Machiavellis ironisierten fanatischen
Bußpredigers dasteht und das Ganze fast als Farce endigt, indem
der Älteste der Tuchmacherzunft den Ausschlag gibt mit den verurtei¬
lenden Worten, dem göttlichen Recht solle Genüge geschehen. Die
hier erfahrene dreifache Wertung einer Untat umfaßt die Stellung der
gesamten Weltliteratur zu der Frage. Ein großer Teil der Autoren
stellt sich auf Machiavellis Standpunkt, hält die Täter für Ausnahme¬
menschen, deren besondere geschlechtliche Einstellung ihnen die
Berechtigung zu besonderem Tun gibt, zu dessen Verteidigung sie
sich berechtigt glauben — kraft ihres Genies. Gelegentlich mag es
auch Vorkommen, daß man Ausnahmemenschen, eben weil sie solche
sind, außergewöhnliche und naturwidrige Verbrechen zuschiebt, wie
unverbürgte Nachrichten z. B. Napoleon I. Verhältnisse mit seinen
Schwestern, mit seiner Stieftochter andichten, wie so viele andere große
Männer verdächtigt wurden. Daß inzestuöse Komplexe auch Goethe
beschäftigten und nach Ausdruck rangen, ist in den „Geschwistern“
nahegelegt, kommt aber nur andeutungsweise und in negativer Beleuch¬
tung zur Ausführung. Auch Schiller konnte unnatürlichen Trieben
kein Interesse abgewinnen; denn des Don Kariös „Ich hebe meine
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
679
Mutter“ hat mit einer inzestuösen Einstellung nichts zu tun; das
Unrecht ist hier dem Vater zuzuschieben, der dem Sohne die Braut
wegnahm, das Liebesobjekt von einem Generationsträger auf den
anderen wandern ließ, ein Hinweis auf Inzest nur im ethischen und
juristischen Sinne. Daß Shakespeare, der seine Stoffe größtenteils
von den italienischen Novellisten übernahm, solche mit inzestuösem
Inhalt nicht verarbeitete, ist wohl auf einen inneren Widerstand seiner¬
seits gegen derartiges zu setzen; denn die italienische Literatur ist an
solchen Stoffen reicher als irgendeine andere. Dante läßt im zweiten
Kreis unter den Sündern der Liebe allerdings keine Italienerin, son¬
dern Semiramis erscheinen, die, um die unerlaubte Neigung zu ihrem
Sohn zu legitimieren, ein besonderes Gesetz erließ. In anderen Kreisen
schildert er die Qualen der Sodomiter und Unnatürlichen, wobei hervor¬
gehoben w r erden muß, daß er für eine pathologische Vertiefung in die
unnatürlichen Vergehen keinerlei Neigung zeigt, sondern die Dinge
mit den kühlen Augen des Rächers und Richters betrachtet im Gegen¬
satz zu einer späteren italienischen Literatur der Frivolität, die das
Thema blutschänderischer Verbindungen mit einem gewissen Behagen
bearbeitete und — man denke an Casanova — erlebte. Auch Oobineau 12 )
läßt Alexander VI. zu seiner Tochter Lukrezia sagen: ,,Die Leute
meinen, daß ich zugleich dein Vater und dein Geliebter sei. Laß dieses
jämmerliche Gewürm die ungereimtesten Geschichten über uns ersinnen.
Sie sind eben nicht imstande, starke Naturen zu begreifen, und sie sehen
an ihnen nur das Absonderliche.“ Im übrigen läßt die geschichtliche
Forschung diese wie auch die andere Frage, ob Lukrezias beide Brüder
Rivalen in der Gunst um sie waren, offen. An den Ödipuskomplex
erinnert die Anekdote aus dem Leben der ewig jungen Ninon de l’Enclos,
deren Sohn zu spät erfuhr, daß das Objekt seiner Liebesrichtung die
eigene Mutter war und der sich erschoß, nicht weil er schon schuldig
geworden war, sondern weil er es nicht werden wollte und die hei߬
begehrte Frau für seine Wünsche damit ausschied.
Zweifellos haben den inzestuösen Verfehlungen und ihrer literarischen
Behandlung sich auch in Deutschland gewisse Modeströmungen ange¬
paßt. Als der Naturalismus und mit ihm die Hervorkehrung sozialen
Denkens in den 80 er Jahren nach Ausdruck rang, entstand als Merk¬
stein der neuen Richtung Hauptmanns ,,Vor Sonnenaufgang“, in dem
die junge Heldin sowohl durch einen blutschänderischen (der betrunkene
Vater macht einen sexuellen Angriff auf sie) als auch durch einen
juristisch-ethischen (die ehebrecherische Stiefmutter möchte sie an
ihren Galan verkuppeln) Inzest bedroht wird. Im ,,Friedensfest“ ist
mindestens eine Verliebtheit der Schwiegermutter zum Schwieger¬
sohn angedeutet. Beide Dramen, sonst stark psychologisch eingestellt,
geben zur Seelenkunde der Inzestuösen noch recht wenig. Die innere
Z. f. d. g. Neur. u. Paych. XCIII. 44
680 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
Ausforschung der zum Inzest Drängenden in der Literatur fällt doch
eigentlich erst mit Popularisierung der Freud sehen Lehren zusammen.
Wie Krafft-Ebings Arbeiten seinerzeit mehr als erwünscht das Interesse
der Allgemeinheit an der Sexualpathologie weckten und diese Probleme
der schönen Literatur zuführten, so schwoll der Freud sehe Ödipus¬
komplex zu einer Strömung an, mit der die jüngeren und jüngsten
Dichter, in den letzten Jahren auch vom Zensor unbeschwert, dahin¬
fuhren. Bronnens „Vatermord“ behandelt das ehebrecherische und
blutschänderische Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Es sei hier
nur als Paradigma für die allzu vielen derartigen Dichterwerke ange¬
führt, die nach den Schrecken des Krieges und nach den Greueln der
Revolution mit ihren zahllosen Aufführungen ungefähr das geistige
und ethische Niveau einer Gesellschaft bezeichnen, die anderseits
in Völkerfriedens- und Intemationalitätsideen ihre Sentimentalität
zum Ausdruck bringt, für die sie als Gegenstück offenbar so starker
Reizungen wie Inzestverteidigung u. dgl. braucht. Der geistvolle
Kritiker einer Tageszeitung, Emil Bernhard, hat dazu so energisch
Stellung genommen, daß seine Äußerungen als therapeutischer Faktor
gegen das irregeleitete Volksempfinden von großem Wert sind. Er
schreibt: „Stücke wie diese, mit der Peinlichkeit der Iokastenliebe,
müssen wohl sein, damit endlich einmal die Kunst an sich und zugleich
die Wirkungs- und Attraktionskraft des bloßen Sexualismus, der
Koprolalie und überhaupt der menschlichen Unterwelten bis zur
letzten Langeweile erledigt wird. Der Kübel selbst muß offenbar
einmal völlig entleert werden, damit er seine Reize verliert und uninter¬
essant wird.“ Es ist immerhin als ein Zeichen von moralischer Kraft
der kultivierten Völker zu betrachten, daß die Lockerung der Anschau¬
ungen durch solche Produkte noch nicht dahin geführt hat, eine Ände¬
rung der Gesetze, wie sie schon oft erstrebt wurde, vorzunehmen und
die §§ 173 und 174 aus dem StGB, zu entfernen oder zu mildem, deren
einer Verhältnisse zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie,
zwischen Verschwägerten und Geschwistern, deren anderer solche mit
Verletzung des Abhängigkeitsverhältnisses, also zwischen Vormündern,
Pflegeeltem, Lehrern, Geistlichen und Erziehern mit ihren Pflege¬
befohlenen behandelt.
Die Fassung dieser Gesetze entspricht im vollsten Maße der
Ethik, was als ein Plus an Zukunftshoffnungen, die man an das
Volk knüpfen darf, zu bewerten ist. Selbst im heutigen Deutschland
wird sich unter ihr, abgesehen von geschäftstüchtigen Literaturjüng¬
lingen, die sich auf die schlechten Instinkte der übersättigten Alt-
und der unersättlichen Neureichen stützen, kaum ein Verteidiger des
Inzestes finden, viel eher wird man es bedauern hören, daß die Strafen
auf solche Vergehen nicht noch viel höher angesetzt sind. In allen
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
681
germanischen Ländern besteht entschieden eine weitgehende Inzest¬
scheu, deren Intensität nur gelegentlich unter einer literarischen Mode¬
richtung verschleiert liegt.
Zusammenstellung der beobachteten Inzestfälle.
A. Gruppe mit leichten Verstandesmängeln , evtl, neuropsychopaihischen
Eigenschaften .
Fall 1. Step, 18 Jahre alt, wurde der F.-E. überwiesen, nachdem sie von zu
Hause entlaufen war. Es handelt sich um ein großes, auffallend kräftiges Mädchen
von derb ländlichem Aussehen. Step stottert sehr stark, habe vergeblich einen
Sprachkursus durchgemacht. Sie soll mit 15 Jahren einen epileptischen Anfall
überstanden und danach 14 Tage besinnungslos gelegen haben, wurde dann
in die Epileptikeranstalt nach Wuhigarten verbracht, wo sie 3 / 4 Jahr blieb.
Die körperliche Untersuchung ergibt keine krankhaften Besonderheiten oder
Zeichen von Störungen des nervösen Apparates.
Die Intelligenz ist leicht herabgesetzt, doch nicht so stark, wie es zunächst
infolge des Sprachgebrechens erscheint. Ihre Stimmung ist meist depressiv. Im
Anfang trug sie sich in der Anstalt viel mit Selbstmordgedanken, hat auch einmal
versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, diese zwar nicht getroffen, aber immer¬
hin stark geblutet. Sie litt damals sehr unter Heimweh, machte etwa 1 Jahr später
einen zweiten Versuch draußen. Ein Bursche hatte ihr eine große Dosis Morphium
gegeben, nach dessen Genuß sie bewußtlos auf der Straße gefunden wurde. Sie
gibt ohne weiteren Affekt an, lebensmüde gewesen zu sein. Betreffs der Hereditäts¬
verhältnisse ist zu bemerken: Der Vater, Alkoholist, ist Russe, 52 Jahre alt, ge¬
sund, die Mutter Deutsche, früh gealtert, 60 Jahre alt, herzleidend, sehr religiös,
einer Sekte angehörend wie auch die 3 Töchter. Die beiden älteren Schwestern
Steps sollen sehr tüchtige Menschen in gehobenen Berufen sein.
Step gibt an, der Vater habe sie, im 13. Lebensjahre stehend, als er betrunken
nach Hause kam und die Mutter auf einer Dienststelle war, vergewaltigt. Obwohl
sie selbst schon groß und kräftig war, habe sie sich seiner nicht zu erwehren ge¬
wußt, da er über ungewöhnliche Körperkräfte verfüge. Sie habe es sofort der
Mutter geklagt, und diese sei daraufhin nach seiner Arbeitsstelle gegangen, um
ihn zur Rede zu stellen. Da habe er es abgestritten. Auch jetzt bleibe er dabei,
es sei nur ein Versuch gewesen. Step hatte bis dahin keinen Verkehr und behauptet,
erst durch das Erlebnis mit dem Vater, das sie unendlich erbitterte, auf Abwege
gekommen zu sein und sich dabei gonorrhoisch infiziert, übrigens auch gelegent¬
lich vagabondiert zu haben. Als sie in letzter Zeit wieder bei den Eltern lebte,
soll der Vater mindestens 4 mal sich wieder an ihr vergriffen haben, immer wenn
er betrunken nach Hause kam und die Mutter abwesend war. Im übrigen fehlt
bei Step gegenüber dem Vater jedes kindliche, aber auch jedes erotische Empfinden.
Er habe Mutter und Kinder viel geschimpft und geprügelt.* Auch bei den Ver¬
gewaltigungen habe er sie nicht liebevoll behandelt, ,,grob ist er gewesen, wie die
Russen sind“. Nur manchmal habe er gebettelt, sie solle der Mutter nichts erzählen.
Schließlich sei sie von Hause fortgelaufen. Nachdem die Sache zur Anzeige ge¬
kommen war, und zwar durch sie selbst, geschah das Gewöhnliche. Die Familie,
die erst auf ihrer Seite war, stellte dann alles als frei von Step erfunden dar, und
die Staatsanwaltschaft nahm die Klage zurück. Ihren Erziehungsakten liegt
übrigens ein charakteristischer Brief an ihre Mutter bei, in dem sie sich beklagt,
daß man sie in F.-E. gebracht habe, während der Vater frei herumlaufe. Er solle
sie aber ja nicht besuchen oder die Frechheit haben, ihr eine Karte zu schreiben.
Sie hängt mit außerordentlicher Liebe an der Mutter und w T ar im Sommer bei
44*
682 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
der Gartenarbeit in der Anstalt immer tief bekümmert bei dem Gedanken, daß
die alte Frau ihr gepachtetes Stück Land ganz allein besorgen müsse, während
sie mit ihren starken Kräften so gern dort arbeiten und ihr helfen würde.
Step leidet bei leicht herabgesetzter Intelligenz an Depressionszuständen , ver¬
mutlich auf epileptischer Basis. In dieser krankhaften Seite ihrer psychischen Ver¬
anlagung ist nichts zu finden, was sie dem an ihr begangenen Verbrechen will¬
fährig gemacht oder gar sie demselben entgegengedrängt hätte. Für sie w r ar der
Vater schon längst ein die Familie tyrannisierender Trinker. Sie empfand sein
Vorgehen durchaus als Vergewaltigung, beim Gedanken an die sie sich immer
wieder zornig erregt.
Fall 2. Hepos, geb. 1904, wurde etwa im Alter von 13 Jahren dem Waisen¬
haus übergeben wegen ungünstiger häuslicher Verhältnisse. Die Mutter war eine
taube, halbblinde, kränkliche Frau, die vielfach in Hospitälern untergebracht
werden mußte, der Vater starker Trinker. Als H. 13Va Jahre alt war, fand die
Mutter wegen geplatzter Krampfadern vermutlich auf längere Zeit Aufnahme in
einer Klinik. Das Mädchen wurde aus dem Waisenhaus entlassen, um sich während
dieser Zeit der häuslichen Wirtschaft etwas anzunehmen. Außer dem Vater war
niemand zu Hause. Das Kind schlief mit dem Vater im selben Zimmer. Sehr
bald machte der Vater an seiner Tochter unzüchtige Versuche. Sie wehrte sich
und ließ sich nichts gefallen, erzählte es auch den Geschwistern, die den billigen
Trost für sie hatten, wenn es noch einmal vorkäme, würden sie den Vater an-
zeigen. Eines Tages nun rief dieser sie ins Zimmer, machte sie wehrlos, indem
er ihr das Kopfkissen überwarf, und zwang sie so zum Verkehr. Soviel sie wisse,
habe er bis jetzt noch keine Strafe bekommen. Bald nach dem Vorfall wurde sie
einem Rettungshaus übergeben. Nach 2 Jahren kam sie in eine Dienststelle, die
zu schwer für sie war. Sie entfloh nach Hause, blieb daselbst 5 Monate, lief dann
fort und wohnte mit einem jungen Mann im Hotel, wo sie eines Tages ausgehoben
und einer F.-E.-A. übergeben wmrde. Der Aushälter habe sie wahrscheinlich
infiziert. Sie hatte daneben noch mit einer Reihe anderer Männer Verkehr.
Zur Heredität ist folgendes anzugeben: Der Vater ist 53 Jahre alt, die Mutter
58, wie schon erwähnt, halbblind und seit einigen Jahren taub. Angeblich sei das
Gehör nach einem Schreck w eggeblieben. Der Vater war bis zum Kriege ein schw erer
Trinker, habe sich das während des Krieges abgewohnt. Über die Großeltern des
Mädchens ist nichts zu erfahren. Sie seien insgesamt 12 Geschwister gewesen,
5 außer H. leben noch und sind gesund, 6 sind klein gestorben. Die psychiatrische
Erforschung des Mädchens ergibt einen Schwachsinn leichten Grades , keine ner¬
vösen oder psychopathischen Störungen. Die Milieuschädigungen haben neben
dem Potatorium des Vaters offenbar das Hauptsächlichste zu dem ungeordneten
Lebenswandel, die Erfahrung mit dem Vater wohl auch nicht wenig zu ihrer
Prostitutionsneigung beigetragen.
B . Imbezille.
Fall 3. A. Ro. Am 23. XII. 1921 wrurde mir auf der Krankenabteilung einer
F.-E.-A. ein Kind, geb. am 21. X. 1906, vorgeführt, dessen unausgereifte Gestalt
die Spuren weit vorgeschrittener Gravidität zeigte. Die Augen — eines blau, das
andere braun — blicken angstvoll umher, und Fragen werden in scheuer Weise
beantwortet. Die körperliche Untersuchung ergibt Grav. mens. VIII—IX, ferner
ausgedehnte breite Kondylome an beiden großen Labien und rund um den Anus,
dazu starke Drüsenschwellungen in den Hüftbeugen.
Die syphilitische Infektion soll von wiederholten Kohabitationen mit dem
eigenen Vater stammen, der auch der Vater des zu erwartenden Kindes sei. Wegen
des übererregten seelischen Verhaltens und aus Rücksicht auf den körperlichen
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
683
Zustand wird von einer genaueren Exploration Abstand genommen und das Mäd¬
chen am 31. XII. 1921 einer geburtehilf]ichen Klinik überwiesen. Am 1.1. 1922
bringt sie ein totes, aber ausgetragenes Kind zur Welt. Im März dort entlassen, wird
die daselbst begonnene antisyphilitische Kur in der F.-E.-A. mit ihr fortgesetzt.
Die seelische Umstimmung ist eine auffallende; auch körperlich hat sich das
Mädchen gut erholt. Sie blickt zufrieden und munter umher, antwortet in geradezu
behaglicher Weise auf an sie gestellte Fragen, zeigt keinerlei Scheu mehr, ja ist
vielleicht um einige Grade zu leicht bereit, auf ihre sexuellen Erlebnisse einzugehen.
Sie gibt an, daß sie außer mit ihrem Vater mit niemand geschlechtlichen Ver¬
kehr gepflogen habe. Seelisch unschuldig ist sie nicht dazu gekommen; denn sie
erzählt ein Erlebnis, wo sie mit Jungen im Walde gespielt habe und ein Neun¬
jähriger sich ihr in einer Weise genähert habe, die ihr unpassend erschienen sei.
Sie habe schon damals gewußt, um was es sich handeln könne, da der Pastor sie
angeblich in den Religionsstunden aufgeklärt und gewarnt habe. Etwa 14 Tage
später habe der Vater das Attentat auf sie gemacht, was er in der Folge noch etwa
4—ömal wiederholte. Einige Zeit vor dem sexuellen Angriff sei sie zum erstenmal
menstruiert gewesen. Angeblich war sie vom letzten Schuljahr dispensiert, weil
der Vater Kriegsinvalide war, habe im elterlichen Haushalt geholfen. Sie sei oft
zu ihrem Vater, der Kutscher war, in den von der Wohnung entfernt liegenden
Stall gegangen und habe diesen beim Pferdefüttern unterstützt. Danach hätten
sie sich meist im Stalle zu einer Mittagsruhe hingelegt. Als der Vater sie das erstemal
bedrängte, habe sie laut geschrien, es habe sie aber niemand gehört. Dann habe
er ihr 2, später immer 5 M. gegeben. Sie sei trotz dieser Angriffe immer wieder
zum Vater gegangen, weil dieser erklärt habe, er werde sie erschießen, wenn sie
es jemand merken lasse. Sonst sei der Vater immer gut gegen sie gewesen, nie¬
mals streng, auch hatte er nicht die Gewohnheit, seine Kinder zu schlagen. Ein¬
mal habe er auch in der gemeinsamen Wohnung mit ihr verkehrt, als Mutter
ausgegangen war. Gewehrt habe sie sich nicht mehr. Nach einigen Monaten hätte
sie Kreuzschmerzen bekommen und sich schlecht gefühlt. Da sei Vaters Schwester
mit ihr zum Arzt gegangen, der Schwangerschaft feststellte. Auf Befragen habe
sie angegeben, von einem Mann im Walde vergewaltigt worden zu sein. Das habe
die Tante sofort bei Gericht angezeigt. Später habe die Mutter des Vaters die
Wahrheit aus ihr herausgefragt, und nun habe es auch die Mutter erfahren. Bei
der „Ladung“, vermutlich meint sie die polizeiliche Vernehmung, habe sie die
Wahrheit gesagt; bei der Hauptverhandlung, wo Vater Angeklagter war; „denn
er saß hinter so einem Zaun“ habe sie keine Aussage gemacht, ebensowenig die
Mutter. Infolgedessen sei er freigesprochen worden, müsse sich aber bis 1925
gut führen, also vermutlich Verurteilung unter Zubilligung einer Bewährungsfrist.
Der Fall, daß die zuerst erbitterte Mutter und unter ihrem Einfluß das ge-
mißhandelte Kind in der Verhandlung entweder alles zurücknehmen oder die
Aussage verweigern, ist in allen kriminellen Familientragödien, besonders aber in
den hierhergehörigen, nur zu häufig zu beobachten und hängt ebenso von inneren
als von äußeren, d. 8. wirtschaftlichen Erwägungen ab; denn es kann den Ruin
einer Familie bedeuten, wenn der Ernährer für längere Zeit als Arbeiter aus-
schaltet.
Die mißbrauchte Ro. zeigt im Verlauf der Behandlung einige hysterische
Züge, besonders große Neigung, Erkrankungen des Unterleibes in allen möglichen
Formen vorzutäuschen und sich zu gynäkologischen Untersuchungen zu drängen.
Betreffs der HereditätsVerhältnisse wurde folgendes erfragt: Der Vater sei
erst 36 Jahre alt, immer gesund gew esen; von der syphilitischen Ansteckung
habe er wohl selbst nichts gewußt, möglicherweise diese aus dem Kriege mitgebracht .
Sein Vater starb, 57 Jahre alt, an Magenkrebs, seine Mutter ist gesund und lebt
684 H. Fr. Stelzncr: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
als noch sehr rüstige Frau mit ihren anderen Kindern zusammen. Die Mutter
der Ro., 37 Jahre alt, sei gesund, nicht nervös. Deren Vater starb jung an unbe¬
kannter Krankheit; dessen Frau ist gesund und habe außer Frau Ro. noch 4—5
gesunde Kinder. Unsere Patientin hat 2 angeblich körperlich gesunde Schwestern
von 9 und 11 Jahren. Die jüngere lerne gut, die ältere sei noch etwas zurück,
doch habe sie weder eine schwere Krankheit überstanden, noch jemals an Krämpfen
gelitten. Wegen der Verfehlungen des Vaters sei eie auch inF.-E. gekommen.
Die neurologisch-psychiatrische Untersuchung ergibt folgendes: Infolge
Abducensschwäche links besteht Strabismus geringen Grades, welche Unregel¬
mäßigkeit durch die schon erwähnte Zweifarbigkeit der Augen etwas betont
wird. Die linke Iris ist auffallend hellblau, die rechte dunkler und zeigt außerdem
mehrere braune Flecken, wirkt in der Gesamtheit hellbraun. Die 5. Finger beider
Hände sind verkrümmt, das Haar von den Schläfen aus tief in die Stirn gewachsen.
Es besteht eine leichte, offenbar angeborene Facialisschwäche, so daß beim Spre¬
chen der eine Mundwinkel etwas hängt. Die Prüfung der verstandesmäßigen Kräfte
ergibt eine Herabsetzung, die der Debilität entspricht.
Bei der zweiten Aufnahme, wo eigentlich das normale Wesen des Kindes erst
herauskommt, macht A. Ro. einen schwatzhaften, unwahren und recht s innli chen
Eindruck. Sie gefällt sich als Pat. der Krankenabteilung, bringt gern irgendwelche
neuen Leiden vor, meldet sich auch, nachdem sie geheilt entlassen ist, häufig mit
erneuten Klagen, zeigt sichtliche Freude an Krankheitsbewußtsein, Untersuchung
und Behandlung. Bei der möglichst abgekürzten Besprechung ihres Falles sind
deutliche Zeichen von Genugtuung und Eitelkeit an ihr zu bemerken, die zweifellos
durch die Gerichtsverhandlung mit allem, was dazu gehört, noch vertieft worden
sind. Sie war in dieser traurigen Angelegenheit ganz gern die Hauptperson, von
deren Aussage soviel abhing.
Nach vorstehendem ist A. Ro. ein körperlich und geistig an der Schwelle
der Kindlichkeit stehendes infantiles, schwachsinniges Mädchen mit stark ent¬
wickelter Libido, die durch das sexuelle Erlebnis besonders früh geweckt wurde,
und mit einer Herabsetzung des ethischen Fiihlens, die aus Veranlagung und
Milieuverhältnissen zu gleichen Teilen hervorging.
Fall 4. Hed. Mö., 17 Jahre alt, kommt in F.-E. und zeigt bei der Aufnahme
die Zeichen einer akuten Gonorrhöe, behauptet aber zunächst, Virgo intacta zu
sein. Dies ist nicht der Fall, und sie gibt nun an, daß sie im Alter von 13 Jahren vom
Stiefvater vergewaltigt worden sei, als er sie eines Tages, betrunken heimkehrend,
allein fand, da die Mutter auBgegangen und ihr Bruder in F.-E.-A. gebracht werden
war. Der Vater habe sie bis dahin immer gut behandelt. Da sie erst 3 Jahre alt
war, als Mutter ihn heiratete, habe sie lange nicht gewußt, daß er ihr rechter Vater
nicht sei. An dem fraglichen Abend habe er ihr gedroht, wenn sie ihm nicht zu
Willen sei, so bekomme sie nichts zu essen. Angeblich habe sie nicht gewußt, um
was es sich handelte. Am nächsten Tage erzählte sie es einer Nachbarin, die ihn
anzeigte; doch beließ man ihn auf freiem Fuß. Später hätte die Nachbarin die
ganze Sache zurückgenommen. Der Vater habe sich ihr auch nicht mehr genähert,
wohl aber ein Vetter im Alter von 15 Jahren, mit dem sie öfter in der Wohnung
ihrer Tante, seiner Mutter, spielte, wenn Mutter und Tante Zeitungen austrugen.
Mit diesem Vetter will sie damals häufig Verkehr gehabt haben. Später hätte sie
Freunde gehabt, doch ohne geschlechtlichen Verkehr, so daß sie glaube, die An¬
steckung stamme von dem Vetter her.
Hed. Mö. ist ihrem Alter entsprechend körperlich entwickelt, doch macht sie
i. a. einen infantilen Eindruck, der verstärkt wird durch die Zeichen eines ausge¬
sprochenen Schwachsinnes im Sinne der Imbezillität. Hysterische Züge liegen
nicht vor. Menstruation trat mit 14 1 /, Jahren ein.
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
685
Die Familienanamnese ergibt, daß der rechte Vater an unbekannter Krankheit
gestorben ist; von seinen Verwandten ist niemand bekannt. Die Mutter, 42 Jahre
alt, ist gesund, ebenso deren Vater, ihre Mutter tot. Der Stiefvater ist 36 Jahre
alt, gesund, Näheres nicht bekannt.
Hed. Mö. leidet an einer Schwachsinnsform müderen Grades und ist bis auf die
gonorrhoische Infektion körperlich gesund.
ln diesem Falle spielt zweifellos die Verwahrlosung im Elternhause eine
große Rolle. Dafür spricht schon, daß Bruder und Schwester schließlich in F.-E.
kommen und daß Vetter und Base sich soweit überlassen blieben, wie Hed. es
schildert.
C. Hysterie mit und ohne InteUigemdefekt .
Fall 5. Lo. S. wurde mir im Dezember 1920 von einer Behörde in die Sprech¬
stunde geschickt, um ein psychiatrisches Gutachten über sie zu gewinnen. Sie war
durch verschiedene Einfallshandlungen, namentlich unmotiviertes Fort laufen aus
Stellungen, die ihr erst sehr behagt hatten, ferner durch plötzliche Stimmungs¬
umschläge auffällig geworden und gab an, die Entschlüsse kämen ihr so rasch und
müßten sofort in die Tat umgesetzt werden, daß ihr oft erst nach Tagen das Be¬
wußtsein, unrecht gehandelt zu haben, käme. Später wmrde Lo. in F.-E. gebracht,
und ich hatte Gelegenheit, sie und ihren Lebensgang genauer kennenzulemen.
Lo. ist 1901 geboren. Beide Eltern litten an Tuberkulose, der die Mutter
1908 erlag, während der Vater 1915 — angeblich — durch Selbstmord endete.
Sie wurde bei Pflegeeltern erzogen, von denen sie der Vater im 13. Lebensjahre
fortnahm, um sie zü einer Tante zu bringen, bei der er selbst wohnte. Er sei immer
gut und freundlich zu ihr gewesen und habe sie viel auf Spaziergängen in die Wälder
mitgenommen. Er habe ihr Konfekt gekauft und bei einsamen Spaziergängen
sie gebeten, gewisse unpassende Stellungen einzunehmen. Das habe sie nicht ge¬
wollt, sich schließlich aber doch gefügt, als er sagte: „Du bist doch mein Kind,
und vor dem Vater braucht man sich nicht zu genieren.“ Schließlich sei es im
Walde zu richtigem Verkehr gekommen. Er habe jedesmal erst gebettelt. Habe
sie ihn warten lassen und „sich herumgeziert“, dann habe er sie schließlich ge¬
waltsam gepackt. Sie habe seinen Aufforderungen zu den Waldspaziergängen nur
nachgegeben, damit niemand aus ihren Weigerungen einen Verdacht schöpfe.
Ihre Tante habe sie öfter gefragt, w'arum sie soviel weine; sie habe aber den Vater
nicht verraten wollen. Angeblich sei er später aus einem ihr nicht bekannten
Grunde ins Gefängnis gekommen und habe sich dort entleibt.
Bei meiner ersten Untersuchung 8. o. hat sie von den vorerwähnten Dingen
nichts erzählt. Diese Geschichte tauchte zuerst in einem sentimental gefärbten
Brief unter Verwendung romanhafter Phrasen und Frömmeleien an das F.-E.-
Heim auf. Sie war in eine Dienststelle gebracht worden, wo es ihr sehr gut gefiel.
Trotzdem nahm sie eine zweifellos harmlose Berührung des Hausherrn, der ihr
bei der Gartenarbeit einen scherzhaften Klaps auf die Gesäßgegend gegeben hatte,
bereits als sexuelles Attentat auf und beklagt sich darüber, will aber gern in der
Dienststelle verbleiben.
Aus den Akten und aus ihren Bekundungen setzt sich ein sehr buntes Lebens¬
bild zusammen. Angeblich hatte sie im 16. Lebensjahr einmal Verkehr und er¬
warb dabei Syphilis, kam danach in F.-E. und auf dringenden Wunsch der vor¬
erwähnten Tante wieder in deren Haus. Dazwischen sei sie 1 / I Jahr „zur Behand¬
lung und zum Schutze“ auf einer psychiatrischen Abteilung untergebracht ge¬
wesen, weil sie wiederholt ohne Not ihrer Tante Geld entwendet und sich hatte
verleiten lassen, mit einem fremden Soldaten nach Magdeburg zu verschwinden.
Sie kam dann zum drittenmal in das Haus der Tante, von wo sie nach kurzer
686 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
Zeit entwich, um herumzuabenteuern. Angeblich sei sie zunächst nach Berlin
gefahren, habe sich 4 Tage lang obdachlos herumgetrieben, in Wartesälen der
Bahnhöfe genächtigt, von Brot und Kuchen gelebt. Es sei ihr alles gleichgültig
gewesen, nachdem ihr Vater „sie so verpfuscht“ hatte. Sie sei dann mit einem
Soldaten in ein Truppenlager gefahren, habe dort bei den Soldaten eine Nacht
zugebracht, sei aber am nächsten Tag mit dem ersten Zug nach Berlin zurück-
gekehrt und mit dem Soldaten in einem Hotel abgestiegen. Nachdem der Be¬
gleiter sie verlassen hatte, sei sie wieder in das Truppenlager zurück und habe
dort mit mehreren Soldaten genächtigt. Weder mit dem ersten Soldaten noch
mit den anderen sei es zu geschlechtlichem Verkehr gekommen. Am nächsten
Tage wurde sie festgenommen und erhielt wegen Landstreichens 3 Tage Haft.
Sie wurde dann erneut der F.-E. übergeben, von dort aus 1 Jahr später in einer
Dienststelle untergebracht, aus der sie nach wenigen Tagen entlief. Nach kurzer
Zeit stellte sie sich selbst wieder in der F.-E.-A. ein und erzählte dort die merk¬
würdigsten Erlebnisse, die sie in der Zeit nach ihrem Entweichen gehabt haben
wollte. Angeblich sei sie zunächst nach dem Wohnort ihrer Tante gefahren, konnte
sich aber nicht entschließen, deren Haus aufzusuchen, und sei nach planlosem
Umherstreifen in der Stadt wieder nach Berlin zurückgekommen, wo sie sich in
den Straßen herumtrieb. Am 4. Tage sei sie von einem älteren Herrn, der sie erst
in ein vegetarisches Speisehaus und dann in ein Privathotel mitnahm, angesprochen
worden. Mit ihm habe sie so Furchtbares erlebt, daß sie nicht darüber sprechen
könne. Da es naheliegt, an Perversionen evtl, sadistischer Art zu denken, werden
dahinzielende Fragen an sie gerichtet, doch geht sie auf Andeutungen nicht ein,
sondern bleibt bei dem Wort, es sei zu schrecklich gewesen. Schließlich habe der
Mann sie nach Hamburg in ein Freudenhaus bringen wollen. Am Morgen nach
der entsetzlichen Nacht habe sie sich beim Erwachen allein und auf dem Tisch,
offenbar für sie hingelegt, 25 M. gefunden. Damit sei sie in ein Kaffeehaus gegangen,
wo sie sich einem ihr fremden Manne an vertraute. Dieser habe sie mit in seine
Familie genommen und baldigst durch seinen Sohn an die richtige Haltestelle der
elektrischen Bahn bringen lassen, damit sie ihrem Wunsche gemäß nach der F.-E.-A.
fahren konnte., wo sie nach dem objektiven Bericht ziemlich verwahrlost ankam.
Man verbringt sie wiederum in eine ihr sehr zusagende Dienststelle. Von dort
aus schreibt sie übersentimentale Briefe an die Anstalt, die sich viel mit den Vor¬
gängen zwischen ihr und ihrem verstorbenen Vater beschäftigen. Sie habe unter
seiner Sünde zu leiden, und die Hoffnung, er werde in einem hinterlassenen Briefe
alles gestehen, habe sich leider nicht erfüllt. Es folgen selbstquälerische religiöse
Betrachtungen und viel Angelesenes, scheinbar Naives im Stile der ehemaligen
Höheren-Tochter-Literatur. Jedenfalls entwickelt Lo. eine große Schreibfreudigkeit,
der sie mit Behagen nachgibt. Ihre Dienstherrin, von der sie ausgezeichnet be¬
handelt wird, gibt an, Lo. sei manchmal tagelang wie abwesend, w'eine viel und
leiste sehr wenig; dann kommen Perioden, wo sie sich wie ein vergnügtes Kind
betrage. Sie war zu den Ferien in die F.-E.-A. eingeladen und fiel, als sie zur
ärztlichen Untersuchung kam, aus einem Tränenparoxysmus in den andern.
Später stellte sich heraus, daß dieser Zustand der Angst entsprang, die WaR.,
die angestellt war, möchte positiv ausfallen und ihre Herrschaft, bei der sie sich
als wohlerzogene junge Dame gibt, könne etwas von ihrer Vergangenheit ahnen.
Als sie diese Befürchtungen gegenstandslos geworden sah, war sie bis zum Ende
des Urlaubs guter Dinge.
Die psychiatrische Diagnose lautet; Degenerative psychopathische Konstitution
mit Pseudologia fantastica; Debilität .
Fall 6 . Barbe, geb. 1907, seit längerer Zeit in F.-E., ein seinem Alter ent¬
sprechend entwickeltes Mädchen, hat eine ausgesprochene linksseitige Facialis-
an Berliner weiblichen Fttrsorgezöglingen.
687
parese, stößt leicht mit der Zunge an, sonst keine nervösen, der körperlichen
Untersuchung zugänglichen Symptome, insonderheit nichts, was auf eine Erb¬
syphilis deuten würde. Die Untersuchung der verstandesmäßigen Veranlagung
ergibt eine Herabsetzung der intellektuellen Kräfte im Sinne von Debilität. Barbe
besuchte die Hilfsschule, da sie in der Normalschule nicht mit fortkam. Auf¬
fallend ist das gute Deutsch, das sie spricht, und ein bei ihrer geistigen Minder¬
wertigkeit überraschender guter sprachlicher Ausdruck, dem man allerdings
bald anmerkt, daß er in eingeschliffenen Bahnen geht, wenn man nach den Er¬
lebnissen fragt, die sie in Fürsorgeerziehung gebracht haben. Ihr psychisches
Verhalten ist im allgemeinen nicht frei von hysterischer Eitelkeit, die ethische
Einstellung gegenüber ihren verschiedenen sexuellen Erlebnissen und Betätigungen
eine durchaus stumpfe. Von ihr persönlich Erfragtes und den Akten Entnommenes
ergibt folgendes:
Betreffs der Voreltern ist nichts bekannt. Der Vater, Maurer, 45 Jahre alt,
trinke viel und sei auch häufig berauscht. Die Mutter, 44 Jahre alt, sei bis zur
Geburt Barbes und deren Zwillingsschwester kerngesund gewesen, im Verlauf
des Wochenbettes erblindet. Sie sei eine ansehnliche Frau, die ihren Unterhalt
mit Straßenverkauf von Streichhölzern verdiene, wobei Barbe schon als jüngeres
Kind als Führerin mitzugehen pflegte. Bezüglich des Charakters der Mutter
und deren Stellung zu den gleich zu schildernden Vorgängen kommen die Ver¬
merke in den Akten zu einem Non liquet. Ausgeschlossen ist es nicht, daß sie die
Verfehlungen Barbes, wenn nicht tätig eingreifend, so doch duldend und wenn ja,
geldliche Vorteile daraus ziehend, toleriert hat. Barbe erzählt geläufig, daß Be¬
kannte ihrer Eltern eine Untermieterin hatten, die eines Tages zu ihrer Mutter
kam und sie bat, das Mädchen, damals 13 Jahre alt, das so wenig vom Leben
habe, auf einen Spaziergang raitnehmen zu dürfen. Nun sei die Frau mit ihr
nach der Friedrichstraße gegangen, wo sie einen Herrn ansprach, der mit ihr und
Barbe ein Hotel aufsuchte. Dort habe die Frau geholfen, sie zu überwältigen.
Dann habe der Mann, ein Russe, sich an ihr vergangen. Auf die Frage, wie sich
die Frau mit dem Russen verständigt habe, ist Barbe offenbar schon vorbereitet
und sagt, sie hätten Französisch gesprochen. Barbe habe nichts dafür bekommen,
sondern sei nur in eine Konditorei geführt worden, was auch in der Folge mehr¬
mals geschehen sei, wenn die Frau sie mit Männern zusammengebracht habe.
Derartige Fälle scheinen mehrere vorzuliegen. Jedenfalls beklagte sich die Schule
über Barbe, weil sie den anderen Kindern über solche Ereignisse sprach und
renommierte, daß sie immer Kuchen und Pralines haben könne, soviel sie wolle.
Sie berichtet mir weiter, bei der Frau habe damals deren etwa 30jähriger Bruder
gewohnt, der auch den Verkehr mit ihr suchte. Sie nimmt an, daß dieser es ge¬
wesen sei, der sie angesteckt habe. Ihre Tante sei zuerst auf den Verdacht ge¬
kommen, daß sie krank sei, ging mit ihr zur Charit^, wo Syphilis festgestellt wurde
und sie sich sofort einer Kur unterziehen mußte. Der Mutter habe man nicht
die W T ahrheit gesagt, sondern irgendeine harmlose Erkrankung vorgegeben.
Nachträglich kommt sie nun noch mit einer anderen Geschichte heraus. Ihr Vater
habe sie im Alter von 7 Jahren vergewaltigt. Erst 3 .Jahre später habe sie es
ihrer Mutter gesagt, angeblich in Gegenwart ihres Vaters, als sie einmal zusammen
auf einer Promenadenbank saßen. Die Mutter habe dem Vater Vorhaltungen
gemacht, er aber alles bestritten. Trotzdem sei er angezeigt worden, und zwar
von einer Bekannten. Eine Bestrafung sei nicht erfolgt, sie selbst aber in F.-E.
gekommen. Gelegentlich durfte sie wieder einmal nach Hause, entwich von dort,
verkehrte viel mit Prostituierten, wurde wieder aufgegriffen und macht gegen¬
wärtig in der Anstalt ihre 4. antisyphilitische Kur.
Auch mit Hilfe der Akten ist keine Klarheit zu gewinnen, was an diesem
Lebensgang erfunden, was nur ausgeschmückt ist. Sicher ist nur, daß sie im Alter
688 II. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
von 12—13 Jahren luetisch infiziert war und sich ihrer ersten Kur unterzog.
Die nachträgliche Denunziation des Vaters erscheint in der dargestellten Form
nicht recht glaubwürdig. Die Art, wie Barbe von ihren Erlebnissen spricht und
gesprochen hat, deuten in ihrer Ausgestaltung auf hysterische Züge mit Lügen¬
neigung. Ich vermeide den Ausdruck Pseudologia fantastica. Ihr von Natur
mangelhaftes ethisches Empfinden ist durch die ungünstigen Milieuverhältnisse
und andere Einwirkungen gänzlich verlorengegangen. Barbe leidet an leichter
hysterischer psychopathischer Veranlagung und Herabsetzung der rein verstandes¬
mäßigen Kräfte bei erheblichen Schädigungen des ethischen Unterscheidungsver¬
mögens.
Fall 7. Kl. Gu. kommt, 16 Jahre alt, in F.-E., nachdem man sie in einem
Absteigequartier gefunden hatte. Sie ist ihren Jahren entsprechend entwickelt,
zeigt an beiden Ohren Andeutung Darwin scher Spitze, Hypotonie der Hand- und
Fingergelenke, sonst nichts Besonderes. Die Untersuchung des nervösen Systems
ergibt: Lidflattern bei Augenfusschluß, Zittern der linken Hand und Handschweiß.
Die Intelligenz ist nicht als herabgesetzt zu betrachten. Sie zeigt ein freundliches,
fast schmeichlerisches Wesen mit hysterischem Einschlag und eine übergroße
Bereitwilligkeit, über das nun schon 7 Jahre zurückliegende Stuprum zu berichten,
zu welchem Zwecke sie Gelegenheiten geradezu herbeiführt. Vor 2 Jahren will
sie infolge eines Schreckens an Herz- und Schreikrämpfen gelitten haben. Sie
erzählt geläufig folgende Geschichte: Ihre Mutter war auswärts beschäftigt.
Ihr Stiefvater habe ihr — sie war damals 9 Jahre alt und völlig unaufgeklärt —
abends Tee zu trinken gegeben, in den er etwas Betäubendes gemischt hatte.
Sie habe danach fest bis zum nächsten Morgen geschlafen, bis ihre Mutter heim¬
kehrte. Diese habe gleich an der blutigen Wäsche gemerkt, was geschehen sei,
ohne daß Kl. eine Ahnung davon hatte. Der Stiefvater wurde angeklagt, nachdem
eine ärztliche Untersuchung Vergewaltigung des Kindes festgestellt hatte. Vor
Gericht gab er an, er habe es nicht allein getan. Schließlich wurde er wegen Geistes¬
krankheit exkulpiert. Er sei auch Trinker gewesen, befinde sich jetzt wieder auf
freiem Fuß und lebe mit einem Mädchen zusammen. Kl. war bis vor 2 Jahren
bei ihrer Mutter, der sie davonlief, weil sie so verrücktes Zeug gemacht habe,
tatsächlich jetzt auch geisteskrank ist. Zunächst lief sie zu ihrem Stiefvater,
der sie aber wegschickte, weil die Polizei ihr Zusammensein nicht dulden würde.
Sie habe sich dann herumgetrieben, Straßenbekanntschaften gesucht, sei von einem
Herrn in ein Hotel eingemietet worden. Am Tage ging er weg und gab ihr etwas
Geld für ihren Unterhalt. Sie pflegte dann in den Straßen herumzubummeln,
sei auch mit anderen Männern gegangen, kam schließlich zu ihrer Mutter zurück
und von da in F.-E.
Heredität: Vaters Vater sei jung gestorben, dessen Mutter im Alter von
70 Jahren, der Vater, nachdem sich seine Frau von ihm hatte scheiden lassen, sei
an Diabetes und Syphilis gestorben. Mutters Vater soll durch Selbstmord geendet
haben, Mutters Mutter litt an Asthma. Die Mutter habe immer religiöse Wahnideen
gehabt, sei in letzter Zeit planlos umhergeirrt und nun einer geschlossenen An¬
stalt übergeben worden. Kl.s Dasein steht jedenfalls unter den Zeichen stärkster
erblicher Belastung. Kl. Gu. ist von normaler Intelligenz und ausgesprochen
hysterischer Veranlagung.
Fall 8. Mi. St., 16 Jahre alt, kommt wegen häuslicher Verwahrlosung in
F.-E., hat bereits eine antisyphilitische Kur hinter sich und ist gonorrhoisch in¬
fiziert. Die Untersuchung ergibt Basedowsymptome und eine Reihe von Degene¬
rationszeichen: Turmschädel, sehr schmale, fliehende Stirn, Haare tief in die Stirn
gewachsen, angewachsene Ohrläppchen, Zähne von rachitischer Struktur, Ver¬
krümmung beider 5. Finger, dazu starker Exophthalmus, Struma, Tremor, keine
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
689
Tachykardie. Sie klagt Schwindelneigung, nächtliches Aufschrecken mit Zittern,
Kopfschmerzen und Neuralgien. Die Intelligenz ist intakt.
Ihre Erzählungen, die sich mit der objektiven Anamnese decken, ergeben
folgendes: Die Eltern hätten schlecht miteinander gelebt, aber beide ihr gutes
Auskommen gehabt. Sie habe 5 gesunde Geschwister, darunter 3 Schwestern,
deren älteste, jetzt 23 Jahre alt, vom Vater, der Säufer sei, im Alter von 6 oder
7 Jahren vergewaltigt wurde. Die Mutter machte Anzeige, und der Mann wurde
zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Kinder blieben sich vielfach selbst tiber¬
lassen, da die Mutter auf einem Schiff als Köchin fuhr und manchmal monatelang
fort war. Zur Zeit einer solchen längeren Abwesenheit von Hause habe der Vater
sich an ihr — sie war damals 12 Jahre alt — vergriffen, zuerst unzüchtige Hand¬
lungen mit ihr vorgenommen, dann normalen Verkehr. Später habe er sie auch
oft auf seinen Kahn bestellt, meist um das Wirtschaftsgeld zu holen, und sie bei
dieser Gelegenheit gemißbraucht. Eigentlich vergewaltigt habe er sie nicht,
sondern er sei immer sehr freundlich zu ihr gewesen, habe ihr gut zugeredet und
gesagt, als Vater habe er das Recht, an ihr zu tun, was ihm beliebe. Gelegentlich
war er sehr eifersüchtig und verbot ihr, je mit einem anderen Manne zu verkehren.
Sie habe auch der Mutter nichts gesagt, dies erst getan, als jene am Kehlkopf¬
krebs erkrankte und sich einer Operation unterziehen mußte. Nun habe der Vater
alles geleugnet und von Mi. ein Schreiben verlangt, in dem sie ihre Bezichtigungen
als Unwahrheiten hinstellen sollte. Später habe sie viel mit anderen verkehrt,
war erst mit 15 Jahren, also 3 Jahre nach der Untat des Vaters, menstruiert, ist
ihren 16 Jahren entsprechend entwickelt.
Heredität : Vaters Vater Trinker, Vaters Mutter hat stark religiöse Neigungen.
In der Familie sei immer viel Zank gewesen. Die Eltern der Mutter seien früh ge¬
storben, die Mutter habe aber erzählt, es seien streng katholische und sehr brave
Menschen gewesen. Der Vater ist Alkoholist, die Mutter sei gesund gewesen bis
zu ihrer Erkrankung an Kehlkopfkrebs. Es war eine konfessionelle Mischehe,
der Vater evangelisch, dann Dissident, die Mutter fromme Katholikin, das Mädchen
selbst als Neugeborenes evangelisch, mit 18 Jahren katholisch getauft. Mi. St.
ist ein erblich stark belastetes, originär nervöses, degeneriert aussehendes Mädchen ,
das an beginnendem Morb. Basedowii leidet. Intelligenzschwächen sind nicht nach¬
zuweisen.
Fall 9. Walla, 15 Jahre alt, kommt durch Vermittlung des Polizeipräsidiums,
nachdem sie gelegentlich einer Razzia in einem Nachtcafe morgens 5 Uhr mit
ausgehoben winde, in F.-E. Sie ist gonorrhoisch infiziert, sieht blaß und kränk¬
lich aus.
Die Untersuchung des Geisteszustandes ergibt keine Besonderheiten. Gemüt¬
lich ist sie zunächst stark deprimiert, doch gibt sie an, ein sehr fröhliches Kind
gewesen zu sein. Nach einiger Zeit wird sie freier, hat dann eher etwas anschmie¬
gend Scheinheiliges, gewissermaßen um Beachtung Bittendes; ist aber freundlich
und höflich.
Heredität: Vaters Vater starker Trinker, im Arbeitshaus gestorben, Vaters
Mutter 71 Jahre alt, arbeitet und verdient noch; Vaters Geschwister gesunde Ar¬
beiter, der Vater selbst 45 Jahre alt, Trinker. Mutters Vater unbekannt, deren
Mutter 67 Jahre alt, hat einen 55 jährigen Mann geheiratet, die übrigen Familien¬
mitglieder sind Landleute. Die Mutter selbst ist gesund, 47 Jahre alt. Wallas eine
Schwester hat sich mit 21 Jahren das Leben genommen, sei immer schwermütig
gewesen, an ihr soll sich der Vater auch vergriffen haben; eine andere Schwester
ist gesund, habe ein uneheliches Kind mit einem Polen.
W 7 alla ist zunächst in einem ganz verzweifelten Zustande und erzählt ganz
erschüttert ihre Erlebnisse. In der Schule habe sie gut gelernt. Vater sei öfter
690 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
betrunken und dann zu Roheiten geneigt, sonst aber gut zu ihnen allen gewesen.
In ihrem 14. Lebensjahr, als sie noch zur Schule ging, habe er sie morgens im Fe<
bruar, als Mutter schon wie alle Tage auf Arbeit war, sexuell angegriffen, dann
ein zweites Mal im August desselben Jahres unter den gleichen Verhältnissen
und kurze Zeit darauf, als er mit ihr gelegentlich eines Besuches bei der Gro߬
mutter durch die Felder zum Bahnhof ging. Sie pflückten Kornblumen, und er
habe sie in das Feld hineingestoßen. Seitdem habe er sich von ihr alles gefallen
lassen. Wenn er in der Trunkenheit die Mutter prügeln wollte, habe sie, Walla..
auf ihn eingeschlagen. Dann habe er wie ein Kind geweint und sich nicht gewehrt.
Angeblich habe sie bis zu dem Attentat des Vaters noch keinen Verkehr gehabt.
Sie habe auch gegen niemand darüber sprechen wollen; aber bei der Geburts¬
tagsfeier einer Freundin plauderte sie unter der Wirkung des genossenen Alkohols
die Sache aus. Die Eltern ihrer Freundin brachten es zur Anzeige. Walla und ihr
Vater wurden einander gegenübergestellt. Er leugnete alles, was sie angab, nannte
sie verlogen und arbeitsscheu, wurde aber in Untersuchungshaft behalten. Sie
gibt Verkehr zunächst mit gleichalterigen Jungen, später mit Erwachsenen noch
vor der ersten Menstruation im 14. Lebensjahr, aber nach dem ersten Attentate
des Vaters, zu. Sie sei wegen der schlechten Aufführung des Vaters mehrmals
von Hause fortgelaufen und habe sich dann herumgetrieben, macht einmal ein
Con. suic. (Gasvergiftung) ohne bestimmten Grund. Walla ist eine psychopathische
Persönlichkeit mit manisch-depressiven Zügen .
Anhang.
2 Fälle aus Schweizer Anstalten:
Fall 10. Eine Frau E., ordentlich und arbeitsam, gibt an, daß sich ihr trunk¬
süchtiger Mann mit seiner eigenen 12 jährigen Tochter vergangen habe. Sie machte
sofort Anzeige. Der Mann bekam 2% Jahre Gefängnis, das Mädchen wurde einer
Erziehungsanstalt überwiesen. Nach verbüßter Strafe wurde der Übeltäter, da er
Ausländer war, in seine Heimat abgeschoben, wohin ihm die von ihm verführte
Tochter, die sich von der Mutter alsbald losmachte, folgte. Es scheint, daß das
Kind die schlechten Instinkte vom Vater überkommen hat. Die 3 Söhne hielten
zur Mutter, schienen sich tüchtig zu entwickeln, bis einer von ihnen, angeblich
durch schlechte Gesellschaft verführt, sich zu einem Einbruchsdiebstahl hinreißen
ließ, für den er gegenwärtig im Gefängnis büßt, tief bereuend, wie die Mutter er¬
zählt. Bei dem im Alter von 12 Jahren verführten Mädchen scheint ein Fall von
frühreifer Erotik mit der Perversion, daß sie sich auf den eigenen Vater richtet,
vorzuliegen. Die Mutter erzählt, daß das Kind vollständig über die Sache ge¬
schwiegen und die Annäherungen des Vaters schon längere Zeit geduldet habe.
Verraten wurde es durch die jüngeren Brüder. An der schlechten Veranlagung des
Mädchens mag das Potatorium des Vaters nicht ohne Schuld sein. Im übrigen
haben wir hier einen der seltenen Fälle, welche die Freudsehe Schule als Norm
annimmt, offenbar in Verkennung des Umstandes, daß die hohe Verehrung der
Tochter für den Vater, wie auch umgekehrt, die große Liebe der Söhne zu den
Müttern physiologisch wohl die Eigenschaften des anderen Geschlechtes mehr
bewundert, ohne daß damit auch nur die Spur geschlechtlicher Einstellung ver¬
bunden zu sein braucht. Wie schon erwähnt, würde unter gesunden Verhältnissen
ein Ubergreifen des einen Elternteiles von elterlichen Empfindungen auf erotische
bei normalen Kindern nur Abscheu und Entsetzen hervorrufen. Bei dem hier
erwähnten Mädchen und seinen perversen Neigungen sind ohne weiteres tiefer¬
liegende degenerative Vorgänge anzunehmen.
Fall 11. Frau G. Das zweite, in der Schweiz spielende Vorkommnis hat mit
dem vorerwähnten äußere und innere Vergleichsmomente. Frau G. hatte mit
an Berliner weiblichen FürsorgezögJingen. 691
ihrem Mann erster Ehe 8 Kinder. Nach seinem Tode verheiratete sie sich wieder
und gebar nochmals 8 Kinder. Der zweite Mann ging mit der ältesten Tochter
erster Ehe ein Verhältnis ein, dem ein von dem Mädchen im Alter von 18 l / 2 Jahren
geborenes Kind entsprang. Der Mann bekam 2 1 / 2 Jahre Strafe, das Mädchen kam
in ein Rettungshaus, die rechtmäßige Frau ließ sich scheiden. Nach verbüßter
Strafe soll der Mann weiter mit seiner Stieftochter gelebt haben. Hier lag absolute
Bereitwilligkeit beider Teile zu dem Verbrechen vor. Die Straffreiheit des einen
ist nur auf den Zufall zurückzuführen, daß der Verkehr nachweislich vor dem
vollendeten 18. Lebensjahre begonnen hatte. Die psychiatrische Durchforschung
der Familie mußte sich auf das eigentliche Opfer der Katastrophe, die zwischen
Gatten und Tochter stehende Frau beschränken. Über den ersten Mann und Vater
der jugendlichen Ehebrecherin war nicht mehr viel zu erfahren, als daß er ver¬
hältnismäßig jung an Tuberkulose starb. Die Mutter der insgesamt 16 Kinder
hatte keinen guten Leumund. Sie galt seit vielen Jahren als Potatrix strenua und
als Arbeitsscheue. Außerdem hatte sie die weitgehende Neigung, sich durch Aggra¬
vation und Simulation monatelang dauernde Krankenhausaufenthalte zu er¬
schleichen, was ihr nach den Spitalsberichten mindestens 7 mal geglückt ist.
Obwohl sie noch verhältnismäßig körperlich rüstig ist, erfolgte ihre Aufnahme in
ein Siechenhaus wegen Alkoholismus chron. und Arbeitsscheu. Auch hier wollte
sie zunächst an keine Tätigkeit heran, sondern hoffte ihre Tage auf der etwas be¬
quemeren Krankenabteilung daselbst zu verbringen. Als ihr nur die Wahl blieb, ent¬
weder in der Wirtschaft etwas zu leisten oder entlassen zu werden, stand sie auf
und bemühte sich, nicht ohne tägliche Klagen über ihren schwachen Gesundheits¬
zustand, doch etwas zu tun. Von den Kindern erster Ehe leben außer dem oben
angeführten Mädchen nur noch 2, die ordentlich sein sollen, aus der zweiten Ehe
leben noch 7 und fallen den Gemeinden zur Last. Wenn gegen den Mann erster
Ehe nichts Besonderes einzuwenden ist, so ist hier als degeneratives Element in
der Familie wiederum das Potatorium, überhaupt die Depravation, diesmal der
Frau und Mutter, anzuführen. Der Verbrecher war der Stiefvater, aber die Be¬
reitwilligkeit, mit der die erwachsene Tochter sich seinen Wünschen gefügig zeigt
und dabei verharrt, ist doch als ein Erbteil der mütterlichen ethischen Verkümme¬
rung anzusehen, zu der selbstverständlich noch Milieu Verderbnis trat. Schon der
Anblick der betrunkenen Mutter in diesem wimmelnden und schlecht gehaltenen
Kinderhaufen mag nichts Erhebendes geboten haben, so daß die Verlockungen
des jugendlichen Stiefvaters auf empfänglichen Boden fielen.
Die Verführer und die Umwelt der Inzestopfer.
Mit der allgemeinen Lockerung ethischer Beziehungen in gewissen
Zeitläuften fällt selbstverständlich auch die Straffheit der Inzest-
schranke. Ob die Blutschande sich gegenwärtig ebenso breitmacht
wie andere Kapitalverbrechen, ist schwer festzustellen, da die zwei
Beteiligten ihre Untat ängstlicher und sicherer behüten, als andere
Verbrecher das können, da hier der Inkulpat und sein Opfer in den
meisten Fällen die gleiche Neigung zur Verheimlichung haben, oft
auch gemeinsam schuldhaft sind. Meine Beobachtungen an weib¬
lichen Jugendlichen ungünstigster Herkunft, zum Teil prostituierte
F.-Z., sind nicht umfangreich genug, um sie statistisch auszuwerten.
Angenommen, es bestehe zwischen Personen von großer verwandt¬
schaftlicher Nähe keine eingeborene Antipolarität, so sind doch zweifei-
692 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
los, wenn wir nicht von ursprünglichen Sittengesetzen sprechen wollen,
tief verankerte Hemmungen vorhanden, welche die geschlechtliche
Vermischung mit blutgemäß zu Nahestehenden abweisen. Die weitere
Frage, ob normalerweise lediglich die Stimme des Blutes die Individuen
von erotischen Beziehungen zueinander abhält, läßt sich aus den
wenigen bekannt gewordenen Fällen nicht mit Sicherheit feststellen.
Die griechische klassische Periode nahm eine solche Wamerstimme
nicht an; denn Ödipus geht ahnungslos in die ihm von den Göttern
gestellte Falle. Ich habe versucht, auf dem Boden der Tatsachen
einige Persönlichkeiten zu fixieren, die als Inzestopfer ein besonderes
Interesse verdienten. Sie wrurden nach ihrer Veranlagung in mehr
oder weniger Schwachsinnige, in psychopathisch-hysterische, in neuro-
psychopathisch Veranlagte und in Normale, w r elch letztere Rubrik
bezeichnenderweise leer blieb, eingeteilt, womit schon angedeutet ist,
daß nicht nur die aktiv Inzestuösen, sondern noch vielmehr ihre Opfer
eines kranken Einschlages nicht entbehren. Eine weitere Gliederung
gab der Umstand, daß in 8 Fällen der leibliche, in 3 Fällen der Stief¬
vater der Verbrecher war. Bei dem intellektuellen und ethischen
Niveau der Vergewaltigten ist für sie der Unterschied zwischen echter
Blutschande und einem ethisch-inzestuösen Verhältnis kaum erkennbar.
Die äußeren Verhältnisse der Verbrecher zeigten eine sicher nicht
zufällige Übereinstimmung, und es fallen eine Reihe von Tatsachen
auf, die zu einer Typologie und Verallgemeinerung hinleiten. In 6 Fäl¬
len, wo das Alter des Ehepaares, deren einer Teil schuldhaft w*ar,
erfragt wurde, w r ar die Frau älter als der Mann, z. B. Steps (1. F.)
Vater 52, die Mutter 60, Hepos’ (2. F.) Vater 53, die Mutter 58, Ro.s
(3. F.) Vater 35, die Mutter 37, Hed.s (4. F.) Stiefvater 36, die Mutter 42,
Wallas (9. F.) Vater 45, die Mutter 47 Jahre alt. Frau G. (2. F. des
Anhanges) ist ebenfalls erheblich älter als ihr Mann. Lo.s Vater wrt
seit Jahren Witwer, als er sich an ihr vergriff. Mi. St.s und Kl. Gu.s
Eltern lebten in außergewöhnlich unglücklicher Ehe.
Das höhere Alter der Frau spielt bei der schwerarbeitenden Bevöl¬
kerung, wo der Frau wenig Zeit bleibt, ihr Äußeres zu pflegen, eine
verhängnisvolle Rolle. Hepos weist selbst darauf hin, daß ihre blinde
und taube, kränkliche Mutter eine alte Frau, der Vater ein noch statt¬
licher Mann sei. Ähnlich spricht sich Step über ihre Eltern aus. Sind
die Ehen in besonders jugendlichem Alter geschlossen, wie es bei Ro.s
Eltern der Fall war, wo der Vater nur 21 Jahre älter ist als seine Tochter,
so liegt auch darin das Moment einer Inzestgefahr.
Auch die Ähnlichkeit der Tochter mit der noch lebenden oder
verstorbenen Mutter wie im Falle Lo., kann eine Inzest Verlockung in
sich schließen. Zur Psychologie derartiger Verhältnisse hat vor Jahren
die österreichische Schriftstellerin Lola Kirschner einen lesenswerten
an Berliner weiblichen Flirsorgezöglingen.
693
Roman geschrieben. Ein feinsinniger, sehr junger Mann verliebt sich
in eine reife Frau, die ihre, aus einer jugendlichen Irrung stammende
Tochter in die Ehe mitbringt. Die Frau entpuppt sich beim Zusammen¬
leben als ein ganz banales, der Bequemlichkeit ergebenes Wesen. Die
Tochter ähnelt der Mutter nur äußerlich und entwickelt sich unter der
Erziehung des liebevollen Stiefvaters mehr und mehr zu dem Ideal,
als welches seine Frau ihm vor der Ehe vorgeschwebt hatte. Ethische
Bindungen lassen die beiden Partner, Stiefvater und Stieftochter,
kaum daß sie zur Erkenntnis ihrer unerlaubten Gefühle gekommen
sind, den Tod suchen, ehe sie sich verloren haben. Man könnte bei
einigen der hier geschilderten Inzestfälle an ähnliche Ursprünge denken,
nur daß hier alles gröber und hemmungsloser vor sich geht, die Motive
sich zwar ähneln, aber in ihren Auswirkungen weit auseinanderlaufen.
Jedenfalls überholt die Wirklichkeit den Roman gelegentlich bei weitem.
Ich erinnere an den von Marcuse 22 ) mitgeteilten Fall, wo ein Vater
mit seiner Tochter 5 Kinder zeugte und zu seiner Entlastung angab,
die Tochter sei das Spiegelbild seiner verstorbenen und von ihm ab¬
göttisch geliebten Frau.
Die rein psychologische Beurteilung kommt auf andere Komplexe
in den Ehen, wo die Väter die obere Grenze des Mannesalters erreichend,
den Besitz der jungen Tochter erstreben, wie der 52 jährige Vater Steps,
der 45jährige Wallas und der 53jährige Hepos\ Einige Autoren haben
von einem Klimakterium des Mannes gesprochen und dieses mit einer
hemmungslosen Genußsucht nach den Freuden und Erfolgen der
Jugend, mit einer Vorliebe für das an der Schwelle der Kindheit stehende
Weib vergesellschaftet gedacht. Dies führt einerseits zu Ehen zwischen
im weitesten Sinne Altersverschiedenen, wobei der Mann die doppelte,
die dreifache Anzahl der Jahre bei der Eheschließung zählen kann,
anderseits zu reizvollen oder auch schändlichen Freundschaften
zwischen jung und alt. Sie finden sich ausgesprochen oder in Andeu¬
tungen häufig genug bei künstlerisch Schaffenden, haben deswegen
auch in der Dichtkunst einen vielfachen Niederschlag gefunden, am
ergreifendsten den des Verzichtes in Goethes Trilogie der Leidenschaften,
vielleicht weil es hier ein letztes Abschiednehmen von der Jugend war.
In der schönen Literatur zeigen sich allenthalben Spuren von Indiskre¬
tionen, welche die Dichter an ihrem eigenen Erleben in köstlichen
Versen begehen. Da singt Storm, der glückliche Gatte und Vater,
einmal in späten Jahren von einem halben Kind: ,,Und plaudernd hing
sie mir am Arm, sie halberschlossen erst dem Leben, ich zwar nicht
alt, doch grade da, wo uns verläßt die Jugend eben usw.“! Da deuten
Mörikesche Verse auf Ähnliches hin, da legt Hauptmann in der ,,Ver¬
sunkenen Glocke“ ein Bekenntnis ab, und der fast 80jährige Spitteier
hat eine solche späte Neigung zu einer Jüngsten in den Glockenliedern
694 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
im Scherzo in eine besonders reizvolle Form gegossen. Dieselbe Sehn¬
sucht, die bei der klimakterischen Frau die Melancholie des notwendigen
Verzichtes auslöst, täuscht dem Mann im Lebensherbst einen köst¬
lichen letzten Frühling vor, der allerdings nicht selten in einer großen
Tragödie sein Ende findet. Dieselbe physiologische Einstellung, die bei
höher organisierten Naturen der Urquell feinster Gefühle und Emp¬
findungen wird, mag brutale Individuen zu Scheußlichkeiten wie
Inzest und Kinderschändung führen.
Wo der Mann durch eine unglückliche Ehe, wie in den Fällen von
Wallas und Hed. Mö.s Eltern, bei welch ersteren auch noch die zwischen
den Gatten liegende räumliche Entfernung eine Rolle spielt, verein¬
samt, kann auch das ein äußerer Grund zum Inzest werden, wohl¬
gemerkt nur ein äußerer; denn die innere Struktur der hier beobach¬
teten inzestuösen Väter enthält immer weitgehende degenerative Züge.
Der Alkoholismus als Kausalitätsmoment für den Niedergang ethischen
Empfindens und als Symptom einer verkommenen Anlage in der
Hemmungslosigkeit des akuten Rausches spielen bei den hier durch¬
forschten Fällen die Hauptrolle. Bei Ro.s Vater konnte darüber
nichts erfragt werden; aber die Geburt zweier schwachsinniger Kin¬
der läßt bejahende Rückschlüsse zu. Steps Vater ist ein ausgesproche¬
ner Säufer und beging die Verbrechen jedesmal im Rausch. Der Vater
von Mi. St. ist Trinker und stammt von einem Trinker ab. Dasselbe
ist in der Familie Walla der Fall. Auch die Väter von Barbe und Hepos
sind Trinker. Der Stiefvater von Kl. Gu. war Alkoholist und Geistes¬
kranker, Hed. Mö.s Stiefvater Alkoholist. Selbstverständlich ist das
Potatorium der natürlichen Väter als schwerbelastendes Hereditäts-
moment für die Deszendenz, das Opfer des Inzestes heranzuziehen.
Neben den Vätern spielen die Mütter durchaus nicht immer die Rolle
der Tugend bewachenden Erzieherinnen. Die Dinge liegen häufig so,
daß die Mutter, sobald sie Kenntnis von dem Vorfall erhält, voller
Zorn gegen den Gatten zur Denunziation schreitet. Zur Besinnung
gekommen, daß mit der Verhaftung des Übeltäters der Familie gleich¬
zeitig der Ernährer genommen ist, zieht sie die Beschuldigung zurück
und beeinflußt das geschändete Kind, seine Aussagen ebenfalls zurück¬
zunehmen, wozu dieses unter dem Druck der Verhältnisse fast immer
bereit ist. Es ist ein besonderer Fall, wenn Step sich dabei gar nicht
beruhigen will und immer wieder ihre Familie bittet, doch den Ver¬
brecher seiner Strafe zuzuführen, sie aber aus der F.-E. zu nehmen.
Ihre tiefen Depressionen gehen immer wieder auf das erlittene Unrecht
zurück. Daß man aus wirtschaftlichen Gründen innerhalb der Familie
solch schwere Verfehlungen so leicht verzeiht, hängt doch vielleicht
mit der Not in Deutschland und mit dem Genußwillen, der aus lang¬
jährigen Entbehrungen wuchs, zusammen. Einige Geschehnisse, die
an Berliner weiblichen Fttrsorgezöglingen.
695
ich in einer Schweizer Anstalt beobachten konnte, allerdings nur in der
Form, daß ich die Mütter der unglücklichen Kinder keunenlemte,
zeigten einen ganz anderen Ausgang. Die Anzeigen erfolgten sofort.
In der Verhandlung blieben die Frauen bei ihren Aussagen, ohne Mit¬
leid mit dem Sünder, ohne Schonung ihrer wirtschaftlichen Lage.
Die Bestrafung des Schuldigen war ihnen eine Genugtuung. Sie selbst
ließen sich von dem Unhold scheiden.
Die Nachkriegszeit, die schließlich seit der Inflationsperiode schon
aus volkswirtschaftlichen Gründen häufig energische Strafen nicht
durchführen konnte und sich in viel ausgiebigerem Maße als früher
mit der Bewährungsfrist helfen mußte, aus denselben Gründen der
Zurücknahme einer Anzeige leichter entgegenkommt, hat die foren¬
sischen Schranken vielfach insuffizient gemacht. Ein Verbrechen
aber straffrei ausgehen sehen, ist der Anreiz zu 10 anderen ähnlichen.
Das Studium der hier zusammengestellten Fälle hinterläßt bei Betrach¬
tung ihrer kriminalistischen Einschätzung ein gewisses Mißbehagen,
selbst bei objektiver Beurteilung.
Ro.s Vater ist, nachdem die Frau die Anklage zurückgenommen
hat, unter Zubilligung einer Bewährungsfrist, für den Verstand des
ungebildeten Laien, z. B. auch für den des Kindes,- straffrei ausgegangen.
Mi. St.s Vater erzwang von seiner Tochter ein Schreiben, daß
alles, was sie vorgebracht hatte, erlogen sei. Entweder ist es zu einer
Anzeige hier überhaupt nicht gekommen, oder diese ist zurückgenommen
und die Sache niedergeschlagen worden — etwa im Jahre 1922. Das¬
selbe Verbrechen an der anderen Tochter, als diese 6 Jahre alt war,
im Jahre 1910 begangen, fand damals seine Sühne in einer 3jährigen
Zuchthausstrafe.
Hed. Mö.s Vater wurde durch eine Nachbarin angezeigt, aber
auf freiem Fuß belassen. Später nahm die Frau die Anklage zurück,
und die Sache war damit erledigt.
Kl. Gu. gibt an, ihr Vater sei angeklagt und verurteilt, aber nach
Strafantritt wegen Geisteskrankheit wieder entlassen worden, etwa
im Jahre 1917. Wallas Vater ist, obwohl er alles leugnet, zunächst in
Untersuchungshaft gekommen. Weiteres ist bis jetzt nicht zu erfahren.
Die Angelegenheit Hepos ist offenbar gar nicht zur Anzeige gekom¬
men. Die kranke Mutter wird die nötige Energie nicht aufgebracht
haben.
Lo. hatte ihr trauriges Abenteuer zu Lebzeiten des Vaters ver¬
schwiegen und kam erst viel später damit heraus. Sie behauptet, der
Vater sei nicht wegen dieses Verbrechens, sondern aus einem ihr unbe¬
kannten Grunde ins Gefängnis gekommen und habe sich dort selbst
entleibt. Möglicherweise war doch von unbeteiligten Zeugen eine An¬
zeige eingelaufen.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII.
45
696 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
Die Angelegenheit Barbe ist als Inzestfall mindestens zweifelhaft.
Sie wurde aber mit auf genommen, weil gerade derartige halbgeklärte
Vorkommnisse für die Geschichte der Sexualvergehen und für Inzest
charakteristisch sind wegen der labilen Persönlichkeiten der sich als
Opfer darstellenden Individuen. Schon bei Lo.s Veranlagung steigen
Zweifel auf, ob sich alles so verhalten hat, wie das Mädchen es dar¬
stellt. Bei Barbe ist es wahrscheinlich, daß sie die ganze Verführungs¬
geschichte erfunden oder ganz anders dargestellt hat, als diese sich zutrug.
Geht der Täter frei, eventuell unter den Bedingungen der Bewäh¬
rungsfrist scheinbar unbestraft aus, so fühlen sich als Bestrafte immer
nur die Opfer, denen F.-E. zudiktiert wurde. Daß sie zur Bewahrung
und nicht zur Strafe in der Anstalt sind, will namentlich den Schwach¬
sinnigen nur schwer eingehen.
Ohne das Gebiet ethisch-juristischer Fragen aufzurollen, läßt sich
doch der Hinweis nicht unterdrücken, daß das Beobachten derartiger
Fälle von unterbliebener oder nicht recht zum Verständnis kommender
Sühne auf das Volksempfinden den denkbar schlechtesten Eindruck
macht. Der Erzieher, der Jurist, der Arzt, der Jugendhelfer bekommen
nur den Extrakt der Vorgänge zu sehen und zu hören; aber die Bewohner
eines Häuserviertels einer Großstadt, innerhalb dessen die Untaten sich
abspielten, oder die Einwohner einer Kleinstadt, eines Dorfes sind mit
der einfachen Tatsache und ihren Auswirkungen nicht zufrieden,
Kinder und Erwachsene nehmen wochenlang an dem unsauberen
Vorkommnis den innigsten Anteil und werden durch eine ihnen unge¬
nügend scheinende Sühne demoralisiert.
Am wenigsten zufrieden sind die Frauen aus dem Volk, deren
gesundes Empfinden in allen Fällen von Notzuchtsattentaten und
Inzestvergehen nach strenger Bestrafung der Schuldigen ruft, und das
auch noch heute, wo im allgemeinen die Ansichten über Reinhaltung
der Geschlechtsehre sich erheblich gelockert haben. Das natürliche
Rechtsempfinden empört sich in gleicher Weise gegen Vergewaltigung
eines Kindes, gegen Verschiebung der väterlichen Verhältnisse auf
ganz andere Bahnen und gegen das Unrecht, das der Mutter des Kindes
in zwiefacher Richtung geschieht. Wenn diese ihre Anklage schlie߬
lich zurücknimmt, so liegen für ihre Sinnesänderung, wie schon oben
erwähnt, ganz andere Gründe als etwa ein verstehendes Verzeihen vor.
Auch der Verkehr zwischen Stieftochter und Stiefvater stößt bei den
Frauen aus dem Volk durchaus nicht auf Entschuldigungen, und ich
kann Leppmann 20 ) darin nicht recht geben, wenn er sagt, daß ein
intimer Verkehr in diesem Sinne beim Volk überhaupt nicht als Blut¬
schande angesehen werde.
In allen von mir beobachteten Fällen war das blutschänderische
Verbrechen an Mädchen im Alter von 9 bzw., wenn Barbes Fall ein-
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen. (597
bezogen wird, 7 — 14 Jahren begangen worden. Diese Kinder gingen dann
unter allen Umständen straffrei nach § 173 StGB. aus. Ihre Ver¬
bringung in eine F.-E.-A. war begründet mit den Milieuverderbnissen,
denen sie ausgesetzt waren. Es fällt auf, daß Taubheit und Blindheit
der Mutter oder beides zusammen hier dreimal zu beobachten war
und entschieden zu Heimschädigungen besonderer Art geführt hatte,
einmal indem die Mütter von manchen Dingen, die um sie vorgingen,
keine Kenntnis gewannen, oder daß, wie im Fall Barbe, die Mutter
ihr Sinnesgebrechen wirtschaftlich ausnutzte, sich der öffentlichen
Wohltätigkeit durch Ausstellen ihres Gebrechens beim Hausierhandel
empfahl und dabei die Hilfe der jungen Tochter als Führerin bedurfte.
Andererseits war die Zuchtlosigkeit der eigenen Lebensführung, die
häufig durch das schädliche Erlebnis herbeigeführt oder geweckt
worden war, oder alle drei Eventualitäten Ursache zur Verbringung
in eine F.-E.-A. Juristisch hatte der Vater oder Stiefvater als Ver¬
wandter der aufsteigenden Linie die Verantwortung für das Vorkomm¬
nis allein zu tragen, allerdings, wie schon erwähnt, nur selten und mäßig
zu büßen. Ein von mir beobachteter, aber nur gelegentlich erwähnter
Fall, der etwa 10 Jahre zurückliegt und inzestuöse Beziehungen zwischen
der 12jährigen Schwester mit dem 17jährigen Bruder betrifft, die zur
Konzeption der Zwölfjährigen führte, blieb für beide straffrei, da sie
das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Während in den hier
zusammengestellten Fällen, mit Ausnahme der weiter zurückliegenden,
die Strafen für das Laienempfinden sehr milde erscheinen müssen,
finden 2 in der Schweiz beobachtete Inzestvergehen, die als Anhang
bei der Kasuistik eingereiht sind, ihre volle Sühne. Im ersten Fall
machte die Frau, als ihr bekannt wmrde, daß ihr Mann sich an der
eigenen Tochter vergangen hatte, ungesäumt Anzeige, der Mann bekam
seine Strafe. Das geschändete Mädchen ist aber in diesem Fall in
vollem Einverständnis gewesen, was sie dadurch bewies, daß sie später
von ihrer Mutter nichts wissen wollte, sondern mit vollem Bewußt¬
sein mit dem Vater ins Ausland ging und sich in sexuell erotischer
Weise ganz auf seine Seite schlug. Im zweiten Falle handelt es sich
um eine Tochter erster Ehe, die ihre Mutter mit deren Gatten zweiter
Ehe betrog. Auch hier hatte die Bestrafung des Mannes mit 3 Jahren
Gefängnis und die Verbringung der Tochter in eine Besserungsanstalt
keinerlei Einfluß auf die Moral der beiden Beteiligten, die zusammen
weiterlebten, nachdem sie freigekommen waren. Sie gingen w r ie die
Vorhererwähnten schließlich ins Ausland und dachten gar nicht daran,
voneinander zu lassen. Die beiden Mädchen waren natürlich straffrei,
da sie unter 18 Jahren die Verhältnisse eingegangen waren.
Zusammenfassend wäre zu bemerken, daß Inzest verbrechen bzw.
eine Gefahrzone für Schaffung solcher in hervorragender Weise in
45 *
698 H. Fr. Stelzner: Der Inzest Mit kasuistischen Beobachtungen
Alkoholistenfamilien besteht. Es kann sich um chronischen Alkoholis¬
mus handeln, der, wie alle gewohnheitsmäßig genommenen reizenden
und berauschenden Gifte, zu einem sicheren moralischen Abstieg des
Individuums führt, oder um seine akuten Auswirkungen, die anfalls¬
mäßig alle Hemmungen aufheben, eine sexuelle Hyperästhesie herb^i-
führen und die Perspektiven auf die Folgen des Verbrechens verschleiern.
In zweiter Linie bereitet dieses Laster durch seine hereditär degenera-
tiven Einwirkungen den Boden für das Verbrechen innerhalb der
Familie an seinen einzelnen Gliedern vor. Schwachsinn, epileptische,
neuropathische Anlagen, häufig auch ein chronisch-hypomanischer
Zustand, wie er sich gelegentlich bei Trinkerkindem findet, der sich
in allgemein leichtsinniger Lebensführung dokumentiert, lassen die in
ihrer Geschlechtsehre Angegriffenen nur zu leicht und widerstandslos
zu Opfern der Verführung werden oder, wie es bei Geschwisterinzest
vorkommt, bei zwei Individuen gemeinsame unlautere Wünsche ent¬
stehen. Neben diesen inneren Gründen kommen bei den wenigen genau
beobachteten Fällen noch eine Reihe äußerer dazu, in erster Reihe
die Wohn- und Schlaf Verhältnisse. Bei Geschwisterinzest ist es fast
immer das gemeinsame Nachtlager, das langsam und unmerklich mit
dem Wissendwerden der Kinder sie zu dem Laster treibt. Kinder,
die, herangewachsen, noch immer die Schlaf Stätte teilen, wie sie
es als Säuglinge taten, dazu Großstadtkinder, die bei entsprechender
Veranlagung ihre Reizungen von allen Seiten, aus Gesprächen mit Er¬
wachsenen, mit Schillgenossen, aus obszönen Bildern in den Schaufenstern
und aus der Schundliteratur beziehen und infolgedessen in alle möglichen
Unanständigkeiten eingeweiht sind, kommen schließlich ohne weiteres
darauf zum gemeinsamen Verkehr überzugehen. Stekels 37 ) Erfahrungen
illustrieren derartige Verhältnisse in hoffnungslos dunklen Farben,
wenn er sagt, daß er genügend Beispiele kennengelemt habe, wo die
im frühesten Alter angeknüpften sexuellen Beziehungen bis nach der
Pubertät und noch viel später fortgesetzt werden. Meines Erachtens
ist dies überhaupt nur denkbar unter Kindern, deren imglückliche
Veranlagung ihnen ein frühes Verständnis für solche Beziehungen gab,
oder bei denen dieses Verständnis gerade durch die unseligen Wohn¬
verhältnisse, durch das Zusammenschlafen mit Erwachsenen, mit den
Eltern oder mit Schlafburschen oder Schlafmädchen geweckt wurde.
Aus den Erfahrungen an F.-Z. geht hervor, wie früh sie sich ein böses
Wissen aneignen, wie intensiv sich manche von ihnen damit beschäf¬
tigen und welche Gossenausdrücke ihnen zur Verfügung stehen, aus
denen sie sich koprolalische Lustgewinne schaffen. Daß die dadurch
gesetzten Reizungen zur Betätigung drängen, sehr früh zu Unzuchts¬
akten zwischen blutsfremden Kindern, vielleicht noch häufiger zu
solchen zwischen Geschwistern führen, ist bekannt. Das Beispiel Hed-
an Berliner weiblichen Ftirsorgezöglingen. 699
wig Mö. 8, die mit ihrem 15jährigen Vetter verkehrte, während Mutter
und Tante Zeitungen austrugen und die Kinder in der Wohnung sich
allein überlassen blieben, gehört auch in dieses Gebiet.
Auch Vater-Tochter-Inzest wird durch Wohnungsnot, Arbeits¬
verhältnisse und Schlaf sitten eingeleitet. Ein längerer Krankenhaus -
aufenthalt der Mutter wurde häufig zum Verhängnis für die Tochter,
die mit dem Vater allein im selben Zimmer schlief. In den hier zusam¬
mengestellten Fällen fanden sich noch folgende ungünstige Konstella¬
tionen: Die Mutter ging des Morgens Zeitungen austragen und ließ
Vater und Tochter allein. Wallas Mutter ging täglich auf Arbeit, und
zwar erheblich früher als ihr Mann. Mi. St.s Mutter war gar monate¬
lang von Hause entfernt, indem sie als Schiffsköchin auf einem Dampfer
fuhr, und Frau Step hatte für einige Wochen eine Dienststelle außer¬
halb angenommen. Verhängnisvoll im selben Sinne kann auch die
Witwerschaft des Vaters werden, wenn er mit einer heranwachsenden
Tochter allein wirtschaftet und wohnt, aber auch ohne ein derartiges
Aufeinanderangewiesensein, wie z. B. im Falle Lo., die ihr Vater auf
große einsame Spaziergänge mitnahm, auf denen er sich ihr näherte,
da sie nicht allein wohnten.
Hat der Verkehr einmal bestimmte Formen angenommen, wie der
zwischen Walla und ihrem Vater, so wird die Gelegenheit nicht mehr
allein zur Verführerin, sondern der Trieb schafft sich Gelegenheiten.
So schleppt der Vater nach einem Besuch bei seiner Mutter auf dem
Wege zum Bahnhof das Mädchen von der offenen Straße fort in ein
Kornfeld, wo er sie vergewaltigte.
Die Gefahr der Söhne, von den Müttern verführt zu werden, spielt
sicher keine nennenswerte Rolle. Auch in der Literatur sind nur wenige
derartige Fälle angeführt, obwohl nach Tardieu 38 ) und später nach
Bernhard 3 ) Notzuchtsakte von Frauen, die sich an kleinen Knaben
vergriffen, nicht so selten Vorkommen sollen. Bernhard berichtet aus
einem Zeitraum von 10 Jahren über 181 derartige Fälle und zitiert
EUis, der über 74 Fälle verfügt, unter denen 60 von Mädchen unter
16 Jahren begangen waren, darunter keine Inzestfälle. Daß Geistes¬
krankheit in einer bestimmten Richtung zu sexuellen Vergehen nicht
nur an den Kindern überhaupt, sondern auch an den eigenen führen
kann, wird besonders durch paralytisch und senil dement Erkrankte
immer wieder deinonstriert. Welcher Art die Psychose von Kl. Gu.s
Stiefvater war, geht aus den Akten nicht hervor, doch ist wohl anzu-
nehmen, daß er das Delikt schon in Geistesverwirrung beging.
Glücklicherweise sind die Fälle, wo ein Vater zum Bedroher seiner
Tochter wird, immerhin als seltene zu bezeichnen, aber sie kommen
doch noch oft genug vor, um den beteiligten Kreisen, Jugendhelfern
700 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
und Helferinnen die verschiedenen Gefahren und Konstellationen, die
einen günstigen Boden für ihre Auswirkung abgeben, nahezubringen
und ihr Auge zu schärfen für die Bedingungen, die sie begünstigen.
Zur Psychologie der Inzestopfer.
Die Opfer der inzestuösen Angriffe haben bisher in der Literatur
noch recht wenig Beachtung gefunden. Im Vordergrund des Interesses
standen bisher als die soziologisch wichtigeren die Angreifer auf die
Geschlechtsehre, die von seiten des Richters und des forensischen
Psychiaters eine berufsmäßige Würdigung erfuhren. Näcke 25 ) hat viel¬
leicht als erster die Psychologie des Kindes als Opfer von Sittlichkeits¬
verbrechen unter die Lupe genommen. In Tardieus grundlegendem
Buche über die Vergehen gegen die Sittlichkeit finden sich gelegent¬
lich feine Bemerkungen über das seelische Geschehen der vergewaltigten
Objekte, so z. B. wenn er von einem 12jährigen Kinde sagt: „Aus
ihren Erzählungen kann man nicht wohl auf eine moralische Verderbt¬
heit schließen, nur war sie vorzeitig in Dinge eingeweiht, die sie beklagt
und deren sie sich schämt.“ Es ist kaum möglich, durch zartere Kon¬
turen die Gemütslage eines geschändeten Kindes wiederzugeben.
Wenn ihm, dem eigentlich nur die gerichtsärztliche Prüfung des ana¬
tomischen Befundes oblag, so schöne Worte zustehen, so dürfen wir
nicht erstaunt sein, wenn Pastor Disselhof 11 ) als geistlicher Berater
eines Mädchen-Fürsorge-Erziehungsheimes ein weitgehendes psycho¬
logisches Verständnis für die Inzestopfer unter den F.-Z. zeigt. Er
weist unter anderem darauf hin, daß Zöglinge, die schon in früher
Jugend Opfer eines Inzestes geworden sind, deutlich merkbare Schäden
ihres psychischen Geschehens zeigen, die nur sehr langsam auszu¬
gleichen sind. Was Disselhof vom Standpunkt des Erziehers auffiel,
drängte sich mir als Ärztin an einer, gelegentlich an zwei Berliner
F.-E.-A. in psychiatrischer Richtung auf, die besondere Note des Geistes¬
und Gemütszustandes der Inzestobjekte nach dem Attentat. Weitere
Beobachtungen zeigten aber, daß das Nachher nur eine quantitative
Veränderung des Vorher darstellte, so daß es scheinen will, als ob
gewisse Individuen für den sexuellen Angriff infolge einer ungünstigen
Architektur ihrer Komplexe geradezu vorgebildet wären, wobei ich
aber Disselhof nicht ganz recht geben kann, wenn er behauptet, daß
die jugendlichen Opfer des Inzestes ausnahmslos ein schwachsinniges,
stupides Gepräge tragen. Wohl aber wird das Verbrechen an ver¬
standesmäßig Minderwertigen häufiger zur Kenntnis der Umwelt
kommen, weil ihnen die Erkenntnis für die Kriminalität der Hand¬
lungen und deren Auswirkungen im praktischen und im ethischen
Sinne, sowie die Fähigkeit ein sie stark bewegendes Erlebnis in sich
zu verschließen, fehlt.
an Berliner weiblichen FUrsorgezöglingen.
701
Zur Beurteilung der Seelenzustände von Angegriffenen und Angrei¬
fern muß man die Hemmungen heranziehen, welche dem Anreiz zu
dieser besonderen Art der Kriminalität entgegenstehen. Sie zerfallen
in zwei große Gruppen, die gewachsenen und die gewordenen, die biolo¬
gischen und die historischen. Beide nehmen in der Inzestliteratur
einen weit breiteren Raum ein als die Durchforschung der Einzelwesen.
Wie aber wirken sie sich in der Praxis aus? Die hier beobachteten
Inzestopfer gehören allesamt bestimmten wirtschaftlichen und vor
allem bildungsmäßig gleichen Kreisen an. Sie stammen aus den Schich¬
ten, welche in Deutschland die F.-E.-A. der Großstädte bevölkern,
und wie sich unter ihnen gelegentlich gesellschaftliche Herabkömm¬
linge finden, so mag wohl auch das hier diskutierte Laster in bildungs¬
mäßig höherstehenden Lagen Vorkommen, vielleicht in dem Maße
seltener, wie z. B. in diesen Kreisen rohe Trinkerexzesse unter Angriffen
auf Gut, Leib, Leben und Moral der Familienmitglieder seltener sind,
vielleicht aber auch häufiger, nur diskreter behandelt. Zweifellos sind
herrschende Moralbegriffe allgemein in alten Kulturschichten fester ver¬
ankert. Daneben aber ist in den großen Städten besonders ein Neu¬
land gewachsen, das, aus allen Kreisen kommend, meist nur die Gemein¬
samkeit eines höheren Intellektes oder einer besseren Ausbildung
dieses Intellektes zeigend, eine Überkulturschicht darzustellen bestrebt
ist und als deren letzte Ziele Subjektivismus, Egozentrizität, Indivi¬
dualitätsverherrlichung, Modernität der Anschauungen, Umsturz oder
Vernichtung der bis dahin herrschenden ethischen Grundwerte anstreben.
Das sind die Kreise, die in analytischer Kleinarbeit die herrschende
Moral zerreiben und an ihre Stelle unbedenklich Blutschande und
Vatermord, Ehe- und Wortbruch setzen möchten, sofern sich nur ein
ästhetischer Begriff damit verbinden läßt oder sofern ein individuelles
Bedürfnis vorzuliegen scheint, das sie besonders auch in der Kunst
propagieren. Sie wenden sich nicht gegen das Verbrechen, sondern
gegen seine Bestrafung, nicht gegen die Abirrungen der Jugendlichen,
sondern gegen erzieherliche Maßregelung. Trotzdem ist nicht anzu¬
nehmen, daß die Propaganda der Tat von ihnen auch nur in geringem
Umfange betrieben wird; denn ihr folgt, man mag sie als berechtigt
anerkennen oder nicht, die Sühne. Es ist noch ein weiter Weg vom
Applaus eines blutschänderischen Schauspieles oder dessen verherr¬
lichender Kritik bis zur Ausführung eines Verbrechens, für welche das
StGB, zur Verantwortung ruft. So werden auch die neuen Edelmen¬
schen zu den bestialischen Verbrechen, die sie nicht bekämpft wissen
wollen, nur wenig Fälle liefern, solange man die Jugend dieser Rich¬
tung femhalten kann. Schließlich ist das schlimmste und beste hier
nur Literatur, und die Schmutzliteratur, auch der eleganten Form,
ist nichts Neues. Schon Nietzsche schreibt in „Menschliches — Allzu-
702 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
menschliches“ an die Dichter der großen Städte: ,,Den Gärten der
heutigen Poesie merkt man an, daß die großstädtischen Kloaken zu
nahebei sind, mitten in den Blütengeruch mischt sich etwas, das Ekel
und Fäulnis verrät. Mit Schmerzen frage ich, habt Ihr es so nötig,
Ihr Dichter, den Witz und den Schmutz immer wieder zu Gevatter zu
bitten, wenn irgendeine unschuldige und schöne Empfindung von
Euch getauft werden soll?“
Wenn die soziale und Hand in Hand mit ihr gehende bildungsmäßige
Auslese der Inzestopfer und ihrer Vergewaltiger auf ein bestimmtes
Niveau hinzeigt, so ist ihre individuelle Veranlagung an gewisse kon¬
genitale Eigenschaften des Verführers einerseits und seines Opfers
anderseits gebunden. Man beachte, daß unter den hier angeführten
Fällen nur etwa 2—*3 neben der blutschänderischen Note auch die der
Notzucht tragen, während in anderen die Angegriffenen duldeten
oder entgegenkamen. Step berichtet über das Attentat ganz objektiv.
Voll Entrüstung erzählt sie von den Bärenkräften ihres Vaters, für
den sie, weil er die alternde Mutter schlecht behandelte, nie etwas
übrig hatte. Sie hat ihn nie als Vater geliebt, verachtete ihn wegen
seiner Unbeherrschtheiten, denen sie sich nach Kräften zu entziehen
suchte, und haßte ihn ganz besonders, weil er infolge der Vornahmen
der Familie straffrei ausging, sie aber in F.-E. kam, was sie um so
mehr erbittert, als sie große Sehnsucht nach Hause hat, wo sie, die
kräftige Person, ihrer alten gebrechlichen Mutter das Gärtchen besorgen
möchte, anstatt die ihr weniger wichtig dünkende Arbeit der Anstalt
zu leisten. Sie leidet an seltenen epileptischen Anfällen, an Depres¬
sionen, mit ihnen einhergehend an taedium vitae, hat schon mehr¬
fache Selbstmordversuche gemacht und sich nach dem Überfall durch
den Vater häufiger bezahlter und unbezahlter Prostitution hingegeben.
Immerhin hat ihre seelische, abnorme Veranlagung nichts mit dem
Verbrechen zu tun. Sie wurde von dem Vater genotzüchtigt, d. h. mit
Gewalt genommen. Zu seiner Entschuldigung weiß sie gar nichts anzu-
führen. Ihr Abgleiten auf dem Wege der sexuellen Moral ist als eine
Folge des Verlustes ihrer Reinheit, den ihr der Vater bereitete, anzu¬
sehen. Dem blutschänderischen Erlebnis kam sie psychisch in keiner
Weise entgegen. Ihre leicht schwachsinnige Veranlagung kann höch¬
stens insofern herangezogen werden, als sie sich nicht genügend gegen
die Angriffe schützte. Eine Suggestion, von seiten des Vaters auf sie
ausgeübt, ist nicht als vorliegend anzunehmen. Das selbst außer¬
ordentlich große und kräftige Mädchen, das sich gründlich zur Wehr
setzte, unterlag rein physisch den stärkeren Kräften des Angreifers.
Daß sie, wie die Familie es jetzt hinstellt, die Vergewaltigungsgeschichte
erfunden habe, um damit ihre späteren sexuellen Verfehlungen zu
beschönigen, halte ich für ausgeschlossen. Stop ist weder ausgesprochen
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
703
lügenhaft, noch phantastisch veranlagt. Auch liegt eine stillschweigende
Duldung nicht vor. Das Mädchen wandte sich sofort nach dem ersten
Attentat an seine Mutter. Hier scheint die gehobene Stellung der
Verwandten, die einen Skandal befürchteten, zum Niederschlagen des
gerichtlichen Eingreifens getrieben zu haben.
Auch der Fall der Hepos gehört zu dem Kapitel der körperlichen Ver¬
gewaltigungen, bei denen ein Entgegenkommen des Mädchens in keiner
Weise vorlag. Sie sträubte sich gegen den inzestuösen Verkehr soviel
als möglich. Wegen der ungünstigen häuslichen Verhältnisse — Vater
starker Trinker, Mutter lungenleidend, taub und halb erblindet —
war ihre Verbringung ins Waisenhaus schon früh angeordnet worden.
Ihr übriges Leben ist durchaus nicht einwandfrei. Sie entlief dem
Waisenhaus, später einem Rettungshaus, dann einer Dienststelle und
schließlich wieder der Familie und gibt an, daß sie längere Zeit mit
einem jungen Mann im Hotel gelebt habe. Danach sei dauernde F.-E.
ausgesprochen worden. Ihre syphilitische Infektion stamme wahr¬
scheinlich von dem sie im Hotel aushaltenden Herrn, nicht von ihrem
Bräutigam, wie sie naiv hinzusetzt, und wie sie den Freund aus ihrer
Sphäre betitelt. Ohne jede Scheu teilt sie unbefragt mit, sie habe
im ganzen höchstens mit 5 oder 6 Männern Verkehr gepflogen. Beim
Protokollieren der Lebensgänge fällt es immer wieder auf, mit welcher
Leichtigkeit die Jugendlichen sich den gegenwärtig herrschenden
Moralbegriffen angepaßt haben. Es war auch nicht ein Ausfluß sexueller
Moral, der sie am Verkehr mit dem Vater gehindert hätte, eher ein
Anstandsgefühl gegenüber der Mutter, sowie der Widerstand der Jugend
gegen das Alter, und letzten Endes ein ethischer Rest, der sich gegen
geschlechtlichen Verkehr mit der wenigstens früher autoritativen
Person des Vaters sträubte. Auch ihm gelang es trotz der herab¬
gesetzten Intelligenz der Tochter nicht, eine Suggestion auf sie auszu¬
üben. Aus Schonung meldete sie den Vorgang zunächst nicht der
im Krankenhause liegenden Mutter, sondern den verheirateten Ge¬
schwistern, die allerdings wenig zweckmäßig reagierten, indem sie dem
Kinde nach dem ersten Bericht sagten, wenn es noch einmal passiere,
werde der Vater angezeigt. Einen erzieherischen Einfluß konnte die
taube und halberblindete Mutter, die außerordentlich gebrechlich ist,
an Ohnmachtsanfällen leidet und 12 Kinder geboren hat, nicht aus¬
üben. Die 58jährige Frau mache, wie das Mädchen selbst erzählt,
neben dem 53jährigen Vater, der recht ansehnlich sei, den Eindruck
einer Greisin.
Bei Ro. Hegt Debilität mit hysterischen Zügen vergesellschaftet,
vor, die aber nicht so hochgradig war, daß sie nicht gewußt hätte,
um was es sich bei den Angriffen des Vaters handele, wie sie ja auch
ein sexuelles Erlebnis mit einem 9 jährigen Knaben durchaus richtig
704 II. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
einschätzte. Dagegen spielt die schwachsinnige Veranlagung und eine
weitgehende Suggestibilität herein, wenn sie nicht wagt, die Besuche
beim Vater im Pferdestall aufzugeben, weil er ihr, im Falle die Sache
durch sie herauskäme, mit Erschießen gedroht habe. Nachdem sie
ein totes Kind geboren, die syphilitischen äußeren Erscheinungen
zurückgegangen waren und sie wieder der F.-E.-A. übergeben wurde,
kam ihr eigentlicher Charakter, ihre sinnlich hysterischen Anlagen zum
Durchbruch. Wie sie sich häufig zur gynäkologischen Untersuchung
drängt, wie sie immer neue Krankheitszüge meldet, wie sie geradezu
darauf wartet, über das Erlebnis mit dem Vater zu berichten, das zeigt
allerdings nicht nur eine hysterische Veranlagung, sondern auch den
in seinen Auswirkungen weckenden Einfluß des unheilvollen Erleb¬
nisses, das sich zusammensetzt aus zu frühen geschlechtlichen Rei¬
zungen unter der Peitsche von Drohung und Geheimnis, aus der Er¬
kenntnis von einer schweren, vielleicht unheilbaren Krankheit befallen
zu sein, aus der Notwendigkeit ärztlicher Untersuchung und Be¬
handlung, die immer wieder den Gedanken an das Erlebnis wecken,
mehr als dies aus der Gerichtsverhandlung, in deren Mittelpunkt sie
sich sieht, und nicht zuletzt aus den dauernden Klatschereien und
Fragereien, die sich in den Kreisen, denen sie angehört, an das Ereignis
knüpfen. Der späteren ärztlichen, psychischen Behandlung blieb es
Vorbehalten, die Erinnerung an das Erlebnis nach Kräften abzu¬
schwächen, Berichte über Geschehnisse, nach denen ihre Mentalität
lange Zeit eifrig durchforscht wurde, abzulehnen, die geklagten, meist
in der Sexualsphäre sich abspielenden Leiden alÄ belanglos hinzu-
stellen, kurz die viel zu eifrig durchwühlten Komplexe der Selbst -
auflösung anheimzugeben, was auch die Anhänger der Psychoanalyse
nicht bekämpfen dürften, da hier zweifellos eine Hyperanalysierung
stattgefunden hatte, die zur Vorkehrung und Hyperplasie der ange¬
borenen Eigenschaften und Neigungen führte. Angesichts des unan¬
genehmen Vordrängens der sexuell-hysterischen Einstellung, nachdem
der Schreck über das Erleben sich gelegt hatte, mußte man sich immer
wieder des zitternden scheuen Kindes erinnern, das bei der ersten
Einlieferung noch mit dem Entsetzen kämpfte und erst viel später
einen Genuß in der Darstellung des Erlebnisses fand.
Auch bei den übrigen Fällen war immer Gewicht auf das Intervall,
das sich zwischen das Erlebnis und die Zeit der psychiatrischen Unter¬
suchung schob, zu legen. Seine mehr oder weniger fantastische Aus¬
gestaltung nimmt mit dem größeren zeitlichen Abstand zu, und einem
Vergessen der Angelegenheit stehen in den Kreisen, denen unsere
Mädchen entstammen, so viele Hemmungen gegenüber. Sowohl draußen,
als auch unter den Gefährtinnen des Anstaltslebens wird derartigen
Dingen ein weitgehendes Interesse entgegengebracht.
an Berliner weiblichen Fürsorgezüglingen.
705
Nur bei Ro. und Walla sind Zeiträume von weniger als einem Jahr
seit dem Stuprum verflossen, bei den anderen liegt es um 4—7 Jahre
zurück. Das Alter der Mädchen lag in der Hauptsache um 13 bis
14 Jahre, nur Kl. Gu. ist erst 9, und Mi. S. sowie Barbe wollen gar
erst. 7 Jahre alt gewesen sein, als ihnen Schlimmes zugefügt wurde.
Das Pubertätsalter scheint demnach das besonders gefährdete zu sein.
Die Fälle, wo ein leiblicher Vater, wie der von Mi. St. an seiner
ältesten Tochter, und angeblich der Vater von Barbe sich an 7 jährigen
Kindern — bei Kl. Gu. ist es der Stiefvater — vergehen, scheinen zu
den Seltenheiten zu gehören, ebenso wie der Verkehr mit älteren Töch¬
tern, die sich allerdings einerseits besser vor den Angriffen zu schützen
wissen und andererseits möglicherweise im Einverständnis sein können,
wobei dann nur ein Zufall zur Entdeckung führt.
Die von ihrem Stiefvater stuprierte Hed. Mö., an Schwachsinn
mittleren Grades leidend, und einen infantilen Eindruck hinterlassend,
ist bezüglich ihrer Angaben nicht durchaus glaubwürdig. Der Ver¬
such einer Vergewaltigung durch den Stiefvater ist aktenmäßig fest¬
gelegt und wird von ihr aufrechterhalten, nachdem sie zuvor behauptet
hatte, virgo intacta zu sein. Erst als sie auf die bestehende Gonorrhöe
aufmerksam gemacht wird, gibt sie weiteren Verkehr mit einem gleich-
alterigen Vetter — beide Kinder waren damals 15 Jahre alt — zu.
Ihre folgende Behauptung, später Freunde gehabt, aber mit ihnen
nicht verkehrt zu haben, ist wenig Glauben zu schenken, da sie nie
mehr zugibt, als man ihr beweisen kann. Gegen den Stiefvater sagt
sie nichts Übles aus. Er habe sie immer gut behandelt. Einen Wider¬
stand scheint sie seiner angeblich einmaligen Annäherung nicht ent-
gegengesetzt zu haben. Das väterliche Verhältnis zwischen ihr und
dem 36 jährigen Manne hat offenbar im Laufe der Zeit einfach einen
anderen Charakter angenommen. Aus einem Falle meiner Privat¬
praxis (Elve) ist mir Ähnliches bekannt geworden. Die debile Elve
verliebte sich, wie sie mir später gelegentlich einer Krankheit, an der
ich sie behandelte, schilderte, im Alter von 13 Jahren — die Mutter
hatte etwa 4 Jahre zuvor wieder geheiratet —, so hilflos in ihren Stief¬
vater, daß ihm jeder Gedanke der geistig etwas Zurückgebliebenen,
aber sexuell Frühreifen gehörte. Sie war eifersüchtig auf ihre Mutter,
kam dem Vater in jeder Richtung entgegen und betrachtete es als
das größte Glück, als er sich ihr näherte. Als Nachbarinnen die Sache
anzeigten, leugnete sie alles ab, entlastete den Vater durchaus und
war nur traurig, daß die Eltern sich nicht scheiden ließen, sondern
sie allein im Interesse der drei Beteiligten aus dem Hause gegeben
wurde. Elve war charakterologisch nicht schlecht veranlagt, zeigte
auch in ihrer späteren Ehe ihrem Mann gegenüber eine große Herzens¬
güte und weitgehenden Altruismus, der sie zu jedem Opfer befähigte.
706 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
Da die trockene und kalte Mutter ihrem Anlehnungsbedürfnis nur
wenig entgegenkam, hatte sie dem jungen Stiefvater alles zärtliche
Empfinden Vorbehalten und war schließlich in den Entwicklungs¬
jahren aus dem kindlichen Gefühl in das des liebenden Weibes über¬
gegangen. Der Stiefvater, ein einfacher Mann, dem tiefere Gefühls¬
analysen femlagen, war, wie es scheint, in einem unbewachten Augen¬
blick durch das Mädchen mit fortgerissen worden.
Meines Erachtens hat man auf die Gefahren, die heran wachsenden
Töchtern durch die Stiefväter drohen, die im Alter ihm vielleicht
näherstehen als die Mütter, in der Jugenderziehung noch nicht
genügend geachtet.
Tritt zur normalen oder auch leicht schwachsinnigen Veranlagung
noch das Moment der Hysterie, so ist im Pubertätsalter eine ganz
besondere Aufmerksamkeit nötig. Schon bei Ro. konnte man die
Entwicklung der hysterischen Züge beobachten. Lo. S.’ Leben und
Treiben aber zeigt ausgesprochen den Typus der psychopathischen
Konstitution und mit Pseudologia fantastica verkoppelten Hysterie.
Daß das ganze sexuelle Erlebnis mit dem Vater eine Lüge sei, ist nicht
anzunehmen, aber die liebevolle Ausgestaltung der einzelnen Szenen
gehört ganz sicher in das Gebiet der hysterischen Übertreibungen.
Starke Abwehrmaßregeln gegen die Zumutungen des Angreifers hat
sie nicht ergriffen. Sie hat den Vater gern gehabt und die romantische
und sexuelle Einstellung des Verhältnisses schon damals, noch mehr
aber in der Erinnerung mit Bewußtsein genossen. Ihre weiteren Erleb¬
nisse, in das Gewand von Dichtung und Wahrheit gekleidet, aber selbst¬
verständlich unter reichlich strömenden Tränen als reine Wahrheit
verteidigt, zeigen alle 1. sexuell erotische Ideen, 2. fantastische Aus¬
gestaltung und 3. Eitelkeitsmotive, den Wunsch sich interessant zu
machen. Alle 3 Komponenten finden in langen Briefen an die Erziehe¬
rinnen einen graphomanen Ausdruck. Bewußt oder unbewußt sind
Stellen aus altmodischen Jungmädchenbüchem hereingebracht, anderes
wieder dem Ton der F.-E.-A. genähert; denn aus dem Wesen ihrer
Gesamtveranlagung ergibt sich eine starke Beeinflußbarkeit durch
ihrem Innern irgendwie adäquate Eindrücke. Von einem gewissen
naturbedingten Abscheu gegen den Inzest war nichts zu bemerken.
Dem Bilde ihrer Krankheit, wenn man so will, ist weiter einzu¬
fügen, daß sie schon einmal auf der psychiatrischen Abteilung der
Universität Halle „zur Behandlung sowie zum Schutze“ Aufnahme
gefunden hatte. In einem Gutachten von Prof. Anton heißt es, daß
sie Einredungen sehr zugänglich sei, den Zwang zu lügen und
Angstzustände habe. Die Genannte sei zur Erziehung befähigt und
bedürfe des Schutzes und der regulären Beeinflussung durch eine
Anstalt.
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
707
Jedenfalls kam ihre Gesamtveranlagung dem väterlichen Verbrechen
sehr entgegen. Sie hätte sich seinen Angriffen leicht entziehen können,
auch ohne jemanden ins Vertrauen zu ziehen. Aber der Vater wußte
die Sache ein wenig romantisch zu gestalten, indem er auf Waldspazier¬
gängen erst ihre sexuelle Neugier weckte und dann langsam ihren
Widerstand bekämpfte. Sie nimmt in ihrer ganzen Einstellung zu
dem Verbrechen einen durchaus spielerischen Ton an. 6 Jahre später
beleuchtet sie das Erlebnis in Briefen an die erziehenden Schwestern
in frömmelnder Weise: ,,Mein Vater hat seinem Leben selbst ein Ende
gemacht, und ich habe unter der Schande zu leiden. — Durch all die
Sünde, die man getan hat, verdirbt man sich das Leben und bringt
es unter den Fluch. Doch die göttliche Langmut hat eine Grenze. —
So geht es, wann man nicht wachsam ist und vom Feinde überrumpelt
wird.“ Diese Phrasen sind wieder Ausflüsse ihrer Anpassungsfähigkeit
an das Milieu, in diesem Falle an die evangelische Erziehungsanstalt.
Daneben lebt in ihr die Freude, durch das Erlebnis interessant gewor¬
den zu sein, die Neigung, in der Erinnerung immer wieder nach jenen
Tiefen zu irren, und der Wunsch, Ähnliches wieder zu erleben, nicht
aus Sexualitäts-, sondern aus Sensationsbedürfnis. Daher stammt
auch die Bereitschaft, in einer harmlosen Vertraulichkeit ihres Brot¬
herrn eine unzüchtige Berührung zu sehen. Auch in ihrem anderen
späteren Dienstverhältnis macht sie ähnliche Angaben über Liebes¬
beziehungen, die der Vorgesetzte gesucht haben soll. Augenblicklich
ist sie bei einem älteren Ehepaar in einsamer Gegend untergebracht
und fühlt sich zunächst sehr glücklich. Als ich sie bei einem zufälligen
Zusammentreffen nach ihrem Ergehen fragte, versäumte sie nicht
darauf hinzuweisen, daß sie bei bejahrten Leuten sei, womit sie offenbar
andeuten wollte, daß dies wegen ihrer Gefährlichkeit für die Männer
so eingerichtet worden sei. Unter all dem Wust von Verlogenheit
Eitelkeit und hysterisch dirigierter Sinnlichkeit scheint gelegentlich
ein echtes Gefühl für ihren Vater hervorzubrechen, für diesen Vater,
der offenbar selbst Psychopath, ihr diese Anlage vererbte, sie dann
unlautere Wege führte und schließlich durch eigene Hand endete. Ein
Vergleich der Anlagen von Lo. und Barbe ist nicht ohne Interesse. Es fällt
besonders auf, daß die pseudologischen Auslassungen Lo.s nie die künst¬
lerische Note vermissen lassen. Irgendwo wird immer ein verklärender
Glanz von Schönheit ihren Schilderungen oder, sagen wir ruhig, ihren
Lügen aufgesetzt. Immer drückt sie sich novellistisch-phantastisch aus.
Sie spricht sich mündlich und schriftlich viel über Schönheiten der sie
umgebenden Natur, über den Reiz, den sie als Pflegerin junger Tiere,
Hühnchen, Kaninchen, Ziegen gegenüber diesen Geschöpfen empfinde,
aus, während Barbe plump immer das sexuelle Erlebnis in ihren Lügen
betont und für ästhetische Schwebungen nichts übrig hat. Angelesen
708 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
ist bei Lo. nur die Form, die Empfindung dagegen echt und eigen.
Nie verliert sie sich in Beschreibungen unästhetischer Situationen.
Wenn sie etwas Derartiges zu berichten hat, dann sagt sie, es sei so
schrecklich, daß sie darüber schweigen müsse, eine Hedda Gabler der
Straße. Barbe dagegen verzichtet auf den malerischen Hintergrund
bei ihren Lügen. Sie referiert nackte Tatsachen, die allerdings in den
meisten Fällen keine Tatsachen sind, wohl aber gewesen sein könnten.
Sie nimmt einfach die beim Hausierhandel in der Friedrichstraße
gehörten Gespräche auf und projiziert davon, was ihr paßt, in ihre
eigene Geschichte, bzw. gestaltet mit diesem Material ihre Geschichte
um. Ihre psychische Anästhesie gegenüber den Scheußlichkeiten,
die sie erzählt und zum Teil leider auch erlebt hat, fällt vielmehr der
Debilität als der Hysterie zu, und ist die Folge der Eindrücke, die
sie aus dem Morast eines ungeeigneten Milieus und aus dem Hau¬
siererleben auf nahm. Es ist Pseudologie ohne Phantasie. Sicher weiß
sie heute, wo alles in eine geläufige Form gebracht, ihr von den Lippen
geht, nicht mehr, was wahr und was erlogen ist. Unter die Inzestfälle
wurde sie eingereiht, weil irgend etwas an dem Erlebnis wahr sein muß,
und weil sie sich bei allen Angriffen, auch den nichtinzestuösen, nie
entsprechend zur Wehr gesetzt hat. Sie hat auch den Vater nicht sofort
angeklagt, sondern 3 Jahre nach dem angeblichen Angriff verstreichen
lassen. Im übrigen scheint auch hier, trotz der angeblichen Anzeige eines
Verwandten, eine Strafverfolgung nicht eingetreten zu sein. Es kann
sich hier um eine sexuelle Falschbeschuldigung handeln, aber nicht im
Sinne Birnbaums 4 ) bei einer Hysterica, sondern bei einer Schwach¬
sinnigen, die derartige Lügen häufig genug Vorbringen, nicht phantasie-
reich, sondern grotesk in der Ausgestaltung. Da diese Zusammen¬
stellungen teils den Aussagen der Mädchen, teils den Anstaltsakten
entnommen sind, so machen sie immerhin einen gewissen Anspruch
darauf, namentlich was die forensische Stellung gegenüber den Ver¬
brechern betrifft, als Facta angesehen zu werden. Ganz positiv ist
der Umstand, daß Ho. gravide und syphilitisch infiziert war und daß
außer ihrem Vater ein anderer Inkulpat nicht in Frage kommt. Wie
oft Barbe gelogen haben mag, eines steht fest, daß sie mit 13 Jahren
bereits ihre erste antisyphilitische Kur hinter sich hatte und große
Anstrengungen, den Urheber dieses Verbrechens zur Verantwortung
zu ziehen, sei es der Ausländer oder irgendein anderer gewesen, wie
es scheint gar nicht gemacht wurden. Bei der nervös leicht erregbaren
Mi. St. deutet die jahrelange Duldung des inzestuösen Verkehrs immer¬
hin auf eine weitgehende Defektuosität. Wie Lo., berichtet auch sie
über keinerlei Härten des Vaters, der sich mit ihr gewissermaßen freund¬
schaftlich verständigt hatte. Auch hier sind die Verfehlungen des
Verbrechers wie bei Lo.s Vater eine um so raffiniertere, als er nicht
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
709
eigentlich Gewalt an wendet, sondern das durch seine Veranlagung
der Verführung mehr als andere zugängliche Kind geradezu in das
Verhältnis hineinschmeichelt. Besonders traurig ist es, daß sowohl
die Mutter als auch die Behörden, die sein Verhalten gegen die ältere
Tochter kannten, um deswillen er 3 Jahre Strafe abzumachen hatte,
der in Mi. heran wachsenden Tochter den Aufenthalt in diesem Milieu
nicht unterbanden, sondern ihn gestatteten, obwohl damit Gelegen¬
heit gegeben war, mit dem Vater in dem häufig mutterlosen Haus¬
halt viel allein zu sein.
Bei Walla liegt übrigens der gleiche Fall vor, daß der Vater sich
erst an der einen und dann an der anderen Tochter verging. Wieweit
das Erlebnis die zu Schwermut neigende ältere Tochter zum Selbst¬
mord trieb, war nachträglich nicht mehr festzustellen. Walla hält
bezüglich der Einstellung zum Attentat ungefähr die Mitte zwischen
Lo. und Step. Ihre Gedanken irren nicht so unablässig um das sexuelle
Erlebnis; aber sie lehnt die Erinnerung daran auch nicht ab. Es
wird unter guten Freunden ausgeplaudert, und auch sonst ist sie
geneigt, sich damit interessant zu machen. Jedenfalls hat sie zu rechter
Zeit nicht gesprochen, auch die über den Vater gewonnene Macht emp¬
funden und richtig eingeschätzt. Man vermißt bei ihr übrigens, wie bei den
meisten Inzestopfern, den natürlichen Widerwillen gegen die inzestuöse
Handlung, der demnach wohl kaum von einer aprioristischen Ablehnung
des verwandten Blutes diktiert wird. Fehlt nun hier, wie in ähnlichen
Fällen, die ethisch-autoritative Schranke, das Hinaufsehen zum Vater
als zu einem Führer und Erzieher, so stehen sich schließlich nur zwei
Degenerierte gegenüber, die sich ohne große Hemmungen finden. Der
Trieb war auch bei Walla stark genug, um bald nach dem ersten Erlebnis
mit dem Vater sich, wie sie selbst sagt, gleichalterigen Jungen und
danach vielen Erwachsenen hinzugeben.
Sieht man von den echten Opfern der Gewalt ab, wie sie durch
•Step, Hepos und bedingt auch Kl. Gu. dargestellt werden, so bleiben
noch eine Reihe von Konstellationen übrig, die ganz andere Bilder
bieten. Ich stelle Kl. Gu. absichtlich nicht ohne weiteres in eine Reihe
mit den beiden anderen, obwohl der Stiefvater sie in einen Zustand
der Bewußtlosigkeit versetzt haben soll, um dann das Stuprum vorzu¬
nehmen. Sie kannte den Vorfall aus Erzählungen zur Genüge, und es
erscheint ganz rätselhaft, daß sie trotzdem versuchte, bei ihm unter¬
zukommen, als die geisteskranke Mutter ihr den Aufenthalt zu Hause
unerträglich gestaltete. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hysterische
Neugierde ihr doch irgend etwas Interessantes aus dem Zusammen¬
sein mit dem ehemaligen Angreifer vorgaukelte. Wieweit Pseudologia
fantastica beim Ausbau ihrer Geschichte vorliegt, ist nicht nachzuprüfen;
doch ist das in ihrem 9. Jahr an ihr verübte Stuprum zweifellos erst
710 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
nach und nach in die von ihr jetzt beliebte Form gebracht worden.
Ihr moralischer Abstieg hängt sowohl mit den unglücklichen häus¬
lichen Verhältnissen, als mit ihrer Gesamtveranlagung zusammen, die
durch das sexuelle Erlebnis noch besonders ungünstig beeinflußt wurde.
Obwohl sie dieses nicht bewußt erlebte, hat man ihr so viel davon
gesprochen, daß sie es gewissermaßen nachträglich als Erinnerungs¬
besitz auf nahm. Wenn es auch kein eigentlicher Fall von Blutschande
war, ist der Stiefvaterinzest als außerordentlich schwerwiegend in
seinen Auswirkungen, und die vom Stiefvater drohende Gefahr prak¬
tisch um so ernster anzusehen, als das eigentümlich nahe Verwandt¬
schafts Verhältnis zwischen nichtblutsverwandten Personen leicht begeh¬
bare Wege der Intimität bietet, die über ein spielerische oder zärt¬
liche Vatersorge vortäuschendes Grenzland in verbrecherische Abgründe
führen kann.
Kl. Gu.’s Veranlagung bildet die Überleitung zu den anderen Psycho¬
pathen, die ohne Anwendung von Gewalt, ohne Sträuben sich lang¬
sam für den Akt willig machen lassen und die Hand zu Wiederholungen
boten. Auch ihre weitere abwegige Lebensführung hängt eng mit dem
Stuprum zusammen und mit den Eindrücken, die es ihr hinterließ.
Andererseits ist sie mitbedingt durch ihre psychopathische Veranlagung
und führt wieder zu dem Schluß, daß es bestimmte Individuen gibt,
die, wie vielfache Beobachtungen zeigen, für sexuelle Verführung
ganz besonders zugänglich sind. Es liegt nahe, daß diese um so leichter
in der Form von Inzest auf treten können, wenn auch von seiten des
Verführers krankhafte Anlagen mit hereinspielen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die vergewaltigten Mädchen,
wie schon betont, infolge von debiler und psychopathischer Anlage
einigermaßen der Hemmungen mangelten, die sie zu einer richtigen
Abwehrstellung befähigt hätten. Um so mehr mußten sich bei ihnen
die Folgen der zu frühen sexuellen Erschütterung auswirken. Von
Natur sinnlich veranlagt, ohne entsprechende erzieherische Maßnahmen
aufgewachsen, durch das prämature Stuprum in eine unheilvolle Früh¬
reife gedrängt und infolge der Erschütterungen einem Verdichten der
unheilvollen Komplexe unterworfen, dazu durch den hier und da auf-
tretenden Gedanken an die verlorene Reinheit bedrängt, gelangen sie
zu einem leichtsinnigen und unregelmäßigen Leben. Ein Teil der Be¬
obachteten war schon vom Angreifer infiziert, der andere holte sich die
Geschlechtskrankheiten von anderer Seite. Die Ungeniertheit, ja Naivetät,
mit der die Mädchen von ihrem dimenhaften Leben sprechen, hängt
einerseits mit dem Ertöten des Schamgefühles durch häusliche Einflüsse,
andererseits mit Defekten der psychoneurotischen Gesamtanlage zu¬
sammen. Hepos schiebt ihre Infektion lächelnd dem Gelegenheits¬
liebhaber zu, da ihr Freund, mit dem sie gleichzeitig verkehrte, gesund
an Berliner weiblichen Fttreorgezöglingen.
711
gewesen sei. Die insonderheit durch Vater-Tochter-Inzest unglücklich
gewordenen Jugendlichen und Kindlichen lassen sich nach ihrer see¬
lischen Veranlagung ungefähr folgendermaßen einteilen:
Es kann sich um Individuen handeln, die in das Erlebnis durch
eine vom Zufall geschaffene Gelegenheit hineingestoßen werden, deren
seelische und körperliche Veranlagung der Sache verständnislos gegen¬
übersteht, deren Hilflosigkeit noch dadurch verstärkt wird, daß der
Vater oder Erzieher oder Verwandte, der bisher vielleicht weder brutal,
noch zärtlich zu ihnen war, sich im Lichte des Verführers zeigt. Ob es
zum ausgesprochenen körperlichen Verkehr gekommen, oder ob das
Kind nur durch Worte und vorbereitende Handlungen mit unbekannten
Schrecknissen bekannt gemacht wurde, ist gleich. Einem solchen Kinde
ist zu früh der Himmel der Unschuld eingestürzt, und traurige Ver¬
stimmungen und Angst vor weiteren Erlebnissen sind die nächsten
Reaktionen, die vielleicht sich dann mit einer vertieften und unabweis¬
baren Erinnerung an das Geschehen knüpfen, die Phantasie des unglück¬
lichen Geschöpfes vergiften und seine Gedanken immer wieder in diese
Richtung drängen. Für solche Fälle, die aber meist den Erwachsenen
wegen der Scheu des Kindes verborgen bleiben, kommt eine psycho¬
analytische Aussprache in kürzester und gedrängter Form in Frage.
Das Kind bedarf einer Lösung der aufgehäuften Spannungsmomente.
Der ruhige Zuspruch einer feinfühlenden Verwandten oder Erzieherin
ist am besten geeignet, das Andenken an das Erlebnis, das wie ein
Fremdkörper reizend in der Seele der Ärmsten sitzt, mit Haftfäden
und Wurzeln aus dieser zu lösen. Die Reizstelle muß durch neue Ein¬
drücke überwuchert und ausgeglichen, die Angelegenheit als etwas
Häßliches, etwas Ernstes und etwas Unwürdiges dem Kinde ohne
allzu viele Worte entzogen werden. Leider liegen die Verhältnisse
meist so, daß das Kind sich nicht offenbart. Der betreffende Ver¬
wandte, Vater, Bruder oder Vetter oder Lehrer und Erzieher hat es
mit allen Kräften eingeschüchtert. Auch wird das Kind, je höher seine
eigenen Qualitäten sind, sich um so schwerer aussprechen und zum
Ankläger werden. Die Angelegenheit ist ebenso zu bewerten wie ein
jedes zu frühes und ungeschicktes Einweihen in geschlechtliche Ver¬
hältnisse, das Wecken einer schlafenden Knospe durch einen Hagel¬
schauer. Diese immerhin zarteren Formen inzestuöser Beziehungen
und ihrer Reaktionen waren im allgemeinen bei den F.-Z. weniger zu
beobachten. Immerhin haben die Fälle 1. Step und 2. Hepos einiges
mit ihnen gemein.
Werden kindlich Unreife in einen solchen Orkan gestürzt, so liegen
die Verhältnisse bei den ausgesprochen Schwachsinnigen doch ganz
anders. Diese in ihrem ethischen Fühlen, im logischen Denken Zurück¬
gebliebenen haben für Sinnenreize eine leichte Auffassungsgabe. Wie
Z. f. d. g. Neur. u. Pgych. XCIII. 46
712 H. Fr. Stelzner: Der Inzest Mit kasuistischen Beobachtungen
sie sich sehr rasch merken, wie sie zu einer Leckerei gelangen können,
wie ihnen das Naschen schwer abzugewöhnen ist, so zeigen sie häufig
auch ein frühes Verständnis für die Reizungen der geschlechtlichen
Sphäre. Auch die Freude an allerlei Schmutz körperlicher und verbaler
Art gehört zu ihren Eigentümlichkeiten. Sie bringen dem sexuellen
Erlebnis ein unkontrollierbares Interesse entgegen. Ob als Opfer der
Straßenprostitution oder eines inzestuösen Angriffes machen sie rein
äußerlich auch meist einen recht verkommenen Eindruck. Die schlecht
gepflegten Körper, die Unsauberkeit, die Gleichgültigkeit gegen Para¬
siten und zunächst schmerzlos verlaufende Geschlechtskrankheiten,
welcher Symptomenkomplex z. B. bei Ro. (3. Fall) deutlich in Erschei¬
nung trat, sind charakteristisch für die jugendlichen Fälle sexueller
Abirrungen jeder Form bei Intelligenzdefekten. Langjährige Beobach¬
tungen an Magdalenen einer F.-E.-A. ließ solche Bilder zu Typen
erstarren. Als solche ist auch das psychische Geschehen Ro.’s aufzu¬
fassen: Ihr Verständnis für geschlechtliche Dinge, ihr Interesse daran,
das erst nach dem Partus und nachdem die Umgebung sich bemüht,
es vergessen zu lassen, recht aufblüht. Ich gebe zu, daß es Schwach¬
sinnsformen gibt, in deren Charakter diese dunklen Punkte fehlen. Bei
ihnen wird ein Attentat auf ihre Geschlechtsehre aber auch ganz anders
verlaufen. Sie werden vor allem keine Wiederholungen dulden und
die Erinnerung an das Geschehnis als an ein durchaus Unlustbetontes
in jeder Richtung ablehnen. Vermutlich tragen die Angriffe des Vaters
im Falle Ro. gar nicht den Charakter eines plötzlichen Überfalles,
sondern Vater und Tochter waren, wie das in solchen Fällen zu gehen
pflegt, schon lange auf der Linie eines schmutzigen Einverständnisses
angekommen. In richtiger Erkenntnis der Sachlage hat man nicht
nur Ro., sondern auch deren jüngere, ebenfalls debile Schwester den
häuslichen Verhältnissen entzogen. Alle Aussagen schwachsinniger
und in sexuelle Erlebnisse verwickelter Mädchen sind mit außerordent¬
licher Vorsicht aufzunehmen. Sie sagen entweder zuviel oder zuwenig.
Allerdings sind ihre falschen Aussagen immer viel leichter zu korri¬
gieren als die der hysterisch eingestellten Mädchen, deren Erfindungen
viel mannigfacher und der Wahrscheinlichkeit mehr angenähert sind.
Als Ausfluß ihrer krankhaften Veranlagung ist es aber ohne Zweifel
zu bezeichnen, daß sich diese Geschöpfe überhaupt soviel mit sexuellen
Dingen abgeben, sich geradezu in solche hereindrängen. Birnbaum 1 )
hat in seiner Arbeit über die sexuellen Falschbeschuldigungen der
Hysterischen in ausführlicher Weise die Psychologie dieser verkehrten
Einstellungen beleuchtet. Er berichtet von einem jungen Mädchen,
das seinen Stiefvater beschuldigte, er habe, während die Mutter sich
auf einem Landaufenthalt befand, einen Notzuchtsakt an ihr vor¬
genommen, gab aber schließlich zu, es könne sich auch um einen Traum
an Berliner weiblichen FQrsorgezöglingen.
713
gehandelt haben. Ich konnte gelegentlich einer Arbeit über den Selbst¬
mord die Krankengeschichte einer jungen Hysterika analysieren, die
sich selbst in Briefen an ihren Seelsorger erotischer Verfehlungen bezich¬
tigte, zu keinem anderen Zweck, als dafür gescholten zu werden, kurz
die Gelegenheit zu haben, mit einer geliebten Person über derartige
Dinge zu sprechen. Viele dieser Fremd- und Selbstbeschuldigungen, die
Jugendliche, besonders Hysterische machen, gehen darauf hinaus, sich
einen Freipaß für in dieser Richtung liegende Gespräche zu verschaffen,
da sie ja darüber dann ausgiebig ausgefragt werden müssen. Sie erstre¬
ben auf diese Weise eine Art von koprolalischem Lustgewinn, vielleicht
auch eine Entlastung von quälenden Komplexen. Das ist natürlich
nur die eine Seite der Sache. Auch ihre vielen wirklichen, erotischen
und sexuellen Erlebnisse sind ihrer besonderen Anlage zu danken.
Sobald sie in das Pubertätsalter eingetreten sind, wird aus der kindlichen
Pseudologia fantastica, die sich in mehr oder minder harmlosen Renom-
misterien austobte, eine Pseudologia erotica. Die drängenden Kräfte
der zunehmenden Entwicklung der psychischen und physischen Struktur
schaffen für Jahre die Verhältnisse eines Baugrundstückes, in dem
Fertiges und Unfertiges nebeneinander liegen, in dem Türen und Fenster
offen stehen und die Stürme aus allen Richtungen hineinfegen können.
Kein Wunder, daß gerade in diesem Alter sich so merkwürdige Bilder
zeigen, die später ganz verblassen oder anderen Platz machen können.
In dieser Zeit aber drängt alles mächtig nach dem Erlebnis, und die
ungeduldige Hysterika sucht es mit aller Gewalt, mit erlaubten und
unerlaubten Mitteln. Was ihr nicht gegeben ist, erträumt sie sich,
was sie erträumt hat, gibt sie für Wirklichkeit aus. Wo nur der Schim¬
mer eines erotischen Erlebnisses an sie herantritt, da drängt sie sich
an dieses heran und gibt nicht Ruhe, bis sie nicht mitten in einer
Intrigue, wo nicht gar in einem Verbrechen steht. Unendlicher Reiz¬
hunger ist es, der sie in solche Verhältnisse hineinjagt, und so ist es
nicht zu verwundern, daß gerade sie so häufig das Opfer von Sexual¬
vergehen wird, mindestens ebenso häufig, wie sie irrtümlich vorgibt,
es geworden zu sein. Auch beim Erfinden entsprechender Geschichten
taumelt sie ohne weitere Überlegung in eine schiefe Lage hinein.
Eine kritische Beleuchtung des Verhaltens der hier angeführten
jungen Mädchen gegenüber ihren Angreifern würde etwa folgendes
ergeben: Die in der Kasuistik nicht näher behandelte, sondern nur kurz
erwähnte Elve gibt selbst zu, daß sie den Stiefvater, der ihre ganze
Liebe besessen habe, geradezu gereizt, auf die Gelegenheit, mit ihm
Zärtlichkeiten zu tauschen, gewertet habe. Ihre leicht schwachsinnige
Veranlagung läßt sie ein Unrecht gegen die Mutter, welche sowohl
gegen sie, als auch gegen den Stiefvater hart und kalt gewesen sei,
nicht empfinden. Ein Respektsverhältnis zwischen dem jungen Kinde
46*
714 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtangen
und dem Stiefvater, der ihr im Alter viel näher stand als seine Frau,
die beinahe seine Mutter sein kontte, hat wohl niemals bestanden.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in den beiden als Anhang behan¬
delten Schweizer Fällen 10 und 11, wo die Tochter bzw. Stieftochter
nach verbüßter Strafe mit den Vätern weiterleben.
Als durchaus entgegenkommend ist auch das Verhalten der hyste¬
rischen Lo. (5. Fall) zu bezeichnen, die noch in der Erinnerung eine
gewisse poetische Note schönmalender Beredsamkeit und Schreib¬
seligkeit dafür findet.
Ro. (3. Fall) hält etwa die Mitte zwischen Entgegenkommen und
Duldung. Die psychopathisch und manisch-depressiv veranlagte Walla
(9. Fall) spricht zwar von Vergewaltigung, hat aber trotz guter Intelli¬
genz keine zweckdienlichen Abwehrmaßregeln getroffen. Die originär
neuropathische Mi. St. (8. Fall) mit normaler Intelligenz machte, nach¬
dem der Verkehr eingeleitet war, keinerlei Schwierigkeiten, sondern
half die Gelegenheiten zum Zusammensein schaffen.
Das inzestuöse Erlebnis Barbes (6. Fall) ist wahrscheinlich teil¬
weise erfunden, in der Verkuppelungsaffäre scheint sie nicht sehr wider
strebend gewesen zu sein, da sie sich gegenüber den Mitschülerinnen
der Sache rühmt.
Hed. Mö. (4. Fall) hat sich, gemessen an ihrer schwachsinnigen Ver¬
anlagung, recht ordentlich benommen, indem sie sich an ihre Geschwister
wandte und wirklich nur der brutalen Gewalt des Vaters erlag. Kl. Gu.
(7. Fall) will im Alter von 9 Jahren im Zustande der Bewußtlosigkeit
vergewaltigt worden sein. Trotzdem schweift sie erinnerungsmäßig
gern um das Erlebnis und zögert nicht, zu dem Vater ins Haus ziehen
zu wollen, was dieser ablehnte.
Eindeutig und im vollen Sinne widerstrebend gegen das Ansinnen
der Väter waren nur Step und Hepos.
Wenn unter 11 Inzestfällen nur 2 sich finden, wo von seiten des
Opfers ein ausgesprochener Widerstand gegen die Angreifer und den
Angriff zu konstatieren ist, so deutet das wohl darauf hin, daß die
Opfer, die ja fast ausnahmslos intellektuelle, seelische und gemütliche
Störungen zeigten, in ihrer psychischen Struktur gewisse Fehlanlagen
aufweisen, die sie für derartige Erlebnisse vorbestimmt erscheinen
lassen.
Ganz falsch wäre es, wollte man aus dem Verhalten der jugendlichen
Psychopathen gegenüber dem Inzest eine Schuldhaftigkeit konstruieren,
deren Gewicht etwa von dem der Schuld des Verführers abzuziehen
würe. Ganz im Gegenteil bedeutet es, da aus pathologischer Veran¬
lagung hervorgegangen, nicht nur keine Exkulpation des Verführers,
sondern eine schwerere Bewertung seiner Straffälligkeit im selben Sinne,
wie solche im § 176, Abs. 2, zum Ausdruck kommt.
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
715
Wenn etwas weiteres dafür spricht, daß wir es mit durch Veranlagung
und durch das Milieu verdorbene Mädchen zu tun haben, so ist es ihre
weitgehende Beteiligung an Erkrankungen der Sexualsphäre. Sie sind
ausnahmslos in der einen oder in beiden Richtungen, d. h. mit Lues
oder Gonorrhoe infiziert. Nur Ro. (3. Fall) verdankt ihre Syphilis,
wie auch die Gravidität demselben Individuum, ihrem Vater. Dagegen
holt sich Step (1. Fall) eine Gonorrhoe im Alter von 14 Jahren bei
einer Straßenbekanntschaft. Hepos (2. Fall) acquiriert mit ca. 15 Jah¬
ren — der Vater hatte sie im Alter von 13 1 / 2 Jahren stupriert — von
einem Fremden, mit dem sie im Hotel wohnte, Gonorrhoe. Ob die
Krankheit wirklich von diesem stammte, steht auch nicht fest; denn
die Nachkriegszeit hatte in Berlin unter anderen ungünstigen Be¬
dingungen die Gepflogenheit gezeitigt, daß sich Ausländer für di^..
Dauer ihrer Aufenthaltes irgend so ein junges Kind von der Straße
ins Hotel mitnahmen, wo es Morgen- und Abendessen erhielt. Tags¬
über trieben sich diese Mädchen, während der Freund seinen Geschäf¬
ten nachging, mit einem kleinen Taschengeld in den Straßen umher,
was nicht gerade zum Heile war; denn schon aus Langeweile, dann
auch aus wirtschaftlichen Gründen wurden Bekanntschaften ange¬
knüpft, wobei die jungen Mädchen die beste Gelegenheit hatten, falls
sie noch gesund waren, sich zu infizieren. Wie sich die 14jährige Hed.
Mö. (4. Fall) von einem 15 jährigen Vetter die Ansteckung mit Gonorrhoe
holte, ist schon erwähnt. In der Veranlagung Lo.s (5. Fall), die im
Alter von 15 Jahren die Annäherung ihres Vaters duldete, allen eigenen
Erlebnissen eine besondere Note zu geben, liegt es auch, ihre weiteren
Verhältnisse zu färben. Aus dem peinlichen Abenteuer mit den Sol¬
daten im Truppenlager will sie ganz unberührt hervorgegangen sein.
Dagegen habe sie sich im Alter von 16 Jahren ein einziges Mal aus
Verzweiflung einem Fremden hingegeben und dabei Syphilis davon¬
getragen, während Barbe (6. Fall) im Alter von 12 — 13 Jahren an
einen Ausländer verkuppelt, wahrscheinlich von diesem infiziert wurde.
Tatsächlich wurde sie der Charite im Alter von 13 Jahren zur ersten
antisyphilitischen Kur überwiesen und hat soeben mit 17 Jahren ihre
4. Kur beendet. Kl. Gu. leidet an Gonorrhoe unbekannter Herkunft.
Mi. St. (8. Fall) mit 12 Jahren vom Vater verführt, aber nicht
infiziert, machte im Alter von 15 Jahren ihre erste antisyphilitische
Kur durch und erwarb im folgenden Jahre auch noch Gonorrhoe.
Walla (9. Fall), die der Vater mit 14 Jahren vergewaltigte, kam
ein Jahr später, gonorrhoisch infiziert, in F.-E. Sie war eben
— 15 Jahre alt — in einem Nachtkaffee bei einer Razzia mit aus¬
gehoben worden. Da sie schon vor dem Stuprum Verkehr mit
Knaben und nachher mit Erwachsenen hatte, war die Quelle der
Infektion nicht mehr festzustellen.
716 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
In einer Monographie über die psychopathischen Konstitutionen
habe ich auf den schwerwiegenden Einfluß defektuöser Veranlagung
unter den weiblichen F.-Z. und den minderjährigen Prostituierten hin¬
gewiesen, unter denen ich a / 3 Nichtnormaler fand. Heute wäre dem
beizufügen, daß diese 2 / 3 ihrerseits das größte Kontingent Geschlechts¬
kranker unter den F.-Z. stellen. Schon die kleine Liste der Inzestuösen
hat gezeigt, daß sie alle einmal infiziert und alle geistig nicht normal
waren. Es ist nicht anzunehmen, daß die psychisch Abnormen des¬
selben Milieus — F.-Z. der Großstadt und derselben Anstalt — sich
prozentualiter vermehrt haben, eine ungeheure Zunahme aber haben
die jugendlichen Geschlechtskranken erfahren, besonders die nicht
normalen jugendlichen Geschlechtskranken. Raeke w ), dem ungefähr
die gleichen Gruppen wie mir zustehen, hat darauf hingewiesen, daß
unsere Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten nur
auf geistig Gesunde zugeschnitten seien, ohne die Zahl und hohe Bedeu¬
tung geistig abnormer Seuchenverschlepperinnen in Rechnung zu
stellen. Wenn der Psychiater die Gesellschaft gegen jene schützen
solle, so werde dauernd übersehen, daß die Gesetzgebung das erforderliche
Verständnis für das Psychopathentum vermissen lasse.“
Wenn aber, wie bei den meisten Inzestfällen, ein einfach unreifer oder
infolge von schwacher Veranlagung besonders unentwickelter Intellekt,
Psychopathentum, Verwahrlosung und frühgeweckte Sinnlichkeit zu¬
sammenfallen, dann ist der Akquisition und dem Weiterschleppen einer
Infektion Tür und Tor geöffnet. Zunächst wissen die in sexuellen
Dingen sonst recht erfahrenen Mädchen nach meinen Beobachtungen
nur wenig über das Wesen der Geschlechtskrankheiten, kaum etwas
über die Infektionswege, nur Unbestimmtes über die Auswirkungen
dieser Krankheiten und gar nichts über den gesetzlichen Schutz gegen
sie. Raeke verlangt neben Errichtung von Heilerziehungsanstalten
eine Psychopathenfürsorge bei bestimmten Geschlechtskrankheiten,
zeitgemäße Entmündigungsbestimmungen und Schaffung eines beson¬
deren Verwahrungsgesetzes mit zweckmäßiger Regelung der Kosten¬
frage. Er spricht nur im allgemeinen von Psychopathen. Es sei nur
mit einem Wort darauf hingewiesen, daß Hebephrenie und Schizo¬
phrenie der besonderen Erwähnung verdienen, indem sie sich gerade
häufig durch eine besondere Art der Charakterveränderung bemerk-
lich machen, die zu einem ausschweifenden Leben führt. Ich habe
das Material seinerzeit gelegentlich einer Arbeit über die Frühsymptome
der Schizophrenie in einer F.-E.-A. durchforscht und dabei eine Reihe
Abgeirrter in ihrem späteren Leben als ausgesprochen Schizophrene
wiedergefunden, ein Hinweis, daß auch diese in den von R. bezeich-
neten Kreis einzubeziehen seien.
Der Psychopathenfürsorge in der von R. angegebenen Richtung
an Berliner weiblichen Fürsorgezöglingen.
717
läge es ob, die bedrohten Jugendlichen über das Wesen der Geschlechts¬
krankheiten zu belehren. Eine allgemeine Aufklärung in der Schule
oder beim Verlassen derselben oder gelegentlich und dauernd durch
Merkblätter möchte ich nicht befürworten. Die erstgenannte kann durch
Erweckung noch schlafender Komplexe Schaden stiften bei den einen,
bei den anderen durch weitere Reizung der schon regen Sinnlichkeit.
Für die wirklich Bedrohten — besonders hysterische und schwach¬
sinnige Elemente wie sie auch hier zusammengestellt sind — oder bereits
infizierte muß die Belehrung eine viel ausführlichere sein. Es ist die
Pflicht der Jugendämter, in den F.-E.-A. und wo sonst gefährdete Jugend¬
liche sich befinden, Gelder für entsprechende Unterrichtskurse bereit¬
zustellen.
Das Einfügen vorstehender Betrachtungen an dieser Stelle erscheint
mir dadurch gerechtfertigt, daß die inzestuös angegriffenen Fürsorgezög¬
linge mit dem Erwerb der Geschlechtskrankheiten an erster Stelle stehen.
Schlußbemerkungen. — Praktische Folgerungen und Forderungen.
Unter den in den heutigen zivilisierten Staaten herrschenden Straf-
und ungeschriebenen Moralgesetzen ist der Inzest zu einem derart
verdammungswerten Übel gestempelt, daß ein Hinwegsetzen über die
Inzestschranke bereits als aus einer psychopathischen Abnormität
geboren erscheint.
Die bekanntgewordenen Inzestfälle aus unserer Zeit spielen sich meist
in den Kreisen des ungebildeten Proletariates ab und werden in hervor¬
ragender Weise zu einer öffentlichen Angelegenheit, da sie durch eine
Reihe äußerer und innerer Verhältnisse mitbedingt sind, deren Kenntnis
dem Staat die Verpflichtung auferlegt, Gegenmaßregeln zu treffen.
Durch ihre Erzeuger gefährdet sind Kinder, auch Enkel von Psycho¬
pathen, Geisteskranken ohne Anstaltsbedürftigkeit und in erster Linie
von Alkoholisten.
Als inzestuöse Vornahmen begünstigende äußere Bedingungen sind
anzusehen: Gemeinsame Schlafräume für Eltern und Kinder, insonder¬
heit für Väter und Töchter, sowrie für Geschwister verschiedenen Ge¬
schlechtes, Abwesenheit der Mutter zu bestimmten Tag- oder Nacht¬
stunden (Zeitungenaustragen, Hausbedienung) oder für längere Dauer,
ebenso Witwerschaft des Vaters.
Die Erfahrung, daß durch Inzest depravierte Individuen einmal
infolge erblicher Veranlagung, zum andern ausgehend von dem durch
den Inzest gesetzten Gefühl moralischer Minderwertigkeit ihrem
Lebensgang sehr schnell eine abgleitende Note geben und die hier
besprochenen Mädchen sämtlich sehr früh, im Alter von 13 — 15 Jahren,
mit Syphilis und Gonorrhöe infiziert waren, führt zu der Forderung,
daß gerade diese Gruppe der durch ihre Psychopathie und ihre Demenz
718 H. Fr. Stelzner: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobachtungen
stark Gefährdeten, was übrigens für die Gesamtheit der jugendlichen
Abgeirrten zu fordern ist, durch den Arzt, weibliche durch die Ärztin,
ausführliche Belehrungen über Wesen, Ansteckungsart und Gefahr
der Geschlechtskrankheiten für sich und die Umgebung bekommen.
Im übrigen ist eine Belehrung, namentlich recherchierender Kräfte
der Jugendämter, angezeigt, die durch besondere Aufmerksamkeit an
den entsprechenden Stellen, ungünstigen Konstellationen innerer und
äußerer Herkunft entweder durch Aufhebung von den Inzest begünsti¬
genden Einrichtungen einem solchen begegnen oder wo der unglückliche
Fall schon eingetreten ist, die Schützlinge vor weiterem Abstieg zu
bewahren suchen.
Diesen praktischen Forderungen schließen sich die akademischen
an, daß Gebiete der Zusammenarbeit von Psychiatrie und Rassen¬
hygiene einerseits und Züchtungswissenschaft andererseits geschaffen
werden, um im Versuch mit höherstehenden Tieren ungelösten Pro¬
blemen der Erblichkeit, der Psychopathologie und vor allem der heute
mehr als je brennenden Frage nachzugehen, welche Formen der
luetischen Erkrankungen besonders zu den metasyphilitischen Ver¬
änderungen des Zentralnervensystems disponieren.
Die Lösung der Inzuchtfrage auf tierzüchterischem Gebiet war
ein energischer Schritt voran, dem die Pusch-Weberschen Versuche
mit Lösung der Inzestfrage folgten und für das humane Gebiet in
beiden Richtungen bedeutungsvolle Ausblicke brachten.
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schrift d. Deutsch. Ges. f. Züchtungskunde. Berlin 1910. — 48 ) Ziegler , H. E.,
Vorwort zu „Die Seele des Tieres“. Berlin 1916.
Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
insbesondere des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglien¬
zellen des Rückenmarks.
Von
Dr. med. Enrique Barros (Argentinien).
(Aus dem Pathologischen Institut der Universität Freiburg i. Br. — Direktor:
Geheimrat Prof. Dr. Aschoff .)
Mit 16 Textabbildungen.
(Eingegangen am 22. Februar 1924.)
Inhaltsverzeichnis.
A. Einleitung (S. 720).
B. Geschichtliches (S. 721).
1. Experimenteller Tetanus (S. 721).
2. Tetanus beim Menschen (S. 725).
C. Kasuistik und Methodik (S. 728).
1. Normale Tiere und Embryonen (S. 730).
2. Kadaveröse Veränderungen (S. 730).
3. Mäuse mit allgemeinem Tetanus (Tetanusinfektion) (S. 732).
4. Meerschweinchen mit lokalem Tetanus (Tetanustoxin, Tetanusintoxi¬
kation) (S. 732).
5. Meerschweinchen mit allgemeinem Tetanus (Tetanusinfektion) (S. 736).
6. Meerschweinchen mit Tetanustoxin und Antitoxinbehandlung (S. 737).
7. Tetanische und kadaveröse Veränderungen beim Tier (S. 737).
8. Tetanus in einem Falle beim Menschen (S. 738).
9. Tiere mit verschiedenen Toxinen und Infektionen (Pikrotoxin, Strychnin,
Diphtherie, Botulismus, Tetrahydro-/f-naphtylamin) (S. 739).
D. Ergebnisse und Schlußfolgerungen (S. 743.)
Literatur (S. 747).
A. Einleitung.
Bis in die neueste Zeit wird die Frage lebhaft diskutiert, welche
Veränderungen an den motorischen Ganglienzellen durch das Tetanus¬
gift hervorgerufen werden. Die Mehrzahl der Autoren vertritt mit
•Goldscheider und Flatau die Ansicht, daß durch das Tetanustoxin
geradezu spezifische oder, wenn nicht spezifische, so doch sehr bemerk¬
bare Veränderungen an den Zellen hervorgerufen werden, welche sich
mit der Schwere des Falles (nach der Dauer der Toxinwirkung)
steigern.
£. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte. 721
Die Autoren, welche diese Anschauung — gesetzmäßige Zellver¬
änderung entsprechend der Schwere der Toxinvergiftung — vertreten,
erblicken den Beweis für diese darin, daß sie bei den durch Tetanus¬
toxin vergifteten Tieren, denen rechtzeitig Antitoxin eingespritzt wurde,
keine solche Veränderungen fanden.
Diesen Autoren gegenüber vertreten andere Forscher die An¬
schauung, daß es weder spezifische noch überhaupt charakteristische
Veränderungen der motorischen Ganglienzellen bei Tetanus gibt; ins¬
besondere wird darauf hingewiesen, daß pyknotische Zellen und Vor¬
stufen der Pyknose auch bei normalen Tieren gefunden wurden, was
schon Nissl scharf betont hat. Es wäre also denkbar, daß ein großer
Teil der von den Autoren beschriebenen Zellveränderungen normale
Involutionsprozesse der motorischen Ganglienzellen darstellen.
Andererseits besteht die Möglichkeit, daß ein Teil der Veränderungen
— besonders diejenigen des Kerns sowie die Zerfallserscheinungen an
der Tigroidsubstanz — kadaveröser Natur sind. Die durch Toxin ver¬
gifteten Tiere wurden in der Regel erst untersucht, nachdem der Tod
spontan eingetreten war. Insbesondere gilt dies für den Menschen,
von welchem das Material erst viele Stunden nach dem Tode gewonnen
wurde.
Dagegen wurden die mit Antitoxin behandelten Tiere, die am Leben
blieben, absichtlich getötet und das Material sofort fixiert. Jedenfalls
ist die Möglichkeit kadaveröser Veränderungen des menschlichen Ma¬
terials (Krieg!) gegeben. Dies haben Aschoff und Reinhold durch neuere
Untersuchungen bereits klargestellt und gefunden, daß die sog. Tetanus¬
veränderungen hauptsächlich dann sichtbar sind, wenn bereits sonstige
Zeichen kadaveröser Autolyse, besonders an den roten Blutkörperchen
durch ihre schlechtere Färbbarkeit, festzustellen waren. Ein Blick in
die vorliegende Literatur des tierischen und menschlichen Tetanus zeigt,
wie ungemein wechselnd die Befunde selbst bei solchen Forschern
sind, die über eine anerkannte Technik verfügen, und deren Schilderungen
wir unbedingt Glauben schenken müssen.
B. Geschichtliches.
1 . Experimenteller Tetanus.
Beck*) war der erste, der den Tetanus auf Grund eines Materials von 2 Kanin¬
chen und einem Meerschweinchen experimentell untersuchte. Das war kurz nach
Entdeckung der Nisslschen Methode und der Nisslschen Substanz, und damit begann
die Blütezeit neurohistologischer Forschung mit all ihren Ergebnissen und Über¬
treibungen.
In der Einleitung zu seiner Arbeit bemerkt Beck , daß er bei normalen Tieren
Zellen von dunklem und lichtem Typus gefunden habe (wie schon vor ihm von
Schaffer und Sarbo beschrieben). Sein Material ist aber nicht einwandfrei, da die
Tiere spontan starben und nicht sofort nach dem Tode fixiert wurden. Bei den
Kaninchen beobachtete Beck, daß die Veränderungen von einer Stelle der Zelle
722 E. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
ausgingen und von da aus sich ausbreiteten, was zur Folge hatte, daß gewisse
Teile der Zelle normal erschienen und andere sich bereits verändert hatten. Die
Schwellung der Zelle ist die früheste und allgemeinste Veränderung. Er fand auch
grobe Schollenbildung durch Verschmelzung der Schollen, ferner partielle oder
periphere Degeneration (Auflösung), wobei grobe Schollen in dem Rest der Zelle
Vorkommen können. Ferner typische Degeneration der dem Ursprungshügel des
Achsenzylinderfortsatzes benachbarten Protoplasmapartien, manchmal auch
Schrumpfung der Zellen. Sehr selten fand sich Vakuolenbildung. Feinkörniger
Zerfall wurde am seltensten beobachtet. In einer einzigen Zelle fand sich homo¬
gene Schwellung. Die Kernkörperchen zeigten Schrumpfung, diffuse Trübung
und sehr selten körnigen Zerfall. — Das Meerschweinchen ist äußerst summarisch
beschrieben, da bei ihm schon ausgesprochen kadaveröse Veränderungen eingetreten
waren, die sich in schwerer Färbbarkeit äußerten.
NM**) erklärt, daß die von Beck beschriebenen Veränderungen beim Tetanus
mit seinen eigenen Befunden an tetanisierten Kaninchen übereinstimmen. Ins¬
besondere — sagt Nissl — hat Beck hervorgehoben, daß sich die Veränderungen
beim Tetanus zunächst lokal äußern, und er fährt fort: Die Veränderungen in moto¬
rischen Ganglienzellen sind so überaus klar, daß solche Präparate geradezu als
Paradigmata für kranke motorische Zellen gelten können. Eigenes späteres Stu¬
dium zeigten N issl auch Kern Veränderungen: Rarefizierung der einzelnen Kern¬
teile bis zum Verlust der Kerne.
Marinesco 34 ) untersuchte das Rückenmark von 3 Meerschweinchen und fand,
daß die Veränderungen von der Intensität des Virus und der Intoxikationsdauer
abhängig sind. Er beobachtete auch diffuse Blutungen. Die Alterationen waren
sowohl in den Vorderhörnern als auch in den Hinterhörnern ausgesprochen. Als
primäre Veränderungen werden folgende betrachtet: Die chromatophilen Ele¬
mente (Nisslsche Substanz) werden seltener und lösen sich beinahe auf; bei einigen
Präparaten verschwinden dieselben in der Peripherie, es tritt Dissolution oder Ge¬
rinnung des Trophoplasmas ein. In einigen Fällen verwandelt sich die Zelle in einen
richtigen intensiv gefärbten Klumpen. Diese Erscheinung beruht nach Ansicht
des Verf. auf Koagulationsnekrose. Einige Jahre später 35 ) untersuchte der Verf.
das Rückenmark dreier Kaninchen, die mit Tetanustoxin behandelt waren, nach
der Cajalschen Methode und fand Zerfall der mehr rötlich gefärbten Fibrillen mit
Granulierung, Fragmentierung oder gänzlichem Schwund derselben sowohl im
Protoplasma des Zelleibes als auch der Fortsätze. Die Veränderungen waren an
den Ganglienzellen der Wurzelzone am ausgesprochensten, daher lag der Ver¬
dacht nahe, ob es sich nicht um Läsionen handeln könne, die durch die überstarke
Ermüdung der Zellen durch die Krämpfe hervorgerufen worden seien. Doch waren
die Veränderungen bei Tetanusintoxikation viel stärker als bei Strychninvergiftung,
so daß eine spezifische Wirkung des Tetanustoxins dem Autor wahrscheinlich
erscheint.
Die ersten Autoren, die sich gründlich und systematisch mit den Tetanus¬
veränderungen der Ganglienzellen beschäftigt haben, sind Goldscheider und Flatau 1 *).
Sie fanden bei einem großen Material (103 Kaninchen) Veränderungen an den
motorischen Ganglienzellen, welche sie als typisch betrachten, und die charak¬
teristisch sein sollen:
Auflösung der Tigroidsubstanz,
Schwellung des Kernes,
Starke Färbbarkeit des Karyoplasmas,
Wanderung des Kernes an die Peripherie,
Diffuse Färbung des Protoplasmas mit Schrumpfung und auffallender Färb¬
barkeit des Fortsatzes,
insbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 723
Schrumpfung mit Schlängelung des Fortsatzes,
Verklumpung der Zellen,
Neuronophagie usw.
Mit Getzowa 22 ) könnte man die von Goldscheider und Flatau beschriebenen
Veränderungen folgendermaßen einteilen: Vor Ausbruch der klinischen Symptome
Schwellung der Kernkörperchen und der Nisslschen Substanz mit Abbröckelung
der letzteren. Bei Ausbruch des Tetanus feinkörniger Zerfall der Nisslschen Sub¬
stanz. Die für die Inkubationszeit charakteristischen Erscheinungen (Schwellung
der Nisslschen Substanz und der Kernkörperchen) verschwinden, oder man findet
von ihnen nur noch Residuen. Auf der Höhe des klinischen Tetanusbildes normale
Zellen neben feinkörnigem Zerfall, was Goldscheider und Flatau als Übergang zur
Norm deuten. Die Residuen der Inkubationsperiode fanden sich bei starker Intoxi¬
kation kaum, dagegen reichlich und konstant bei schwacher Vergiftung, bildeten
sich jedoch bald zurück.
Claude 11 ) beschreibt eine langsame tetanische Intoxikation bei einem nach
2 Monaten getöteten Hund, welche Lähmungen und eine Schorfbildung hervor¬
gerufen hatte. Es fanden sich ähnliche Veränderungen wie die von Marineseo
beim Meerschweinchen beschriebenen.
Vinzenzi 96 ) fand bei Anwendung der Golgischen Methode bei Meerschweinchen
und Kaninchen Deformationen oder variköse Atrophie eines oder mehrerer Proto¬
plasmafortsätze sowohl in den Pyramidenzellen der Großhirnrinde wie in der
grauen Substanz um den Aquaeductus Sylvii und in den Zellen der Vorderhörner.
Daddi 17 ) fand Rarefizierung des Protoplasmas in vielen Zellen der Großhirn¬
rinde und einige Vakuolen, zugleich Zerfall und Verschwinden der Nisslschen
Schollen. Im Kleinhirn Schwellung der Purkinjeschen Zellen mit zentraler und
meist vollständiger Tigrolyse.
Ohanlemesse und Marineseo 10 ) äußern sich im Sinne der Befunde von Nissl ,
Babes, Goldscheider und Flatau. Bei Toxineinspritzung fanden sie an Meerschwein¬
chen: Trübung der Zellen, Rarefizierung der Nisslschen Substanz, Verkleinerung
des Kerns und der KemkÖrperchen. Bei gleichzeitiger Einspritzung von Toxin
und Antitoxin fanden sie die Zellen nur geschwollen, wurde jedoch das Antitoxin
erst 24 Stunden nach dem Toxin gegeben, so fanden sich ähnliche Veränderungen
wie bei Injektion von Toxin allein.
Courmont , Doyon und Paviot 13 ) untersuchten 3 Meerschweinchen (2 davon
starben spontan, 1 wurde getötet) und 3 spontan gestorbene Hunde. Bei akutem
Verlauf konnten sie die Befunde von Marineseo und Claude nicht bestätigen. Sie
fanden nur pyknotische Zellen, w ie sie sie auch beim normalen Tier gefunden haben
wollen. Beim Hunde waren alle Zellen normal. Die Autoren nehmen an, daß die
von Marineseo und Claude beschriebenen Veränderungen den Krämpfen nachfolgten
als Resultat sehr langsamer Intoxikation, nicht aber als Ursache der Krämpfe
gelten dürfen. — Dieselben Autoren zeigen nochmals später — Sitzung vom 28. V.,
Societe de Biologie — von Dejerine durchgesehene Präparate von 5 titanischen
Hunden ohne celluläre Veränderungen und daneben solche von Meerschweinchen,
welche während lokaler Krämpfe getötet wurden, mit „alterations diss^minees
et bilaterales »ans localisation en rapport avec celles des contractures“; ferner Prä¬
parate von einem Meerschweinchen, das nach allgemeinem Tetanus geheilt und
dann am 45. Tag getötet worden war, mit ausgesprochenen Veränderungen in fast
allen Zellen. Aus diesen Befunden glauben sie schließen zu dürfen, daß die Läsionen
nicht konstant sind und Vorkommen können, ohne Krämpfe zu erzeugen. —
Außerdem sei die Topographie der Veränderungen von dem Sitz der Krämpfe
unabhängig. — Noch später hatten die Verff. Gelegenheit, ein Pferd zu unter¬
suchen, wobei sie intensive Tigrolyse im Lumbalmark ohne Veränderungen an
724 E' Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
den Kernen oder Kemkörperchen fanden. Außerdem fand sich Tigrolyse in Zellen
der Hirnrinde und kleinzelliges Infiltrat (Glia?) in ihrer Umgebung.
Babes 2 ) beschäftigt sich mit dem Einfluß verschiedener Infektionen auf die
Nervenzellen des Rückenmarks. Er beschreibt Veränderungen bei Lyssa (Tigro¬
lyse, Kern Verschiebung usw.), Diphtherie und Typhus Vergiftung (Chromatm¬
schwund, Vakuolenbildung, Kern- und Kernkörperchenschwund). Bei Tetanus
fand er hyaline und vacuoläre Degeneration, letztere von Tigrolyse begleitet. Er
kommt zu der Schlußfolgerung, daß man nicht eine einheitliche, spezifische Zell¬
veränderung annehmen kann, sondern eine Reihe cellulärer, pericellulärer, vascu-
lärer und NeurogliaVeränderungen für die verschiedenartigen Gifte, ihre Fern-
und Spat Wirkungen.
De Buck und Demoor 8 ) verimpften Eiter von einer menschlichen tetanischen
Wunde. Im Anschluß an den so hervorgerufenen lokalen Tetanus sahen sie zuerst
periphere Tigrolyse und Chromophilie (diffuse Färbung der achromatischen Sub¬
stanz), Vakuolisation und Schwellung des Kernes. Bei den Kernkörperchen Schwel¬
lung und nachher Zerfall derselben. Keine bestimmte Lokalisation der veränderten
Zellen.
Pechouire* 8 ) fand bei Kaninchen ähnliche Bilder wie Marinesco , Ooldscheidtr
und Flatau : Verwischung der Zellkontur, Vergrößerung der Zelle, diffuse Färbung
der achromatischen Substanz und Tigrolyse. Die Kerne zeigten Vergrößerung,
tiefe Färbung, Verschiebung, die Kernkörperchen Vergrößerung.
Nageotte und Ettlinger 42 ) fanden auf der Krampfseite bei lokalem Tetanus
Schwellung und Auseinanderrücken der Tigroidschollen und in Ausdehnung des
ganzen Rückenmarks Tigrolyse und Fissurenbildung (letzteres zweifellos ein Kunst -
produkt) in den kleinen Strangzellen.
Ztnwo 89 ) kritisiert die Technik und daher die Resultate anderer Autoren, da
sie eine Verwechslung mit kadaverösen Prozessen nicht ausschließt und diese nach
der Ansicht vieler Autoren in Intoxikationsfällen ausgesprochener und schneller
auftreten. Er selbst begeht aber auch einen technischen Fehler bei Anwendung
der Nisslschen Methode, indem er die Berührung unfixierter Stücke mit Wasser
nicht vermeidet. Welchen schädigenden Einfluß das Wasser auf unfixierte Stücke
hat, ist bekannt genug. Zinno vertritt die Auffassung, daß das klinische Bild mit
den Läsionen des Nervensystems parallel gehe. Diese fangen bei der Nisslschen
Substanz an und dehnen sich fast gleichzeitig auf die Centrosomen und die Kern¬
körperchen aus, um endlich auch das Cytoplasma und die Fortsätze zu ergreifen.
Der Kern wird nur wenig und erst spät in Mitleidenschaft gezogen. Es zeigen sich
auch große individuelle Unterschiede mit Beziehung auf die Intensität der Gifte
und den Widerstand der Nervenzelle, und daher kommen die großen Unterschiede
in den morphologischen Bildern.
Joukowsky 28 ) fand bei mit Tetanustoxin behandelten Meerschweinchen ver¬
schiedene unspezifische Veränderungen an den Ganglienzellen, manchmal waren
diese nur sehr gering. Außerdem fand er als allgemeine Erscheinungen Anhäufung
von Wanderzellen um die Nervenzellen herum und sogar Eindringen derselben in
deren Protoplasma.
Minassian* 0 ) nimmt auf Grund seiner Untersuchungen an den verschiedensten
Tieren an, daß sowohl bei experimentellem, wie auch bei spontanem Tetanus in
allen Fällen Veränderungen der Nervenzellen im Gehirn wie im Rückenmark
auftreten. Sie bestehen in Schwellung und später Schrumpfung der Ganglienzellen,
Lockerung der Nisslschen Substanz und in einigen Fällen Zerfall des Protoplasmas
und Gefressenwerden der Zellreste seitens der Phagocyten, ferner Vakuolenbildung
usw. Alle diese Läsionen können aber nicht als für den Tetanus spezifische be¬
trachtet werden.
insbes. des Tet&nusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 725
Endlich untersuchte Sjövaü M ) 20 Kaninchen mit lokalem Tetanus, die sub-
cutan infiziert waren. In 9 Fällen war das Resultat negativ. Die übrigen Tiere
zeigten diffuse und lockere Anordnung der Tigroidschollen, Mitfärbung der Zwischen¬
substanz und oft Veränderungen in der Turgescenz des Zellkörpers. Sehr selten
fand sich eine Auflösung der Nisslschen Substanz und nur ganz ausnahmsweise
eine Schwellung des Nucleolus. Die veränderten motorischen Zellen lagen auf der
Krampfseite. Der Verf. schließt aus diesen Befunden auf einen Zusammenhang
derselben mit den Krämpfen und glaubt, daß es sich um völlig physiologische
Aktivitätsveränderungen handelt.
2. Menschlicher Tetanus.
Über die Veränderungen des Nervensystems beim Tetanus des Menschen gibt
es eine sehr umfangreiche Literatur und zwar von seiten derjenigen Autoren, welche
den Standpunkt, daß der Tetanus eine organische Erkrankung sei, vertreten
gegenüber zahlreichen anderen, die ihn nur einer Neurose zuschreiben bis zur Zeit
der Entdeckung der Nicolaierschen Stäbchen.
Wir hatten Gelegenheit, die Spezialarbeit von Demme 18 ) durchzusehen, welche
eine Menge Befunde früherer Autoren bringt ( Billaud , Besdnard , Günsburg, Dupuy¬
tren, Froriep u. a.). Die Arbeit von Gemelli, der den Wundstarrkrampf auf die
Entzündung und Erweichung des Rückenmarks oder auf Hyperämie und Entzün-
düng der Rückenmarkshäute zurückführt, wurde sogar von der Soci6te de Medecine
zu Brüssel, wie auch von der Pariser Akademie preisgekrönt. Rokitansky 50 ) weist
neue Wege, indem er als pathologisch-anatomisches Substrat des Tetanus
Bindegewebswucherungen und Verödung der Nervensubstanz im Rückenmark
(„tumultuarische zertrümmernde Wucherung“) zeigt. Mit ihm beginnt ein
neuer Abschnitt der Tetanusforschung.
Demme bestätigt in seiner vorerwähnten Monographie die Befunde Roki¬
tanskys, während Leyden 31 ), der 4 Fälle genau untersuchte, alles bezweifelt. Elli -
scher 21 ) beschreibt verschiedene Veränderungen, die Fr. Schultze M ) noch als normal
betrachtet mit Ausnahme der Vakuolisierung. N ehrlich 43 ) veröffentlicht einen
Fall von Köpftetanus mit großer Vakuolenbildung in den motorischen Kernen
des Trigeminus, Facialis und Hypoglossus. Obgleich er die Vakuolen anderer
Autoren (Popoff und Danilo) für künstlich hält, waren es seine wahrscheinlich
nicht weniger (Fixierung in Müllerscher Flüssigkeit).
Wir würden von unserem Thema zu weit abschweifen, wenn wir die Bespre¬
chung älterer Arbeiten über die pathologische Anatomie des Rückenmarks bei
menschlichem Tetanus weiter fortsetzen würden. Das eigentlich begründete Stu¬
dium derselben beginnt erst mit der Entdeckung der Nisslschen Methode, welche
die Histopathologie des Nervengewebes gänzlich umwarf.
Goldscheider und Flatau 23 ) beschreiben 2 Fälle. Bei dem einen finden sich iden¬
tische Veränderungen wie beim Tiere, bei dem anderen enorme und diffuse Tigro-
lyse, welche die Autoren auf Hyperthermie zurückführen.
Goebel 2 *) bemerkte bei seinem Falle Abbröckelung und Zerstäuben der Nissl¬
schen Substanz, keine Kernverschiebung, wohl aber öfters eine solche der Kern¬
körperchen, die selten geschwollen oder deformiert waren.
Westphal 67 ) fand in einigen Zellen nur Vergrößerung des Nucleolus mit mäßiger
Schwellung der Tigroidschollen.
Matthes 31 ) beobachtete 2 Fälle. Bei dem 1. fand er in einigen Zellen Schwellung
der Tigroidschollen, in anderen feinkörnigen Zerfall. Der Nucleolus war manchmal
normal, manchmal dunkel gefärbt und deformiert, mitunter aufgehellt und vakuo-
lißiert oder auch im Zerfall begriffen. Der 2. Fall zeigte nur geringe Veränderungen:
mäßige Tigroidschwellung und Vakuolisierung in einzelnen Nucleolen.
726 E- Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte.
Hunter 27 ) beschreibt 3 Fälle, darunter 2 Fälle mit Tigrolyse, der 3. zeigte
normale Bilder.
Tauber 60 ) fand keine oder nur leichte Zellvergrößerung, geringe Veränderungen
der Nisslschen Substanz und in mehreren Fällen Vakuolenbildung. Kern zentral
gelegen, hell, normalgroß oder verkleinert. Nucleolus manchmal verschoben inner¬
halb des Kernes oder sogar außerhalb gelegen.
Rispal bl ) veröffentlicht 2 Fälle. Der eine zeigte hyaline Degeneration der
Vorderhornzellen mit Verlagerung des Kerns, welche durch Hyperthermie erklärt
wird, bei dem anderen fand sich Schwellung des Zellkörpers, des Nucleolus und
der Nisslschen Substanz.
Swing 20 ) sah Chromatolyse in Zellen der Großhirnrinde. Im Bulbus außerdem
Exzentrizität des Kernes. Viele Purkinjesche Zellen befanden sich im Zustand
der Chromatolyse oder Abbröckelung. Deutliche Chromatolyse in vielen Rücken¬
markszellen; einige waren vollkommen homogen.
Preobajensky 49 ) fand diffuse partielle oder perinucleäre Tigrolyse, Vakuoli-
sation; Schwellung, Verschiebung und Verschwinden des Kerns.
Die 2 Fälle von Marcus 11 ) zeigen normale Vorderhornzellen, es fand sich nur
bei dem einen Fall feinkörnige Tigroidauflösung.
Der Fall von Vincenzi 66 ), der 30 Stunden nach dem Tode seziert wurde, zeigte
vollständig normale Bilder der Hirn- und Kleinhirnrinde, der Stammganglien und
des Rückenmarks in seinen verschiedenen Teilen. Nur in der Medulla oblongata
fanden sich Veränderungen, welche uns kadaveröser Natur zu sein scheinen (Schwel¬
lung, Tigroidzerfall, Karyolyse etc.).
Donetti 19 ) fand bei einem Fall von menschlichem Tetanus mit allgemeinen
Krämpfen eine zentrale akute Myelitis des Lumbalmarks mit Atrophie der Vorder¬
hörner und Zerstörung der pyramidalen Ganglienzellen. Der Verf. ist der Meinung,
daß die Krämpfe nur ein Reflexphänomen seien ohne Beziehung zu anatomischen
Veränderungen.
Joukow8ky 28 ) fand in einem Fall von Kopftetanus in der Medulla oblongata
und im cervicalen Rückenmark verschiedene Zustände mit Chromatolyse, diffuser
Färbung des Protoplasmas, Kernschwund und pigmentärer Entartung der Zellen
auch im Gehirn (was sicher nur auf das hohe Alter des Patienten, 61 Jahre, zurück¬
zuführen ist).
Laignel-Lavastine 32 ) beschreibt einen Tetanusfall, der 30 Stunden nach dem
Tode seziert wurde. Er fand diffuse Veränderungen an den Zellen einiger bulbärer
Kerne und überhaupt an den großen Pyramidenzellen der Hirnrinde. Die Verände¬
rungen im Rückenmark, von dem nur einige obere Segmente untersucht wurden,
bestanden hauptsächlich in Kernveränderungen (diffuse und intensive Färbung,
Verwaschung der Kemkonturen) sowohl in den Vorder-, als auch in den Hinter¬
hornzellen.
Sjovall bb ) beschreibt bei einem Falle von menschlichem Wundstarrkrampf,
der 23 Stunden nach dem Tode seziert wurde, Schwellung der Zellen, Veränderung
der Tigroidsubstanz (perinucleärer bis vollständiger oder grobkörniger Schollen¬
zerfall) und Verlagerung des Kerns mit Einbuchtung desselben, zuweilen auch Ver¬
größerung des Kernkörperchens. Andere Zellen verhielten sich völlig normal.
Die Veränderungen waren im Cervicalmark und zwar besonders in den Vorder-
hörnern ausgesprochener, es fanden sich aber auch Andeutungen in den Mittelzellen
wie in den großen Zellen der Clarksclien Säulen. Die beobachteten Veränderungen
werden vom Verf. als durch die tetanische motorische Erregung verursachte Alte¬
rationen innerhalb völlig physiologischer Grenzen aufgefaßt.
Manouelian 38 ) untersuchte einen Fall von menschlichem Tetanus mittels
Nisslscher, Mannscher und Cajalscher Methode. Er fand Chromatolyse, Verschwin-
insbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 727
den der Kernmembran, diffuse Färbung des Kerns. Die neurofibrillären Netze
waren völlig normal. Mit Hilfe der Mannschen Methode entdeckte er in ponto-
bulbo- und medullären Zentren und besonders in den motorischen Zellen des Rük-
kenmarks Körnchen von verschiedener Größe und Farbe, welche er als chemische
Transformationen der Nisslschen Substanz unter dem Einfluß des durchwandernden
Toxins auffaßte.
Die letzte Arbeit, die unseres Wissens über Veränderungen des Rückenmarks
beim Tetanus erschienen ist, ist die umfassende und sorgfältige von Qelzowa * 2 ).
Ihre Fälle hatten unter intensiver Behandlung gestanden, besonders waren viele
(20 Fälle unter 25 Gesamtfällen) mit Magnesiumsulfateinspritzungen behandelt
worden, das an sich schon große Veränderungen im Rückenmark verursachen
kann (nekrotische Herde). Die Verf. fand in keinem einzigen Fall völlig normale
Ganglienzellen sowohl in den Vorderhörnern als auch in den Clarkeschen Säulen.
Die Veränderungen bestanden in Schwellung und Abblassung der Kernkörperchen,
Schwellung der Nisslschen Zellkörperchen, feinkörnigem Zerfall des Kernes und
Kemvergrößerung, manchmal verbunden mit Hyperchromatose oder diffuse Mit¬
färbung derselben mit häufig weitgehenden Veränderungen (Schwund der Kern¬
membran, Vergrößerung oder Schwund des Kernkörperchens, feinkörnige oder fein-
stäubige Kernhyperchromatose).
Zu gleicher Zeit erschien eine Arbeit von Aschoff und Reinhold 1 ), welche an
dem großen, von Spiegel statistisch bearbeiteten Sektionsmaterial des Freiburger
Pathologischen Instituts die histologischen Untersuchungen ausgeführt haben. Sie
haben dabei die Fälle mit reiner Antitoxinbehandlung von denjenigen mit Magne-
aiumsulfatbehandlung und schließlich von solchen mit Narkotica behandelten zum
Vergleich gehabt. Bei diesen Untersuchungen stellte sich das überraschende
Resultat heraus, daß die motorischen Vorderhornzellen um so besser erhalten
waren, je früher die Sektion vorgenommen wurde und je reiner die Wirkung der
Tet&nysbacillen zur Geltung kam. In solchen unkomplizierten Fällen fanden sich
so gut wie intakte motorische Vorderhornzellen selbst bei ganz schwer verlaufenen
Fällen. Die Verff. ziehen daraus mit Vorsicht den Schluß, daß bei der natürlichen
Tetanusinfektion des Menschen keine sichtbaren Veränderungen an den Ganglien¬
zellen eintreten. Die etwa gefundenen Veränderungen sind entweder durch Kom¬
plikation (Magnesiumsulfat, Einspritzungen usw.) oder durch kadaveröse Autolyse
bedingt.
Überblickt man die gesamte Literatur der histologischen Verände¬
rungen bei menschlichem und tierischem Tetanus, so zeigen sich auf¬
fallende, kaum überbrückbare Gegensätze in den Beschreibungen der
verschiedenen Autoren. Während die einen so gut wie gar keine Ver¬
änderungen oder gar normale Zellen finden, beschreiben die anderen
die allerschwersten Zerstörungen der Tigroidsubstanz, der Fibrillen
und des Kernapparates. Hier müssen natürlich irgendwelche Unter¬
suchungsfehler oder Irrtümer vorliegen. Der nächstliegende Einwand,
daß es sich besonders bei den menschlichen Fällen vorwiegend um
kadaveröse Veränderungen handeln könnte, deren Eintreten vielleicht
durch die vorausgegangene tetanische Infektion, die hohe Temperatur
usw\ begünstigt worden ist, ist auch in der neuesten Arbeit über die
Veränderungen der motorischen Vorderhornzellen von Aschoff und
Reinhold erhoben worden. Aber damit sind die zahlreichen # Beob¬
achtungen an Tieren, die z. T. absichtlich getötet wurden, nicht wider -
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII.
47
728 E. Barros: Iber die sogenannte spezifische Wirkung der Krampf gifte,
legt. Aschoff und Reinhold verlangen daher mit Recht eine nochmalige
Überprüfung des tierexperimentellen Materials. Dabei war vor allem
zu berücksichtigen, daß schon die Tierart einen Unterschied machen
konnte, ferner die Vergiftungsmethode, ob mit Tetanustoxin oder mit
Bacilleninfektion. Es war sehr wohl denkbar, daß beide ganz ver¬
schieden verliefen. Auch mußte der lokale Tetanus als willkommenes
Objekt für vergleichende Untersuchungen zwischen erkranktem und
nichterkranktem Teil des Rückenmarks noch einmal herangezogen
werden. Das war die Aufgabe, der wir uns unterziehen wollten. In dem
nachfolgenden Bericht sind unsere Ergebnisse niedergelegt.
C. Kasuistik und Methodik.
Bei der Bearbeitung unseres Tiermaterials haben wir uns ausschließlich fol¬
gender Methoden bedient: der Nisslschen Originalmethode mit Methylenblau, der
Bielschowsky-Plienschen Kresylviolettfärbung und der Färbung mit Methylgrün-
Pyronin nach Unna - Pappenheim. Als Fixierungsmittel verwandten wir nur
Alkohol oder Formol. Wie bekannt, geben beide gut brauchbare Bilder in dem
Sinne, daß beide Fixierungsmittel ein Äquivalentbild liefern. Die Diskussionen
über die Präformierung der Tigroidsubstanz sind längst vorüber, wdr betrachten
mit Nissl alles als pathologisch, was von der Norm abweicht.
Die Alkoholfixierung, mit der die meisten Autoren nach der Voreclirift von
Nissl arbeiten, und die nach dem Referat von Spatz? 2 ) auf der letzten Pathologen¬
tagung allein gelten soll (in diesem Falle wäre alle histopathologische Arbeit der
letzten Jahrzehnte auf diesem Gebiet vergeblich gewesen), befriedigt uns nicht
immer vollständig. Die „unberechenbaren Einflüsse des Alkohols“, von welchen
Spielmeyer M ) spricht, scheinen uns, besonders bei Mäusematerial, viel häufiger
vorzukommen, als dies bei der Formalinfixierung der Fall ist, auch w'enn technische
Fehler durch Hydratierung des Alkohols infolge ungenügenden Wechselns oder
Offenlassens vermieden werden.
Zwei Formen der Zellveränderung, die häufig als typisch tetanisches Büd
beschrieben worden sind, „Schrumpfung“ und „Schwellung“ (der frühere „chromo-
phile Zustand“ Nissls), die beide beim Tiere häufiger als beim Menschen beob¬
achtet wurden, treten nach Alkoholfixierung nicht selten auf, bei Formalinbehand¬
lung dagegen haben wir dieselben nie bemerkt. Auch die Nisslsche Substanz ist
nicht absolut konstant in ihrer klassischen Form, selbst bei ganz frisch in Alkohol
fixierten Stücken.
Nur in einem einzigen Falle enttäuschte uns die Formolfixierung, es zeigte
sich die Nisslsche Substanz in diesem Falle wie leicht abgewaschen, und wir halten
diese Erscheinung für ein Kunstprodukt, ohne uns jedoch eines technischen Fehlers
bewußt zu sein. Die „Formolzellen“ von Marcus haben wir niemals beobachtet.
Wir glauben bei unseren Untersuchungen alle Fehlerquellen dadurch aus-
geschaltet zu haben, daß wir sowohl in Alkohol als auch in Formol fixierten und
die so gewonnenen Präparate vergleichend untersuchten. Mit Rücksicht darauf,
daß die meisten Autoren Anhänger der klassischen Methode von Nissl sind, haben
wir den meisten Abbildungen solche Präparate zugrunde gelegt, die in Alkohol
fixiert sind, wir werden aber jedesmal ausdrücklich bemerken, welche Fixierung
angewandt wurde. Es gelang uns, sowohl mit der Alkohol- als auch mit der Formol-
fixierungsmethode schöne Präparate zu erzielen, wenn das Material von Menschen.
Katzen oder Meerschweinchen stammte, bei Mäusematerial dagegen bekamen wir
gute Bilder nur durch Formolfixierung. Alle unsere Präparate sind nach den
insbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 729
üblichen Vorschriften in Paraffin eingebettet worden. Nur einige von menschlicher
Leiche stammende Stücke wurden außerdem auf dem Gefriermikrotom geschnitten
und dann gefärbt (Fibrillenfärbung nach Bidschowsky usw.).
Besonders schöne Bilder erhielten wir mit Methylenblau nach Nissl und
Kresylviolett nach Bielschowsky-Plien. Die Färbung mit Methylgrün-Pyronin
nach Unna-Pappenheim ergibt keine so schönen Bilder. Bei der Nisslschen Methy¬
lenblaufärbung hielten wir uns genau an die klassische Vorschrift 69 ).
Das zur Verarbeitung gelangende Tiermaterial stammte von Meerschweinchen,
Mäusen und Katzen, und zwar wurden
1. gesunde Tiere (Meerschweinchen und Mäuse) getötet, das Material sofort
fixiert und untersucht;
2. Embryonen von Meerschweinchen untersucht, um nachzuweisen, daß die
Involution der Ganglienzellen schon im embryonalen Entwicklungsstadium beginnt ;
3. gesunde Tiere (Meerschweinchen) getötet und das Material nach mehreren
Stunden erst fixiert, um die kadaverösen Veränderungen zu studieren;
4. mit Tetanus vergiftete Tiere untersucht und zwar
a) Mäuse mit mehr oder weniger allgemeinem Tetanus (Tetanusinfektion);
b) Meerschweinchen mit lokalem Tetanus (Tetanustoxin) (Tetanusintoxi¬
kation);
c) Meerschweinchen mit allgemeinem Tetanus (Tetanusinfektion);
d) Meerschweinchen mit Tetanustoxin vergiftet und mit Antitoxin behandelt.
Das Tier wurde getötet und das Material sofort fixiert;
5. Meerschweinchen, Katzen und Mäuse unter verschiedenen Bedingungen
mit verschiedenen Giften (Strychnin, Pikrotoxin, Diphtherietoxin, Botulismus,
Tetrahydro-/?-naphtylamin) behandelt und während der Intoxikation getötet.
Bei den Tieren der Gruppen 4 und 5 wurde darauf geachtet, daß das Material
gleich nach der Guillotinierung oder dem natürlichen Tode fixiert wurde. Einige
Tiere wurden während verschiedener Perioden der Erkrankung als auch in der
Agone getötet und die Organe gleich fixiert. Später fixiertes Material diente zur
Kontrolle.
In den meisten Fällen wurde das Material sowohl in Alkohol als auch in Formol
fixiert, in den wenigen Fällen, bei denen nur eine dieser beiden Fixierungsmethoden
zur Anwendung kam, wird das ausdrücklich bemerkt werden.
Es wurden stets verschiedene Segmente des Rückenmarks untersucht. In
Fällen von lokalem Tetanus wurde den Segmenten, die den Contracturen ent¬
sprachen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt und sie mit dem übrigen Rücken¬
mark vergleichend studiert, sowohl mit Alkohol- als mit Formalinfixierung. Von
jedem dieser beiden Stücke wurden mindestens ein paar hundert Schnitte ange¬
fertigt und nach den oben angegebenen Methoden gefärbt.
In unserem Fall von menschlichem Tetanus wurden verschiedene Segmente
des Rückenmarks sowie Stücke der Großhirnrinde und des Kleinhirns bearbeitet
und außer den drei erwähnten Färbemethoden nach Bielschowsky t Cajal , van Qieson ,
Oppenheim (Glia) usw r . gefärbt.
Der Gang der Untersuchung war: Gestaltveränderungen der Zellen, Tinktions-
fähigkeit und morphologische Unterschiede der Nisslschen Substanz, Verhältnisse
zwischen chromatischer und achromatischer Substanz des ceilulären Protoplasma;
Kern- und Körperchenveränderungen. Die meisten Tetanusinfektionen mit
frischen Kulturen blieben erfolglos, dagegen war der Erfolg mit Tetanusbacillen
bergendem Fließpapier, Schrotpatronen, Gewehrpfröpfen sicher und schnell. Diese
Pfropfe stammen aus einem Patronenfabriklager und wurden wahrscheinlich
von gewöhnlichen Lumpen hergestellt. Jedenfalls zeigten sterilisierte Pfröpfe
unter die Haut verimpft keinen Tetanus. Pfröpfe mit Antitoxin zusammen
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; , , ., ..*, • . 1. JVormrik Titrr Uftd HinbrifOVKetK
l>..*».f 8 tre.it- über pyknonK>rj)he Zellen» die auch häufig als ti*t&iltecJu*
Zellen beschrieben worden sind, konmm Arir mit A’ftftfjf :al* .ent.^ehk^len
, / V ; : ^ Ansehen und tsxat
/ * i^ deüi Sinne, daß '
JWHBKm ... bilde dMrsteUeu
• • Wir h«»K‘» -i.
häufig sowohl Ix-.
A ‘sw' : .:» menschlichem n !-;
- * . ■ ‘ V /V.. .'t.
7^'**^. , . ■-. r % \
Abb. 1. dermale Vordefbon^vll*- $aA woii^'li^f»rnekei*in«r|c«:. * .
A l k(ub*>|A^*ufig. ■Vtesksr-h». pk. 4 Tiibu* tT^ctiiu. Sehern Aiat.cruri
gesehen, und eism
ben vnr t<ie besonders Inn jungim Menschen und Tieren beobachte!
z0 haben, so daß wir sie als* Ausdruck eines normalen Involution**
vorgiufges der Zeilen zu deuten rennbgem Wir lassen sie deswegen
bei iuts : ^ren weiteren Be^ebmbun^^ da--C« .jsi.cb. imra^r' mir
VyVi'; 4 ^-; um Wicäier^Folbngrui Imntieln inußte. Auch sind diese
pykiioifiorphen Zellen sehet* von änderen Autoren
eingehend beschrieben - wir rwrWeisen hier heson-
■ v^v ders auf die //iisaiitmenfAMCTidc- JMrsteÜuirg lud $irirt
mfj/rr --, daß es öberflüsaig i*fc, sic noch ent mal zu
1 beschreiben. 'Wir widmen ihnen nur deshalb aus-
rirücklich diese Zullen« divjxrit man uns nicht eine
jy \ Unterliissufigssünde. ein Übersehen dieserZeEkm oder
’^ K ' derselben vproCrteü kannte,
jß&f'h ■ . : . • a-Aa••■■;•;■ 7 -
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insbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 731
Eigene Versuche.
4 Meerschweinchen wurden am 7. IX. 1922 10 Uhr morgens getötet und im
Sektionssaal liegen gelassen.
K. I wurde am 8. IX. um 11 Uhr vormittags, d. h. 25 Stunden nach dem
Tode in Alkohol fixiert. Das Protoplasma zeigte feinkörnigen Zerfall der Tigroid-
schollen. Die Fortsätze waren weiter gefärbt, die Kerne geschrumpft, diffus und
stark gefärbt. Manchmal verschwanden sie im Protoplasma. Zuweilen waren
Vakuolen sichtbar. Die Veränderungen betreffen alle Zellen, aber natürlich in
verschiedenem Grade je nach der zweifellos individuell verschiedenen Widerstands¬
fähigkeit derselben.
K. II wurde am 9. IX. 5 Uhr nachmittags, d. h. 55 Stunden nach dem Tode
in Alkohol fixiert. Es zeigten sich schwere Veränderungen: in den Zellen vollstän¬
diger Tigroidzerfall, fast gleichmäßige schmutzige Färbung der ganzen Zellen.
Die Fortsätze sind noch weiter sichtbar. Schrumpfung der Zellen und des Kernes,
Zerbröckelung der Kemkörperchen. Ganz dunkle Färbung des Kemsaftes und
Pyknose des Kerns.
K. III wurde am 10. IX. 4 Uhr nachmittags, also 78 Stunden nach dem
Tode in Alkohol fixiert. Vollständige Auflösung des Tigroid, Schrumpfung des
Kernes. Im ganzen finden sich die gleichen Erscheinungen wie beim vorigen
Tiere, nur nicht so hochgradig, was wohl von dem höheren Alter des Tieres
und stärkerer Resistenz desselben herrühren muß. Auch die Verdauungstätigkeit
der Tiere im Augenblick des Todes könnte eine Rolle spielen, da diese großen
Einfluß hat.
K. IV wurde am 11. IX. nachmittags 2 Uhr, also 100 Stunden nach dem
Tode in Alkohol eingelegt. Das Protoplasma zeigte starken Tigroidzerfall; unregel¬
mäßige Mitfärbung des Kernes. Die Kernkörperchen waren teilweise zerfallen,
teilweise aber auch noch ziemlich gut erhalten.
Aus diesen Beobachtungen geht in der Tat hervor, daß längeres
Liegenlassen des Kadavers die allerschwersten Veränderungen an den
Ganglienzellen hervorruft. Jedenfalls waren schon nach 25 Stunden
die Veränderungen so ausgesprochen, daß man auf etwaige pathologische
Veränderungen keine Schlüsse mehr ziehen konnte. Da nun bei mensch¬
lichem Material nicht selten ähnliche Zeiträume bis zur Sektion oder
jedenfalls bis zur Fixierung des Materials verstreichen, so ist der größte
Teil desselben für unsere Frage wertlos. Übersieht man die Literatur,
so läßt sich leicht feststellen, daß diese kadaverösen Veränderungen
von manchen Autoren schon 6—8 Stunden nach dem Tode, bei sep¬
tischen Infektionen sogar schon 3 Stunden nach dem Tode beobachtet
worden sind. Ich erwähne hier vor allem die Arbeit von Ewing und
diejenige von Tirelli 62 ), daneben kommen noch diejenigen von Colucci 12 ),
Neppi 46 ), Barbacci und Campacci* ), Levy ZQ ), Philippe et de Oothard 47 )
und Suzucki 57 ) in Betracht. Wir haben es uns daher zur Aufgabe ge¬
macht, bei unsern Tierexperimenten das Material möglichst sofort nach
dem Tode zu fixieren. Zum großen Teil wurden die Tiere absichtlich
getötet, nur bei einem kleinen Teil ließen wir den natürlichen Tod ein-
treten, aber auch dann wurde, von seltenen Ausnahmen abgesehen,
die Sektion und Fixation alsbald angeschlossen.
732 E. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte.
3. Mäuse mit allgemeinem Tetanus.
Ma. I. Mit Tetanuswunde eines anderen Tieres infiziert am 15. III. 1923
12 Uhr mittags. Der Tod wurde abgewartet, er trat am 16. III. um l / a 12 Uhr ein.
d. h. 2372 Stunden nach der Impfung. Das Tier war schwerkrank und bot das
klassische Bild der allgemeinen Tetanusinfektion. Das Rückenmark wurde sofort
in Alkohol eingelegt. Das mikroskopische Bild zeigte in den Vorderhörnern leichte
Schwellung der ganzen Zellen mit Auseinanderzerrung des Tigroidnetzes. Kerne
gut gefärbt. Vielfach um den Kern eine Art Spalt und richtige Vakuolen bildung
im Protoplasma, besonders in der Nähe des Kerns, welche Veränderung wir als
agonale deuten müssen.
Ma. II. Am 28. II. mit Tetanuswundmaterial geimpft. 24 Stunden später in
starken Krampfanfällen getötet. Fixierung in Alkohol. Es finden sich in ver¬
schiedenen Segmenten des Rückenmarks nur eine gewisse Schwellung der Zellen
mit leichtem Zerfall der Tigroidsubstanz.
Ma. III. Dieselben Infektionsbedingungen und Fixierungsmethode wie bei
dem vorigen Tier, um evtl, mögliche individuelle Unterschiede der Tiere berück¬
sichtigen zu können. Die untersuchten Zellen des Rückenmarks zeigen leichte
Schwellung und geringe Tigrolyse.
Ma. IV. Mit Wundmaterial am 1. III. geimpft. Schwere Erscheinungen von
allgemeinem Tetanus. 27 Stunden nach der Impfung getötet. Tetanusbacillen
in der Wunde nachgewiesen. In Alkohol fixiert. Mikroskopisch können wir keine
wesentlichen Unterschiede gegen die Befunde bei den vorher untersuchten Tieren
feststellen.
Ma. V. 25. II. mittags subcutane Einführung eines tetanusbacillenhaltigen
Pfropfes. Am 28. II. 10 Uhr vormittags in Krampfanfällen getötet, d. h. 70 Stunden
nach der Impfung. In Alkohol eingelegt. — Es fanden sich keine wesentlichen cellu-
lären Veränderungen.
Ma. VI. Gleiche Bedingungen wie beim vorigen Tier. Nur diesmal Fixierung
in Formalin. Wie Abb. 14 zeigt, fanden sich besonders schöne Bilder; man kann
nicht von irgendwelchen pathologischen Veränderungen sprechen.
Ma. VII. Mit Wundmaterial am 6. V. 4 Uhr nachmittags infiziert. Streckung
beider Hinterbeine, Vorderbeine eingezogen, Rückgrat gekrümmt. Am 9. V. 4 Uhr
nachmittags, d. h. 72 Stunden nach der Inokulation gestorben. Im gefärbten Ab¬
strichpräparat fanden sich Tetanusbacillen mit Sporen. In Formalin eingelegt.
Es ergaben sich keine Besonderheiten, vielleicht ein etwas häufigeres Vorkommen
pyknotischer Zellen; wir vermuten, daß diese Erscheinung auf ein jugendliches
Alter des Tieres zurückzuführen ist.
Ma. VIII. Das Tier wurde am 11. II. 5 Uhr nachmittags mit Pfropf infiziert.
Tod abgewartet, der am 15. II. mittags eintrat, d. h. 91 Stunden nach der Inoku¬
lation. In Formalin eingelegt. Alle Elemente der Zellen sehr gut erhalten, nur
wie bei Fall 1 Vakuolenbildung im Protoplasma. Es machte den Eindruck, als ob
die Holmgrenschen Kanälchen sich fast cystisch erweitert hätten. Wie bei Fall 1
deuten wir die Vakuolen, die die einzige Veränderung bilden, als agonalen Quel¬
lungsprozeß.
4. Meerschweinchen mit lokalem Tetanus ( Tetanustoxin , Tetanus¬
intoxikation).
M. I. Es erhält am 6. IX. eine Einspritzung einer ziemlich starken Toxin¬
lösung und wird 1 Stunde später getötet, ohne daß irgendwelche klinischen Erschei¬
nungen aufgetreten waren. Fixierung in Alkohol. — Das mikroskopische Bild
zeigte vollkommen normale Verhältnisse.
n«sh<*$. dVfc auf Oie- HMbfWhen Gmtglieuzdlcn 0 . R*K'.kvnm«rk^ 73 H
f>ie.htv körnig** Aiifl>rcVc'.K^lu r>J l* 4 i*r; &ul>
{>^yr. .:; Lemhtes . iUr ; (iwjkfy'-fährfttr . ’
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\Vurde am gleichen Tage UÜht nachmittags, dh- ' ’J r
♦ik-'y Stunden nach der Injektion getofet, ohne daß kli-
ni*dm%mpiome uuiili/e*i geworden wären. Fixierung vX
in Alkohol. Wir bfmerkten keine V , ntorsc.hic<k der ^v^itvwoxiii-g«iO>mt* i«ma
Inst»ilogisj■.dien JBiltit-.r in den verschiedenen ScgDient^n. - $tuu>h-* yvn,«*.?. AtLt.imi-
<h^ liiukeömarkrf. jtiti ; 'klts!e.tndm»rifandeni<»ch nur fast "*1*™»#-
fiunnale Bilder, Abb.4 .reigtejnc \ ot(lei horu^cüroliese<
•Kalle», mit ,^!lÜe Und Ahlvroekcdung der XisäWhfni Substanz.
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am 24. IX*‘ff 1 - 4 I hr v-innlh^ «mumt,
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Jafj tdarnsehe, aaftjH n ^tyn ■ '
waren. Fixierung »uh Alkohol 1« dtj^reti ^
2dhm findet HekbWy ,ibb v 3 m^iVlcicfe J
Konidmig der ^Machen irat
2 «tizJfei^htVichmufiiüv-r Fiirhtirre tHiisst Kerns.-
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d».utsfU%/v*<h‘ \*W,- \\a\k>jivrn>;
IhOf Tier wurde- am 13- Hl vormdüum *
Ü 1 In gelotet, d h. 21 1 S»\in<h*ti muT;
der Injektion. Sowohl <rW eeniC*».krsnle Rückenmark als auch ilas übrige
Rückenmark ’ - wurden' teilweise in - Formol,.-'•teilweise in Alkohol ciniuleat. 1*A
■fanden mel\ über da* iaivzc Km-k/u-
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S»dnveliiit>g 4 l T ^eileit. deuthdi^ Ht ; T-
Vortr^t«U t der* Z^llterl^ätze. ¥<tätäay: '.J&»
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dgighen VVrändcrungeii finden Vieh
Vitt VoniddagNHnvrcchiVu Vdtd^r*
-wäTi.fVnitmeinerVc^tl***iiV 1 <tv k. ‘v^vyi^i-h^i* 2P . und ^,Srüp'tfeü;KSi-v
734 M* iJarros: f’bei die spe^iJikmm Wirktn^ der Krfti»|jtVu.fJr.
spritzung.. Fuierung da* sowie .«je* übrifKtHri ; iß
Fnnnol und in Alkqlrob Dfiv vem hi^lemn S*^nentiv so^vohJ da^ €^rVk«^br^Äi-
jnärk wie die Kou gesunder» Teile des FUuTmn mark*. zwgrii/nriäßigv Schwellung und
A*»k, Mwjpijtiwtrta«fhi*n iM: Q) mit ^taiu^ioxtn gmiüplT c.wikrltwi. £.**/* oml
Ji -i'n.iirf, VI.-.-.t ilMT. !mikiiIntimi g^rnrbfc!». AtjjtyhoÜlxk'rktr. K're*y j vi r ihi rbn r»c:
V0i;dcdu«ri»e1k j d»««. 40 g* ttt*na<l<'n .‘SMOwcuf«** »le^ 1 •!< . ÜMfüiaiii*;. Ok; 2.
Liderung der J&eifen arid «J& l*>sojj<fer* efmrafcijfr^ vtfliigfr Zc*!$£&tt bmig.'
der*;K«wfeehen Huh&t am sowohl in Vorder- wie m lfmUrbörifleru. IW#* Fortsätze
sind- >leuHk»b sfebthar'und ?.*;*u;en variktfcm Schwellungen. Die Kcrninenibr.« nm-
sind eherxfall« gut mfefraba?. Keine Kt rnsaft Färbung, mit feine Ni<*fen^’*>{»*_>
' ' ' ’ . \ l> 7 : - ; v, / , v ■•'.•■' , im KaJ^bplaRfVia. Kfe.tr
}'<> . •.. •• "' nes Kenikorfieni-lieti feiet
^ ® an ia gert jdn« Chroiftai ?r? -
Knu kii-htT: Oer Kern
# 1 |g!P ^ ‘ zeigt öfters iUrkkV.?
'• / Schiebung bis an th&
@ X Wandder &•Ijmefiibmr
(&* 4 Ahh. <> und 7 ?.ei£en
Verschiedene ZoJfen i r
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• S'.\ *$*'}. - ' < '^vf mark-drezirk. Die ’XfU;
_ ;■■:v : Y # * • tfläd Kernveränt.fern^v:>r
® : 7 f fW Ifl b#-i«K-ii
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^ M ’ . t'iir vortniOvi.iA ||
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,.•; ;’•'’ ' -'• ‘'-'iv !•:• "Ctt '/S; toxin in da^ re^bt*
Am fo^iMufeii T^c iiu<^
gepi'iigW 1 . {doin» dt *
lokäleti TvXamit** D.v
-starb m «)• tuen IJäodom. jfe »eii ztir Tötung aus■ dein Käfig nahm,
arn 13> Ul. H tlhi 1 ^ miehniHtag^.. »Sofortfei^ d. b. 27 1 /, Sfcunfejo-.ilä^h'--.4#v Ein-
«i-'iritiiüiK' ■ ypi-^oti.onim<?dV .T’M-kfrrtijt m Aikobal and in. Fomidfv */£»•• läri.< : fed ; sieb
w>:.d»*r i is d/nt lo-i reffv nden S« ! gineol fodi in d»m libngei« Teilen der Vnrcferhümt r.
ie ütrks; des HOekati^afki normale feilen Die HinferbomKelk n
^'beitftfü. idn utörbexr Ingber: erhalten y.U >etn- In} allgemeinen. .SähkelbUig der
U*n. : ilnT : .,»f,.v, ..!{,?■ » ivf . j|j«t T* f'’.riUHO'.vii* i*r ..i*i«ti. r.wj.-rViifder7.s?in
I * • •• «Unl J i rv« eiulf-n »nu n «tV-r 1 <u »Ki1i;«t i«»>i :*r <»i.r h.-ji. .AlKnlmi* *
iismiiHi*. Hemmt, «tarele ili" VgrciertiCini des
Uea iC'j/itraHinviv 01 line^rr. ök .4.
inBbes* des Auf die midorLsehen Ganglieii^lian d; Kückenmarks. 730
Zellen, Forteatzr weithin ;d ehrbar. Starke Auflösung der Tigroidsttbstanz; Kern-
mein hm« dtwfepftf fehfegd,: i^ Kern lirid als eharaktoistrsete^
Phänomen Auftreten mmu/gv-ner Kugxdu im Gptitett’ des Kerns ? wie Ähb. 8 zeigt.
soWöifc; ioii* ; nyäxt jhjr?$<?hricbon wimfen -sind.
• M. Vüi; Am 12. 111: V J2 Uhr .vdrmitta.es liefet ion-' von Tetanustoa
n^bvten.Vwieihnn. KlinUehes Bi Ul. de« lokalen Tetanus. Starb am 13,
H-iien 3 nnd 4 s / 4 Uh? naefiruitt»^ d. h. zwischen 27 1 .% and 28 J 7* Stunden näfciit&r
lnj>jv(itui. Ausgesprochene Yerandcnusyen *n den VU^Merhomzoilen beiderseits
sowohl in dem den* Krämpfen ent-
vne>t.*beiidi‘n Setrment flk Auch in den : v
spachenden Segment als auch in den
wi*ö. ge.-omif m Teilen deg Rückenmark:?.
Keine SehweUong der Ztdlini. Titnonl
Kugel bilduhg
Upbipt* dpa Kernsaftes. KfenrtAfter* pvk
m>tisibh. Kernkfjrpetf.hen gut erhalten
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jü' nn>^r».'ii BfiwMi 27' > fftingfoA infir ji
irnntimc «j^tUirUht .VU>*«lieJKi^-
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> A , rif irn.l^j'. liiirl» Uiu-prft/UHß »j& T«t;iu»r-
t-’Vii> AWi<>}»t>l!i\J'Tt)Ui^ S.'ixiitl
4mch <l.is . Vöfdi*rho*n >t£* (\irvjrortefi*iilH*'g>
lUcöt" «Jt»lsnir«' lVM)n-i ••ür-j‘r<w'ht!»nj t ir * V
i^gtnirttVnspv feaunft. nur
OMfnuwrs. < i t; i.
Al 1>U Am 12.111. 11 1 2 Uhr yär^tJ4¥«* Injökt ion vor» Ttfami.stoxm au»
rwhten \>)rderl*eiri. Am 13. H A-. d 1 '! ! . !ir «öl« te icli fta.« bereits in .-tdiwerstem
<>Uim*dierj Zur-tändi- In findlirh«- Tu r. fl. )i 2?** , Stunden nm h vier Injektion.
Vt*i^ch.iedeDe Stfgfuehte ii*** lUurkennmrk* wurden- smvold' ifi.
Fprinpl fixiert . Sowohl iiti -Cer vicmjtiraalrutit :k au'<?h;im I^iick^^iar'k
a% ^.Ueü' Ver7iiÄ).e-rl mit leieliten • Üntei , s<*iiiiA'i< x D in der Jtifrpsitkl dtSr V>r&nde- / •’
ninirfjri. und zwar sie»! */ovoM »r»nt«»rix« he als au« h nensihle 2SfdU/ii behoffen. Kv.im
Scij».v>*Üitrig, ■Sfdjnimpfuifg, U'ohei dU' Elemente der-, Xfdlen. zu ^ 1 =.
k^*?inrti sirifl, '.o /_»■ ssetfhin verfolghar V oll^tjnid^e TjeT*.dyse.
.Kerti mwnehma! zhrnjioh gut. frhtih> v ri ¥ dftyrs jeüiMix
73ß 1 j.^ajTus: (
die -u'jvimiha»' «pc^ibscl»* W'iiuau'j »H-l ivi>i im{ 0.^.»u,
auch ^ohnu!i|vft,. $(&*»> Ffirhmi^ di* Karybpia^m**. •
Kynmirmhrari, In idhignit Zelltoi i&\ tlu?-^t*lnnri)j.>ßit'»g m ;fctiirk. daß
lij&n ifiik vun‘onuk Pvk/ifwn* HfM’PC'ho.n kann. 8«r^it. finden swh V fc?<\prfeti bildurte,
•vjf* Af.dn.-tb M- 10 , AM». *} und 1! $t\\en tfriHptefo’ der Zt 1K .'» au\ior#M»vcr ) b»\j djm?n»
FVd. AW-. ü jD.uurar.Mnt dn-m erkmiikUm iVil. ■ XM> . \\ dem. ukdn o.rkrankt»*:i
TVd dt.s Kh.i'Urhm.i?i^. In lu'sdi-n Ahsrhmt Um d-'i h Mark»' 7.‘Hvrrari<JorHn^t*n.
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Aut« ; 10 .-*<-fc;i;md vnitf mHrfcjy (AfA*);,' -'4**?» >kyiiil(*o. 'u*i*fr i.l«i:
Ä'txfw U« Z»'ikr l'JS (•!(!»-!( r»s M'IimM.
11 »« i Kn*sj lv‘o. 1 » ft g’M.lfl»». t *K. - 1 .
J. ihf/ xrh" ‘ ind'f n uui nUyi- ttn:im ni T&f(VpW
MX. tun UA. V. früh mit mfizinrter ; . \ <dh.’r WwnK von'^lij Hnd«-Ti*h
t hv.Mn»;*h».*n a.in iinUvn Vorderbein donüpft, StreekuJur jU&MT iLvtrvimtdi
.• an ’W 1 pi pf # t*ilfc- ntt«:li^f.vf?o^n; &tf$k ««»
kv-WU Uhr vurmiit^s, d. h 4H Stunden dev' Impfung Ihn Zvilvorrvnd*-.
• stärker*- TignddzerfÄil am• .J*i ; btt>pin*irsia d»^
mul der Fortsätze. Kary^pb^nra Jtdcbt mdirefarbr
XI. XI Am 2p. iX. nn|do ic-ji mb ’lVi w hn*l;idt uv. 1>h du>r nicfiit wirken*
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'mb«". auf •*.•»:• *. m» t<»vi^-h ?.n 0 ary^li.«• t • •;*. < 3 . TM 7
V'r'ivM« -Msn-ih«- fm-.r-i-fjvtT^rr wv^h it Uir A'cranu^nn?^'!» 4 <** Uut. 4 mmmrks wären
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tixivrrt. Wir Abh. >;t*k'U svnrvn krifm \Vntruirr»u>2>7u mt <k*r. .X-i vi-Vi/^li-t. vL»w
M- Xltj r«rr 3.»rkaiiJ proerv^ivv fW^eit v■•..*& TvtMriuH^X»« ' »MM >'UI.,
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kadnvhrits^n i > r'md-r'uhy--m v i;iu" »- ■
Uiit. dit* VV'rliiiUrd^: ^i^Ät'.M.tiw-nt
iHid. t* 4 tän.ir« Mit Vh * n zu ij>£n--r* n, liMMUn und iuiU>r-
•^)K'iit^n -Jur am k IVn./ iini»*'krtnm»*v* SMjudr ^vi*>rl*r»i^^ watriK
D0$ Kal jü'fov ik'fitwny, -1$ rtär&ti tJCrtliK vi^U AiiU^Vin ^iht,. vvijvhtv
Tr-^ilia^uJlr :ä»I > %_.in*l*;fi u,‘rh d -’?.< J7>dr -»/.iH l ^>wl '{,? • U» flMbk' nlv v>
vrfoflüiulichl di *h‘J /IäW* Jiüidi: %i;fir/-$^fla*vrrri^i'K^»4)) iduVr^’u
■ : ^n>ciV •;;■) ,
738 E. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
M. XIV. Am 28. IX. mit Tetanustoxin gespritzt. Rechtes Hinterbein in
Streckung, Erhebung nicht möglich, Krämpfe. Am 30. IX. gestorben, Todes¬
stunde unbekannt. Fixierung in Alkohol« Im histologischen Bild tiberwiegen die
toxischen Veränderungen in Gestalt der vorgeschrittenen Tigrolyse; Zell- und Kern¬
schrumpfungen wie sonst beschrieben. Besondere kadaveröse Veränderungen,
etwaige Vakuolenbildung sind nicht festzustellen.
M. XV. Dieses Tier starb am 27. VIII. zu unbekannter Stunde an Tetanus¬
intoxikation. Es blieb noch bis zum 29. VIII. früh im Sektionssaal liegen und
wurde dann in Alkohol eingelegt. Das histologische Bild zeigt ganz ähnliche Be¬
funde wie bei M. XIV.
8. Tetanus beim Menschen.
Wir hatten Gelegenheit, einen Fall von menschlichem Tetanus zu
untersuchen, der in der Freiburger chirurgischen Universitätsklinik
beobachtet wurde. Wir lassen einen Auszug aus der Krankengeschichte
des Falles sowie aus dem Sektionsprotokoll folgen:
Aufnahme in die Klinik: 21. VIII. 1921. A. H.
Rißwunde am Oberschenkel. Tetanus.
Therapie: Antitoxin und Chloralhydrat.
Vorgeschichte. Früher keine wesentlichen Krank¬
heiten durchgemacht. Vor ungefähr 14 Tagen erlitt
Pat. bei der Feldarbeit eine geringfügige Rißwunde
auf der Oberseite des linken Oberschenkels. Der Arzt
leitete die übliche Wundbehandlung ein, gab aber
kein Tetanusantitoxin. Vor einem Tage habe Pat.
plötzlich über Nackensteifigkeit geklagt, auch sei
zeitweilig der Mund nicht mehr ganz aufgegangen.
Befund. Normaler Körperbau. Innere Organe
o. B. Auf der Innenseite des linken Oberschenkels
haselnußgroße, schorfbedeckte Rißwunde. Haut der
Umgebung nicht gerötet. Deutlicher Trismus der Kaumuskulatur. Opisthotonus;
leichte tetanische Krämpfe von etwa 1 / 2 Minuten Dauer in Abständen von 1 / 4 Stun¬
den. Wegen Tetanus wird Pat. sofort isoliert gelegt, Licht abgedämpft. Erhält
40 Tetanusantitoxineinheiten intramuskulär. 3 mal täglich ein Klysma mit Chloral¬
hydrat und Calcium. Nach Bedarf Morphium.
22. VIII. 1921. Starke Zuckungen der tetanischen Krämpfe in Abständen
von 5 Minuten, zum Teil auch kürzer, Dauer 1 — 1 1 / 2 Minuten. Starker Opistho¬
tonus und Trismus. Pat. liegt mit völlig zurückgebogenem Kopf schweißtriefend
im Bett. Selbst im Schlaf fortwährend Krampfanfälle. Per os kann Pat. nichts
zu sich nehmen. Per Klysma Chloralhydrat und Calcium, sonst mäßige Dosen
Morphium.
23. VIII. 1921. In der Nacht erneut starke, rasch aufeinanderfolgende Krampf¬
anfälle, nach einem solchen Exitus letalis um 2*/ 2 Uhr vormittags.
Während des kurzen Aufenthalts in der Klinik hatte Pat. folgende Temperatur
und Pulsfrequenz:
21. VIII. abends: Temp. 36°, Puls 90.
22. VIII. morgens: Temp. 37°, Puls 92.
22. VIII. abends: Temp. 38.5°, Puls 130.
23. VIII. Exitus.
Sektion 9 Stunden nach dem Tode.
Der Sektionsbefund ergab außer starker Füllung und Schlängelung der Pia-
Abb. 14. Vorderhornielle einer
Mau» (Ma. 6) mit Tetanus!nfek-
tion, 72 Stunden nach der In¬
okulation gestorben. Formalin¬
fixierung. Kresylviolettfärbung.
Öl-Immers. Ok. 2.
Abh. K».
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Mittel, wie ’Hlri'rhniji, Ihkrutoxin,. jüpidherirtoxin, Botulismus sowie
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£$ wurdenBehnitbr äit« wxstfKifdnrrety
riritmiuetit- mit Bielsefoox^by- Pliensehfcr • und anderem Zelk
iurUungsxrirthifdeFf. im öJ.lgempiwü fand sieb »dm» leichte Hyperämie
und größerer i^-ukorytr^ugehalF ui den Bef-dkm als normal; Dk Ban¬
gfettelfen waren uhem.ll tadflhv ^halten, höchstens kann nm.fi ab und
/m von einer gan^ lyiehten Schwellung sprechen Wir machen darauf
gufrnerkÄiai, da 11 uooh keine kadaverdso Hämolyse eingetreten wut.,
wofür die gute Farbbarkeit' * 1er röfetrBhd'^ felgt*. Bei Fibrillen-
färbvmg Cnfaif sahen wir keine Alteration der Fibrillen,
'{ :Cy ; : - ••
740 F- Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
jeden äußeren Einfluß aus, indem wir das Rückenmark vor der lokalen
Vergiftung der Tiere durchtrennten.
Zwischen dem klinischen Bild des Tetanus und dem der Strychnin¬
vergiftung besteht eine Ähnlichkeit, wie sie in der ganzen Pharmako¬
logie bei chemisch so verschiedenen Giften nicht größer gefunden
werden kann. Dieser Tatsache wird noch größeres Interesse verliehen
dur,ch die Untersuchungen italienischer Autoren [Lusini, Tizzoni 63 ) u. a.],
welche einen ausgesprochenen Antagonismus zwischen antitetanischem
Serum und Strychnin feststellen konnten. Die Dauer der immuni¬
sierenden Wirkung usw. des ersteren ist ganz die gleiche sowohl für
Tetanustoxin als auch für Strychnin. Selbstverständlich schließen die
großen chemischen Unterschiede beider Körper die Möglichkeit einer
direkten Wirkung aus. Tizzoni nimmt daher eine Bindung des Giftes
und des Gegengiftes an einer bestimmten Stelle des distalen Reflex¬
bogens an, wodurch die Giftwirkung gehemmt werden könnte, und zwar
sowohl für das bakterische Toxin als auch für das Alkaloid. Merk¬
würdig erscheint es, daß die Antistrychninwirkung des Antitetanus¬
serums absolut parallel mit seiner immunisierenden und Heilwirkung
auf Tetanustoxin läuft, so daß Tizzoni 64 ) die Bestimmung der letzteren
durch Strychnin vorschlagen konnte.
Neuere Untersuchungen von Bieling und Gotischalk 6; ) mit Di¬
phtherie- und Tetanustoxin haben gezeigt, daß die Giftspeicherung und
Giftneutralisation der Toxine in den verschiedenen Organen des leben¬
den Körpers sehr verschieden ist. An erster Stelle steht die Milz, es
folgen in großen Abständen andere Organe bis hinunter zum Nerven¬
system, das die geringste Affinität für bakterielle Toxine zeigt, was
aber nur auf die natürlichen Abwehrvomchtungen hinweist und der
Annahme von Tizzoni nicht zu widersprechen braucht, da schon die
kleinsten Mengen das Nervensystem so schädigen können, daß sie
durch das klinische Bild den Eindruck eines spezifischen Nervengiftes
zu erwecken.
Die Untersuchungen der Pharmakologen (Lit. bei Meyer und Gott-
lieb) lassen das Wesen der Strychninwirkung in der Aufhebung aller
bestehenden Hemmungen auf das rezeptorische und das motorische
Neuron erkennen. Die Morphologen glauben das Wesen der Strychnin¬
wirkung in Veränderungen an den motorischen Vorderhornzellen zu
sehen, die nach Nissl 45 ) in diffuser Färbung des Protoplasmas und der
Dendriten und peripherer Tigrolyse, nach Goldscheider und Flatau 2I )
in Vergrößerung und Abblassung des Kernkörperchens, Vergrößerung
der Nisslschen Schollen mit Abbröckelung derselben, feinkörnigem
Zerfall und Schwellung der Zellen bestehen.
Während das Strychnin ein charakteristisches Reflexkrampfgift
ist, wirkt das Pikrotoxin direkt auf die Hirnrinde und die Rückenmarks-
insbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 741
Zentren. Das Diphtherietoxin sowie das Gift des Baeillus Botulinus
wirkt lähmend auf alle Zentren des Nervensystems. Durch Meyer
und Ran8om wurde für ersteres bewiesen, daß es auf dem Wege der
Nervenlymphseheiden zu den Zentren gelangen kann, ebenso wie es
beim Tetanusgift (Aschoff-Robertson) der Fall ist. Die diphtherischen
Veränderungen am Nervensystem waren auch häufig Gegenstand der
Untersuchungen der Pathologen:
Crocq lb ) sah bei experimenteller Anwendung des Diphtheriegiftes
Schwellung und verminderte Färbbarkeit der Zellen sowie Verschwin¬
den der Fortsätze; bei mehr chronischer Vergiftung Atrophie der Zellen
und Gliaproliferation.
Ceni 16 ) sah bei Tieren mit Hilfe der Gotischen Methode in ver¬
schiedenen Teilen des Nervensystems Alterationen, bestehend haupt¬
sächlich in variköser Atrophie der Fortsätze.
Courmonb , Doyon und Paviot 14 ) fanden dagegen keine Alterationen
der Nervenzentren, sondern nur Polyneuritis. Babes (1. c.) sah in
medialen Rückenmarkszellen Chromatinauflösung, Vakuolisierung,
Schwund der Kerne und des Nucleolus.
Muravieff beobachtete bei Meerschweinchen mit akuter Vergiftung
in Vorderhornzellen Schwellung derselben, Tigrolyse, Vakuolisierung
und Kemverschiebung und -Schwund. Beim Botulismus fand Marinesco
ausgesprochene Veränderungen der Vorderhornzellen sowohl bei Inoku¬
lation des Bacillus als auch bei Injektion des Toxins. Marinesco be¬
schreibt seine Befunde bei Botulismus folgendermaßen: Veränderungen
im ganzen Zentralnervensystem; sehr gering im Gehirn, dagegen sehr
ausgesprochen im Rückenmark und dem verlängerten Mark (subst.
grisea ant. et post). In den Zellen Rarefizierung und Auflösung der
chromatophilen Elemente, beginnend oder für gewöhnlich am ausge¬
sprochensten an der Peripherie. Später feine Zerstäubung (Chromatolyse)
mit Schwellung und Vakuolen. In anderen Fällen Coagulation des
Protoplasmas, Verschiebung der Kerne gegen die Wand, Lockerung
des nukleären Netzes, mehr oder weniger Atrophie der Kernkörperchen,
Vermehrung der Gliazellen und Neuronophagie.
Kemjmer und Pollack 2Ö ) bestätigen die Befunde von Marinesco bei
akuter Vergiftung, nur waren nicht alle Zellen ergriffen. Bei chronischer
Vergiftung fanden sie homogene Trübung und Tigrolyse bei normalem,
nur etwas geblähtem Kern.
Es gibt nur wenige Stoffe außer den bakteriellen Toxinen, welche
eine temperatursteigernde Wirkung haben: destilliertes Wasser, Hämo¬
globinlösung, einige Fermente und Tetrahydro-/?-naphthylamin. Letz¬
teres w r irkt nach den Untersuchungen von Sakaroff durch direkte Rei¬
zung des Wärmezentrums neben Verzögerung der Wärmeabgabe durch
Capillarspasmus und Erhöhung des Blutdrucks.
742 E. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte.
Eigene Versuche.
1. Pikrotoxin. 26. VII. 1923, 5 Uhr nachmittags Durchschneidung des Rücken¬
marks in Höhe des 6.-8. Dorsalwirbels. 28. VII. Keine Reflexsteigerung in den
hinteren Extremitäten. Eröffnung des Rückenmarkskanals in Lumbalgegend,
ungefähr in Höhe des 3.-5. Lumbalwirbels. Durchschneidung der hinteren
Wurzeln. Nach l / 2 Stunde (11 Uhr vormittags) wird Pikrotoxinlösung 1 : 100
mit Pipette an das Rückenmark in Höhe des 4. Lumbalwirbels gebracht (ca. 0,2 ccm).
Feinschlägiger Tremor in der Glutaeusmuskulatur nach 10 Minuten. Um 11 Uhr
50 Min. getötet (durch Verblutung) und sogleich seziert und eingelegt. Wir fixierten
in Alkohol und in Formol.
Besonders an den Aikoholpräparaten tritt der Unterschied des mikroskopischen
Bildes in vergifteten und nicht vergifteten Abschnitten deutlich hervor. Während
in ereteren die Ganglienzellen ausgedehnte Tigrolyse aufweisen, ohne daß allerdings
die Kerne besondere Schädigungen erlitten hätten, sehen wir in dem nicht ver¬
gifteten Abschnitt sehr gut erhaltene Strukturen der Tigroidsubstanz, d. h. ganz
normale Befunde.
Maus mit Pikrotoxin. 7. VI. 1923 11 Uhr 30 Min. vormittags. Dem Tier
wird 0,5 mg Pikrotoxin subcutan eingespritzt. Um 11 Uhr 44 Min. vormittags
zeigen sich starke Krämpfe. Das Tier wird sogleich getötet und in Alkohol und
Formol fixiert. Als charakteristisches Bild findet sich Auflösung der Tigroid¬
substanz.
2. Strychnin. Junge Katze. 11. VII. 1923. Durchschneidung des Rücken¬
marks in Höhe des 8. Thorakalsegmentes. Um 11 Uhr 23 Min. vormittags legten
wir zwei Stückchen Papier mit einer Strychninlösung 1 : 500 imprägniert auf das
freigelegte Rückenmark unterhalb der durchschnittenen Stelle. Da wir keine Wir¬
kung bemerkten, legten wrir um 12 Uhr 30 Min. auf dieselbe Stelle einen kleinen
Strychninkrystall, um die Wirkung zu verstärken. Um 12 Uhr 35 Min. zeigte sich
Ubererregbarkeit, und bald darauf traten Krämpfe auf, hauptsächlich in der Glu-
taeusgruppe und am Schwanz. Fuß- und Kniegelenke blieben frei. Durch öfteres
Stechen in die Hinterbeine werden sofort Strychninkrämpfe hervorgerufen. Um
12 Uhr 50 Min. versuchten wir das Tier durch wuchtige Schläge auf den Kopf
zu töten, jedoch ohne Erfolg. Das Tier mußte einige Minuten später guillotiniert
werden.
Oberhalb der durchschnittenen Stelle fanden sich normale Verhältnisse.
Unterhalb derselben war das Protoplasma im ganzen stärker färbbar, die Tigroid¬
substanz nicht aufgebröckelt, sondern mehr verwaschen, homogenisiert. Das
Karyoplasma war auch leichter färbbar, in ihm fanden sich etwas gefärbte Körner.
3. Diphtherie. Am 9. VII. 1923 spritzten wir einem Meerschweinchen um
12 Uhr 30 Min. mittags subcutan eine Lösung von etwas älterem Diphtherietoxin
1:10 000 ein. Es trat keine Wirkung ein. Da auch zwei weitere Injektionen mit
stärkerer Konzentration und größerer Menge erfolglos blieben, spritzten wir am
31. VII. 11 Uhr 10 Min. vormittags subcutan 0,1 ccm reines Toxin ein. Unter
allgemeinen schwersten Vergiftungseischeinungen starb das Tier zwischen 1 und
5 Uhr nachmittags am 1. VIII. und wurde sofort fixiert, ehe kadaveröse Verände¬
rungen eintreten konnten.
Die Untersuchung des Rückenmarks zeigte vollständigen Verlust der färb¬
baren Substanz und zwar nicht nur in den motorischen, sondern auch in den sen¬
siblen Zellen. Kernkörperchen auffallend stark geschrumpft. Die Kerne der
Ependymzellen schienen völlig unverändert zu sein, sie zeigten keine Schwellung
und keinen Zerfall, ebenso war der Nucleolus erhalten. Ein ähnlicher Befund
fand sich an der Hirnrinde.
insbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 743
4. Botulismus. 25. VII. 1023. Maus. Subcut&ne Einspritzung von 0,75 ccm
von Lösung 1 : 100 (Gift vom Frankfurter Institut für experimentelle Pathologie
[Prof. Kode] in Kochsalzlösung). Keine Wirkung.
Am 30. VII. subcutane Einspritzung von 1 ccm einer Lösung 1 : 50 in Ringer¬
scher Flüssigkeit. Da eine toxische Wirkung noch fraglich war, wurde am 31. VII.
11 Uhr 10 Min. vormittags reines Toxin 0,1 ccm subcutan eingespritzt. Das Tier
wurde in der darauffolgenden Nacht um 12 Uhr zum letztenmal lebend beobachtet.
Am nächsten Tag (1. VIII.) 9 Uhr vormittags wurde es tot gefunden und sofort
fixiert.
Es fanden sich alle Zellen verändert, m. E. unter dem Einfluß der Toxin Wir¬
kung, da die Zeit zwischen Tod und Einlegen in die Fixierungsflüssigkeit zu kurz
war, als daß schon kadaveröse Veränderungen hätten auftreten können.
5. Tetrahydro-/?-naphthylamin. Meerschweinchen. Um 4 Uhr 10 Min. nach¬
mittags Injektion von 1 ccm — 0,005 mg des Giftes (Lösung 1 : 200). Um 4 Uhr
35 Min. nachmittags starb das Tier in den Händen des Gehilfen, während die
rectale Temperatur gemessen wurde. Eis ist nicht klar, ob der Tod infolge Erstik-
kung oder infolge der Intoxikation eintrat. Das Thermometer zeigte 38,5°, als der
Tod bemerkt wurde. Der Fall ist nicht einwandfrei, aber trotzdem erwähnen wir
denselben, da die mikroskopische Untersuchung eine leichte Verwaschung der
XiHslschen Substanz in den Ganglienzellen des Rückenmarks ergab.
D. Ergebnisse und Schlußfolgerungen.
Bevor wir unsere eigenen Ergebnisse zusammenstellen, möchten
wir hier einen kurzen Überblick geben über die Resultate früherer
Beobachter.
Veränderungen an motorischen Vorderhornzellen fand die große
Mehrzahl der Autoren.
Normale Bilder sahen unter anderen Coumumt , Doyen et Paviot ,
Hunter , Marcus , Aschoff , Beinhold .
Eine Spezifizität der beschriebenen Veränderungen behaupteten
Goldscheider und Flatau y Marinesco u. a.
Dagegen wird die Sjjezifizität vollkommen geleugnet von Courmont ,
Doyen et Paviot , Joukowsky und Aschoff.
Eine bestimmte Lokalisation der Läsionen im erkrankten Rücken¬
marksabschnitt nahmen Sjovall , Nageotte und Ettlinger an.
Dagegen beobachteten z. B. Babes , de Buck und Demoor, Minassien ,
daß die Veränderungen im ganzen Rückenmark auftraten.
Nissl 19 ), der anfangs geneigt war, für jedes Gift eine spezifische
Wirkung auf die Nervenzelle anzunehmen, kehrte von diesem Stand¬
punkt zurück und sprach sich in der Diskussion bei der 70. Versammlung
deutscher Naturforscher und Ärzte in Düsseldorf folgendermaßen aus:
„Mit jedem Gift lassen sich typische Veränderungen der Hauptzellen
erzeugen, aber es kommt sehr auf die Art der Vergiftung an. Von dem
Bilde bei der subakuten Vergiftung mit maximalen Dosen unterscheidet
sich dasjenige der chronischen Vergiftung wesentlich: es findet sich
nichts Spezifisches mehr, sondern alle möglichen Kombinationen.“
L i. d. g. Ntur. u. Pfych. XC1II. 48
744 E« Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Kr&mpfgifte,
Er ist daher von seiner früheren Ansicht, daß die Zellveränderungen der
Ausdruck der klinisch hervortretenden Funktionsstörungen seien,
zurückgekommen. Diese Ansicht wird vor allen Dingen durch die Er¬
fahrungen beim Menschen widerlegt. Die typischen, akuten Zell¬
veränderungen befallen sämtliche Nervenzellen und finden sich bei
ganz verschiedenen Krankheitszuständen. Diese können daher auf
erstere nicht zurückgeführt werden.
Wir wollen uns nicht bei denjenigen sog. Veränderungen aufhalten,
die heute offenbar nicht mehr als tetanischer Natur aufrechterhalten
werden können, wie z. B. die Blutungen von Marinesco bei experimen¬
tellem Tetanus, die von Joukowsky beobachtete Phagocytose und
anomale Pigmentierung und die von anderen Autoren beschriebene
Wanderung des Kerns aus der Zelle heraus usw. Sondern betrachten
wir flüchtig die Bedeutung der übrigen Alterationen, die mit einiger
Konstanz beschrieben werden, und ihren möglichen Zusammenhang
mit der pathologisch-physiologischen Wirkung des Tetanusgiftes.
Die Tigrolyse mit ihren verschiedenen Abstufungen kann man wirk¬
lich nicht als eine spezifische Veränderung ansehen. Sie ist eine Re¬
aktion auf vielerlei schädliche äußere Agentien und findet sich bei
verschiedenartigen Prozessen wie Hyperthermie, Vergiftungen mit
Arsen, Malonnitrit, Antimon, Strychnin, Morphin, Alkohol, bei Anämie
und auch als Leichenerscheinung, kurz bei den meisten krankhaften
Prozessen des Nervensystems und bei vielen Allgemeinkrankheiten,
wie es ja auch selbstverständlich ist, wenn man die Tigroidsubstanz als
Träger des Stoffwechsels der Nervenzelle ansieht.
Dejerine sagt über die Tigrolyse (Comptes rendus Soc. Biol. 1897,
S. 399 u. 728): La chromatolyse de la cellule nerveuse est une l&ion
banale, interessante au point de vue cytologique, mais qui jusqu’ici
du moins, ne r^pond k aucun phönomfene physiologique et, partout,
pathologique d6termin6.“ Er beschrieb einen Fall von Pneumonie mit
Temperaturen bis zu 43,4°, der 8 Stunden nach dem Tode seziert wurde
und bedeutende Nervenzellen verändenmgen auf wies, jedoch ohne im Leben
irgendwelche Motilitäts- oder Sensibilitätsstörungen gezeigt zu haben.
Die Schwellung der Zellen findet sich nicht selten und charakterisiert
die primäre retrograde Degeneration. Als ätiologische Momente kom¬
men auch Hyperthermie (Goldscheider und Flatau, Marinesco , Dejerine ,
Swing u. a.), Alkoholmißbrauch (Nissl), Strychninvergiftung (Gold¬
scheider und Flatau), Diphtherie ( Muravieff ), Botulismus (Marinesco
u. a.) usw. vor.
Diffuse Färbung der achromatischen Substanz sieht man bei Hyper¬
thermie und Malonnitritvergiftung (Goldscheider und Flatau ), Blei¬
vergiftung und Phosphorvergiftung (Nissl), Diphtherie (Muravieff)
sowie l>ei vielen Geisteskrankheiten.
inshes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 745
Vakuolenbildung ist außer aus technischen Gründen (Fixierung mit
Müllerscher Flüssigkeit), wie sie früher öfters irrtümlich beschrieben
wurden, eine häufige Leichenerscheinung, ferner kommt sie bei vielen
Vergiftungen (salpetersaures Silber, Cocain, Chloroform, Aluminium,
Morphin), bei Infektionen (Diphtherie, Lyssa, Botulismus, Cholera,
Pest), ferner bei Geisteskrankheiten, Epilepsie, Delirium usw. vor.
Kemvergrößerung findet sich bei Botulismus, Landryscher Paralyse,
Urämie, Cholämie, Verbrennungen usw.
Verkleinerung und Schrumpfung des Kernes kommt vor bei Ver¬
giftungen mit Alkohol, Arsen, Phosphor, Morphin, ferner bei Diphtherie,
Unterbindung der Aorta usw.
Mitfärbung des Kernes ist eine Erscheinung bei Leichenzersetzung,
Hyperthermie, allgemeiner Paralyse, Urämie.
Kemverschiebung wurde häufig bei sonst normalen Fällen in den
Clarkeschen Säulen von Spielmeyer beobachtet, ferner bei Morphin-,
Cocainvergiftung, Diphtherie, Typhus, Pneumonie, Landryscher Para¬
lyse, Epilepsie, allgemeiner Paralyse.
Eine Vergrößerung der Kemkörperchen wird häufig durch Alkohol¬
vergiftung, Eklampsie und Hyperthermie bewirkt.
Deformierung desselben tritt auf bei Hyperthermie, Lyssa; Ver¬
kleinerung oder Schrumpfung desselben bei Hyperthermie, Eklampsie,
Durchschneidung der Achsenzylinder.
Fassen wir die Ergebnisse auch unserer eigenen Untersuchungen
zusammen, so können auch wir ein äußerst buntes Bild .von Zell- und
Kemveränderungen bei den verschiedenen Vergiftungen feststellen.
Diese wechselnden Bilder finden sich aber auch bei ein und derselben
Vergiftungsart. Wir können daher eine Spezifizität der Zell- und
Kernveränderungen in keiner Weise anerkennen. Auf eine nochmalige
Zusammenfassung der einzelnen Versuchßgruppen einzugehen, erscheint
uns unnötig. Sie sind nur in ihrer Zusammenfassung beweiskräftig,
indem sie sehr deutlich zeigen, daß man einen deutlichen Unterschied
zwischen der spezifisch krampferregenden Wirkung der verschiedenen
Krampfgifte und der allgemeinen Zellschädigung machen muß, welche
für viele dieser Gifte festzustellen ist und mehr oder weniger gleich¬
artig für alle diese Gifte ausfällt. Die spezifische Krampfwirkung und
die unspezifische Zellschädigung können miteinander verbunden sein,
wenn das spezifisch wirkende Gift reichlich unspezifische zellschädigende
Wirkungen entfaltet. Die spezifische Wirkung auf die Zellen ist aber
nicht zwangsweise mit der Zellschädigung wirklich verknüpft, sondern
kann auch für sich allein auftreten. Das ist besonders bei der Infektion
mit Tetanusbacillen der Fall. Wir glauben, das Gesamtergebnis unserer
Versuche am besten in folgenden Schlußfolgerungen schärfer zusammen¬
fassen zu dürfen.
48 1
740 E. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
1. Zwischen den Ganglienzellenveränderungen bei Tetanusinfektion
und Tetanusintoxikation bestehen bemerkenswerte Unterschiede. Bei
erfolgreicher Infektion (allgemeinem Tetanus) können bereit« ausge¬
sprochene Krämpfe vorhanden sein, ohne daß morphologisch erkennbare
Veränderungen an den motorischen Vorderhomzellen des betr. Seg¬
mentes nachzuweisen wären. Erst bei länger andauernder Infektion
fanden sich Veränderungen an den Ganglienzellen, die aber auffallender¬
weise nicht auf das betroffene Segment beschränkt waren. Bei der
Tet&nusintoxikation fand sich umgekehrt meist eine allgemeine Schädi¬
gung nicht nur der motorischen, sondern auch der sensiblen Zellgruppc
des ganzen Rückenmarks, obwohl die Krämpfe auf die toxininjizierte
Extremität beschränkt waren.
2. Daraus geht hervor, daß die Krämpfe auslösende Veränderung
der motorischen Ganglienzellen nicht mit derjenigen Veränderung
identifiziert werden darf, welche sonst noch durch das Tetanustoxin
an den Ganglienzellen hervorgerufen wird, denn die letztere fand sich
auch an motorischen Ganglienzellen der nicht gereizten Gebiete und
sogar an sensiblen Ganglienzellen.
3. Unsere Versuche mit Krämpfe auslösenden oder lähmenden Mit¬
teln haben uns sowohl bei der Vorderhornzelle als auch bei der Hinter-
homzelle ähnliche Veränderungen gezeigt wie beim Tetanus. Es muß
also neben der spezifischen Reiz- oder Lähmungswirkung noch eine
nicht spezifische Vergiftung der ganzen Ganglienzellen in Betracht
gezogen werden. — Auch an den Gehimrindenzellen lassen sich solche
.Veränderungen nachweisen, was noch einer genaueren Prüfung bedarf.
4. Es kann daher von spezifischen Wirkungen der Krampfgifte auf
die motorischen Vorderhomzellen nicht gesprochen werden, wenn damit
gemeint sein soll, daß nur an ihnen bestimmte morphologische Ver¬
änderungen hervorgerufen werden. Ob solche überhaupt bestehen
und ferner, ob die von früheren Autoren beschriebenen sog. spezifischen
Veränderungen auf eine allgemeinere Wirkung des Giftes zurückzuführen
sind, diese Fragen müssen durch weitere Untersuchungen gelöst werden.
— Die obigen Versuche haben keinen Beweis für eine spezifische Wir¬
kung erbracht.
5. Für alle Untersuchungen über die spezifische oder unspezifische
Wirkung von Ganglienzellengiften sind die agonalen und postmortalen
Veränderungen derselben sehr genau zu berücksichtigen. Für die
Mehrzahl unserer Versuche konnten diese Veränderungen mit Sicher¬
heit ausgeschlossen werden, da die Tiere zu bestimmten Zeitpunkten
getötet und die Organe lebensfrisch eingelegt wurden. Dagegen bei den
Tieren, welche wir an der Vergiftung sterben ließen, fanden sich als
agonale Veränderungen im wesentlichen Schwellungen und Vakuolen¬
bildung. Die eigentlich kadaverösen Veränderungen, die wir an aufbe-
msbes. des Tetanusgiftes auf die motorischen Ganglienzellen d. Rückenmarks. 747
wahrten Kadavern studierten, zeigten sich in der auch für andere Zellen
charakteristischen Auflösung der färbbaren Substanz des Protoplasmas
und des Kernes und schließlich in dem Kernzerfalle selbst. Die be¬
ginnenden kadaverösen Veränderungen können aber sehr leicht mit den
Veränderungen der Trigoidsubstanz, die unserer Meinung nach die
unspezifische Gift Wirkung darstellen, verwechselt werden.
6. Bei Untersuchung eines ohne stärkeres Fieber verlaufenen, relativ
früh nach dem Tode sezierten Falles von menschlichem Tetanus fanden
sich in Bestätigung der Angabe von Aschoff und Reinhold so gut wie
unveränderte motorische und sensible Ganglienzellen im Rückenmark
und das trotz der Schwere des Falles! Man wird also daran denken
müssen, daß die sonst beim Tetanus beschriebenen Veränderungen der
Ganglienzellen entweder kadaveröser Natur sind oder durch die
medikamentöse Behandlung hervorgerufen wurden.
7. Für den Tetanus ergibt sich aus alledem, daß die Vergiftung
des Rückenmarks im Anschluß an die natürliche Infektion nicht ohne
weiteres zu vergleichen ist mit den Vergiftungen, die durch das Tetanus¬
toxin gesetzt werden. Entweder sterben bei der natürlichen Infektion
die Menschen und Tiere an komplizierender Pneumonie oder dergl.
bereits zu einer Zeit, wo wenigstens in der Regel das Gift noch keine
morphologischen Veränderungen erkennbarer Art an den Ganglien¬
zellen hervorgerufen hat, so daß wir nur bei besonders schweren Fällen
eine wirkliche Schädigung beobachten könnten. Gegen eine solche An¬
nahme spricht allerdings der von uns untersuchte Fall, der sehr schwer
verlief, und bei dem der Tod in einem titanischen Anfall erfolgte. So
muß an die andere Möglichkeit gedacht werden, daß bei durch Tetanus¬
toxin hervorgerufener Vergiftung noch andere Gifte eine Rolle spielen,
welche bei natürlicher Infektion nicht zur Wirkung kommen.
Literaturverzeichnis.
*) Aschoff-Reinhobl, Die Veränderungen der motorischen Ganglienzellen
beim Wundstarrkrampf. Fischer, Jena 1922. — 2 ) Babes , Über den Einfluß der
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cellules nerveuses dans le tetanos experimental. Bull, de Facad. de med. de Bel-
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748 E. Barros: Über die sogenannte spezifische Wirkung der Krampfgifte,
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Beitrag zur Kenntnis des Aufbaus des Nucleus dentatus aus
zwei Teilen, namentlich auf Grund von Untersuchungen mit
der Eisenreaktion.
Von
Dr. A. Gans,
Arzt am Provinciaal Ziekenhuis, nabij Santpoort, früher Meerenberg (Holland).
Mit 3 Textabbildungen.
(Eingegangen am 10. Juni 1924.)
In der Literatur sind die folgenden Befunde niedergelegt, die den
Nucleus dentatus als aus zwei Teilen bestehend betrachten lehren.
Weidenreich 1 ), der eine Studie geschrieben hat über die Anatomie
der zentralen Kleinhirnkerne bei den Säugern, fand, daß sich bei einem
5 Monate alten menschlichen Embryo an der Stelle, wo der Nucleus
dentatus entstehen wird, nur eine runde, wenig entwickelte Masse
von Zellen befindet: im 6. Monat ist der dorsale Teil des Kerns weiter
differenziert als der ventrale und zeigt schon deutliche Falten.
Astwatzaturow und Vogt 2 ) haben in ihrer Arbeit über die ange¬
borenen Erkrankungen des Kleinhirns die ontogenetischen Unter¬
suchungen Weidenreichs fortgeführt. Bei einer 3 Monate alten mensch¬
lichen Frucht liegt in der Tiefe des Gebietes, das zum Hemisphären¬
mark wird, eine nierenförmige Bildung mit vielen Gefäßen und Lymph¬
spalten, deren Grundgewebe erst faserig ist, aber bald viele Kerne
zeigt. Im o. Monat wird der innere obere Teil schmäler und zellreicher.
Bald nimmt er einen größeren Teil des Kerngebietes ein; währenddem
der nach außen und unten gelegene Teil sich noch gar nicht verändert
hat, ist der innere obere Teil schon deutlich gewunden. Am Ende des
6. Monats hat er schon 4 maeandrische Windungen. Im 7. Monat
zeigt der Nucleus dentatus dasselbe Bild wie beim Erwachsenen.
Van Valkenburg 2 ) fand bei einem 42 cm langen Foetus nur den
dorsalen Teil des Nucleus dentatus myelinisiert, und dies nur im vor¬
deren Teil des Kerns.
Horstey und Clarke 4 ) haben die verschiedenen Kleinhirnkerne
gereizt, und gefunden, daß der frontale Teil des Nucleus dentatus
Bewegungen der Augen und des Kopfes beeinflußt, währenddem der
übrige Teil die Bewegungen der Gliedmaßen beeinflußt (zitiert nach
Kappers 5 )] ich habe diese Angaben in den Arbeiten Horslevs und
Clarkes nicht finden können).
A. Gans: Beitrag zur Kenntnis des Aufbaus des Nucleus dentatus usw. 751
Der zweite Fall von Kleinhirnatrophie in der Studie Brouwers 6 )
hatte einen Nucleus dentatus, der in seinem hinteren unteren Teil
kaum Markfasern enthielt. Brouwer fand in diesem Teil die Zellen
zwar nicht degeneriert, und er fand auch keinen Zellausfall, die Zellen
waren aber atrophisch, eckig und lagen viel zu nahe aneinander. Die
Zellen des dorsalen Teils waren groß und rund und lagen normal weit
auseinander. Der dorsale Teil hatte eine gute Markfaserung. Je weiter
man nach vorn kam, je größer das Gebiet des gut erhalten gebliebenen
dorsalen Teils war.
Meine Untersuchungen lehren: Schneidet man das Kleinhirn in
2 — 3 mm dicke Schnitte — ich habe bis jetzt hauptsächlich primär
in Alkohol 96% fixierte Gehirne untersucht und diese nach einigen
Tagen nach verschiedenen Richtungen durchgeschnitten; die sprechend¬
sten Resultate erhält man bei der frontalen Schnittrichtung — und
legt man diese in Schwefelammonium, so tritt schon nach einer halben
Minute eine Eisenreaktion im hinteren unteren Teil des Nucleus den¬
tatus auf. Diese wird je länger, je deutlicher, währenddem der vordere
obere Teil noch kaum, oder doch viel weniger stark reagiert. Am deut¬
lichsten fand ich den Unterschied meistens nach 2—3 Minuten. Wenn
man das Reagenz sehr lange einwirken läßt, verwischen sich häufig
die Farbenabstufungen. Das Mark des Kleinhirns zeigt immer eine
schwache Reaktion. Die kräftigen Faserbündel der Brachia conjunc-
tiva, die aus dem dorsalen Teil der Nuclei dentati entspringen, bleiben
aber weiß (Abb. 1). Ich halte es nicht für zufällig, daß die Fasern,
die bei der Eisenreaktion so gänzlich weiß bleiben, im ultravioletten
Licht fluoreszieren (siehe meinen Aufsatz Münch, med. Woch. 1923,
p. 1340).
Ouizzetti 7 ), der die ersten ausführlichen makroskopischen Unter¬
suchungen über die Eisenreaktion der verschiedenen Hirnteile ange¬
stellt hat und dabei schon die meisten Tatsachen, die w ir jetzt kennen,
gefunden hat, sagt auch, daß die lateroventralen Teile des Nucleus
dentatus stärker wie seine anderen Teile reagieren.
Eine genauere Betrachtung lehrt, daß das Zellenband des Nucleus
dentatus unten stärker reagiert wie oben; das Mark sowohl innerhalb,
als außerhalb des Bandes ist zwar deutlich gefärbt, aber viel weniger
stark ah das Band selbst, und nur im ventralen Teil des Kerns. Eine
ganz schmale, nicht reagierende Zone umgibt das Zellenband von innen
und außen.
Am frischen Gehirnschnitt sieht man, daß der untere Teil des Bandes
des Nucleus dentatus breiter ist wie der obere, er hat breitere und
längere Zähne und sein Rot ist dunkler. Oft ist das Mark um und in
dem Band im unteren Teil auch etwas dunkler gefärbt wie im oberen.
In der unmittelbaren Nähe des Bandes sieht man eine schmale, weiße
7B2 A. (rutts : Ht'Hraar aut Ketiiiliii« «tes Aufbau* !le>
■
Zorn'. Aid ^{arkffcheidonpvafHn^t sicht nwu den Uritci-schiwi in der
Breit« 1 der lubdeti Teile nochdout lieber i'AM». Ü)i Mit Luj»mvrrur<-*Ue
Jronlai
AM*. i. Hü. Kjs.-ur^.üi-.itüft ui« t!r> Kleinhirne
run<; -iiiit uum, da 1.5 der i.l.cn- Teil v.>n mehr und d>
btiiidrln <it«*•> if . l.'utt, n tyird Zcl|})mpardtc' lehren. <1
MC'üie üiiis.i.') md und '• eite-i .tu“* wlenden stehen (Abb
Teilen,• iwuientlteh (trMrul von riifmiid»m^n mit der Eisenreliktiai^
Moii darf hü der Beurteilung der Starke der BlHenreakti^u und
ttor Große der Zellen in pathologischen F|üit : n dfe hfer
rVrtlicben l^ter«cln^de nicht >i#m Auge geiferen.
Durch die Kreandliehkeit des Herrn Dr, rnn ä*r Jior.y? konnte ich
einige ^ludei detitati am SchiiitkseHen vpo dcW pept\''däA
Instituui n>v?r He>r«eriundem»ek in: Ainstertlain unicmivfeen.
JJ^T Nucieq« xk’ntatijs «nnes .'dei* .ich. unter,
iriiiehrn komjtf\t>ttr kn»ra von eiqem mensehlDbfcn zu i4jiter^etrideu; ---
/♦•llf-n Mts tl“in «jot'snU^ im«| »u*> Ot*m v»*.iif;n»)^ Toi!
«J*'h tl<elahis »>«’t V«r*t<tßrrim 3 .
Der dorsale IV»i.l des 'Aoeieus deulatus des Vt-ha* ist
hedrHiend sein nah r und viel kleiner nD »k r yjuUmio Teil. Kr hat
e-iuer. dr-m fieherv.Zr*hti. d.-r \w.-h >n»ten g/Mrbh f. DV; d»*r cetdriJc IVit
H it nur ♦•im* Andmufne Dnes .i«,-w-lv. mneo erivichteteTi■ Zahnes. .Oer
d^oDl»* Tri! het größere Zellen. ‘ die weftt/r ioi^inaitder stehen, und rr
Wir fl von Wehr fasern tJUir dureljseimitteii. Oie Koiin ist über-
ausAdndieh. mit der des foolalen mensehhvlu-tt •Vudous de Hiatus «ter
Abbildung JiVe/ea* * /r/.-M, - Beim EV/dwr jnhicHm -ist der ;seinfj;»k\ dor-
ebe T«: d out.'jt kleiner um Verhältnis Ehrn vonjvale.n Toi] wie heim Cid nt*
e>t)ujciuuK; er"' hur ej'wn breiten und wenig tiefen Zahn. .-Der ventrale
Teil hat zwo hn-ife...niedrige EiiJiuoMnupu, Die Zellen de* dorsalen
Teils sied , i was ..großer und Dchen etw.^ weniger weit «umeinander.
.
my-
Teilen, namentlich auf Grund von Untersuchungen mit der Eisenreaktion. 755
Die beiden Teile sind weniger deutlich voneinander zu unterscheiden.
Beim Lemur caita ist ein Unterschied zwischen dorsalem und ventralem
Teil nur noch angedeutet. Der ganze Kern hat drei breite wellenförmige
Windungen; die zwei dorsalen sind ein wenig reicher an Mark, die
Zellen stehen dort weniger dicht zusammen, sie sind aber vielleicht
etwas kleiner wie im ventralen Teil (Abb. 3).
Literaturverzeichnis.
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t$, 103. 1915.
Färbungsmethode der Glia und einiger Körnelungen
des Nervensystems 1 ).
Von
Dr. ined. P. Snessarett (Moskau)-
(Eingegangen am 21. Juli 1924.)
Die von mir vorgeschlagene Methode ist für die Glia nicht spezifisch.
Ich verwende sie auch zur Färbung epithelialer und bindegewebiger
Strukturelemente, aber der Glia gegenüber erscheint sie besonders
produktiv. Sie ist nicht elektiv genug, um die Gliafibrillen darzustellen,
und steht in dieser Hinsicht der originellen IVew/erfmcthode und der
vorzüglichen Methode von Holzer nach. Aber sie hat auch ihre Vorzüge.
Ihre erste positive Eigenschaft besteht gerade darin, daß sie nicht
elektiv ist und in komplex gebauten Bildern die verschiedenen Struktur¬
elemente vielfarbig darstellt und die Kontraste gut hervorhebt. Sie
reproduziert sogar solche Elemente, die mit anderen Methoden ent¬
weder gar nicht oder nur nach sehr komplizierten Vorbereitungs-
prozeduren zu färben sind.
Sie ist verhältnismäßig billig und einfach, kann für in Formalin
fixierte und Gefrierschnitte verwendet werden, läßt beim Färben keine
Niederschläge nach und braucht zu seiner Ausführung nur einige
Minuten. Deshalb kann sie auch sehr gut mit anderen Methoden zusam¬
men angewandt werden.
Im weiteren werde ich mich bemühen, die einzelnen Färbungs¬
schablonen beiseite lassend, auf die verschiedenen Eigentümlichkeiten
der May-Griinwald-FsiTbe beim Färben des Nervensystems aufmerk¬
sam zu machen. Die Sache ist die, daß May-Orünwald eine ganz beson¬
dere Farbe, und ihrer Färbungsarbeitsleistung nach außergewöhnlich
ist. Man gebraucht sie gewöhnlich in Methylalkohol gelöst. Das Fär¬
bungsresultat ist verschieden, je nachdem, ob wir einen wasserhaltigen
oder entwässerten Schnitt vor uns haben; in den trockenen oder ent¬
wässerten Schnitten erscheint die Färbung besonders elektiv. Falls
wir aber die ursprüngliche Gewebsfixation irgendwie verändern, oder
die Stückchen der Wirkung einer Beize aussetzen wollten, so geben
wir hiermit auch der „Leistung“ genannter Farbe eine neue Richtung,
so daß neue Färbungseffekte zum Vorschein kommen.
l ) Vorgetragen in der Moskauer Pathologengesellschaft am 16. März 1922.
P. Snessareff: Färbungmethode der Glia und einiger Körnelungen usw. 757
Grundsätze meiner Methode . Die Formalinfixation muß genügend stark sein.
Es ist wünschenswert, die Stückchen aus einem vor langer Zeit fixierten Gewebe
vor dem Schneiden auf dem Mikrotom in einer frischen Formalinlösung (12—20%)
noch einmal zu fixieren; es ist auch sehr nützlich, von Anfang an die Formalin¬
fixation im Termoetat oder mit Zusatz von Kalium bichromicum (1—2,5%) aus¬
zuführen. Diese Farbungsmethode kann auch bei längst fixierten Stückchen
angewandt werden, aber einige Körnelungen lassen sich nach langer Zeit schlecht
färben.
Die Formalinfixation ist nicht streng obligatorisch. Um eine bessere Nerven¬
zellenfärbung zu erreichen, kann man sich der Flüssigkeit von Camoy bedienen.
Nach dem Fixieren mit Quecksilber oder mit Hellerscher Flüssigkeit gelingt die
Färbung der „mitochondriellen“ Körnelungen von Myelinscheiden sehr gut (nach
dem Fixieren in Wasser abspülen, in Formalin nachfixieren, auf dem Gefrier¬
mikrotom schneiden, mit Lugol und Hyposulfit bearbeiten und dann färben).
Es kann aber auch die Gliabeize angewandt werden und dann werden die Gefrier-
schnitte nach Aus wässern gefärbt.
Weiterhin wird nur von Formalinfixation die Rede sein.
Ich ziehe die Gefrierschnitte vor, obgleich auch die Zelloidinschnitte (sie werden
vom Zelloidin mittels Nelkenöl und Aufkleben nach der Methode von Bubaschkin
l>efreit) und Paraffinschnitte gefärbt werden können.
Was die May-Grüntoald-Faxbe anbetrifft, so bediene ich mich entweder der
fertigen (von Grübler bezogenen) Lösungen oder bereits sie selbst aus Farben¬
pulver vor. Konzentrierte Lösungen sind überflüssig. Folgende Proportion genügt
vollkommen: 0,05 Farbe, 25,0 Spiriti methylici purissimi. Der Farblösung können
auch Säuren (Carbolsäure oder konzentrierte Essigsäure) beigemengt werden, aber
letzteres ist noch nicht genügend von mir untersucht worden.
Man färbt den Schnitt, nachdem er auf ein Objektglas mittels Eiweißglycerin
aufgeklebt worden ist. Das Aufkleben und Trocknen des Schnittes (oder Ent¬
wässerung) wird zu gleicher Zeit ausgeführt.
Es wird entweder ein trockener oder entwässerter Schnitt gefärbt, doch
muß derselbe noch alkoholfeucht sein und diese Feuchtigkeit soll von demselben
Alkohol herleiten (oder Alkohol mit Chloroform), welcher zum Aufkleben und
Entwässern diente.
Bei Anwendung von Methylalkohol mit Chloroform sehen wir im Resultat,
wie in der Methode von Holzer , ein Aufhellen und einige Entfettung des Schnittes.
Letzterem lege ich großen Wert bei, deshalb entfette ich die Schnitte in einigen
Fällen vor dem Färben (Alkohol von steigender Konzentration, Chloroform 20
bis 30 Minuten, Alkohol von einer sich vermindernden Konzentration und Wasser).
Ich tue das der allgemeinen Regel gemäß, da viele Farben den Schnitt besser färben,
wenn er vorher entfettet ist. Demgemäß können auch Gefrierschnitte nach der
Methode von Weigert und Mallory gefärbt werden.
Nach dem Färben mit May-Grünwald und nach Auswaschen des Schnittes
trockne ich ihn rasch mit Filtrierpapier und ziehe ihn ebenso rasch durch Aceton
durch, denn auf solche Weise bleibt die rosa Farbe besser erhalten.
In den Modifikationen, wo der Schnitt in Phosphor-Molybdän -
säure gebeizt wird, kann zu seiner Entwässerung wie Aceton, so auch
Alkohol gebraucht werden.
Sehr wichtig, und soviel ich weiß, noch völlig neu erscheint die Tat¬
sache, daß die May-Qrünuxdd -Farbe nach Behandlung des Schnittes
mit Phosphor-Molybdänsäurenbeize mit den Geweben in solch eine
dauerhafte Verbindung tritt, daß es nur mit Müh und Not gelingt,
758
1\ Snessareff:
diese Verbindung abzuschwächen, und das nur mit sehr energischen
Differenziermitteln.
Auf dieser Tatsache gründe ich eine ganze Reihe von Modifikationen
mit Ergänzungsfärbungen.
Modifikation Nr. 1 besteht darin, daß das Pajypenheimsche Prinzip
für trockene Ausstriche auch bei Gefrierschnitten angewandt wird.
1. Formalinfixation.
2. Auswaschen in fließendem Wasser, Anfertigung von Gefrierschnitten; die
►Schnitte müssen circa 10 Mikr. dick sein und werden in destilliertem Wasser auf-
gefangen.
3. Jeder einzelne Schnitt wird mit einem gebogenen Glasstäbchen im Wasser
ausgebreitet, in diesem Zustand in eine Petrischale mit destilliertem Wasser über¬
tragen, dort mit einem Glasstäbchen von unten nach oben gestoßen und auf der
Wasseroberfläche ausgebreitet . Danach wird er auf einem Objektgläschen folgender¬
weise aufgeklebt: Der Objektträger wird mit einer dünnen Schicht von Eiweiß-
Glycerin bedeckt und, um das Eiweiß zu verdicken, einige Male durch eine Gas¬
flamme durchgezogen. Sodann taucht man das nun fertige Gläschen in die Petri -
schale ein und fängt den Schnitt auf. Bei einer leichten Neigung des Glases fließt
das überflüssige Wasser ab und der Schnitt wird auf diese Weise etwas fixiert.
Um ihn aufzukleben, können mehrere Handgriffe gebraucht werden. Die ein¬
fachsten sind: Ohne den Schnitt mit Fließpapier zu trocknen, stellt man das Objekt
glas senkrecht in den Thermostat oder erwärmt es vorsichtig auf einer Gasflamme;
dabei muß auf das Verschwinden des Wasserflecks acht gegeben werden, woraus
wir ersehen können, daß der Schnitt aufgeklebt und genügend abgetrocknet ist.
Der Schnitt kann auch vorsichtig mit Filtrierpapier getrocknet und in ein Glas
mit Methylalkohol eingetaucht werden (der Spiritus kann auch von oben auf-
gegoesen werden). Es tut gut, wenn dem Alkohol noch Chloroform im Verhältnis
von 2 :1 oder 3 : 1 beigefügt wird; anstatt des Methylalkohols kann auch Äthyl¬
alkohol verwendet werden.
4. Auf den trocknen Schnitt (das Übertrocknen ist zu vermeiden) werden
einige Tropfen May-Grümvald-FeLrbe aufgegossen; das Färben wird fortgesetzt,
bis die Farbe einzudicken beginnt.
5. 1—2 Tropfen destilliertes Wasser werden zugegossen und dann wird noch
2—3 Minuten weitergefärbt.
6. Wenn nötig, Giemrn -Farbe beigefügt (jeder Tropfen wird in einem Kubik¬
zentimeter Wasser gelöst) und das Färben noch 1—2 Minuten fortgesetzt (für
Granulocyten des Blutes auch länger und, wenn es notwendig wäre, sogar
erwärmen).
7. Destilliertes Wasser.
8. Abtrocknen mit Filtrierpapier.
9. 2 Sekunden langes Eintauchen in reines Aceton. Es kann dazu auch eine
Reihe der Mischungen aus Aceton und Xylol gebraucht werden.
10. Reines Xylol.
11. Kanadabalsam.
Alzheimer gibt den Rat, den Schnitt vorher eine Zeitlang in destil¬
liertem Wasser, dem einige Tropfen Formalin und Osmiumsäure bei¬
gefügt sind, zu halten.
Die Schnitte nach dem Schneiden auf dem Mikrotom nicht lange
in destilliertem Wasser halten.
Fürbungsmethode der Glia und einiger Körnelungen des Nervensystems. 759
Wenn wir diese Modifikation wählen, müssen wir danach trachten,
einen vielfarbigen Kontrastschnitt mit rosa Grund zu erhalten. Die
Kerne müssen nicht überfärbt werden. Wenn das geschieht, muß die
Farbenkonzentration vermindert oder die Färbungszeit abgekürzt
werden. Es können auch Differenziermittel angewandt werden (schwache
Essig- oder Schwefelsäure), auch Aceton mit absolutem Alkohol in
gleichen Teilen vermischt, und anderes.
Im 4. Paragraph dieser Modifikation wird darauf hingewiesen, daß
die Farbe auf einen trockenen Schnitt (aber nicht übertrockneten)
aufgegossen wird. Doch der Schnitt kann auch durch Auftröpfeln von
Alkohol (am besten Methylalkohol) oder Alkohol mit Chloroform ent¬
wässert und dann in einem noch feuchten Zustand gefärbt werden.
Obgleich mit Hilfe der 1 . Modifikation auch Gliafibrillen gefärbt
werden, so ist sie doch besonders geeignet zur Darstellung verschiedener
Kömelungen: der in den peripherischen Nerven gelegenen Köme-
lungen von Reich , der „mitochondriellen“ Körnelung der Myelin¬
scheiden von Nervenfasern — besonders nach Fixieren mit Queck¬
silber —, der besonderen „Präcipitationskömelung“ der Myelinscheiden
(nach Entfettung), der ,,Fleckigkeiten“ periaxialer Räume (ebenfalls
nach Entfettung), der fibrinoiden Körnelung, der metachromatischen
Kugeln (Corpora versicolorata), der Füllkörperchen, der basophilen
Klümpchen, die der Grundsubstanz substantiae grisae angehören, und
anderer. In einem besonderen Vorträge will ich die obengenannten
Kömelungen eingehender besprechen.
Modifikation Nr. 2 beruht auf Anwendung von Beize. Sie ist zur
Darstellung protoplasmatischer und besonders faseriger Glia am
geeignetsten. Von den Kömelungen werden von ihr die fibrinoiden
und basophilen Klümpchen der* Substantia grisea des Hirns gefärbt.
Das Verfahren bei dieser Modifikation ist folgendes:
Variation Nr. 1 :
1. Formalinfixation.
2. Gefrierschnitt.
3. Aus destilliertem Wasser wird der Schnitt mit einem Glasstäbchen in
lproz. wässerige Lösung der Phosphor-Molibdänsäure auf 35—60—90 Sekunden
übertragen. In Fällen, wo pathologische Gliasklerosen vorhanden sind, kann der
Schnitt auch viel länger gehalten werden. Das Phosphor-Molybdänsäurepulver
löst sich leicht in Wasser, wobei eine Opalescenz zum Vorschein kommt. Um
letztere zu zerstören, muß die Flüssigkeit auf 24 —48 Stunden in den Thermostat
gestellt werden, oder wenn es gilt rasch zu verfahren, erwärmt man dieselbe in
einem Kolben auf der Gasflamme, bis sie durchsichtig geworden ist.
4. Kurzanhaltendes Ausspülen in destilliertem Wasser und Übertragen in
eine Pefrtschale, wo der Schnitt auf der Wasseroberfläche ausgebreitet wird.
5. Auffangen des Schnittes mittels eines mit Eiweiß-Glycerin bedeckten
Objektgläschens, das überflüssige Wasser abfließen lassen und im Notfall das
Wasser mit Filtrierpapier aufsaugen, um auf solche Weise den Schnitt zu be¬
festigen.
Z. f. d. g. Neur. n. Paych. XCIII.
49
760
P. Snessareff:
6. Mit Filtrierpapier abtrocknen und mit einer Mischung aus Methylalkohol
und Chloroform (im Verhältnis von 2 : 1 oder 3:1) bis zur Entwässerung und
Aufhellen des Schnittes begießen (gleichzeitig wiederholt mit Filtrierpapier
trocknen). Es kann auch Methylalkohol allein und sogar Äthylalkohol ver¬
wendet werden. Endlich kann man sich auch mit einfachem Trocknen des
Schnittes im Thermostat oder auf einer Gasflamme begnügen (s. oben).
7. Auf den noch vom Alkohol mit Chloroform (oder von Methylalkohol allein)
feuchten oder auf einen trocknen Schnitt werden 2 — 3 Tropfen May-GrünuxM-
Farbe aufgegossen. Nicht lange färben, da leicht ein Überfärben der Kerne und der
dichten Gliagewebe auftreten kann.
8. Man füge 1—2 Tropfen destilliertes Wasser bei und setze das Färben fort.
In den meisten Fällen ist letzteres sogar überflüssig.
9. Die Farbe mit Wasser ausspülen und in 30 oder 33proz. Losung Acidi
acetici glaciale (1 T. ac. ac. glac. auf 2 T. Wasser) differenzieren. Das Differenzieren
muß so lange fortgesetzt werden, bis der Kontrast der weißen und grauen Substanz
ganz deutlich hervortritt und der Grund leicht rosa gefärbt erscheint.
10. Das Präparat wird gewässert und mit Filtrierpapier gut abgetrocknet.
11. Aceton oder absoluter Alkohol und, wenn nötig, auch irgendein Ol.
12. Xylol.
13. Reines Xylol.
14. Kanadabalsam.
Die Glia erscheint in Form komplizierter, protoplasmatischer,
fibrillärer Bildungen. Die Weigertsehen Gliafibrillen werden dargestellt,
sind aber nicht besonders elektiv. Dafür gelingt uns die Färbung der
feinsten fibrillären Netze (Fibro-reticulum). Es sind deutlich filzartige
Aufschichtungen der feinsten Fibrillen zu sehen, und gleichzeitig kann
beobachtet werden, wie die Elemente der plasmatischen Glia in patho¬
logischen Fällen allmählich Gestalt annehmen. Es treten Gliazellen
mit Fibrillenbündeln auf, die an Fibroblasten des Bindegewebes erinnern
und wenn Stauungsödem vorhanden ist, gewahren wir mitten unter
den Nervenfasern „Drainagezellen“. Ich werde sie noch in einem
besonderen Artikel ausführlich besprechen.
Da diese Farbe sehr dauerhaft ist, kann sich der Modifikation Nr. 2
eine ganze Reihe von Nachfärbungen anschließen.
Ich betrachte sie als Variationen.
Variation Nr. 2 der Modifikation Nr. 2. Die Punkte 1, 2, 3, 4, 5, 0, 7, 8, 1>
sind dieselben wie in der ersten Variation.
10. Nach dem Differenzieren wird gewässert.
11. 2 — 15 Minuten lange Nachfärbung mit Erythrosin (mit der Lösung von
Held: Erythrosin 1,0 Aq. dest., 150,0 Acidi acetici glaciale gtt. II).
12. Destilliertes Wasser.
13. Abtrocknen mit Filtrierpapier.
14. Differenzieren und Entwässerung mit absolutem Alkohol.
15. Xylol.
10. Kanadabalsam.
Dabei treten die Gliafibrillen und Axonen (Axoplasma) im rosa
Hintergrund deutlicher hervor. Erythrosin färbt das Myelin besonders
gut, wenn der Schnitt vor dem Färben in schwacher Lösung von Osmium-
Färbungsmethode der Glia und einiger Körnelungen des Nervensystems. 761
säure mit Formalin gelassen wird. Bei der Degeneration von Nerven¬
fasern können die gekörnten Zellen und der Myelinzerfall deutlich
wahrgenommen werden.
Zum Färben der Kerne kann noch eine Nachfärbung mit Safranin
mit noch anderen Farben hinzugefügt werden.
Variation Nr. 3. In den Paragraphen 1—9 wird ebenso verfahren, wie in der
1. Variation.
10. Wässerung.
11. Alkohol- oder AniJinlösung von Safranin 5 Min.
12. Salzsäurenalkohol.
13. Wässerung, Abtrocknen mit Filtrierpapier.
14. Absoluter Alkohol.
15. Reine gesättigte Alkohollösung von Pikrinsäure oder mit absolutem
Alkohol vermischt.
16. Einige Male in absolutem Alkohol durchspülen.
17. Xylol.
18. Kanadabalsam.
Variation Nr. 4. Von 1 — 13 dasselbe, wie in Variation Nr. 3.
14. 96proz. Alkohol.
15. Wasser,
16. Gesättigte Wasserlösung von Pikrinsäure mit gesättigter Lösung von
Indigokarmin im Verhältnis von 1 : 1 oder 3 : 1 gemischt — 2 bis 5 Min.
17. Abwaschen im Wasser, Abtrocknen mit Filtrierpapier.
18. Absoluter Alkohol.
19. Xylol.
20. Kanadabalsam.
Das Zellenprotoplasma färbt sich dunkelblau; die Kerne treten grell rot und
die Gliafibrillen hellblau auf dem gelblich-hellrosa Fond hervor.
Variation Nr. 5. Von 1—9 dieselben Handgriffe, wie in der Variation Nr. 1.
10. Ferner ein langsames oder rasches Färben mit Safranin (im letzten Falle
ebenso, wie in den vorhergehenden Variationen).
11. Wenn es nötig ist, so differenziert man Safranin mit Salzsäurenalkohol.
12. Wässerung.
13. Gesättigte Licht grün wasserlösung.
14. Vorsichtiges Waschen in destilliertem Wasser so lange, bis die Kontraste
gut hervortreten.
15. Filtrierpapier.
16. Kurzes Durchziehen durch Aceton oder absoluten Alkohol.
17. Xylol.
18. Kanadabalsam.
Dabei läßt Lichtgrün die Färbung der Gliafibrillen intensiver erscheinen. Es
täte gut, den Schnitt vorerst eine Zeitlang in einer schwachen Lösung von Osmium -
säure mit Formol zu legen, dann nimmt das Myelin die bläuliche Farbe an.
Ganz appart kann noch eine Kombination mit der Beize von Cajal — Ammonii
bromati 3,0; Formalini 6,0; Aq. dest. 50,0 — versucht werden.
Modifikation Nr. 3.
1. Formalinfixation (oder Cajals Beize) bis zu 4 Tagen.
2. Gefrierschnitt.
5. Die Schnitte werden in Cajals Beize eingesenkt und auf einige Stunden
in den Thermostat gestellt.
6. Kurze Wässerung.
4Ö*
762 P. Snessareff: Färbungsmethode der Güa und einiger Kömelungeu usw.
Weiter wird das Aufkleben des Schnittes auf den Objektträger, die Färbung
und das übrige ebenso wie in der Modifikation Nr. 1 ausgeführt.
Da hier die Beize von Cajal angewandt wird, so sehen wir der Färbung in
der Modifikation Nr. 1 entgegengesetzte Färbungsresultate; die GliofibriUen
färben sich rosa, die „mitochondrielle“ Kömelung der Myelinscheiden hellblau.
Die Färbung ist nicht dauerhaft, aber stellt dafür die Fibrillen und auch die ver¬
schiedenen Körnelungen dar.
Zum Schluß möchte ich noch einer Färbungskombination gedenken.
Man kann z. B. den Schnitt zuerst nach der von mir modifizierten
Methode für Bindegewebe von Bielschowsky (mit Alumen ferricum)
bearbeiten und dann mit May-Grünwald färben (1. Modifikation);
diese Modifikation paßt für Granulome besonders gut. Die Myelin¬
scheiden können auch nach Gierlich-Herxheimer oder nach Spidtneyer
gefärbt werden und danach die Modifikation Nr. 2 angewandt werden.
Indem ich alle diese Modifikationen und ihre Variationen beschreibe,
möchte ich darauf hin weisen, daß die Afay-GrünimW-Farbe eine große
färberische Potenz besitzt, welche für die normale und pathologische
Histologie des Nervensystems ausgenutzt werden kann. Aber ich muß
nochmals wiederholen, daß sie auch für andere Gewebe und Organe
gebraucht werden kann.
Diejenigen, welche versuchen wollten, meine Methode anzuwenden,
bitte ich mit der 2. Variation der Modifikation Nr. 2 zu beginnen (Phos-
phor-Molybdänsäurebeize und Nachfärbung mit Erythrosin), da die¬
selbe die hervorragendste ist, und zur Untersuchung entweder deut¬
liche Gliasklerosen oder Stückchen aus dem verlängerten Rücken¬
mark zu wählen.
(Aus dem Pathologischen Institut der Universität Göttingen. — Direktor Geheimrat
Prof. Dr. E. Kaufmann.)
Experimentelle Untersuchungen über die Beziehungen der
Vaguskerne zu den Brust- und Bauchorganen.
Von
Dr. Karl Husten,
Assistenten.
(Eingegangen am 25. Juni 1924.)
In neueren Untersuchungen über die Histologie der Lunge ( Haitis -
berger , Husten) ist auf die weite Verbreitung der glatten Muskulatur
in der Lunge erneut hingewiesen worden. Im Zusammenhänge damit
drängt sich die Frage nach ihrer Funktion auf, die bisher nicht genügend
klargestellt scheint. Man weiß nicht sicher, ob dieser Muskulatur ein
allgemein regelnder Einfluß auf die Weite der Bronchiallumina zufällt,
entsprechend etwa den wechselnden Anforderungen an den respira¬
torischen Gaswechsel, oder ob sie wesentlich am Rhythmus der Atmung
aktiv teilnimmt. Es liegt nahe, bei der Verbreitung der Muskulatur
bis in die Alveolargänge hinein das letztere anzunehmen, wie W. Felix
annimmt und wie auch Husten in der vorher erwähnten Arbeit anzu-
nehmen geneigt ist. Gesetzt aber, eine aktive Beteiligung der Bronchial-
und Lungenmuskulatur sei erwiesen, so bliebe auch dann noch zu ent¬
scheiden, ob ihre Kontraktion der Inspiration oder der Exspiration zugute
kommt, oder ob, wie Felix annimmt, der Muskulatur in verschiedenen
Abschnitten des Bronchialsystems eine verschiedene Funktion zufällt,
in den großen Bronchien bis hinab zu 1 mm Durchmesser während der
Ausatmung eine exspiratorische und während der Einatmung eine
inspiratorische Wirkung, in den kleinen und kleinsten Bronchien unter
1 mm Durchmesser eine rein exspiratorische.
Eine Möglichkeit, dieser Frage näherzukommen, suchte ich in einer
Klärung der Innervationsverhältnisse der Lungenmuskulatur. Gehe
ich von der Tatsache aus, daß die Lungen Fasern vom Sympathicus
und Vagus erhalten, so war es nötig, zunächst für einen dieser Nerven
seinen Anteil an der Lungeninnervation abzutrennen. Die anatomischen
Bedingungen für die experimentelle Verfolgung dieser Frage schienen
mir beim Vagus günstiger.
764
K. Husten: Experimentelle Untersuchungen
Die Fragestellung war nunmehr: 1. ,,Welche Veränderungen finden
sich in den Lungen nach Vagusdurchschneidungen?“ 2. „Welche Teile
der Vaguskerne entsprechen den Lungen?“
Nach Durchschneidung des Nervus vagus am Halse soll, wie ich der
Darstellung L . R. Müllers entnehme, eine Erweiterung der Bronchien
resultieren, nach Felix vergrößert sich das Lungenvolumen nach Vago-
tomie. Bekannt sind auch die Pneumonien, welche namentlich bei Hun¬
den nach Vagotomie auf treten. Ich bin auf die Lungen Veränderungen
nach Vagotomie in dieser Arbeit nicht eingegangen, konnte jedoch
gelegentlich 14 Tage nach der Vagusresektion auf der operierten Seite
keine eindeutige Veränderung in der Lunge finden.
Der Frage nach den Kernanteilen des Vagus für die Lunge bin ich
experimentell nachgegangen, und zwar mit Hilfe der Nisslschen Degene¬
rationsmethode. Da es sich darum handelte, intrathorakale Eingriffe
vorzunehmen zur Resektion bestimmter Vagusäste, mußte ich ein
größeres Versuchstier wählen, um bei der Operation eine bessere Über¬
sicht zu haben, die ein sicheres Arbeiten ermöglichte. Ich stellte die
Untersuchungen an bei Hunden von mittlerer Größe (meist kleineren
deutschen Schäferhunden) 1 ).
Zunächst versuchte ich einseitig (ich wählte stets die linke Seite)
in Überdrucknarkose die Lungenäste des Vagus zu durclischneiden;
doch boten sich bei der Operation große Schwierigkeiten betreffs der
Orientierung; es war mir nicht möglich, die Lungenäste sicher von den
Herzästen getrennt zu durchschneiden. Ich versuchte dann die ein¬
seitige Lungenexstirpation zweizeitig, ein Eingriff, der nach den experi¬
mentellen Erfahrungen der Sauerbruch sehen Klinik chirurgisch mög¬
lich ist. Über experimentelle Eingriffe dieser Art in anderem Zusam¬
menhang berichtet R. Nissen. Mir ist es nicht gelungen, ein Tier, wie
es meine Untersuchungen erforderten, etwa 14 Tage nach der ein¬
seitigen Lungenexstirpation am Leben zu erhalten.
Ich beschritt schließlich folgenden Weg, um wenigstens einigermaßen
eine Trennung der Kernanteile des Vagus für die visceralen Organe
zu erzielen. Ich resezierte den Stamm des Nervus vagus 1. am Halse,
etwas unterhalb der Kehlkopfhöhe, 2. intrathorakal, dicht unterhalb
des Abgangs des Nervus recurrens, 3. unterhalb des Abganges der
U Durch die Liebenswürdigkeit von Herrn Prof. Stich , Direktors der Chirurg.
Universitätsklinik in Göttingen, konnte ich die Tiere halten und im Tieroperations-
saal der Klinik die Eingriffe vornehmen. Ich danke ihm dafür auch an dieser
Stelle. Bei den Operationen halfen mir die Herren der Klinik in liebenswürdiger
Weise, wofür ich ihnen Dank schulde. Es kam mir ferner ein Betrag von
15 000 M. aus einer dänischen Stiftung zu Hilfe, der mir auf Empfehlung von
Herrn Geheimrat Kaufmann durch den derzeitigen Rektor, Geheimrat v. Hippel.
im Dezember 1922 zugesprochen wurde.
über die Beziehungen der Vaguskerne zu den Brust- und Bauchorganen. 765
Lungen- und Herzäste am Oesophagus, oberhalb seiner Teilung in
den vorderen und hinteren Ast.
Die Tiere wurden 14 Tage nach der Operation in Chloroformnarkose getötet.
Medulla oblongata und Pons wurden nach der Methode von Lenhossek in 20proz.
Formalin fixiert, in absolutem Alkohol nachgehärtet, über Chloroform in Paraffin
eingebettet und quer zur Längsrichtung der Medulla in Serienschnitte von 15/*
Dicke zerlegt. Jeder 4. Schnitt wurde nach der von Lenhossek modifizierten
Nissl-Methode gefärbt. Ich durfte hoffen, aus einem Vergleich der Zahl und
des Sitzes der veränderten Zellen in den Vaguskernen bei den verschiedenen
Tieren die Beziehungen der Vaguskeme zu Brust- und Bauchorganen einiger¬
maßen zu klären und im Rahmen meiner ursprünglichen Fragestellung einen
Schritt vorwärtszukommen.
Ich gehe kurz auf die Anatomie des peripheren Vagus heim Hunde ein, so¬
weit sie für die vorliegenden Versuche von Bedeutung ist. Ich stütze mich dabei
auf die Darstellung von Ellenberger und Baum , die ich präparatorisch bei meinen
Versuchstieren bestätigt fand.
1. Bei Durchschneidung des Vagusst&mmes am Halse, etwas unterhalb der
Kehlkopfhöhe, mußte der Nervus sympathicus, der hier beim Hunde mit dem Vagus
in einer Bindegewebsscheide verläuft, mit durchtrennt werden. Ebenso wurde in
dieser Höhe der beim Hunde sehr unbedeutende Nervus depressor mit durch¬
schnitten. Es wurden also unter Erhaltung des Nervus laryngeus sup. sämtliche
Fasern für die Brust- und Bauchorgane, sowie die Fasern, die im Nervus recurrens
verlaufen, durchschnitten.
2. Bei intrathorakaler Resektion des Vagusstammes unterhalb des Abganges
des Nervus recurrens durchtrennte ich alle Fasern des Bauchvagus, sowie die
Hauptmasse der Fasern für Lunge und Herz, abgesehen von den Fasern, die im
Nervus depressor verlaufen, etwaigen intrathorakal hochabgehenden Fasern für
das Herz, sowie von Fasern für Herz und Lunge, die vom Recurrens aus an diese
Organe herantreten.
3. Bei der intrathorakalen Resektion des Vagusstammes unterhalb der Herz-
und Lungenäste, oberhalb seiner Teilung in vorderen und hinteren Ast, wurden
nur die Fasern des Bauchvagus und die für den unteren Teil des Oesophagus durch¬
schnitten.
über die Morphologie der Vaguskeme berichte ich in folgendem kurz unter
etwas genauerem Eingehen auf die normalen histologischen Befunde, wie ich sie
beim Hunde gefunden habe. Es kommen in Frage.
1. der Nucleus ventraiis oder ambiguus,
2. der Nucleus dorsalis, viseralis, früher auch sensitivus,
3. der Nucleus solitarius,
4. der Nucleus parasolitarius,
5. der Nucleus salivatorius inferior (Kohnstamm),
6. die Ganglia jugularia und nodosa.
1. Der Nucleus ventraiis (ambiguus ) liegt dorsal von der ventralen (großen)
Olive, lateral von den Wurzelästen des Nervus hypoglossus und ventrolateral
vom Hypoglossuskem, ventral auch von der Radix descendens nervi trigemini.
Er reicht nach unten bis an das Seitenhorn, das den Kernanteil für den Ramus
extemus Nervi accessorii enthält (Bunzl-Fedem) und ist in der Höhe des unteren
Endes der vorderen Olive bereits deutlich; nach oben reicht er über das obere
Ende der Olive hinaus und verliert sich in der Höhe des caudalen Endes des Facialis-
kernes, der sich durch seine große, dichte Zellmasse charakterisiert und den Nucleus
ambiguus sozusagen nach oben fortsetzt. Doch ist es beim Ambiguus sowohl am
unteren Pol wie am oberen nicht möglich, von einer einzelnen Zelle anzugeben.
766 K. Husten: Experimentelle Untersuchungen
ob sie ihm zuzurechnen ist, da die Zellen des Ambiguus keine geschlossene Zell¬
masse darstellen. Doch konnte ich, wie Bunzl-Fedem beim Kaninchen, auch beim
Hunde eine dichte Formation im oberen Anteil des Kerns und eine lockere im
spinalen Anteil des Kernes unterscheiden, wobei die dichte Formation etwas
weiter lateral liegt als die lockere. Die Zellen des Nucleus ambiguus gleichen den
motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks, sind jedoch etwas kleiner und
haben eine weniger dichte Chromatinzeichnung. Wie weit namentlich die dichte
Formation des Nucleus ventralis dem Nervus glosso-pharyngeus zuzurechnen ist
( Kohnstamm ), gaben meine Untersuchungen keine Möglichkeit, zu entscheiden. In
den lö-/x-Schnitten fand ich schwankende Zellzahlen. Die lockere Formation fand
ich bis aus 40 Zellen bestehend, die solide Formation bis aus 15 Zellen. Zu be¬
tonen ist, daß bei Durchsicht der Querschnittserien deutlich ein periodisches An-
und Abschwellen der Zellzahlen zu beobachten ist. Die vielfache Gruppen bzw.
Säuleneinteilung im ventralen Vaguskern, die Hudovemig beim Menschen be¬
schreibt, habe ich beim Hunde nicht durchführen können.
2. Der Nucleus dorsalis besteht aus einer gut charakterisierten Zellmasse am
Boden des 4. Ventrikels unter der Ala cinerea, die sich caudalwärts lateral hinten
vom Zentralkanal fortsetzt, weiter frontal nach lateral rückt, wobei sie medial
vom Acusticuskem verdrängt ist. Er hat im allgemeinen den Hypoglossuskern
vor sich, doch ist dieser Kern sowohl caudalwärts wie frontalwärts kürzer als der
dorsale Vaguskem. Die Zellen des dorsalen Vaguskemes sind spindelförmig, oft
eiförmig und liegen in ihrer Hauptzahl mit ihrer Längsachse in frontocaudaler
Richtung, sind also auf Querschnitten der Medulle in ihrem kleineren Durch¬
messer getroffen und erscheinen dann meist rund bis oval. Sie haben eine dicht¬
gedrängte kräftige Tigroidzeichnung im Nissl-Präparat. Ein Teil der Zellen dee
Kernes wird jedoch in Horizontalschnitten längs und schräg getroffen; es sind
das die Zellen im spinalen Abschnitt, wo der Zentralkanal geschlossen ist,
sowie die Zellen am oralen Ende des Kernes, da, wo er sich vom Ventrikelboden
aus lateralwärts wendet. Auch im vorderen Anteil des dorsalen Vaguskernes
in Höhe des Calamus scriptorius und weiter oben ist eine größere Anzahl von
Zellen in Längsrichtung im Querschnitt der Medulla getroffen. Bei mittelgroßen
Hunden fand ich den ganzen Kern zwischen 15 und 16 mm lang; der geringere
Teil dieser Gesamtlänge liegt unterhalb des Calamus scriptorius, während der
etwas größere Teil oberhalb des Calamus scriptorius unter der Ala cinerea am
Boden des 4. Ventrikels liegt. Der dorsale Vaguskern beginnt beim Hunde
wenig unterhalb des distalen Endes des Nucleus lateralis (1 — 1 x / 2 mm unterhalb
desselben) mit einzelnen Zellen, deren Zugehörigkeit zum dorsalen Vaguskern
sich ergibt, wenn man von oben nach unten die Schnittserien durchmustert bzw.
wenn bei Vagotomie diese Zellen auf der einen Seite degeneriert sind. In dieser
Höhe liegt auch etwa das untere Ende der motorischen Pyramidenkreuzung.
Der Hypoglossuskern beginnt etwa in der Mitte der motorischen Pyramiden¬
kreuzung. Die ventrale Olive beginnt etwas höher als der Nucleus lateralis,
so daß bei meinen Versuchstieren der dorsale Vaguskern sich etwa 3 mm
weiter caudalwärts sich verfolgen ließ als das untere Ende der Olive. In
dieser Höhe ist der dorsale Vaguskem bereits ansehnlich und besteht aus
15—20 Zellen. Er nimmt nach oben an Ausdehnung und Zellzahl zu und
besteht in der Höhe der Eröffnung des Zentralkanals aus 50—70 Zellen. Er
stellt hier immer noch auf Horizontalschnitten das Bild eines Ovals dar, das
mit seinem längsten Durchmesser von medial nach lateral liegt. Seine größte
Ausdehnung gewinnt der Kern am Boden des 4. Ventrikels unter der Ala
cinera. Sie liegt, bezogen auf seine Gesamtlänge, etwas oberhalb seiner Mitte,
etwa im 4. Fünftel seiner Gesamtlänge von unten nach oben gerechnet. Man
über die Beziehungen der Vaguskerne zu den Brust- und Bauchorganen. 767
zählt im 15-/*-Schnitt hier 80—100 Zellen. Auf dem Querschnitt bildet er ein
Dreieck, dessen lateraler Winkel ausgezogen ist. Die Gegend dieser stärksten
Ausbildung des Kerns fand ich beim Hunde 1V 2 mm oberhalb des Calmus sorip-
torius beginnend. Er bleibt in einer Länge von 2—4 mm dann ungefähr gleich
stark. Immerhin kommen auch in dieser Höhe, wie während des Zunehmens
und Abnehmens des Kernes in den spinalen und oralen Partien, segmentär Schwan¬
kungen in der Zellzahl vor, wie beim Nucleus ambiguus. Im oberen Fünftel
nimmt der Kern ziemlich schnell an Zellzahl, weniger schnell an Flächen¬
ausdehnung ab. Er wendet sich nach lateral und ist zuletzt noch in einzelnen
Zellen bei einseitiger Degeneration seiner Elemente sicher zu erkennen. Die
letzten Reste des dorsalen Vaguskems oralwärts fand ich 1 mm unterhalb des
caudalen Pols des Facialiskems, etwa 2 mm oberhalb des oralen Endes des
ventralen Olivenkems. Der Hypoglossuskem verschwindet bereits, bevor der
Vaguskern sich nach lateral wendet. Die Gesamtzahl der Zellen des dorsalen
Vaguskemes beim Hunde beträgt etwa 30000.
Betonen muß ich, daß es mir nicht gelang, Gruppen im dorsalen Vaguskern
zu unterscheiden, wie es Obersteiner und besonders Shima getan haben. Auch
L . B. Müller ist zu dem Ergebnis gekommen, daß eine solche Gruppeneinteilung
kaum möglich sei.
3. Der Tractus solitarius begleitet den Kern in seiner ganzen Ausdehnung,
hat im ganzen auch seinen größten Querschnitt und seine größte Faserzahl ent¬
sprechend der Ausdehnung des dorsalen Vaguskerns. Er liegt im spinalen Ab¬
schnitt lateral und etwas nach hinten vom dorsalen Vaguskern, weiter oben hinter
dem lateralen Anteil und rückt schon etwas eher als der dorsale Vaguskern lateral -
wärts, um sich in das Ursprungsgebiet des Nervus glossopharyngeus zu verlieren.
Sowohl im Solitärstrang als hauptsächlich medial von ihm liegen zahlreiche kleine
Ganglienzellen, die zu ihm in Beziehung stehen.
4. Lateral vom Tractus solitarius und lateral hinten vom dorsalen Vaguskern
liegt der Nucleus parasolitarius, der aus kleinen und einer Anzahl von größeren
Ganglienzellen besteht (ich habe von letzteren im 16-/*-Schnitt bis 6 Stück gezählt).
Die großen Zellen nähern sich dem Typus der motorischen Vorderhomzellen in
Gestalt und Größe.
5. Mit einem Teil der Zellen dem Vagus zuzurechnen wäre noch ein Kern
nach der Darstellung von Kohnstamm und Wolfstein , den sie den Nucleus sali-
vatorius inferior nennen. Diesen Kern habe ich nicht sicher finden können. Man
ist nach den genannten Autoren bei seiner Agnoszierung darauf angewiesen, wenig¬
stens auf der einen Seite eine eindeutige degenerative Veränderung in den Zellen
zu finden. Doch soll sich diese Veränderung an den Zellen des Nucleus salivatorius
nur schwer erkennen lassen. Mir ist es bei meinem Material nicht gelungen, ihn
sicher zu finden, obgleich man ja annehmen muß, daß zugehörige, zentrifugale
Fasern bei der Vagotomie durchtrennt sind.
6. Das Ganglion nodosum und jugulare ist in den Vagusstamm eingeschaltet
nach Art eines Spinalganglions. Ich habe diese Ganglien in meine Untersuchung
nicht mit einbezogen.
Sind die anatomischen Verhältnisse der Vaguskeme bis auf wenige Punkte
geklärt, so steht es anders mit ihrer Physiologie und ihrer Beziehung zu den ein¬
zelnen, vom Vagus innervierten Organen .
Nach Untersuchungen Von Forel , Dees , Marinesco , van Gebuchten , Kohnstamm
und Wolf stein y der Darstellung von L. B. Müller sowie nach den Untersuchungen
von Kosaka und Yagita stellt der Nucleus ambiguus den motorischen Kern für die
quergestreifte Muskulatur des Kehlkopfes und des Schlundes dar, dessen Fasern
teils im Nervus vagus, teils im Nervus glosso-pharyngeus verlaufen.
768
K. Husten: Experimentelle Untersuchungen
Diesen Untersuchungen stehen ältere von Holm entgegen, sowie neuere aus
der Schule van Gebuchten# (de Beule , Alfewski ), die aus Durchschneidungs versuchen
— sie bevorzugen das Ausreißen des Nerven — folgern, daß der Nucleus ambiguus
mit der Kehlkopfinnervation nichts zu tun hat. Sie haben nach Ausreißung des
Nervus recurrens degenerative Veränderungen im dorsalen Vaguskern gefunden.
Die Versuche Bunzl-Fedems sind jedoch beweisend für einen Zusammenhang vor
allem der Zellen der losen Formationen des Nucleus ambiguus mit dem Kehlkopf,
und zwar zeigt ihre Degeneration, daß zentrifugale Axone von ihnen ausgehen.
Die dichte Formation des Nucleus ambiguus dient der motorischen Innervation
der quergestreiften Muskulatur des Oesophagus und der Epiglottis. Ihre Fasern
verlaufen nicht im Vagus, sondern im Nervus Glossopharyngeus (Kohnstamm und
Wolfstein). Die Untersuchungen Hudovernigs an Medullen von Menschen, bei
denen bestimmte Organe im Innervationsbezieh des Vagus durch Tumoren zer¬
stört worden waren, sprechen nach Ansicht dieses Autors für eine Beziehung von
Teilen des Nucleus ambiguus zu Kehlkopf und Oesophagus. Doch verlegt Hudo-
vernig auch ein motorisches Zentrum für Magen und Lungen in diesen Kern.
Der dorsale Vaguskern wurde früher vorwiegend als der sensible Kern des
Vagus aufgefaßt (Obersteiner). Edinger sieht in ihm ein gemischtes sensibles
und motorisches Zentrum, Bund-Federn, der eine prompte Degeneration dieses
Kerns nach Vagotomie fand, hält an der Auffassung dieses Kerns als eines sen¬
siblen fest. Doch sprechen gerade die Untersuchungen dieses Autors, wie Kohn¬
stamm und Wolfstein ausführen, dafür, daß von ihm zentrifugale Fasern ihren
Ausgang nehmen. Letztere sehen in ihm das motorische Zentrum für die visceralen
Organe. L. R. Müllers Darstellung folgt dieser Auffassung. Nach älteren Unter¬
suchungen Holms soll im ventromedialen Teil dieses Kerns das Respirations¬
zentrum zu suchen sein. Hudovernig bringt in seinen oben angeführten Unter¬
suchungen bestimmte Bezirke des dorsalen Vaguskems als sensible oder gemischte
Zentra in Zusammenhang mit dem Plexus pulmonalis oder gastricus. Kosaka
und Yagita finden in dem spinalen Abschnitt des Kerns ein motorisches Zentrum
für Magen und Oesophagus.
Der Nucleus solitarius und parasolitarius sind als sensible Zentra aufzufassen,
die Zellen des Nucleus parasolitarius wohl als ein System, das die verschiedenen
Höhen des Tractus solitarius miteinander in Beziehung setzt als „Strangzellen**.
Die Zellen dieser Kerne stehen z. T. zum Vagus, z. T. zu Fasern, die im Nervus
glossopharyngeus verlaufen, in Beziehung.
Eigene Verbuche.
Nach Ausschaltung aller Versuchstiere, bei denen in der Technik der Re¬
sektion Mängel vorhanden waren bzw. die kurze Zeit nach der Operation zu¬
grunde gingen, stehen mir 3 Tiere zur Verfügung, von denen ich einwandfreie
Resultate erwarten durfte, nämlich für jede der anfangs aufgeführten Gruppen
ein Versuchstier.
I. Hund 5. Vagotomie am Halse in Kehlkopf höhe. Getötet 14 Tage nach
der Operation in Chloroformnarkose.
Befund: Der dorsale Vaguskem ist bis auf einzelne Zellen in seiner ganzen
Ausdehnung degeneriert. Die Zahl der erhaltenen Zellen auf der vagotomierten
Seite beträgt im 15 p dicken Schnitt zwischen 0 und 2 Zellen, in einzelnen Schnitten
auch 3 Zellen. Eine Regel für die Stellen des Vorkommens der intakten Zellen
besteht im allgemeinen nicht, sie kommen in jeder Höhe des Kernes, sowie im
vorderen und hinteren Teil vor, doch ist vielleicht eine geringe Bevorzugung des
vorderen Anteils vorhanden. Unter 7700 ausgezählten Zellen im linken dorsalen
Vaguskern in 165 Schnitten, die sich durch die ganze Kernhöhe verteilen, waren
über die Beziehungen der Vaguskerne zu den Brust- und Bauchorganen. 769
160 Zellen erhalten, d. h. also im Schnitt durchschnittlich kaum eine Zelle; von der
Gesamtzahl der Zellen des Kerns sind mithin 2% erhalten. Auf der entgegenge¬
setzten Seite fand sich wohl einmal eine vereinzelte degenerierte Zelle, doch ohne
daß sich dieser Befund in mehreren Schnitten wiederholt hätte.
Im Ambiguuskem waren die Verhältnisse schwerer zu beurteilen, einerseits
wegen des wenig abgeschlossenen Kerngebietes, andererseits, weil die Degeneration
sich nicht so deutlich zeigt. Immerhin fand ich als für die degenerierten Zellen
charakteristisch eine plumpe Gestalt der Zelle, exzentrische Lagerung des ge¬
quollenen Kerns, sowie eine verwaschene Tigroidzeichnung. Auf der der Vago-
tomie entsprechenden Seite fand ich in der sog. losen Formation 7 /s der Zellen de¬
generiert. In der dichten Formation des Kernes war die Mehrzahl der Zellen
erhalten, doch fanden sich hier bis zu 3 degenerierte Zellen im Horizontalschnitt.
Auf der Gegenseite fanden sich in der losen Formation stets im Schnitt einzelne
degenerierte Zellen, doch war deren Zahl nie wesentlich.
Im Nucleus solitarius und parasolitarius wurden degenerative Veränderungen
nicht gefunden.
II. Hund 7. Yagotomie intrathorakal unterhalb des Recurrens oberhalb der
Masse der Lungen und Herzäste. Getötet 14 Tage nach der Operation in Chloro-
formnarkose.
Befund: Es findet sich eine Degeneration der Zellen des dorsalen Vaguskemes
in seiner ganzen Ausdehnung. Doch kommen in jeder Höhe auch erhaltene
Zellen vor. Im ganzen finden sich auf 195 ausgezählten Schnitten aus allen Höhen
unter 8850 Zellen 840 Zellen erhalten, während der Rest degeneriert ist. Es sind
also auf der vagotomierten Seite Vio-Va der Zellen erhalten. Das Verhältnis der
Anzahl der degenerierten Zellen zu den erhaltenen wechselt in den verschiedenen
Höhen des Kernes jedoch, so daß es beim Vergleich einer größeren Anzahl von
Schnitten aus bestimmten Höhen zu solchen aus anderen Höhen deutlich wird,
daß die degenerierten Zellen nicht gleichmäßig verteilt sind. Im spinalen
Teil des dorsalen Vaguskemes der vagotomierten Seite bis zu der Höhe, wo der
Zentralkanal sich in den 4. Ventrikel eröffnet, fand ich unter 2800 Zellen 200 er¬
halten, d. h. V H der Gesamtzahl. Doch ist im untersten Teil des Kernes die Zahl
der erhaltenen Zellen gegenüber den degenerierten relativ noch größer. Bis etwa
zur Mitte der Pyramidenkreuzung von unten gerechnet sind Vs 6er Zellen erhalten,
von da ab bis zur Eröffnung des Zentralkanals nur der Zellen. In der
Höhe der stärksten Ausdehnung des Kernes sind 1 / 10 der Zellen nicht degeneriert,
im frontalsten Teil des Kernes 1 / 8 der Zellen der vagotomierten Seite. Die er¬
haltenen Zellen bevorzugen den vorderen und lateralen Anteil des Kernes, wenn
sie auch in den anderen Anteilen zerstreut Vorkommen. Eine absolute Regel
für das Vorkommen der erhaltenen Zellen läßt sich nach den Befunden nicht
aufstellen. Gekreuzte Degeneration fand sich nicht.
Im Nudeus ambiguus der vagotomierten, wie der Gegenseite konnte ich eine
Degeneration nicht finden.
Der Nudeus solitarius und parasolitarius waren intakt.
III. Hund 10. Yagotomie intrathoracal unterhalb der Lungenäste , oral von
der Teilungsstelle des Vagusstammes. Getötet 14 Tage nach der Operation in
Chloroformnarkose.
Befund: Im dorsalen Vaguskem findet sich von unten bis oben eine Degene¬
ration von zahlreichen Zellen, deren Verhältniszahl zu denen im gleichen Schnitt
intakt gefundenen Zellen in den verschiedenen Höhen des Kernes wechselt. Wie
eine Auszählung ergab, sind es von der Gesamtsumme der Zellen */a» die degeneriert
sind. Auf 170 Schnitten fanden sich 2150 erhaltene Zellen, gegenüber 4100 de¬
generierten derselben Seite. Während in den untersten Abschnitten in Höhe
770
K. Husten: Experimentelle Untersuchungen
der Pyramidenkreuzung die degenerierten Zellen nur 1 / 6 — 1 / 0 der Gesamtzellen
ausmachen (unter 680 Zellen sind 120 degeneriert) sind in der Höhe des Über¬
gangs des Zentralkanals in den 4. Ventrikel a / 3 der Zellen degeneriert, weiter
oben s / 4 der Zellen, und zwar in der Höhe, wo der Vaguskern seine stärkste
Ausdehnung hat. Eis kommen auf den Querschnitten verstreut degenerierte und
intakte Zellen durcheinander vor. Doch ist es bemerkenswert, daß die Haupt¬
masse der intakten Zellen die vorderen lateralen Partien des Kerns bevorzugt,
während der hintere mediale Anteil des Kerns überwiegend aus degenerierten
Zellen besteht.
Eine degenerative Veränderung der Zellen des Nudeus ambiguus sowie der
sensiblen Kerne ist nicht vorhanden.
Es ergibt sich aus den Befunden für den dorsalen Vaguskern folgendes:
Er gehört, wie Bunzl-Federn besonders betont hat, seiner ganzen Aus¬
dehnung nach dem Vagus an. Wenn ein Teil der zugehörigen Fasern
zunächst im Nervus accessorius verläuft, so sind das diejenigen, die als
Ramus internus den eigentlichen Accessorius vagi bilden und sich in
ihrem Verlauf dem peripheren Vagus anschließen. Es gelang, den
Anteil des Vagus für die Abdominalorgane zusammen mit denen für
den unteren Teil des Oesophagus zu isolieren. Dabei fand sich aus¬
schließlich eine Degeneration im dorsalen Vaguskem, und zwar stehen
2 / 3 seiner Zellen in Beziehung zu den Bauchorganen. Die Zellen finden
sich durch die ganze Kemhöhe zerstreut, doch ist der hintere mediale
Anteil des Kernes fast ausschließlich dem Bauchvagus zuzurechnen,
und zwar ist der Anteil in den spinalen Abschnitten des Kernes relativ
gering, während er in der Höhe der stärksten Ausdehnung des Kernes
und in den oralen Abschnitten wesentlich überwiegt. Anzeichen für
eine gekreuzte Degeneration habe ich im dorsalen Vaguskern nicht
gefunden. Die Anteile des visceralen Vaguskemes für Herz, Lungen
und Trachea müssen sich nach diesen Untersuchungen gleichfalls
durch die ganze Kernhöhe und über den Querschnitt des Kernes ver¬
teilen. Doch läßt sich aus den Verhältnissen, wie sie für den Bauch¬
vagus festgelegt werden konnten, schließen, daß sie einerseits bis zu
einem gewissen Grade die ventrolateralen Anteile des Kernes bevor¬
zugen, andererseits annehmen, daß für sie die überwiegende Zell¬
zahl im spinalen Kemabschnitt zur Verfügung steht. Die nach Vago-
tomie am Halse erhaltengebliebenen wenigen Zellen im dorsalen Vagus¬
kern dürften, wie ich mit Bunzl-Federn annehmen möchte, durch den
Nervus laryngeus superior zu Kehlkopf und Trachea in Beziehung
stehen (jedoch nicht zur quergestreiften Muskulatur). Die bei Schonung
des Nervus recurrens intakt gebliebenen Zellen im dorsalen Vagus¬
kem dürften zum Teil Fasern für Herz, Lunge und Trachea entsprechen,
die im Recurrens verlaufen und von dort an ihr Erfolgsorgan treten,
zum Teil dürften die zugehörigen Fasern in oberhalb des Recurrens
abgehenden Fasern für das Herz zu suchen sein.
über die Beziehungen der Vaguskerne zu den Brust- und Bauchorganen. 771
Betreffs der Trennung der Anteile der visceralen Organe im dor¬
salen Vaguskem bestand bisher die Angabe von Kosaka und Yagila ,
daß sich im spinalen Teile des Kernes ein motorisches Zentrum für
Magen und Oesophagus befände. Diese Ansicht erscheint mit meinen
Befunden allenfalls vereinbar, wenn sie sich auch nicht sehr dafür
verwenden lassen, da bei der verstreuten Anordnung der Kemanteile
für die visceralen Organe überhaupt es kaum wahrscheinlich ist, daß
die Zellen für Magen und Oesophagus eine geschlossene Masse in einer
bestimmten Höhe bilden sollten. Hudovemigs Befunde beim Menschen
bezüglich des Zusammenhangs von Zellen des dorsalen Vaguskemes
mit dem Magen- oder Lungenplexus sind mit meinen Ergebnissen verein¬
bar, doch in der Form, wie sie ausgesprochen sind, ebenso unwahr¬
scheinlich, wie die von Kosaka und Yagila . Die von Shima versuchte
Gruppeneinteilung in diesem Kern muß nach den vorliegenden Unter¬
suchungen schon dadurch an Bedeutung verlieren, daß nicht mehr
angenommen werden kann, daß bestimmt umgrenzte Abschnitte
dieses Kernes bestimmten Organen oder Funktionen entsprechen.
Meine Untersuchungen bestätigen die Resultate Bunzl-Federns so¬
wie Kohnsiamms und Wolfsteins , daß die Zellen der lockeren Formation
des Nucleus ambiguus größtenteils durch Fasern, die im Nervus
laryngeus inferior verlaufen, als durch zentrifugale Axone zu dem
Kehlkopf in Beziehung stehen, da sie nach Durchschneidung ober¬
halb des Recurrensabganges degenerieren, bei intrathorakaler Vagus¬
resektion unterhalb des Nervus recurrens erhalten bleiben. Mein
Befund widerspricht also den Befunden der van Qehuchtenoehen
Schule, die nach Ausreißung des Nervus recurrens diesen Kern intakt
fanden. Da ferner eine Degeneration im Nucleus ambiguus bei
Resektion des Vagusstammes unterhalb des Recurrensabganges nicht
nachweisbar war, so weicht mein Befund auch von der Auffassung
Hudovemigs ab, der im Nucleus ambiguus ein motorisches Zentrum
für Magen und Oesophagus fand. Es stützen meine Befunde die Dar¬
stellung L. R . Müllers und die von Kosaka und Yagila, Gegenüber
Bunzl-Federn muß ich betonen, daß ich im Nucleus ambiguus auf der
Gegenseite bei Vagotomie am Halse einige degenerierte Zellen fand,
also hier den Befund von Kohnstamm und Wolf stein bestätigen kann,
die gekreuzte Wurzelfasem für den Nucleus ambiguus nachweisen
konnten.
Den Nucleus salivaiorius inferior habe ich nicht sicher finden können,
ebensowenig eine eindeutige Degeneration in den Zellkomplexen, die
nach der Darstellung von Kohnstamm und Wolf stein für ihn in Betracht
kommen.
Nucleus solitär ius und parasolitarius waren bei meinen Durch-
schneidungsversuchen unverändert.
772
K. Husten: Experimentelle Untersuchungen
Wenn es auch sicher ist, daß zentrifugale Fasern vom Nucleus
dorsalis Nervi vagi ausgehen und zu den Organen der Brust- und
Bauchhöhle in Beziehung treten, so ist es bisher doch keineswegs bewie¬
sen, daß ihre Funktion eine direkte motorische sei, und ob nicht direkt
oder indirekt auch sekretorische Fasern von diesem Kerne ausgehen.
Für den Magen ist durch Versuche von Pawlow bewiesen, daß
doppelseitige Vagusresektion die Magenperistaltik zunächst aufhebt,
so daß dieser Forscher nur mit Hilfe der Magenspülung die Tiere in
der ersten Zeit am Leben erhalten konnte. Später stellte sich die
Peristaltik wieder ein, offenbar, da das autonome Nervensystem der
Magenwand allein genügt, um die Peristaltik in Gang zu halten.
Nachdem es L. R. Müller gelungen ist, in der Wand der Bronchien
Ganglien vom Charakter der sympathischen nachzuweisen, liegt die
Vermutung nahe, daß auch in der Lunge ähnliche Verhältnisse vor¬
liegen wie am Magen. Vielleicht steht dem Vagus auch für die Lungen
nur ein übergeordneter Einfluß für die Muskelinnervation, ebenso wie
auch für die Sekretion der Bronchialdrüsen zu, so daß die Vagotomie
auf die Dauer keine Störungen in der Motilität der Lungenmuskulatur
zu machen braucht. Die Pneumonien nach Vagotomie pflegen in der
ersten Zeit nach dem Eingriff aufzutreten, die, wenn sie überstanden
werden, sich später nicht wiederholen. Es scheint mir hier an den
Lungen eine Parallele zu den Beobachtungen Pawlows bezüglich der
Magenmotilität vorzuliegen, so daß sich denken ließe, daß später
das Gangliensystem der Bronchien entsprechend den nervösen Plexus
des Magens nach ursprünglicher Funktionsstörung die Muskelinner¬
vation autonom übernimmt. Allerdings ist bei den Lungen noch zu be¬
denken, daß bei Vagotomie der Wegfall der sensiblen Fasern und damit
die Aufhebung der Reflexerregung der glatten Muskulatur die Pneu¬
monien begünstigt, da die reflektorische Kontraktion der Muskulatur,
die sonst zu einer Entleerung des Bronchialsekrets führt, und eventuell
Fremdkörper, Reizstoffe und Bakterien entfernt, wegfällt.
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Zur vergleichenden Anatomie des dorsalen Vaguskernes. Arb. a. d. Neurol. Inst,
d. Wiener Univ., herausgegeben von Obersteiner, II. 1909.
Ein solider Tumor der weichen Hirnhäute mit eigenartiger
Riesenzellbildung 1 ).
Von
Dr. Emst Levinger.
(Aus dem Neurologischen Institut der Universität Frankfurt a. M. — Direktor:
Prof. Dr. K. Goldstein.)
{Eingegangen am 10. Juli 1924.)
Die mesenchymalen Tumoren des Gehirns nehmen ihren Ausgang
in der Regel von den Meningen, dem Periost und den Knochen des
Schädels. Bei den von den Hirnhäuten ausgehenden Neubildungen
ist zu unterscheiden zwischen solchen der Dura mater und solchen der
Leptomeningen. Erstere sind häufiger und haben ihren Sitz mit Vor¬
liebe in der Gegend des Keilbeins sowie in der Nachbarschaft des vor¬
deren Teils der Falx cerebri; es sind hauptsächlich fibroendotheliale
Geschwülste (Psammome) und in selteneren Fällen Sarkome. Hin¬
sichtlich ihrer Entstehung ist es nicht mit Sicherheit entschieden, ob
sie von den Oberflächenzellen der Dura selbst ihren Ausgang nehmen,
wie Ribbert 2 ) angenommen hatte, oder nach der Ansicht von M. B.
Schmidt 3 ) von den endothelialen Zellen ausgehen, welche physiolo¬
gischerweise teils von den eingewachsenen Pacchionischen Granulationen,
teils als selbständige Zellzapfen von der glatten Oberfläche der Arach-
noidea in das Duragewebe vorgeschoben werden. Auch bei den Neu¬
bildungen der weichen Hirnhäute handelt es sich hauptsächlich um
Endotheliome und Sarkome. Sie haben indes keine besondere Lieb¬
lingslokalisation, teils sind es solitäre größere Tumoren, teils multiple
verschiedener Größen, auch diffus flächenhaft ausgebreitete Geschwülste
wurden beobachtet [ Haeger 4 )]. Man leitet sie, obwohl ein sicherer
histogenetischer Nachweis nur selten gelingt, von den Endothelien der
weichen Hirnhäute und dem Bindegewebsapparat ihrer Gefäße ab.
Hinsichtlich ihres Ausgangspunktes wären sie also, wenn die M. B.
Schmidt sehe Auffassung zu Recht besteht, gegenüber den Duratumoren
nicht scharf abgrenzbar.
l ) Die Fertigstellung der Arbeit wurde mit Unterstützung der Rockefeller-
stiftung ermöglicht, wofür auch an dieser Stelle herzlichst gedankt sei.
*) Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. *00. 1910.
8 ) Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 179. 1902.
4 ) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 30. 1911.
E. Levinger: Ein solider Tumor der weichen Hirnhäute. 775
Auch zwischen den Endotheliomen und den sarkomartigen Formen
läßt sich in histogenetischer Beziehung oft keine sichere Unterscheidung
treffen. In diesem Sinne sind Endothelsarkome und Peritheliome
beschrieben worden. In vielen dieser Fälle hat es sich um Tumoren
gehandelt, die vom Gefäßbindegewebe der Meningen ihren Ausgang
nahmen im Sinne der angioblastischen Sarkome Borste. — Vereinzelt
sind auch eigentümliche Kombinationen verschiedenartiger Tumoren
beobachtet worden, die zu den Hirnhäuten in mehr oder weniger inniger
Beziehung standen. So hat Josephy 1 ) die Kombination von Tumoren
der Bindegeweb8gruppe mit Rückbildungserscheinungen und Cysten¬
bildungen beschrieben. Klarfeld 2 ) berichtet über eine Kombination
von Gliom und Endotheliom und deutet auch einen Fall von Comil
und Robin z ) so. Weitere derartige Beobachtungen erwähnt Stro-
meyer 4 ) an Hand eines einschlägigen Falles.
Es soll nun im folgenden ein in diese vielgestaltige Gruppe der Him-
häutetumoren gehöriger Fall beschrieben werden, der im hiesigen
Senkenbergischen Pathologischen Institut zur Sektion kam 5 ) und durch
seine eigenartigen Strukturverhältnisse besonderes Interesse beansprucht
Es handelt sich um eine 49 jährige Ehefrau Luise G., die am 1. VII. 1923
in benommenem Zustand ins hiesige Stadt. Krankenhaus eingeliefert wurde.
Nach Angaben ihrer Angehörigen ist sio seit Mitte März 1923 leidend, klagt seit
dieser Zeit über Kopfschmerzen , hatte öfters Erbrechen und zeitweise Doppelsehen.
Sie schlief sehr viel, auch am Tag. Seit Anfang Juni gab sie unklare Antworten.
In der gleichen Zeit soll eine rechtsseitige Lähmung aufgetreten sein. Die Läh¬
mungserscheinungen haben sich inzwischen weitgehend gebessert.
Ein eingehender neurologischer Befund stand uns leider nicht zur Verfügung.
Bei der Aufnahme fand sich eine Ptosis auf der linken Seite, Verengerung der
rechten Pupille und schwache Reaktion auf Lichteinfall. Leichte Facialisparese
rechts. Deutliche Nackensteifigkeit, Kernig links positiv. Die Patellarsehnen-
reflexe waren beiderseits sehr schwer auslösbar. Kein Babinski.
An den inneren Organen wurde kein krankhafter Befund erhoben. Die Lum¬
balpunktion ergab keine pathologischen Veränderungen.
Am 10. VII. nach rapider Verschlechterung des Allgemeinzustandes Exitus
letalis .
Sektionsprotokoll Nr. 758/1923 (Auszug): Schädeldach durchsichtig, Dura
mäßig gespannt. Im Sinus longitudinalis flüssiges Blut und Speckgerinnsel. Hirn¬
windungen abgeplattet. In der linken Hemisphäre erscheint beim Herauslösen
des Gehirns ein etwa kleinapfeigroßer, rundlicher y derber , auf der Oberfläche glatter
Tumor , der, von der zarten Pia bedeckt, durch eine schmale Spaltzone von der
umgebenden Himsubstanz getrennt ist und nur an einzelnen Stellen durch sehr
leicht lösbare dünne Stränge mit dieser zusammenhängt . Der Tumor sitzt an der
1 ) Zitiert nach Oppenheim , Lehrbuch der Nervenkrankheiten, 7. Aufl.
2 ) Zitiert nach Oppenheim , Lehrbuch der Nervenkrankheiten, 7. Aufl.
3 ) Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 29, 128.
4 ) Zieglers Beiträge 4T. 1910.
6 ) Für die freundliche Überlassung des Materials sowie die gütige Durch¬
sicht der mikroskopischen Präparate bin ich Herrn Prof. B. Fischer zu beson¬
derem Dank verpflichtet.
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XCIII.
50
776
E. Levinger:
Grenze von Scheitel - und Hinter hauptslappen in deren unterster Hälfte. Die Ge¬
schwulst selbst besteht auf einem Frontalschnitt aus einem derben , weiß-rötlichen
Grundgetvebe, in welchem ausgedehnte gelbe Herde liegen. Die Marksubstanz der
linken Hemisphäre ist auffallend breit und weich. Die Pia ist mit der Oberfläche
der Geschwulst locker verwachsen. Der Tumor läßt sich aus der Himsubstanz , die
er muldenförmig eingedellt hat, sehr leicht herausschälen. Die Mulde besitzt eine
größte Längen- und Tiefenausdehnung von 4V 2 cm, eine größte Breite von 3 cm.
Von den übrigen Befunden außerhalb des Zentralnervensystems sind hervor¬
zuheben: Multiple kleine Käseherde und eitrige Bronchitis des rechten Ober¬
lappens. Vereinzelte Tuberkel des linken Unterlappens. Heller sehe Knötchen
beider Lungen. Verwachsungen im kleinen Becken mit Dislozierung des Uterus.
Aus dem Muttermund ragt ein haselnußgroßer , durchbluteter , nekrotischer Schleim¬
hautpolyp hervor. Flache hochsitzende Rectumgeschwüre. Fettleber mäßigen
Grades.
Die mikroskopische Untersuchung , für die Schnitte aus den verschiedensten
Stellen des Tumors herangezogen wurden, hat folgenden Befund ergeben: Wie
schon makroskopisch zu erwarten war, bestätigt sich hier die strenge Scheidung
zwischen Tumorgewebe und umgebender Hirnsubstanz (Van-Gieson- und Hämat-
oxylin-Eosinfärbung). Auch die den Tumor bedeckende Pia ist vollkommen frei
von Geschwulstzellen und zeigt keine wesentliche Vermehrung ihrer normalen Zell¬
bestandteile. Wo zwischen Tumor und Umgebung scheinbar ein Zusammenhang
besteht, spricht das unvermittelte Nebeneinander von außerordentlichem ZeUreich-
tum in den Randpartien des Tumors und dem gewöhnlichen Bild der Hirnsubstanz
für die Unabhängigkeit der beiden Gewebsstrukturen. Eine gliöse Randreaktion
der Hirnsubstanz ist nicht vorhanden. Auffallend ist es, daß trotz der stattgehabten
starken Druckwirkung auf die angrenzende Hirnsubstanz deren Zellelemente relativ
gut erhalten sind und auch im Fettpräparat nirgends deutliche degenerative oder
proliferative Prozesse erkennen lassen.
Innerhalb des Tumors unterscheiden wir zellreiche (s. Abb. 1) und zellärmere
Partien, die an den verschiedensten Stellen unvermittelt ineinander übergehen,
wobei jedoch die zellreicheren Bezirke vorherrschen. In den zellärmeren Teilen
bildet faseriges Bildegewebe , in Bündeln verschieden dicken Kalibers angeordnet,
den Hauptbestandteil und schiebt sich an den Übergangsstellen zu den zahlreichen
Partien septenartig zwischen deren Zellelemente ein. In einem Bezirk findet man
ein ausgedehntes locker angeordnetes Netz von sich in den verschiedensten Rich¬
tungen durch flechtenden Fibrinstreifen als Ausdruck eines weit fortgeschrittenen
Erweichungsprozesses. Ferner ist eine ausgedehnte Nekrose vorhanden, in der
sich keine besondere Struktur mehr erkennen läßt. Sie enthält zahlreiche Zell¬
trümmer und ist von multiplen kleinen und größeren Blutungsherden durchsetzt.
Die Gefäßversorgung ist in den einzelnen Bezirken verschieden stark ausgebildet.
An einer Stelle liegen eine Reihe von kleinkal ihrigen, prall angefüUten Gefäßen
besonders dicht zusammen und sind nur durch schmale Bindegewebssepten von¬
einander getrennt (ca. 30 Gefäßlumina im Gesichtsfeld). Größere Gefäße sind
innerhalb des Tumors nur ganz vereinzelt vorhanden. Eine Unterscheidung
zwischen Arterien und Venen gelingt nur selten. Proliferative Prozesse gelangen
an keinem der Gefäße zur Beobachtung.
Die zeitigen Bestandteile des Tumorgewebes besitzen verschiedenartige Formen
und befinden sich in verschieden weit fortgeschrittenen Enhncklungsphasen. Ein
Protoplasmaleib ist bei den meisten Zellen nicht deutlich abgrenzbar, man hat mehr
den Eindruck eines strukturlosen, im Gieson-Bild matt rosa glänzenden Unter¬
grundes. Tm Gegensatz hierzu treten die Einzelheiten der Kern Strukturen besonders
Idar hervor. Es finden sieh einmal längliche spindelige schmale Kerne , die in ein-
Eitt sofiaer Tunror dersreidj.*vt I ÜnYJdiulfe mit eu^^irlj^jfßk^eax(dIhifijtiri^i 777
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yr&izi weh tjemn (He Vw^hung besonders \m ihn eäriz großen Ey^iiiplarc*« yirl ab,
fahrend er heb ttrläeröh in sr-inoji -äußftrtHi Konturen vifcdOr OR bucli recht an<fcut-
Hök'nlU 1 ;,:- v *
|5csnnd^ri? ' intgrrotfaiit eintJ die K crn '•iler ■ Hiesenzdlan d*L Abb.^
nmi'M . - . \ • *
Ö*r A'tfm ffithmt br-i spiuOr n&txt tmt&OvObididn^, (#ro(3e fa#t *He- *ytyrx ZHk
«■in und man kann nicht von fmi-r b.^iKidonn* U^eru ri^finnerhalb dös ProtQpksHvj-
^»roetmse. I ~w: Zn hi <kr Kerne .pn in ihn eiu/Hn*-rt 2»*!U>ri madiwl*«.- r* kcuntntft
i fptf‘ 3 • & fäfiiüi /xisg ’.//Agrfe><5fe.Innerhhib
finden iicb off&r*gut : ’pö^ *ehf imfrityn-}
M>h. ± füeafenael tuest iis etuer Pan i« tte.* Ttuxmrs. Verschieden-
heit rt« Orf>üc» tfnd Fomi df*r d»ixiv tsvhefi Klein« Zdl-
tdeiupfifre Hi nrirejseimÄBjger Verteilung. MikrG]d\oto<iTatnm mit
LelttrUUjeknti* und Leitt-Prujektioriaokular. Pa. J&fttetie Vergr.
KrriiU'rprrc.hi ?< • ; JJic iVimrmihtHuManz bildet in fMir/ebu n Ztdlen >mr «nkiigfc
große Idmu pive SxlttiiJe, zumeist ist sie jndopb ganz uö^lgijt'Hh^ß^ : 0rieQ& lujd hi
temint ?M allen mw liehen Figuren, deren Bcziekimgen 7.u
tm Kumdfall itiVdii. mu biiii'li sind. .. Tijpj*cM* Kerntrfwriföf^ren sind n&kt- .m\
hu'"Irn-. .Autfmhm faulen äieli inneriinib vieler Rhsrui kerne hiiunirau *chnn
»nernde, fjqfjfify Hie r lttvannfi»wif )!t:utfirht.r Nnnfui abfjeyrrnzH hläsrfuH -
förmige. Oytiihk:. Oft -inehyeryib : i&A<tKthtzntf istiifUr inner
bnU* eines Kerne* v.K?f ütyJ ih&cbfip ••(iVien >e 1 d'.Hr n ’lrit nuv. l>nve I nivohu ($.. Abb
e und 4.J; vbe» b*-;niu-i,. Ffd^> -ruiex*. Hr^lefiei^^b^niungen der sieh in deu
i> .«^iidi ioiUrbreitenden d^-neratnen Pro/^v
1 kr lYnkhfr-Jpri^bk tirk besteh l $<u* «Inn .bereits gfts'.^Wexfim
Weinrjr r) Rand - rWO die tdefneii kömn^U* mA mebik-h
Vtfhtrt'en. I7ip • (f- ewiteHhtrtvzxrfc nur -mhr'yf0^
(n"h. /VF ... f. ■ „ §u n-■• • /'/.• \-i«T .ulmii !wn K< vir-truktnret). über
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>’"•'•i? v SvVl‘’' v V 1
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Ein solider Tumor »Jet weichen Mim häufe mit eigenartiger RiesenzellhihiuDg.
*shit* 1 (rhtpknbihfyvf?* höcieti sich m^inaelt m ttmieren Parliert de* 2'uT*iw*izv?& :
sehen den JFttitfci 1 und $pmdeizell<?n xersstrent.
1 )ie Mi&Mt&tilw beritten aW tine ßeihe 'von EtgeiUmnliehkeiten : Ihr gehäuftüt''
Vtrrh/tnn^n Aich na) einen mg umgrenzten: Bezirk* sie YTttfirhen '-:0pe
g*mz mgwtfknffchz- beajtecä «inen deutlich yefärbtm Pn^jdf^muhib, Herr.
bei lieh •;«Ti>iJere« Formen enw tcharfe Kontur gegenüber der Umgebung 'erkennen
tatfN ’lMr deutlich • differenzierte Kern nimmt den Ihutpileil der Zette ein, i)H sind
fti&Krere <$eme rmhm(den^ Die nureijehßfifjig verteilte ( 'hromtHuvxb'&lara bildet die
eerjr/nsdtnQtt'Te Figuren* ohne daß typiaohe Korntei|ungsii^uren v orhanden, wnr>n,
•^•V^jireren. -aieji' innrrhtüli des Kerm E akuolenbildu\igen\
Die Einojrduung der Ntuiliildwng mtox tVw vtmnhicdwMfn- patholo-
gis^'h anatoiiHsdicn Gattungen kt mit ^obwürrigk^uei» verbunden. Da-
clt^Jreh, *<fe? Tumor Ikideiner VölumcnsunaiHm’ nur eine Verdrängung
a M>. a Fettviiri^jlung umsrhaib äöä ’Protovbwtttfsi t*il* in fcl.omjiiätfr
reib ?n itfinkörtäjzet Vom« Epit/hum*# uot 7,tt\K* Oh), ß. <m«j L)A£zd)Maf&
der uingebemlon Hirn^uhstan/. in Form einer uuiiderv{c>rmigon Ein*
civliuog bat und ?ich mit Leiohtigkoit heruusschalen ItHlL
unter«c*heidet er sich H<:höTj makroskopisch von eint m nor\ »vam Tumor,
der im ;alJgtuneir«eri infolge seine* infiltrierenden’ VGudi»d um* fester
mit «lern Hirrigenet>e zu^arormmhnMgt. Auch ulfe, inikrokkupkclie
Bild sprich t duwHu» für -snimo? - Aus
dem ZeHieiebtuifn der Neigung zu Nekrosen und Biufungen können,
in dieser•■Beziehung allerdings keine Fufgerungeu gb’zogm werden,
du derartige.««* Ina. beiden Gattungen, vorkoimiit... Alm die'uff tiseb^ug*
artige Anordnung der *}dmteligeo Zelle!* mente ohne viel Zwischen0
sribstauz, überhaupt die ZtdlfjOiymn.rphie und die Manukfulttgkeir U r
EntvriekIung^jdiasen *o\*.je. das Vorkommen von {iätnnngiomartietn
Biklüvigeift. alt diese Kriterien oriütEsUU/üen
A .ltßli die Rt^en^elbfd'ciurig \inHl in dieses Bild. Ürn JfonxlriglMn* Ihn
kamt es sieh ne-ht In. da bei spfzifpjkher OHof&rbnng jC(jli<he. Au*-
7 «SO $$
läujer- ahä'Fn^frbiUlanq .fohlt .und auch lior£rlfilib nicht rin luteum'*
Färbbarkeit ifu^r Art von flUrnnlif a besitzt. Eine gewiss'- Ähnlich¬
keit besteht mit Klcvin-^Jb'hynrnfcn . wie sie bei Inberoo- Skbrnkr
gefunden werden, tm XmaI- ftifd F hkn ihnwv j^ioch nu» li v!ic i'ifiurab
teristMO ny<- <hrraj?,co-zt.il»>K Mt hvmvcu einen gau& homogenen Prot«.-
täVfttÄw-
•AM*. ,». Eiillgii } ;r»ui>v -mit «lürrJi rnetirfoili«* Vrtlrviö!enb»MiA.Mp omvu’O-
ii<Ätiiw 'v«r£^ ^. tim i'ijöUtf&öcidtilli Unk* ntitrh ßrytbrücyfen :»ns
• >.»i*4• *r*-tv tu* wirjV.bi-«» ZwisH;.:*' ,101 liiosr.Ti^.lt^n klHmr«*v»hhi;-
. <iovy< ♦. ^ b»*t ’tem-VM- K und l^Uz-UMar £.
bhue ^nclimtMKg von, im Bitlxchomiil-
-\n ssn» iftic jcylic/ic Fihrill^nbild/mjf /rreoWtt Von den in
}’>■' <.<• >, , ;.’ v..H.-»mne iubm Kw^eazelien. iint.erscbnikh’n sie sich
4vbn;*gr-f; '.durch,- i\Uv tmoimm J^nhM i<1h dufreh die nyujklchrteaßi^*
I -••■•'•• -*.•.•/ ult? A n Ihrer fari!$r*iklUMn
Kino auibbhn d- f iwremsiiimminir besitzen nie ijlhödmg* mH
Hit ye>:ci ft&täFi/tfrfk. wib sie in ibiiliijvct* . £ r /rrw^/gWt^^f ;-bi^i^ri^bßii
Morden [Fdirifuhr 1 ), Ith<>iriMe ?*.>-}. Bf'rreifUr*)\. Gerade tuet worden
•airtrb V>kuö! wBildungen ItfxdmchteG Wir wurden im Anfang
ummehr auf diese yemmtnrigInngelenKt, al* sieh ln?i der Sektion
ein \ fand* leider, weil er außeriieh nichts Auf-
toUigvfs lad, nicht mikroskopiseuntersucht Worden ist; JE* ist jeilneh
nii'kl Hf.yzhth\hnn':tt % daß es sieb \m vorlieizenden Fall Hwrrim "ine Mtin-
tp.i, Of’hirn gehandelt hat, da Hir^Anr. Mitii'fffriiäi üp>[.
kk‘i$*Jrtei Anhilt^jmhkf branden hatVe phd im iibrigrn
gefadi? Vrok fAfrMtfjtty'btm nach der' 'imt '
•V.H1». ö. Kjiiiptf 'f>*:sooilji*jw «roß»* ßomuHAtv**-
Pf«lii»>tt?»wfir[<hi; ii^lÜiVh j i ifhrtw* iGU t K i *iük f h kt vtr m^rUehc
V)tk^Qlc;iibutaifbt ifitt ^«?^TriU)lier(6y$iön»
mp '$ ^vitz-iotiHokaür. r*.
Lttf-rayur fciUi> -lohtän \Ul<s*ta*t obMung iM (fcfcffH' ,’bei.*ha«ht«t Wur¬
fe) i«t; K;aMhigl) gibt eryi* ZilsiuiurKE-nsteHuFig : v<it» Al^t-rwtsiait.'rting
i'Vrti Sarkomen ins Zrütraliicrvi wniie! <?r• tTrtrnÄStf fkoine nhei-
huupt nicht erwähnt:
Xfteh Änsschiuß die«*r in fktttweliV .)C«mrtftettdC'ö MfVglfclikeilen
mi«>hten' wir ihn vorJiegritflrn Tumor at cot , iiM>r.i:Uhnlin)t-< Fibra■
j. j . • , t t * ; . . i. • 1 . . . Arf- r v’:‘ * ’lf ‘ •■■t .x : .1 . ’
IWs ; Vorhatuioii.<tof) der
; /VrW A vwv
H Atrh; f, (iyjrmkol. 3 ., ' ■*.■
vyXw'fybw : 4 ,fc{e ; 1 puthoi. An/it.. u.
t v>yü«Jki»l. lOäi. Xi*. &
v » /ÜftUt'liif. •; Krc 0-l<»rsch. 4. Eüftfk
782 E. Levinger: Ein solider Tumor der weichen Hirnhäute.
Riesenzellen, die ihrerseits den Ausdruck eines sich überstürzenden
Zellvermehrungsprozesses darstellen und wohl in der Hauptsache durch
besonders lebhafte Kemvermehrung ohne gleichzeitige Protoplasma¬
teilung entstanden sind, spricht dafür, daß es sich um einen schnell
wachsenden und recht bösartigen Tumor handelt. Auch die übrigen
Zellelemente sind gerade in dem Bezirk, wo die Riesenzellen gehäuft
auf treten, in den verschiedensten Formen und Entwicklungsstadien
vertreten.
Über Einzelheiten hinsichtlich des Ausgangspunktes der vorliegenden
Neubildung können wir uns leider nicht genauer äußern. Da die Pia
trotz leichter Verwachsung mit der Oberfläche keine wesentliche Ver¬
mehrung ihrer normalen Zellelemente zeigt und auch die dort vorhan¬
denen Gefäße nichts Pathologisches bieten, ist kein greifbarer Anhalts¬
punkt dafür gegeben, in welcher Form wir uns den primären Aus¬
gangsherd in der Pia vorzustellen haben. Dieser negative Befund
spricht jedoch nicht gegen die Auffassung eines Tumors der weichen
Hirnhäute, da die Ausgangsstelle sehr wahrscheinlich einen so kleinen
und peripher gelegenen Bezirk darstellt, daß sie sich bei der erreichten
Größenausdehnung des Tumors dem histologischen Nachweis ent¬
ziehen kann.
(Mitteilung der Psych. und Neurologischen Universitätsklinik zu Budapest. —
Vorstand: Prof. Dr. Ernst Emil Moravcsik.)
Beiträge zur Pathohistologie der Encephalitis epidemica.
Von
Dr. Istvän Somogyi,
L Assistent
(Eingegangen am 12 . Juli 1924.)
Im 78. Bd. der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie hatte Prof.
Moravcsik seine Erfahrungen „Über nervöse und psychische Störungen
während der Influenza-Epidemie“ veröffentlicht. Es wird nicht ohne
Interesse sein, über einen chronischen Fall von Encephalitis epidemica
mit besonders schwerem bulbären Symptome, der nach langwierigem
Hinsiechen der Kranken zum Exitus führte, zu berichten, da der klini¬
sche Verlauf und auch der anatomische Befund manche bemerkens¬
werte Momente zeigt, auf welche schon Prof. Moravcsik in seiner Arbeit
hingewiesen hatte.
Die Umstände, wodurch der Fall interessant wird, sind die anfäng¬
lichen psychotischen Symptome, die rasch sich entwickelnde amyo-
statische Symptomengruppe, das rasche Vorschreiten des Leidens, die
Intensität der bulbären Lähmungen, ein Hypophysentumor, welcher
sich durch keine Symptome kundgab, und die ausgeprägte Atrophie
der Leber.
Die in aller Kürze mitgeteilte Krankengeschichte ist wie folgt:
I. K., 40 Jahre alt, Frau eines Maschinenschlossers, wurde am 18. II. 1920
auf die Klinik aufgenommen. Familienanamnese belanglos. Anfangs Januar
1920 hatte sie sich verkältct, wurde fiebernd, hatte 5 Wochen lang über 38° Fieber;
in den ersten Tagen ihrer Erkrankung hatte sie im rechten Arm Schmerzen, welche
an Intensität stets Zunahmen, auch auf den Hals Übergriffen und endlich auch'die
linken Extremitäten in ihr Bereich zogen. Diese Schmerzen dauerten 2 Wochen
lang, während dieser Zeit war die Kranke völlig schlaflos, nur Morphium half
subcutan. Am 4. Tage der Erkrankung begann sie zu delirieren. Verschiedene
Visionen. Gehörs- und Organ-Empfindung-Halluzinationen beunruhigten sie,
geriet in Angstzustände, wurde verworren (ihr Kissen sah sie für ein Kind an,
liebkoste und pflegte es nach Mutterart, in ihrem Manne wähnte sie den Nachbarn,
einen Bekannten zu erblicken. Gestalten erschienen ihr, die sie der Decke entblößten
usw.).
784
I. Somogyi:
Die große Unruhe und Schlaflosigkeit der ersten 4 Wochen wich einem Zu¬
stand der Lethargie. In der 6. Woche subfebril, deliriert nicht und der lethargische
Zustand war auch schon im Schwinden begriffen. Leichte linksseitige Facialis
parese, etwas trägere Reaktion der Pupillen, starker Tremor der Extremitäten,
der Zunge und der Augenlider wurde gefunden. Bei intendierten Bewegungen
steigerte sich der Tremor. Ihre Schrift war infolgedessen fast unlesbar. Alle Re¬
flexe sind sehr lebhaft. Zeitweise Knie- und Fußklonus. Nach einiger Zeit ver¬
schwanden die Bauchdeckenreflexe. Kein Babinsky, kein Oppenheim, kein Gor-
don. Nicht ataktisch, ohne Lähmung, keine Tonusänderung der Muskulatur, kein
Nystagmus.
Sprache langsam, gezogen. Etwas Somnolenz abgerechnet, war sie psychisch
und somatisch symptomenfrei. Die Lethargie, Mattigkeit und das Zittern der
Hände haben aufgehört; wurde am 7. VI. 1920 gebessert entlassen.
Patientin konnte ihre Arbeit zu Hause verrichten und hatte sich 4 Monate
lang sehr gut gefühlt. Allmählich wurde sie aber immer müder und matter. Lag
viel, sprach sehr wenig, wurde verstimmt und deprimiert, ihr Zustand verschlim¬
merte sich schnell. Im Verlaufe von einem Jahre konnte sie nur mit Mühe schlucken,
und seit Herbst 1921 kann sie nur Flüssigkeiten zu sich nehmen. Liegt zumeist.
Speichelfluß.
Wiederaufnahme auf die Klinik am 1. XII. 1921 mit typischem, amyostati-
schem Symptomcnkomplex. Gebeugte Körperhaltung, langsamer, schlarfender
Gang. Tremor der Hände in Ruhezustand. Starrer Gesichtsausdruck, starrer
Blick, Salbengesicht. Bewegungsarmut und Amimie. Sprache kaum vernehmbar,
langgezogen. Gesteigerter Muskeltonus. Sie kommt immer mehr herunter, die
Muskelstarre nimmt immer zu. Liegt im Januar 1922 völlig bewegungslos im
Bett, mit im Ellenbogen und Kniegelenk flektierten Extremitäten. Mund immer
offen, Speichelfluß, kann die Augenlider spontan nicht öffnen und nachdem wir
sie geöffnet haben, selbst, aus eigenem Antriebe nicht schließen. Schlucken sehr
erschwert und langsam; das auf gehustete Sputum kann sie nicht ausleeren und nicht
verschlucken. Patientin erlag einer Schluckpneumonie, die am 17. XI. 1922 mit
40° Fieber begann und bis 22. XI. dauerte.
Das Gehirn wurde 2 Stunden post mortem mit 10% Formol durch die Carotiden
injiziert.
Obduktionsbefund : Die harte Gehirnhaut ist straff gespannt, die Windungen
des Gehirns sind etwas schmäler, die Gefäße der weichen Gehirnhaut sind mittel¬
weit und mäßig mit Blut gefüllt. Im Nucleus lentiformis, im Nucleus caudatus.
im roten Kern sind punktförmige Blutungen und obgenannte Gebiete des Gehirns
haben ein marmorartiges Aussehen und Zeichnung. Der linksseitige Linsenkern
ist atrophisch und geschrumpfter als der rechte. Die Hypophyse ist im ganzen
größer. Im Vorderlappen befindet sich eine keilförmige, fast erbsengroße graue
Masse. — Im Oberlappen der rechten Lunge ein faustgroßer bronchopneumonischer
Herd, im Unterlappen zerstreute Herde. Diffuse Bronchitis. Tuberkulöse Knoten
im Oberlappen der linken Lunge. — Linker Leberlappen atrophisch, parenchyma¬
töse Degeneration der Leber. Stauungsnieren, Oedema glottidis. — Rückenmark
ohne makroskopischen Befund.
Gehirn und Rückenmark wairden sofort in 20% Formol weiter fixiert.
Das histologische Bild beherrschten die Zeichen einer schweren
Entzündung. Auf einem großen Gebiete waren die Merkmale sowohl
der akuten, wie der chronischen Entzündung zu sehen.
Schon bei der Sektion fielen in Putamen, Nucleus caudatus, Globus
pallidus viele punktförmige Blutungen auf, ähnlich in der Brücke und
zur ratiiohi-itolMSfit) der EiiCH|>hr»iM!s epidemica.
\m verlängerte) Mark, in we'lelv. letzterem sie die Aloliiiken?
grölie ermehtffi v
Bei der nltkrOskopl^her». ITtiter^iehuiig der war . -
ähnlich wie. bei anderer» iitiKohe-n oder infektiöseii Erkran
kunö#i 4=: die breite und veirkailcte Modi# am auffallendstei». Di«
Wueiierunu d« - KiidktfhcK ’o!d. u- «'and! ovo vrar» n in der agitier«
;$üb$i<HiR Die watet mit.'•'e Wr.{ft httltigt'-rri
Pigrmni behldetf ! '«»*>. )). j ii« r^'fd!,k‘ Vvan ti udl HhYr, resp ;
ndl bnintirn j&Mknrperebwv ^Udhoovrist' kaveed durch itibspehen
der f(etäi;*v\a»uie makro- and mikroskopische Hteihhj teigen ’u.-teuie
An viele?!, te ilen c»ren di** minlervn und kleinen tepdlatei rhr^m-
bot I dert
kknnoti, aber und) der großen (Xipiliared rnndaotlige. >tn-r uod ijavauch
j)l;wrn«y.o(lige 1ii{iltr;tfion*’tj *« sehe« (Abts. 2i Du st, uj. ; - iidmhaupt.
«amtliche pathdlngLselie Vefftivlerungeti Aren hbch/sten 'Grad
in den großen Ganglien.
I)h* Nmenxgllert ifif?r (ifdÜliirnrij>f.lo erli(^i 1 '^m-Jhfatehe *hsgt«riera-
♦ ivt* N’erämierujigf'ii, Chrom» tdiya*v Gmioläh* AMfl’Udrtnijj, .Sttimw*-
phagie (AMi. {»iese degem“ndm; Iftdrgange •wägten ehre ziemlich
tfdlf? :ei"i.-it!Vt uik i betrafen nicht mir die >dtnijuMirimk;, sondern —
Nt t» Siniiiin i/i-r bereit» hettidil'fcb Niie l'ftt'kinjeseß.: .Jjtrileti
dt:*, Kii inhun* luni deren F’nrtaidäc. Airä>^^p^V*ö.%ar<-<o'die Spilwit
der Klduiurnlajtpe'heH de. Kittertnng, der l^>tönj>.:;st:1ieii
Zellt n v*ir iuu ij ’i;ij,(
eie!’ NrMm.'gHa war $$$nüfai'
«dtlK-deVitintMirg; .ipr^prtklhiWtl (5rt>|ihi|Dngit^fliofi
e-: »iIV !*.<•„.,1 I*ei,-. t '.jctMrnMnr gut erkrimbtir- wahrend w de
tapsiil« siiterdaV w«gke und OhWigKti» '#'»V fecngt Struktur demi-
s• o r not ti- e :‘Iüui,im heu Pro?,e]i der Xnrhenbildung veruvist-ml.
m ZejiM-if,. .,ie] tdem. t.viiie!i oeti dunkel. sind pigmemiert. von d'-n
zur fler Bmy-jiiaiU ß, -qiijj&rjiica
firujv^en vier Meinen RmidseOeu laden j^rivw^ulärc^. Raumen kaum
Äiä/ ptrlcmehuurar^
Alle die*'* VenirajenJngen &üx der Literatur der ßn.o* ph>ddu
bereit* bekannt, unser Fall wird dadurch hervor^efi^beti, dali die
von den einndiKüi Forschern l)cschriid>cnen VVrii»<lvrungtu> ulk* hri :
lammen und da sehr hohem Grade fch finden waren, Durch die Vorge-
• Airtijihfc'-.'der Stanimgaoglk/u wird die ra&ctie Pfogwsiojr
der ■ amjn.>?da.ifectficti ^ynippüiiiu’jgnippf. 4 , durch die <zatih'rdohe» B4u-
tiingen in; ifyf, jf>hk>r\ga.t4'’,dtnd; • d^r. . • Vvfnwij£iM£ die )u*l-
Liuvn HyvupOdn# erklärbar. hi weiterem Verlauf unyerfcr Guter*
ÄUchuii|icu hatMO-^h fuslier mV-ht däerkwürdi^c. j>alIm
• ;V^randerh'niretv fo^trlWiv Ussen. An ndt Toluklin und
Methyhmhliiügefärbten.A’^SjM'mi^jii fanden sich irr,dcr .weiÖaiv ^drslanz;
bt^cmdcr^ der Groid)irn<jkngJien, da* Prunkeund OMongiyiik dicht
.3fcörHi;rc!U'ti von versehk/den^r'
I. hxjinv»^ r yi:
Ksami wamm- . : *;
BpHR^->flWvvAixv2tT%> i* k >W»
ww*r* * ^ ■ ■■*** ‘ • * '•■ •
ty«i$3a8B$v ' i ;ÜM
w
v ** • .»/.•*.••■ » ' # .■*•' ■. + + : * •;> Ji ~ c # *' .*„‘v\ '■*.•• •: .• %y « J: **/ v* • > | ■ :!•. *. ■ *T v S’ ‘ ». ^ %•. • /*> • v,v V. yc* ft • * ..* -
■ •• • . .Vf-,» • ; •
Iteiti'flgre zur )'iw.ilii&f : «&)u|^’o der iilucoyLaiitis epideuuV^ 78 b
in der Brücke nnd - Oblong« ta - nnt ünittaJen fVttkJkiHhen
Udaden xnid, welche rnnkti Teil der ^ruamden JföÜra als punktformigr
ikfyv -grfitifciw (dwnuLa vollständig aU$füJi?.fV- Neben dein neutralen Krü
die i «nnulioi)^e{}en »lrr^lbe# l^jaimreinonen Atoeh »H~
sjämvkurhehep, tde Wand de* £. WntnkeL> ist mit ^hV/ fernen Frtt-
v, ehrend die Kpi^elzelten mit ihrem.' mehr
kurn-c*ben beschjeiert
mtöm
yrobko* nmrn und. dudd-er :Z«'tMnmT.n'n Itibnli au Sdh arte eh f Ha] ü\ rat et»
in Form itfHe* hrrijen roten »Saume* dir Vwurikrbv ,«rA iila*rvvieh< n.
Dir rapilUnrm- .-.ied von uHlien Schollen h‘*uH'»ter umringt,
tuifVrdein befinde <w\\ in der Ad v'> 5 » h in in fehe* Sr.inb<*beu ‘/erteilte
Ibr »-rv\,i|-iv n % fn hmr‘i v^-drr Scharte.* h mV h Niildvir» anf.
Ihrer Afiord'oeej u|j | rm-.f nl;»t|«)*j-b:d»vYV y«ybäHpi**«*i\ UViU. erinnern
->e ii III di ( ;,,M ; d-^i’jw.{-'|.nr hi > tn-e.» Anf-aU Jfirjth'* n, •'{},-•
‘IvW.OiV
790 I» Somogyi: Beiträge zur Pathohistologie der Encephalitis epidemica.
,,Beiträge zur pathologischen Anatomie der Chorea minor“ (Ungar.
Med. Archiv 1902) wurden mikroskopische Abbildungen der Chorea¬
körperchen veröffentlicht, welche den oben beschriebenen Gebilden
sehr ähnlich sind, jedoch von mattblauer Farbe, während unsere-hellrot
waren. In Betreff der Lokalisation, resp. des Vorkommens in den
verschiedenen Gehirngebieten stimmen die beiden fast vollkommen
überein, nur daß sie von Hudovernig im Kleinhirn nicht beobachtet
wurden. Genannter Autor gibt in seinem Aufsatz der Auffassung
Ausdruck, die von ihm gefundenen Gebilde seien kolloidaler Natur.
Meinerseits halte ich die von uns beschriebenen Körperchen nichts
weniger für kolloidartige Massen. Die toxischen Hergänge, welche
schwere Entzündung und Entartung nach sich zogen und zu einem
weitverbreiteten, fettigen Zerfall führten, hatten auch derartige bio¬
chemische Umwandlungen verursacht, die in den Großhirnganglien,
in der Brücke, Oblongata und im Kleinhirn einen kolloidartigen, in
Schollen zerstreuten Stoff hinterließen.
In Kürze sei noch zusammenfassend folgendes erwähnt:
1. Entsprechend der Schwere der klinischen Erscheinungen fanden
sich in unserem Falle schwere pathohistologische Veränderungen.
2. Diese Veränderungen sind teils entzündlicher, teils degenerativer
Natur, teils sind sie Zerfallungsprodukte.
3. Am meisten hatten sich die Großhimganglien, die Brücke, das
verlängerte Mark und Kleinhirn verändert. Diese waren der Sitz der
fettigen Entartung, und die Anhäufungsstätte gewisser kolloidartigen
Stoffen.
Zur Frage der akuten Ammonshornveränderungen nach
epileptischen Anfällen.
Erwiderung auf die Ausführungen des Herrn W. Weimann in Bd. 90
dieser Zeitschrift.
Von
Heinrich Kogerer (Wien).
(Eingegangen am 17. Juni 1924.)
Auf Grund seiner eigenen Erfahrungen lehnt Herr Weimann den
von mir behaupteten Zusammenhang der akuten Ammonshorn Verän¬
derung mit epileptischen Anfällen ab: Erstens, weil Verfettung der
Pyramidenzellen des Ammonshornes nach seiner Ansicht normaler¬
weise in demselben Grade wie in den von mir beschriebenen Fällen
vorkommt, zweitens, weil „bei toxischen Prozessen mit diffusen Zell¬
veränderungen in der Hirnrinde . . . das Ammonshorn fast regelmäßig
am stärksten betroffen ist“. Die Lipophilie der Pyramidenzellen des
Ammonshornes und das häufige Vorkommen stärkerer Verfettung der¬
selben im höheren Alter sind allgemein bekannt und wurden auch von
mir berücksichtigt. Der von Herrn Weimann erwähnte 20jährige
Hingerichtete stellt in dieser Beziehung eine Novum dar. (Auch gibt
Herr Weimann nicht an, in welcher Weise der Genannte getötet wurde,
und ob an seinem Gehirn noch andere Veränderungen gefunden wor¬
den sind.) Die Ansicht des Herrn Weimann , daß toxische Schädigungen
der Hirnrinde am Ammonshorn regelmäßig am stärksten ausgeprägt
sind, begründet er mit Ergebnissen eigener Untersuchungen, die jedoch
mit den Erfahrungen anderer nicht übereinstimmen. Wenn auch
keineswegs bestritten werden kann, daß das Ammonshorn ebenso wie
krampferregenden auch anderen Schädlichkeiten gegenüber einen Locus
minoris resistentiae abgeben mag, so ließe sich doch die Tatsache, daß
in der Literatur eine große Zahl von akuten diffusen Rindenschä¬
digungen ohne besondere Bevorzugung des Ammonshornes beschrieben
ist, schwerlich mit dem Ein wand abtun, daß in allen diesen Fällen die
Ammonshörner nicht untersucht wurden. Außerdem kann man meiner
Z. f. cl. g. Ncur. u. Paych. XCIU.
51
792 H. Kogerer: Zur Frage der akuten A in onshorn Veränderungen.
Meinung nach nicht über die Tatsache hinweggehen, daß in den beiden
Fällen meiner 2. Mitteilung die Veränderungen im Ammonshom auf¬
fallend scharf abgegrenzt sind, während die übrigen Teile des Archi-
palliums kein Überwiegen der Veränderungen gegenüber den phylo¬
genetisch jüngeren Teilen der Rinde zeigen. Die Frage, ob zwischen
krampferregenden Ursachen und akuter Ammonshoraerkrankung ein
Zusammenhang bestehe, scheint mir auch durch die Ausführungen
des Herrn Weimann noch nicht endgültig beantwortet und wird noch
Gegenstand weiterer Untersuchungen sein müssen.
Bemerkungen
zu verstehender Erwiderung des Herrn Kogerer aut meine
Arbeit „Zur Frage der akuten Ammonshornveränderungen
nach epileptischen Anfällen“ (diese Zeitschr. Bd. 90).
Von
W. Weimann (Berlin).
(Eingegangen am 30 . Juni 1924.)
Von Herrn Kogerer werden, wie ich aus seiner vorstehenden Erwi¬
derung ersehe, meine Untersuchungsergebnisse, die gegen einen Zu¬
sammenhang der Ammonshomverfettung mit epileptischen Anfällen
sprechen, aus verschiedenen Gründen nicht anerkannt. Ich möchte
dazu im folgenden noch einmal kurz Stellung nehmen.
Das Vorkommen größerer Lipoidmengen in den Pyramidenzellen
des Ammonshomes bei einem 20jährigen Hingerichteten, wie es Herr
Prof. Spielmeyer beobachtet hat, hält Herr Kogerer für ein Novum
und meint, daß dieser Befund möglicherweise durch andere krank¬
hafte Vorgänge im Gehirn dieses Menschen zu erklären ist. Wie mir
Herr Prof. Spielmeyer mitgeteilt hat, ist der Mann durch Herzschuß
getötet worden. Die Sektion wurde unmittelbar darauf gemacht und
das Gehirn nach den üblichen Vorschriften eingelegt. Herr Prof.
Spielmeyer hat in dem Gehirn nirgends krankhafte Veränderungen
gefunden, die den Lipoidgehalt der Pyramidenzellen im Ammonshom
erklären könnten. Im übrigen ist die Tatsache, daß die Ganglienzellen
im schmalen Pyramidenband des Ammonshomes schon bei Jugend¬
lichen lipoidhaltig gefunden werden, kein Novum, sondern längst
bekannt. Der Fall hier wurde von mir lediglich deswegen besonders
angeführt, weil die Untersuchungsbedingungen selten günstig waren
und krankhafte Himprozesse irgendwelcher Art mit Sicherheit ausge¬
schlossen werden konnten. Außerdem war der Lipoidgehalt des schma¬
len Pyramidenbandes dort besonders deutlich und bot, wie erwähnt,
auch in der verhältnismäßig scharfen Abgrenzung gegen das Subiculum
ein Bild dar, das völlig der Abbildung entsprach, die Herr Kogerer
seiner zweiten Arbeit beigegeben hat.
Wenn Herr Kogerer glaubt, daß meine Untersuchungsbefunde,
51*
794 W. Weimann: Bemerkungen zu vorstehender Erwiderung des Herrn Kogerer
die gezeigt haben, daß toxische Schädigungen der Hirnrinde, besonders
Verfettungsprozesse an den Ganglienzellen, fast regelmäßig im Ammons¬
horn am stärksten ausgeprägt sind, nicht mit den Erfahrungen anderer
übereinstimmen, so ist das ein Irrtum. Ich möchte zuerst, wie ich das
übrigens schon in einer Anmerkung zu meiner Arbeit getan habe,
die aber scheinbar Herrn Kogerer entgangen ist, auf die Befunde von
Josephy (diese Ztschr., 86) hinweisen. Er konnte an seinem wirklich
sehr großen Material ganz in Übereinstimmung mit meinen Ergebnissen
nach weisen, daß das Ammonshorn bei Verfettungsprozessen in der Gro߬
hirnrinde nicht nur bei Psychosen, sondern auch bei Geistesgesunden,
an körperlichen Krankheiten, vor allem TvberhuXose Verstorbenen auf¬
fallend oft besonders intensiv betroffen ist. Ferner fand Klarfeld (diese
Ztschr., 77), worauf ich ebenfalls schon hingewiesen habe, daß das Am-
monshom auch für die diffusen Rindenschädigungen im Verlauf der
Encephalitis epidemica, die ja auch vor allem mit einer Verfettung
der Rindenzellen einhergehen, ,,besondere empfindlich ist und vorzugs¬
weise erkrankt“. Er schreibt dann wörtlich: ,,Bei vergleichender
Untersuchung habe ich auch bei vielen anderen Erkrankungen nicht-
infektiöser Natur die Pyramidenzellen des Ammonhornes leichter oder
schwerer verändert gefunden. So in Fällen von Alkoholdelir und
chronischem Alkoholismus, Basedow, Dementia praecox, depressivem
Stupor, klimakterischen Psychosen. Zum Teil waren die Veränderungen
schon im Toluidinblaupräparat erkennbar, in anderen Fällen im Schar¬
lachrotpräparat.“ Diese Befunde sind meines Erachtens durchaus
überzeugend und stützen in jeder Beziehung meine Ergebnisse. Wenn
in der Literatur auch Fälle beschrieben sind, wo eine besondere Bevor¬
zugung des Ammonshornes nicht erwähnt wird, so hängt das meiner
Ansicht nach erstens damit zusammen, daß erst in neuerer Zeit mehr
auf die besondere Empfindlichkeit des Ammonshornes bei diffusen
Rindenerkrankungen geachtet wird. Zweitens gibt es unzweifelhaft
Hirnprozesse diffuser Art auf toxischer Basis, wo nicht das Ammons¬
horn, sondern andere Hirngegenden am stärksten betroffen smd. Es
ist das durch verschiedene Momente, vor allem die besondere elektive
Wirkung mancher toxischer Schädigungen auf bestimmte Hirnzentren
zu erklären. Keiner wird aber auf Grund solcher Ausnahmen gegen¬
über den vielen Fällen, wo das Ammonshorn von dem Prozeß bevorzugt
wird, bestreiten, daß es einen Locus minoris resistentiae für solche Schä¬
digungen daretellt. Wie schon von Spielmeyer (diese Ztschr., 54)
vor längerer Zeit betont ist, erkrankt das Ammonshorn auch bei der
Paralyse besondere schwer. Man sieht aber hin und wieder Fälle,
wo es von dem paralytischen Prozeß auffällig verschont bleibt. Ich
glaube jedoch, es wird niemand deshalb leugnen wollen, daß das Am¬
monshorn für den paralytischen Prozeß besondere empfindlich ist.
auf meine Arbeit .,Zur Frage der akuten Ammonshorn Veränderungen ' 4 usw. 795
Bei einer ganzen Reihe neuer Fälle diffuser Rindenschädigungen
habe ich immer wieder die Verfettung der Ganglienzellen im schmalen
Pyramidenband des Ammonshornes am stärksten ausgeprägt gefunden.
Es ist dies, wie oben erwähnt, auch von anderen Autoren an einem
recht großen Material bestätigt worden. Auch die verhältnismäßig
scharfe Abgrenzung dieser Verfettungszone im schmalen Pyramiden¬
band gegen das Subiculum habe ich öfter mehr oder weniger deutlich
gesehen und kann ihr keine Bedeutung beimessen. Diese Befunde
beweisen meines Erachtens einwandfrei, daß ein Zusammenhang zwi¬
schen der Pyramidenzellenverfettung im Aramonshom und epilep¬
tischen Anfällen nicht angenommen werden kann, besonders nicht
bei solchen Fällen, wie sie Herr Kogerer erwähnt, wo die degenerativen
Verfettungsprozesse im Cortex so einfach und völlig zwanglos durch
den übrigen Sektionsbefund erklärt werden. Darin stimme ich natür¬
lich Herrn Kogerer vollkommen zu, daß über den Zusammenhang und
vor allem die Bedeutung andersartiger akuter Ammonshomverände-
rungen als Symptom und diagnostisches Merkmal bei epileptischen
Anfällen noch weitere Untersuchungen Klarheit schaffen müssen.
Berichtigung.
ln der Arbeit von Joseph */, Bd. 93, H. 1/2 gehört die Fußnote auf
Seite 80 zu Zeile 21, nicht zu Zeile 34.
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