Skip to main content

Full text of "Zeitschrift für Medizinal-beamte 1.1888"

See other formats













THE 

GEORGE-BURGESS MAGRATH 
LIBRARY 

OF- LEGAL MEDICINE 

FOUNDED IN HIS HONOR 

1933 




Harvard Medical Library 
in the Francis A.Countway 
Library of Medicine - Boston 


VERITATEM PERMEDIClfJAM QJJ/ERAMUS 


Jeu tu uciuiaujr 















































ZEITSCHRIFT 

für 

MEDICINAL-BEAMTE. 

Herausgegeben 


Dr. H. Mittenzweig Dr. Otto Rapmund 

Gerichtl. Stadtphysicus in Berlin. Reg.- und Med.-Rath in Aurich 

Dr. Wilh. Sander 

Med.-Rath und Director der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


1888 . 



Berlin NW. 

FISCHER’S MEDIC. BUCHHANDLUNG 

H. Kornfeld. 



HARVARD MEDICAL SCHCDL 
LIBRARY QF LEGAL MEDICINE 



Inhalt. 


Original • Mitthellnngen. 

Seite 

Bericht, vorläufiger, über die VI. Hauptversammlung am 26. und 27. 

September im hygienischen Institut in Berlin.289 

Binner, Dr., Ein Fall von Selbstmord durch Erwürgen ...... 364 

Blokusewski, Dr., Die Betheiligung der Preussischen Medicinalbeam- 

ten auf dem Gebiete der Schulhygiene.241 

Blumenstock, Prof. Dr. L., Tod auf den Schienen, oder durch Ein¬ 
klemmen des Halses zwischen Thür und Pfosten.321 

Entmündigung, Zur Gesetzgebung über, wegen Geisteskrankheit 257, 309 

Falk, Prof. Dr., Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung von Kunst¬ 
fehlern . 3 

Freyer, Dr. M , lieber arachnoideales Emphysem. 14 

Härsu, M. M., Zur sexuellen Psychopathie.169 

Hauptversammlungen, die, des Preuss. Medicinalbcamtenvereins . 205 

Hofmann, Prof. Dr. E. von, Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung von 

Perforationen des Oesophagus nach Verätzungen desselben . 353 

Lim an, Prof. Dr., Beurtheilung einer Schädelfissur an einer ausgegra¬ 
benen Leiche. 112 

Leuffen, Dr., Ueber Einbalsamiren.123 

Mittenzweig, Dr. H., Beschädigungen der Gesundheit durch Einath- 

mung von Giften. 97 

„ „ Die Ministerialverfügung vom 15. September 1887, 

betreffend den zulässigen Genuss des Fleisches 

perlsüchtiger Thiere.23, 42 

„ „ Obductionsbericht über die Todesursache der un¬ 
verehelichten Bertha T. 225 

„ * Ueber das Auftreten kernhaltiger, rother Blut¬ 
körper bei Vergiftung mit Kalium chloricum . 265 

* „ Zur Casuistik des plötzlichen Todes 129, 161, 233, 359 

„ „ Zur Frage der Desinfeetionsapparate . . . . 115, 171 

Rapmund, Med.-R. Dr. 0., Die Apothekenfrage vor der Petitions-Com¬ 
mission des Abgeordnetenhauses.116 

„ , Die diesjährige Verhandlung des Preussischen 

Abgeordnetenhauses über den Medicinaletat . 145 

„ „ Zur Frage der Zwangsimpfung impfpflichtiger 

Kinder.120 

Roquette, Dr., Trichinosis in Inowrazlaw.. 54 

Rosenbaum, Dr. G., Ueber postepileptische Bewusstseinstrübung und 

epileptische Aequivalente.69, 142 

Schmidtmann, Dr., Miesmuschel Vergiftung zu Wilhelmshaven im 

Herbst 1887 .... 19, 49 

Strassmann-Strecker, Bacterien bei der Leichenfäulniss. 65 

Thomsen, Dr. R., Gutachten, betrettend den Geisteszustand des Cand. 

theol. B. aus B. — hereditäre Psychose mit perverser Sexual¬ 
empfindung; Sittlichkeitsverbrechen. 72 

Tacke, Dr., Ueber die von der K. & T.’schen Fabrik ausgehenden Er¬ 
schütterungen, Geräusche und den Rauch bezw. Iluss . . . 


194 


















IV 


Inhalt, 


Seite 

Ungar, Prof. Dr. Emil, Die Bedeutung der Lehre von der Fettembolie 

fiir die gerichtliche Medicin. 33 

Weigmann, Dr. H., Zur Untersuchung und Beurtheilung der Trink- 

wüsser. 84 

Zimmer mann, Dr., Aerztiiche Schulrevision im Reg.-Bez. Düsseldorf 39 


Referate« 

Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffartheischiffen . . 375 

Baer, San.-R. Dr., Medicinalpfuscherei. 91 

Baränski, Prof. Dr. Anton, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau . 28 

Becker, Dr., Anleitung zur Bestimmung der Arbeite- und Erwerbsun¬ 
fähigkeit nach Verletzungen. 29 

Beitrüge zur Beurtheilung des Nutzens der Schutzpockenimpfung nebst 
Mittheilungen über Massregeln zur Beschattung untadeliger 

Thierlymphe.177 

Cohn, Prof. Dr. H. t Die Schularztdebatte auf dem internationalen hy¬ 
gienischen Congresse zu Wien.249 

Engelhorn, Dr. E., Schulgesundheitspflege. 124 

Frey er, Dr. M., Die Ohnmacht bei der Geburt vom gerichtsärztlichen 

Standpunkte. 28 

„ „ Wie ist unser Hebammen wesen rationell zu bessern? . 342 

Friedreisch’s Blätter für gerichtl. Medicin und Sanitätspolizei . . . 275 

Gleitsmann, Dr. E., Die ländlichen Volksschulen des Kreises Zauch- 

Belzig in gesundheitlicher Beziehung.338 

Grandhomme, Dr., Der Kreis Höchst am Main in gesundheitlicher 
und gesundheitspolizeilicher Hinsicht einschliesslich einer ge¬ 
schichtlichen und geologischen Beschreibung desselben ... 176 

Ireland, Dr. W. W., Herrschermacht und Geisteskrankheit .... 343 

Kaltenbach, Prof. Dr. R., Dehnungsstreifen in der Halshaut des Fötus 376 
Kr afft-Ebing, Prof. Dr. R. von, Psychopathia sexualis mit besonderer 

Berücksichtigung der contraren Sexualempfindung .... 376 

Lange, Prof. Dr. C., Ueber Gemüthsbewegungen.377 

Moeli, Dr. C., Ueber irre Verbrecher . . . .. 56 

Martin, Prof. Dr. Aloys, Das Civil-Medicinalweson im Königreich 

Bayern.179 

* Dr. H., Wie kann unsere Frauenwelt bei der nothwendigen 

Reform des Hebammen wesen« helfend eingreifen? 150 

Netolitzky, Dr. Aug., Sanitätspolizeiliche Gutachten.250 

Ortloff, Dr. Hermann, Gerichtlich-medicinische Fälle und Abhand¬ 
lungen .212 

Pal tauf, Dr. Arnold. Ueber den Tod durch Ertrinken.334 

Peiper, Dr. E., Die Schutzimpfung und ihre Ausführung.340 

Pfeiffer, Geh. Med.-li. Dr. L., Die Schutzpockenimpfung.340 

Popoff, Prof. Dr. N. M. f Ueber die Veränderungen im Rückenmarke 

des Menschen nach akuter Arsen Vergiftung.342 

Pridgin Teale, T. M. A., Lebensgefahr im eigenen Hause .... 175 

Quincey, Thomas de, Bekenntnisse eines Opiumessers.343 

Rapmund, Med.-R. Dr. 0., Das Reichsimpfgesotz nebst Ausführungs- 

bestiminungen.340 

Renk, Dr. Fr., Die Luft.152 

Reissner, Dr., Zur Geschichte und Statistik der Menschenblattern und 

der Schufzpockenimpfung im Grosshorzogthum Hessen . . . 339 

Rosenthal, Prof. Dr. I., Vorlesungen über die öffentliche und private 

Gesundheitspflege. 89 

Schmidt-Mühlheim, Dr., Die technischen Grundlagen für den Han¬ 
delsverkehr mit Fleisch von tuberkulösen Thieren.150 

Schulz, Dr. M., Impfung, Impfgeschäft und Inipfteclmik.125 

s o\ka, Prof. Dr. .1., Der Boden.216 























Inhalt. 


V 


Belte 


Wiener, San.-R. Dr. D., Commentar zu den Instructionen für das Ver¬ 
fahren der Aerzte bei den gerichtlichen Untersuchungen 

menschlicher Leichen.249 

Wochenschrift, Wiener klin.. - . 154 

Zaleski, Dr., Vorschlag einer neuen Methode der gerichtlich-chemischen 

Bestimmung des Gelebthabens des Neugeborenen.151 


Kleinere MittheUnngen. 


Beaufsichtigung, ärztliche, der Schulen.206 

Beglaubigung, amtliche, privatärztlicher Atteste.209 

Curse, bacteriologische, für Medicinalbeamte.872 

* hygienische, für Verwaltungs- und Schulbeamte.872 

Desinfection der Schulen. 246 

Desinfectionsordnung für Hebammen.369 

Fleischbeschauer, Atteste und Register derselben als Urkunde . . 174 

Gehalts Verbesserung der Med.-Beamten im Grossh. Baden .... 207 

Geheim- und Heilmittel, Anpreisen derselben. 207, 208 

Homöopath, ist arztähnliche Bezeichnung.247 

Kindespech— Aspiration Neugeborener.878 

Kohlenoxydvergiftung.873 

Kurpfuscherei. 208, 370 

Leichenschauhaus, Statistik des Berliner . 206, 247, 274, 813, 333, 868 

Magnetismus, der, vor Gericht.274 

Morphium, Abgabe desselben ohne ärztliche Anordnung.208 

Nahrungsmittelverfälschung.208 

Nicholson’s Ohrtrommel.370 

Notizen Über die diesjähr. Naturforscher- und Aerzteversammlung zu 

Cöln am Rhein.374 

Pupillarhaut, zur Darstellung derselben.371 

Recepte von Nichtärzten.. . . ^69 

Sitzung, erste, der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinal- 
wesen unter Zuziehung der von den Aerztekammem gewählten 

Vertreter.371 

Stottern. 316 

Tripper, zur gerichtsärztlichen Diagnose des infectiösen.315 

Wöchnerinnen und partus serotinus, über Asyle für dieselben . , . 313 


Verordnungen nnd Verfügungen, 


■ ■ Verzeichniss derjenigen Geheimmittel, welche chemisch 

untersucht worden sind und deren öffentliches An¬ 
kündigen in Berlin verboten wurde. 29 

1887, 28. Decbr. Polizeiverordnung, betreffend Desinfection .... 31 

1888, 10. Jan. Polizei Verordnung, betreffend Verwendung von Schwein¬ 

furter Grün. 62 

„ 14. * Polizei Verordnung, betreffend Zulassung zum Hebam- 

men-Unterricht. 63 

■ " Minister.-Erlass, betreffend Aufnahme von Geisteskran¬ 
ken in Privatheilanstalten. 92 

. .. Circular-Erlass, betreffend Gutachten über Erweiterung 

der ärztlichen Schulrevision.125 


1888, 16. März. Minister.-Verf., betreffend Vermeidung theurer Medi- 
camente und Verbandstoffe bei der ärztlichen Be¬ 
handlung der Gefangenen in den Kgl. Strafanstalten 186 
„ 6. April. Circular-Erlass, betreffend Bestimmungen über die Be¬ 
förderung von Leichen auf Eisenbahnen .... 186 

r 9. r Minister.-Verf., betreffend die gesundheitspolizoiliclien 

Massregeln in den überschwemmten Gebieten , . 154 































VI 


Inhalt. 


1888, 9. April. 

„ 10 . , 

, 10. , 

„ 11 . , 

, 16- . 

, 20 . , 


8. Mai. 


. 9- , 

, 13- , 

, 23. , 

, 24. „ 

, 26. , 

„ 29. , 

, 2. Juni, 


fl 


30. 


fl 


7. Juli 


r 12. 


fl 


, 16 - 


fl 


fl 


21 . 


fl 


„ 8. Septbr. 

A 11. A 

fl U. A 


Polizeiverordnung, betreffend den Betrieb von Mineral¬ 
wasser-Fabriken . 

Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend die 
Untersuchung von Farben, Gespinnsten und Ge¬ 
weben auf Arsen und Zinn. 

Minister.-Erlass über Mitwirkung der Medicinal-Col- 
legien bei den Entscheidungen des Reichs-Ver¬ 
sicherungs-Amte .. 

Circular-Erlass über Construction der Schulbänke . . 
Minister.-Verf., betreffend den Bezug thierischen Impf¬ 
stoffes aus den staatlichen Impfinstituten .... 
Minister.-Verf., betreffend die Zuziehung der Kreis¬ 
physiker behufs Feststellung des Gesundheitszu¬ 
standes der Bevölkerung in den Ueberschwem- 

mungsgebieten. 

Minister.-Verf., betreffend die Austrocknung feuchter 
Bauwerke durch das Verfahren des Architekten 

St. von Kosinski. 

Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend die 
Einrichtung und den Betrieb der zur Anfertigung 

von Cigarren bestimmten Anlagen. 

Minister.-Verf., betreffend den Ausbruch der Cholera 

in Singapore. 

Circular-Erlass, betreffend die unnöthige Vertheuerung 
der Arzneien durch Verwendung von theuren Ge- 

fässen. 

Circular-Erlass, betreffend die Zulassung zur Physikats- 

Prüfung. 

Circular-Erlass, betreffend die Einrichtung und den 
Betrieb der zur Anfertigung von Cigarren bestimm¬ 
ten Anlagen. 

Circular-Erlass, betreffend die An- und Abmeldung 

der Aerzte. 

Circular-Erlass, betreffend die Regelung des Pferde¬ 
schlächtereigewerbes . 

Polizeiverordnung, betreffend Verpackung und Versen¬ 
dung von Gebrauchsgegenständen von Ortschaften 
ausserhalb Berlin an die dortigen städtischen Des- 

infectionsanstalten. 

Circular-Erlass, betreffend Entwürfe für einfache länd¬ 
liche Schulgebäude nebst dazu gehörigen Erläute¬ 
rungen von Geh. Ober-Regierungsrath Spiecker 
Minister.-Verf., betreffend: „Die Einforderung eines 
Physikats-Gutachten bei Anlegung oder Erweiterung 
der Kirchhöfe geschieht im landespolizeilichen 
Interesse und hat die Staatskasse die dadurch ent¬ 
stehenden Kosten zu tragen*. 

Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend: „An¬ 
stalten zum Trocknen und Einsalzen ungegerbter 
Thierfelle, sowie die Verbleiungs-, Verzinnungs- und 
Verzinkungs-Anstalten sind genehmungspflichtig* . 
Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend Be¬ 
schäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen 

Arbeitern in Gummiwaarenfabriken. 

Erlass des Reichskanzlers, betreffend Anrechnung der 
Militärdienstzeit der Pharmaceuten in die drei¬ 
jährige Servierzeit. 

Circular-Erlass, betreffend Ermittelungen über die Ver¬ 
breitung der Perlsucht unter dem Rindvieh . . . 

Circular-Erlass, betreffend Anrechnung der Militär¬ 
dienstzeit der Pharmaceuten in die dreijährige Ser¬ 
vierzeit . 


Seite 

317 

180 

220 

221 

184 


185 


189 

218 

189 

222 

220 


217 


252 


252 


253 


279 


319 

279 


279 


318 


348 


318 


















Inhalt. 


VII 


Sette 

88, 18. Soptbr. Circular-Erlass, betreffend das Auftreten einer an¬ 
steckenden Ausschlagskrankheit (Impetigo contagi¬ 
osa) im Zusammenhänge mit der Schutzpocken¬ 
impfung .343 

„ 18. * Circular-Erlass, betreffend Formulare für Leichen¬ 
pässe .378 

* 2. Octbr. Circular-Erlass, betreffend Gesundheitsschädlichkeit 

der Carbon-Natronöfen.349 

„ 9. * Minister. - Erlass, betreffend neue Geschäftsanweisung 

für die wissenschaftliche Deputation für das Medi- 
cinalwesen.379 

* 9. Novbr. Minister.-Erlass, betreffend Gebühren für die Ausstel¬ 

lung von Gutachten über die Heilbarkeit der den 
Provinzial-Irrenanstalten aus Strafanstalten über¬ 
wiesenen geisteskranken Gefangenen.378 

* 14. * Folizeiverordnung, betreffend die Gesundheitspflege an 

Bord der Kauffartheischifle.382 

, 15. „ Minister.-Erlass, betreffend die Vereidigung der Apo¬ 
theker . 383 


DiTerse. 

Prospect. 1 

Das Preussische Medicinalweson nach dem Staatshaushalts-Etat für das 

Jahr 1888/89 . 61 

Nekrolog Kaiser Friedrich der Dritte.193 

Ankündigungen des Preussischen Medicinalbeamten-Vereins . 32, 96, 160, 255 

287 















— Zeitschrift — 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Heransgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medicinalnth in Aurich. 

und 

Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6- 


No. 1. 


Ertrhelnt an 1. Jeden Hoaate. 

Preis jährlioh 6 Hark. 


1. Januar. 


Prospect 
Original- Mittheil un^en: 

Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung 
von Kunstfehlern. Von Prof. Dr. Falk 3 
Ueber arachnoldeales Emphysem. Von 

Dr. M. Freyer. *.16 

Miesmuschelvergift ung zuWllhelinahaven 
im Herbst 1887. Von Dr. Schmldtmaiui 19 
Die Mlnlsterlalverfügung vom 16. Sep¬ 
tember 1887, betreffend den zulässigen 
Genuss des Fleisches perlsüchtiger 
Thlere. Von Dr. II. Hlttenzwelg . . 23 


Seite 

Referate: 

M. Freyer, Die Ohnmaoht bei der Ge¬ 


burt vom gerlchtsärztl. Standpunkte. . 28 

Anton Baranski, Anleitung zur Vieh- und 

Fleischbeschau.29 

Becker, Anleitung zur Bestimmung der 
Arbelts- und Erwerbsunfähigkeit nach 

Verletzungen.29 

Verordnungen und Verfügungen . 30 
Personalien.31 


Mittheilung an Idle Mitglieder des 
Preuse. Medicinalbeamten Vereins 32 


INHALT 

Seite I 


PB0SPECT. 

D ie Zeitschrift für Medicinalbeamte wird monatlich 
in einer Stärke von ungefähr zwei Bogen erscheinen. — Gegen¬ 
stand ihres Inhalts werden die gerichtliche Medicin und gericht¬ 
liche Psychiatrie, die Hygiene, die Sanitätspolizei, sowie Standes¬ 
angelegenheiten bilden, und sollen dieselben in Origlnalartikeln, 
Referaten und Kritiken behandelt werden. 

Es wird unser Bestreben sein, sämmtliche Abhandlungen in 
gedrängter Kürze zu geben, so dass die einzelnen Artikel sich 
für gewöhnlich über eine Nummer nicht ausdehnen werden. 

Im Gebiete der gerichtlichen Medicin werden wir unser Haupt¬ 
augenmerk auf die Mittheilung einer ausgewählten Casuistik 
richten, sowie auf die Lieferung von erschöpfenden Original¬ 
arbeiten über Fragen, welche sich zur Zeit in den Vordergrund 
des wissenschaftlichen und praktischen Interesses drängen. 

Auch sollen die in unserer Zeitschrift auf dem Gebiete der 
Hygiene und Sanitätspolizei gebrachten Original-Abhandlungen 
dazu dienen, nicht nur den Medicinalbeamten, sondern auch den 
praktischen Aerzten die Fragen der präventiven Medicin vom 
praktischen und wissenschaftlichen Standpunkte aus zu beantworten. 








2 


I’rospoot. — Verzeichnis^ der Mitarbeiter* 


Von Zeit zu Zeit gedenken wir in zusammenfassenden Ueber- 
sichten die neueren Fortschritte in den genannten Wissenschaften 
darzulegen, um dem beschäftigten Praktiker, dem es an Zeit und 
Gelegenheit gebricht, die grösseren Werke im Original zu stu- 
diren, die Möglichkeit zu bieten, sich über den jeweiligen 
Stand der einzelnen Gebiete zu orientiren. 

Wir gemessen bereits den Vorzug, bewährte Kräfte für die 
Bearbeitung der beregten Gegenstände gewonnen zu haben; wir 
hoffen und wünschen indess, dass uns auch aus der Reihe unserer 
Leser recht zahlreiche Mitarbeiter erstehen werden. 
Denn nur durch allseitige frische Theilnahme an unserer 
Arbeit und durch stete gegenseitige Ermunterung wird es uns 
gelingen, das Interesse für unsere Special-Wissenschaften rege 
zu machen und zu erhalten, und hauptsächlich durch dieses 
Interesse das Wachsen und Gedeihen unserer Zeitschrift möglichst 
zu fördern und zu sichern. Dieselbe soll deshalb auch Gelegen¬ 
heit bieten, die Erfahrung des Einzelnen an die Oeffentlichkeit 
zu fördern und die Beobachtung und Ansicht des Praktikers 
durch schnelle Veröffentlichung zum Gemeingut Aller zu machen. 

Wir werden es uns endlich angelegen sein lassen, sämmtliche 
amtliche Verfügungen, die Personal-Veränderungen der Medicinal- 
beamten, sowie alles Wissenswerthe in Standesangelegenheiten 
zur rechtzeitigen Kenntniss unserer Leser zu bringen, und wir 
werden etwaigen bezüglichen Besprechungen unsere Zeitschrift 
gern zur Verfügung stellen. 

Die Redaction. 


Verzeichniss der ständigen Mitarbeiter. 

Dr. Blumenstock , Prof, der gerichtl. Medicin in Krakau. 

Dr. Brieger , Professor an der Universität Berlin. 

Dr. Büchner, Privatdocent und kgl. bayr. Stabsarzt. 

Dr. Falk, Professor und Kreisphysikus in Berlin. 

Dr. Freyer, Kreisphysikus in Stettin. 

Dr. von Hofmann, k. k. Obersanitätsrath, o. ö. Professor der gerichtlichen Me¬ 
dicin und Landgerichtsanatom in Wien. 

Dr. Kanxow, Reg.- u. Geh.-Med.-Rath in Potsdam. 

Dr. König, Professor in Münster. 

Dr. Liman, Prof, der gerichtl. Medicin, Geh. Med.-Rath in Berlin. 

Dr. Petri, Custos am kgl. hygienischen Institut in Berlin. 

Dr. Philipp, Kreisphysikus in Berlin. 

Dr. Quittei, Med.-Assessor und gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. 

Dr. Schmidtmann, Kreisphysikus in Wilhelmshaven. 

Dr. Schultz, polizeilicher Stadtphysikus in Berlin. 

Dr. Strassmann, Assistent am forensischen Institut in Berlin. 

Dr. Ungar , Professor in Bonn. 

Dr. Wallichs, Sanitätsrath und Kreisphysikus in Altona. 

Dr. Wehmer, Hülfsarbeiter am königl. Polizeipräsidium in Berlin. 

Dr. Wemich, Reg.-Med.-Rath in Cöslin 

Dr. Wiebecke , Reg.-Med.-Rath in Frankfurt a. 0. 

Dr. Winter, Assistent der kOnigl Universitäts-Frauen-Klinik in Berlin. 



Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung der Kunstfehler. 


3 


An alle Herren Medicinalbeamtcn und Aerzto richten wir die Bitte, 
uns Vacanzen und allgemein intorossirende Notizen raschest zukommen zu 
lassen. Diesbezügliche Inserate worden grttti» aufgonommcn und wollen an 

Fisoher’s med. Buchhandlung. H. Kornfeld. Berlin NW., Cliaritestr. 0 

adressirt werden. Für die Redaction bestimmte Beiträge wollen an Herrn 

Dr. H. Mittonzweig, Berlin-Moabit, Pritawalkeretrasse 6 gerichtet werden. 

Die Redaction. 


Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung von Kunst¬ 
fehlern. 

Von Professor Dr. Falk, Kreis-Physikus in Berlin. 

Es ist in jüngster Zeit, und zwar zufällig innerhalb eines 
kurzen Zwischenraumes, von zwei medicinischen Seiten die Frage 
der Bestrafung ärztlicher Kunst fehl er behandelt worden, die 
namentlich in einem Punkto zu ein und derselben Forderung, 
dem nämlichen Vorschläge zur Abänderung des bestehenden Ver¬ 
fahrens gelangen. Auf dem XV. deutschen Aerztetage zu Dresden 
am 4. Juli 1887 kam ein Referat des Herrn Dr. Deneke (Flens¬ 
burg) über „Kuustfehler der Aerzte“ zum Vortrage, und soeben ist 
der Artikel „Kunstfehler“ aus der Feder des schriftstellerisch 
wohlbekannten Sau.-Rath Dr. Baer (Berlin) in der zweiten, um¬ 
gearbeiteten und vermehrten Auflage der Eulenburg’schen Real- 
Encyklopädie der gesammten Heilkunde erschienen. 

Was die erste Arbeit anlangt, so erscheint es mir schon 
nicht ganz zweifelsfrei, ob das Forum, dem sie zunächst vor¬ 
gelegt wurde und wohl auch zur Discussion unterbreitet war, voll¬ 
kommen dazu angethan war, über eine, nach des Referenten eigener 
Anschauung schwierige, wissenschaftliche Frage, über einen dorneu- 
voUen Gegenstand der gerichtlichen Medicin kurzer Hand per 
majora eine massgebende Meinungs-Aeusserung verlauten zu lassen. 
Auch könnte es befremden, dass, wenn daselbst jene Materie 
als Verhandlungs-Gegenstand ausersehen war, die Aufgabe der 
Berichterstattung nicht einem erfahrenen gerichtsärztlichen Prak¬ 
tiker zufiel, an denen doch im deutschen Reiche kein Mangel ist; 
vielleicht hätte sich auch ein Rechtskundiger als Correferent an- 
schliessen können. Uebcr eine andere wissenschaftliche Frage, ich 
denke namentlich an die Antisepsis, welche vor den deutschen Aerzte- 
tag gebracht wurde, konnten von hochgeschätzten Lehrern ver¬ 
fasste Referate der Discussion und Abstimmung zu Grunde ge¬ 
legt werden. Das Schicksal, welches der Vortrag des Herrn 
Deneke in der genannten Vereinigung erfuhr, kann auf uns 
ferner stehende den Eindruck eines würdigen Begräbnisses machen. 
Ich sehe von dem katliedralen Tone ab, in welchem an jener 
Stelle, von oben herab, den Gerichtsärzten Weisungen und Ver- 




4 


Prof. Dr. Falk. 


haltungsregeln ertheilt werden; zum Theil handelt es sich da¬ 
bei um uns Gerichtsärzten Allbekanntes, den übrigen Aerzten 
wenig Interesse bietendes. Ich sehe ferner ab von den rechts¬ 
gelehrten Deduktionen, die wir bei Herrn Deneke, ganz besonders 
aber auch bei Herrn Baer finden; denn ich bin nicht Sachkundiger 
und ausser Stande, sie zu beurtheilen. Ich vermeide auch jede Defi¬ 
nition von Kunstfehlern; die folgenden Bemerkungen sollen nur die 
Punkte treffen, welche den gerichtsärztlichen Praktiker unmittel¬ 
bar berühren. 

Im Wesentlichen kann man aus den beiden Darlegungen 
herauslesen, wie die Autoren es gern herbeigeführt sehen möchten: 
dass nämlich die Verfolgung und Bestrafung von Aerzten auf Grund 
der §§ 222, 230, 232 des geltenden Strafgesetzbuches möglichst er¬ 
schwert werde. Es klingen aus obigen und anderen Kundgebungen 
Gelüste nach Sonderrechten für Aerzte heraus, die, wenigstens 
chronologisch, mit Forderung und Rückforderung noch anderer ge¬ 
setzlicher Vorrechte für approbirte Medicinal-Personen zusammen¬ 
fallen. Ich lasse hier unerörtert, was dem Rechtsgeftihl der Be¬ 
völkerung mehr entspricht: strengere Bestrafung der geprüften 
Aerzte oder der Kurpfuscher. Es sind in dieser Beziehung von 
einander abweichende gerichtliche Erkenntnisse gefallt worden, 
aber privatim habe ich von Juristen wiederholt die Darlegung 
vernommen, dass die approbirten Aerzte, wenn sie Schaden für 
Leben oder Gesundheit angerichtet hätten, strenger ihre Schuld 
büssen müssten, als die nichtzünftigen Kurirer, denn für die Aus¬ 
bildung der Aerzte bringe der Staat, die Gesamratheit der Be¬ 
völkerung durch Unterhaltung der kostspieligen Fakultäten und 
Unterrichts -Anstalten so viel Opfer, dass von den in solchen 
Instituten ausgebildeten Männern eine ganz besondere Aufmerk¬ 
samkeit in Ausübung ihres Berufes beansprucht werden müsste. 
Jedenfalls steht fest, dass, falls den approbirten Aerzten wieder 
die alleinige Ausübung der Heilkunde gegen Entgeld gesetzlich 
zugebilligt würde, die Kunstfehler der Aerzte besonders strenge 
Ahndung zu gewärtigen hätten. 

Ich wende mich nun zu den von den Herren Deneke und 
Baer beliebten Vorschlägen zur Aenderung des formellen Ganges 
der Sachverständigenthätigkeit, bez. der Strafprozess-Ordnung für 
die specielle Materie. Beide kommen darin überein, die recht¬ 
liche Verfolgung von Aerzten wegen Kunstfehlern auch dadurch 
zu erschweren, dass sie die gewöhnlich als Sachverständige fun- 
girenden Gerichtsärzte lahm legen, nach unseren Einrichtungen 
die Kreis-Medicinal-Beamten bei Seite setzen und hiergegen ist 
Front zu machen 

Herr Baer sagt wörtlich: „Die Begutachtung solcher Fälle 
soll in erster und letzter Instanz von einem Collegium ausgehen.“ 
Zuvor hat Herr Baer sich den Ausspruch Buchner’s zu eigen ge¬ 
macht, der da meinte, dass „selbst bei den Aussagen ärztlicher 
Zeugen, welche, wenn sie den Kranken vor oder nach der ange- 
schnldigten Handlung gesehn, selbstverständlich die werthvollsten 
Aufschlüsse zu geben in der Lage sind, man in’s Auge fassen müsse, 



Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung der Kunstfehler. 


5 


„dass Concurrenz-Verhältnisse oder die nahe liegende Neigung, das 
eigene Handeln oder Unterlassen zu rechtfertigen, sehr leicht die 
richtige Unbefangenheit benimmt und sie von der Angabe der 
blossen Wahrheit abzieht.“ Nun, ich sehe nicht so schwarz in 
die Aussagen von Zeugen vor Gericht überhaupt, namentlich denke 
ich auch besser von den Aussagen ärztlicher Zeugen, doch will 
ich es gerne den praktischen Aerzten überlassen, sich mit Ver¬ 
fechtern derartiger Unterstellungen auseinanderzusetzen; ich will 
hier nur den Handschuh aufnehmen, welcher den praktischen Ge¬ 
richtsärzten, also bei uns in erster Reihe den Kreis-Physikern als 
Begutachtern hingeworfen wird. 

Hr. Baer äussert sich also kurz dahin, dass die Begutachtung 
von Kunstfehlern „in erster und letzter Instanz von einem CoUe- 
gium“ ausgehen solle. Ich trete diesem Vorschläge mit aller Ent¬ 
schiedenheit entgegen, unbeirrt dadurch, dass Baer ihn als das „über¬ 
einstimmende Verlangen aller (?) hervorragenden (?) Gerichts¬ 
ärzte (?) und Sachkundigen (?)“ zu reproduciren erklärt. 

Zuvörderst muss ich aber anführen, dass Herr Deneke, noch 
detaiUirter als Herr Baer, glaubt darlegen zu sollen, wie der 
praktische Gerichtsarzt, also der zuständige Medicinalbeamte, als 
Begutachter in das Hintertreffen gedrängt werden soll; er schlägt 
ein Verfahren vor, welches, als ausnahmslose Richtschnur dienend, 
für eines Kunstfehlers geziehene Aerzte eine volle processualische 
SondersteUung schaffen würde. Nach Herrn Deneke ist nämlich 
die Staatsanwaltschaft, falls sie überhaupt bei vorliegendem Ver¬ 
dachte oder Anschuldigung, „den Sachverhalt zu erforschen, sich 
veranlasst sieht, zu verpflichten, dass sie zunächst einen schriftlichen 
Bericht über den Krankheitsverlauf von dem angeschuldigten Arzte 
einzieht.“ Zuvörderst meine ich, dass, falls überhaupt einer Denun- 
ciation irgend welche Folge seitens der Anklagebehörde gegeben 
wird, das Erste wohl die sachverständige Untersuchung des 
Corpus delicti sein muss, in Fällen, wo ein tödtlicher Ausgang 
vorliegt, Leichen-Schau oder -Oefinung; derartiges verträgt Auf¬ 
schub nicht gut. Warum ferner heutzutage, in der Zeit des 
mündlichen Verfahrens, gerade in diesen Fällen ein schriftlicher 
„Bericht“? Es kann hier nicht anders vorgegangen werden als 
bei jeder sonstigen Vernehmung eines Angeschuldigten. 

Dann, spricht Dr. Deneke, muss der Anklagebehörde die Ver¬ 
pflichtung auferlegt sein, dass sie „unter Uebermittelung sämmt- 
licher Actenstücke von einem ärztlichen Collegium ein Gutachten 
einzuholen hat, welches dem Gerichte, das über die Eröffnung 
des eigentlichen gerichtlichen Verfahrens, sei es Untersuchung, 
sei es Hauptverfahren, beschliessen soll, vor der Beschlussfassung 
zuzustellen ist.“ 

Wenn ich lese, wie eine solche Inanspruchnahme von Be¬ 
hörden hier vorgeschlagen wird, so frage ich, ob etwa ein un¬ 
glücklicher Abklatsch der sogenannten Competenz-Conflikt-Gesetz- 
gebung gewünscht wird, d. h. der Einrichtung, welche gestattet, 
die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Staatsdiener wegen Ver¬ 
gehung im Amte von einer Genehmigung vorgeordneter Behörden 



6 


Prof. Dr. Falk. 


abhängig zu machen. Ob letzteres Verfahren in der Verwaltungs- 
Gesetzgebung fortleben wird, vermag ich nicht zu beurtheilen, 
eine Copirung desselben für den Zweck sachverständiger, wissen¬ 
schaftlicher Begutachtung erscheint mir als eine unglückliche, 
wenn nicht komische Procedur. 

Warum das jetzige Verfahren, welches die wichtigste Aufgabe 
für gewöhnlich und meist ausschliesslich den zuständigen Gerichts¬ 
ärzten, den Kreis-Medicinalbeamten, zukommen lässt, beseitigen? 
Hat es zu häufigen und vor allen zu ungerechtfertigten Verur- 
theilungen von Aerzten geführt oder dazu beigetragen, die De- 
nunciationen zu erleichtern? Letztere werden durch das Verfahren, 
es sei wie es wolle, kaum beeinflusst. Ich weiss nicht, ob über¬ 
haupt die Zahl der Denunciationen grösser oder kleiner, als die 
thatsächlichen vorkommenden „Kunstfehler“ ist; jedenfalls sind 
die Verurtheilungen im Verhältniss zu den Anschuldigungen sel¬ 
ten. Es ereignen sich auch Fälle, wo Freisprechungen erfolgt 
sind, obwohl der vernommene Gerichtsarzt die Ueberzeugung von 
der Schuld des Angeklagten haben mag, aber, ähnlich wie es bei 
vielen Anklagen gegen Kurpfuscher zugeht, ausser Stande ist, mit 
genügender wissenschaftlicher Schärfe die Schuld darzuthun und 
die Frage, ob ohne das incriminirte Handeln oder Unterlassen 
der oder jeder gesundheitliche Schaden ferngeblieben wäre, mit 
gutem Gewissen strikte zu bejahen. In manchen Fällen ist 
Freisprechung trotz anscheinend für den Angeklagten uugünstiger 
Sachlage wesentlich aus dem Grunde erfolgt, weil die Ansichten 
des angeklagten Arztes und die des Gerichtsarztes zu scharf von 
einander abwichen, und der Gerichtshof sich nicht für befähigt 
zu Abgabe einer Art von medicinischem Votum erachten mochte. 
Also Härten sind für die denuncirten Aerzte durch das bisherige 
Verfahren keineswegs erwachsen. Wohl aber können Härten für 
die Gerichtsärzte entstehen, wenn ihnen, nach den von den Herren 
Baer und Deneke vorgeschlagenen Aenderungen, die Begutachtung 
technischer Handlungen ihrer Standesgenossen entzogen wird, und 
sie dadurch Gefahr laufen, dass sie in ihrer gesammten begut¬ 
achtenden Thätigkeit an Glaubwürdigkeit vor ihren Gerichten 
verlieren. Aus den bald anzufiihrenden Worten der Autoren geht 
hervor, dass sie den Gerichtsärzten die wissenschaftliche und per¬ 
sönliche Befähigung zur Begutachtung von Kunstfehler-Fragen 
absprechen. Die Autoren können ihre Worte nicht etwa so aus¬ 
legen, als gäben sie nicht ihre eigene Ansicht, sondern die der 
Richter wieder; denn von juristischer Seite sind noch keine Be¬ 
denkeng egen jene gutachtliche Thätigkeit der ständigen Gerichts¬ 
ärzte, unserer Kreis-Medicinal-Beamteu, laut geworden. 

Herr Baer will in „erster und letzter Instanz ein Collegium, 
um eine sachgemässe und eventuell auch fachkundige Beurthei- 
lung des Falles zu gewährleisten und um den Gutachten bei 
allen Partheien eine autoritative Anerkennung zu verschaffen.“ 
Herr Deneke spricht: „Es muss billig und recht erscheinen, dass 
die Begutachtung durch ein Sachverständigen-Collegium verlangt 
wird, wenn man die Schwierigkeit der Beurtheilung grade auf 



Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung der Kunstfehler. 7 

dem Gebiete der Kunstfehler für einen einzelnen Begutachter er¬ 
wägt und wenn man bedenkt die schwer wiegenden, nicht an¬ 
nähernd bei anderen Berufsarten zu vergleichenden Folgen (?) für 
den betreffenden Arzt auch in dem Falle, wo sich schliesslich 
die Anschuldigung als ungerechtfertigt erweist.“ Also zunächst 
wird der Gerichtsarzt aus moralischen Gründen abgethan: er gilt 
als befangen oder könnte so gelten. Nun weiss ich wohl, dass 
Richter wegen Befangenheit perhorrescirt werden können, den Ge¬ 
schworenen wird sogar vor ihrer Vereidigung zu Gemüth ge¬ 
führt, wie und aus welchen Gründen sie befangen und deshalb im 
Einzelfalle nicht Richter sein können. Es kann freilich auch nach 
§§ 24 und 74 der Str.-P.-O. ein Sachverständiger, wie ein Richter 
auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Privatklägers oder 
des Beschuldigten durch Gerichtsbeschluss wegen Besorgniss der 
Befangenheit abgelehnt werden, aber es muss hier doch ein 
Grund angeführt werden, „welcher geeignet ist, Misstrauen gegen 
die Unparteilichkeit eines Richters, bez. Sachverständigen zu recht- 
fertigen.“ Nun finde ich, dass jetzt schon den Richtern gegenüber, 
meist der leidigen Politik wegen, der Einwand der Befangenheit 
viel zu oft gemacht wird; sicher aber bin ich, dass, wenn ein 
Arzt als Schöffe oder Geschworener über Kunstfehler von 
Aerzten richten sollte und dies Ehrenamt wegen Befangenheit 
abzulehnen versuchen wollte, dies „nicht ziehen würde.“ Oft ge¬ 
rade sieht man Kaufleute über Verstösse in mercantiler Thätigkeit 
und Bau-Verständige über Berufsgenossen, denen Vergehungen gegen 
Regeln der Baukunst zur Last gelegt werden, zu Gericht sitzen. 
Was aber von der richtenden, gilt noch viel mehr von der begut¬ 
achtenden Thätigkeit. Ein als Sachverständiger öffentlich be¬ 
stellter Arzt, durch Amtseid und Sachverständigen-Eid verpflichtet, 
sollte nicht im Stande sein, dem Wortlaute einer Schwurformel 
entsprechend, „niemandem zu Liebe und niemandem zu Leide,“ seine 
wissenschaftliche Ueberzeugung sich zu bilden und Anderen vor¬ 
zulegen? Weil gerade ein Arzt der Angeschuldigte oder der An¬ 
geklagte, und der vorliegende Klagepunkt ein medicinisch-tech- 
nischer, so sollte der Gerichtsarzt derartig eloquent oder, an¬ 
dererseits, so charakterlos sein, dass er dem Richter wider seine 
eigene ärztliche Ueberzeugung eine andere aufdrängen könnte? 
Tatsächlich ist meines Wissens bisher noch keine derartige 
Ablehnung beschlossen oder auch nur beantragt worden. Liegt 
doch auch in der Oeffentlichkeit der Verhandlung eine Art 
von Controle. Wenn aber anscheinend nur gemeint sein soll, 
dass jene Verirrung des Gerichtsarztes keine strafwürdige, sondern 
eine demselben gleichsam unbewusste sei, so liegt hierin der Vor¬ 
wurf der Beschränktheit, des Sehens durch Parthei-Brille, und auch 
gegen diese Unterstellung haben die Gerichts-Physiker Verwah¬ 
rung einzulegen. Warum dann nicht überhaupt, wenn ein Arzt 
wegen gleichviel welchen Deliktes angeklagt ist, den zuständigen 
Gerichtsarzt fern halten? Vielleicht wird ein angeschuldigter 
Homoeopath verlangen, dass nur ein Homoeopath, weil „nicht be¬ 
fangen“, als Sachverständiger gehört werde u. s. f. cum gratis 



8 


Prof. Dr. Falk. 


ad infinitum. Und wäre es in solchen und andern Fällen nicht 
denkbar, dass auch „Collegien“ der Vorwurf der „Befangenheit“ 
träfe? 

Herr Baer, besonders aber Herr Deneke will auch wegen 
der „Schwierigkeit“ der bezüglich Kunstfehler zur Begutachtung 
kommenden Fragen und andererseits wegen der besonders miss¬ 
lichen Consequenzen, welche dem Angeschuldigten bevorstehen 
können, ein Collegium heranziehen. Sind denn nur Begutachtungen, 
die in Angelegenheit von Kunstfehlern abgegeben werden sollen, 
die schwierigsten oder die allein schwierigen oder die jeder Zeit 
schwierigen in der gerichtlichen Medicin? Und stehen in an¬ 
deren Processen nicht auch Ehre, Freiheit, Gesundheit, Leben eines 
Angeschuldigten auf dem Spiele? Warum denn nicht in allen 
sogenannten Capitalfällen, oder, da man zunächst nicht wissen 
kann, ob nicht jede Rechts- oder wenigstens jede Strafrechtssache dem 
Scharfsinn und dem Wissen des gerichtlichen Experten noch ge¬ 
waltige Schwierigkeiten machen wird, in allen Fällen, wo es auf 
das Gutachten von medicinischen Sachverständigen ankommt, oder 
gar wo nur solche überhaupt in Frage kommen, lediglich Colle¬ 
gien mit der Begutachtung betrauen, und dann, folgerichtig in Ob¬ 
duktionsfällen, da an der correkten Ausführung der Leichen-Oeff- 
nung besonders viel gelegen ist (wie noch einmal berührt werden 
soll), bei Kunstfehlern und ähnlichen Materien möglichst nur 
Männern wie v. Maschka und v. Hofmann die forensische Autopsie 
übertragen? 

Zunächst würde in der Mehrzahl der Fälle von angeblichen 
Kunstfehlern den Collegien, die ohnehin schon in Deutschland viel 
häufiger als anderwärts in Anspruch genommen werden, nur eine un- 
nöthige Belästigung erwachsen insofern, als die Begutachtungen 
von Denunciationen gegen Aerzte wegen kunstwidrigen Verfahrens 
meist keine Schwierigkeit bieten. Thatsächlich handelt es sich 
meist um vom ärztlichen Standpunkte als thöricht zu bezeichnende 
Vorwürfe, und es ist für den Gerichtsarzt eine ebenso leichte wie 
dankbare Arbeit, die baldige Beförderung der Denunciation in den 
Papierkorb der Staatsanwaltschaft herbeizuführen. In andern Fällen 
liegt die Sache zu Ungunsten des angeschuldigten Arztes so klar, 
dass der Gerichtsarzt das Strafwürdige im Verfahren des Arztes 
ohne Mühe darlegen kann. Ist hierbei die Situation des Gerichts¬ 
arztes wahrlich auch keine angenehme, so wird man doch hieraus 
gewiss keinen Grund entnehmen, ihn als Sachverständigen bei 
Seite zu schieben oder matt zu setzen. Schwierigkeiten können 
künstlich geschaffen werden, wenn der medicinische Sachver¬ 
ständige auf den Abweg juristischer Erörterungen geräth, wozu 
aber gerade bei Gericht nur ausnahmsweise fungirende Aerzte 
geneigt erscheinen. Wenn nun aber, etwa weil doch auch einmal 
schwer zu begutachtende Fälle von Kunstfehlern Vorkommen 
könnten, für alle dieserhalb angeschuldigten Aerzte begutach¬ 
tende Collegien in Bewegung gesetzt werden sollten und zwar 
obligatorisch, was für mich gerade der Eckstein des Anstosses, 
wie verhält es sich dann mit deren Zusammensetzung? Herr 



Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung der Kunstfehler. 


9 


Deneke hält dies für „wenig belangreich“; obwohl die zu begut¬ 
achtenden Fragen so besonders schwierig sein sollen?! Selbstver¬ 
ständlich wird man an Specialisten, Celebritäten und Autoritäten 
denken. Nun angenommen, sämmtliche, sogenannte technische 
Ober-Behörden hätten nur derartige Elemente (es wäre doch denk¬ 
bar, dass eine scharfe Elementar-Analyse seitens der Staatsan¬ 
waltschaft oder Vertheidigung eine derartige Legirung nicht im¬ 
mer gelten lassen wollte), so fürchtet ein von Deneke citirter Au¬ 
tor in einem solchen Spruchcollegium die „Specialisten und Cele¬ 
britäten, die dem praktischen Leben ferner stehen sollen“; er dürfte 
im Auge haben, dass die Begutachtung des Verfahrens eines ärzt¬ 
lichen Praktikers nicht blos wissenschaftliche Tüchtigkeit und 
Erfahrung, sondern auch Kenntniss der Verhältnisse, unter denen 
sich das Berufsleben des praktischen Arztes abspielt, z. B. auch 
der ländlichen Einrichtungen, erheischt Dazu kommt, dass Auto¬ 
ritäten leicht auf den Nebenweg gerathen können, den Massstab 
ihres eigenen, hervorragenden Könnens an das Handeln des in allen 
Sätteln gleich gerecht sein sollenden Praktikers anzulegen. 

Es möchte ferner entgegengehalten werden, dass sogar be¬ 
rühmten Specialisten, z. B. in Chirurgie und Gynäkologie, bei Be¬ 
gutachtung von Fragen aus der gerichtlichen Wund- und Frauen¬ 
heilkunde vor Gericht Lorbeeren ausbleiben können, denn die 
Gerichtsarzneikunde soll eben auch als eine Special-Wissenschaft 
im grossen Rahmen der Medicin gelten. Wirklich lehren Vor¬ 
kommnisse aus jüngster Zeit, dass Gutachten, welche unter Aerzten 
Beunruhigung, mit Recht oder Unrecht, zu erregen vermögen, nicht 
von „gewöhnlichen Gerichtsärzten“ zu stammen brauchen, sondern 
von Collegien, deren Mitglieder gefeierte Specialisten sind, her¬ 
rühren können. 

Manche könnten vielleicht auch Einwände erheben, wie sie 
ähnlich einerseits gegen kollegiale Verfassung von Verwaltungs- 
Behörden, andererseits gegen die frühere begutachtende Thätigkeit 
von Spruch-Collegien der juristischen Fakultäten vorgebracht 
worden sind: entweder wiegt der Einfluss eines Mitgliedes in 
dem Grade vor, dass man es doch nur mit dem Gutachten einer 
Persönlichkeit zu thun hat, oder in bester Absicht kommt es zu 
Anpassung gegenseitiger Anschauungen, Concedirungen u. dgl., wo¬ 
durch das schliessliclie Ergebniss nicht das getreue Bild der An¬ 
schauungen jedes einzelnen sachkundigen Mitgliedes, auch nicht 
des Referenten, zu sein braucht. 

Vor allem kommt aber für derartige medicinische Collegial- 
Gutachten in allgemeinen Betracht, dass diese Körperschaften in 
der Mehrzahl der Fälle in erster Linie auf die Angaben der erst- 
fungirenden Gerichtsärzte, deren Protokolle, Fundberichte u. dergl. 
angewiesen sind, um von dem objektiven Sachverhalt Kenntniss 
zu erlangen; auch Herr Deneke meint, dass die wichtigste Auf¬ 
gabe dem erstbeurtheilenden Gerichtsarzte zufällt. Wenn, und 
dies sind doch die gewichtigsten Fälle, es sich um Beschuldigung 
fahrlässiger Tödtung handelt, so ist das Corpus delicti zur Zeit, 
wo die Angelegenheit für die technischen Ober-Behörden sprach- 



10 


Prof. Dr. Falk. 


reif wird, längst wohl nicht mehr oder nicht wieder einer gründ¬ 
lichen Untersuchung zugänglich. Während der Erst-Untersuchende 
unter dem lebhaften Eindruck des mit eigenem Auge Geschauten 
zu urtheilen vermag, kann ein Anderer, Späterer, wie der ana¬ 
tomische Sachverhalt gewesen, doch nur oder im Wesentlichen 
aus den mündlichen und schriftlichen Angaben des oder der 
ersten Untersucher, bez. Obducenten entnehmen oder muthmassen. 
Nun kann wohl ein Ober-, bez. Nach-Gutachten die Schlüsse be¬ 
kämpfen, welche die früheren Sachverständigen oder Obducenten 
aus ihren Beobachtungen gezogen haben; wer bürgt aber dafür, 
dass schon diese Beobachtung richtig und erschöpfend gewesen? 
Wenn Herr Deneke es „sogar als wünschenswert bezeichnet, dass 
dem betreffenden Collegium die Vornahme einer mündlichen Ver¬ 
nehmung des angeschuldigten Arztes gestattet werde“, so erinnere 
ich mich eines Falles, wo ein medicinal-technisches Collegium es 
tadelte, dass der Arzt unter Vorsitz des Richters (was sich nie 
wird vermeiden lassen) einer Vernehmung von Sachverstän¬ 
digen unterzogen war; es „musste dies für den Angeschuldigten 
recht peinlich“ sein. Nun, auch ich halte freilich solche Verneh¬ 
mung unter wirksamer Betheiligung von gleichviel welchen Sach¬ 
verständigen für durchaus zweckentsprechend. 

Aus den Bemerkungen des Herrn Baer könnte man nun 
auch ersehen, dass die Gerichtsärzte gar kein Gutachten ab¬ 
geben, sondern dies lediglich den Collegien überlassen sollen; 
darnach bliebe jenen nur überlassen, gleichsam als Mittels¬ 
personen ihre Befunde, die Ergebnisse der Untersuchung, sei 
es des Leichnams, sei es des lebenden Objektes ärztlicher Ein¬ 
griffe, ohne Schlussfolgerung zu übersenden. Da werde ich an 
einen häufigen Ausspruch des grossen Klinikers Traube erinnert, 
welcher mit der Bescheidenheit des Meisters erklärte, dass er 
die Mehrzahl seiner diagnostischen, prognostischen und thera¬ 
peutischen Irrthümer nicht durch falsche Deutung der Unter¬ 
suchungs-Ergebnisse, sondern durch unausreichende Untersuchung 
verschuldet habe. Deswegen meinte ich gerade, dass es, um 
bei der menschlichen Unvollkommenheit Fehlgriffe der gericht¬ 
lichen Medicin fern zu halten, geboten erscheinen könnte, wo¬ 
möglich schon zu sofortiger erster Untersuchung die Träger an¬ 
gesehenster Namen, besonders auch zu Obduktionen mir aner¬ 
kannte Meister heranzuziehen. Dies ist aber einfach unmög¬ 
lich, — und überdies nickt der gute Homer auch einmal ein. Es 
kommt dann noch in Betracht, dass auch ein scharfer sachkun¬ 
diger Beobachter nicht immer die Gabe ausreichender Protokol- 
lirung besitzen mag. Wie es sich nicht machen lässt, an jedem 
der jetzt doch mit bedeutender Machtvollkommenheit bedach¬ 
ten Strafgerichtshöfe nur auserlesene Juristen, die Elite der 
Rechtskundigen hineinzubringen, und wie die Erfahrung gelehrt hat, 
dass berühmte Rechtslehrer nicht nothwendig auch überlegene 
Richter sind, so muss man sich denn auch schwächere Leuchten 
zur Aufklärung gericktlich-medicinischen Sachverhaltes gefallen 
lassen. 



Zur Präge der strafrechtlichen Verfolgung der Kunstfehler. 


11 


Herr Denoke will nun in diese kollegial-begutachteude Thä- 
tivrkeit die in Aussicht stellenden Aerztekammern einfügeu, das 
liese sich „gewiss unschwer“ (?) machen. Ich bin nicht so 
unhöflich, Zweifel auszusprechen, ob dieser Vorschlag ernst 
gemeint sei, aber es ist vielleicht schwer, dabei ernst zu 
bleiben. Allerdings erinnert der Vorschlag an einen anderen, näm¬ 
lich den, die nach neuerlichst eingeführten Bestimmungen zulässige 
Entziehung der ärztlichen Approbation von dem vorgängigen 
Votum der Standes-Vertretung abhängig zu machen. Ich schliesse 
hier ein, weil zum Theil auch hierher gehörig, dass dieser Vor¬ 
schlag ebenfalls zurückzuweisen ist, und es bei den geltenden 
Bestimmungen bleiben muss. Ich halte es für ungehörig, dass 
nach gefälltem Richterspruch nun ex officio gleichsam eine Nach¬ 
prüfung von Seiten einer Vereinigung stattfinde, die von gegne¬ 
rischer oder befreundeter Stelle als eine Art von Interessenten- 
Gruppe bezeichnet werden kann. Es wird aber überhaupt mit 
solcher Heranziehung grösserer Verbände weder der Sache noch 
auch der Person eines Angeklagten gedient. Schon die unver¬ 
meidliche Verzögerung verlängert das Peinvolle der Ungewissheit 
seines Schicksals; ferner werden durch Mithineinziehung grösserer 
Kreise, die noch dazu auf Geheimhaltung nicht verpflichtet sind, 
auch wenn es sich nur um eine Voruntersuchung handelt, und es 
dann zu keinem weiteren Verfahren kommt, Dinge, die zweck¬ 
mässiger unter dem Schleier der Akten verborgen blieben, auf die 
Strasse gezerrt. Dadurch ist aber zu besorgen, dass auch an 
dem nicht weiter zur Rechenschaft gezogenen Arzte im Publikum, 
nach einem alten Worte, etwas hängen bleibt. Dagegen habe 
ich es erlebt, dass, wenn nach gegenwärtigem, einfachen Ver¬ 
fallen gegen Medicinal-Personen vorgegangen wurde, auch wenn 
Anträge auf Entziehung der Ooncession zu einer Kranken-Anstalt 
Vorlagen, und der Ausgang der Affaire sonst kein günstiger war. 
die Angeschuldigten doch vor unangenehmer, weitergehender 
Publicität bewahrt bleiben konnten. 

Es unterliegt aber für die Beurtheilung dieses Deneke’schen 
Vorschlages noch Folgendes der Berücksichtigung. Nach Allem, 
was bisher verkündet ist und angenommen wird, sollen sich die 
Aerztekammern mit Beurtheilung praktisch-ärztlicher Fragen be¬ 
schäftigen; es ist in Folge dessen sogar hie und da ein Ansturm 
gegen „die Professoren und Beamte“ in der Absicht versucht 
worden, diese Elemente von der heiligen Schwelle der Aerzte- 
Kannnern fernzuhalten und diese Pforten nur, wie der Ausdruck 
ostentativer Demuth öffentlich gefallen ist, für den „Wald- und 
Wiesenarzt“ offen zu halten. Nun ist doch nach Herrn Deneke 
die Begutachtung der Kunstfehler eine überaus schwierige Mate¬ 
rie, ist er sicher, seine nothwendigen, hervorragenden Gelehrten in 
allen Aerzte-Kammern zu linden, oder will er aus ihnen noch 
ein Destillat ad hoc bereiten, oder ist jene Begutachtung nur 
für die Physiker schwer, jedem andern Arzte eine Kleinigkeit? 
Man unterlasse doch, den Aerztekammern solch unangebrachtes 
Gepäck aufzubürden! 



12 


Prof. Dr. Falk. 


Nun könnte man jene und meine Bemerkungen damit ab- 
thun, dass man sie einfach als „graue Theorie“ bezeichnet mit 
Hinweis darauf, dass nach § 12, Alinea 1 der geltenden Straf- 
process-Ordnung für das deutsche Reich die Auswahl der zuzu¬ 
ziehenden Sachverständigen dem freien Ermessen des Richters 
überlassen ist, und dies nur eine gewisse Einschränkung durch Alinea 
2 erfährt, wonach, wenn für gewisse Arten von Gutachten Sach¬ 
verständige öffentlich bestellt sind, andere Personen nur dann 
gewählt werden sollen, wenn besondere Umstände es erfordern, 
eine Vorschrift, welche bei Annahme der Baer-Deneke’schen Vor¬ 
schläge wohl einer Aenderung oder Aufhebung unterliegen müsste. 
Schon jetzt kann also der Richter so ziemlich jeden beliebigen 
Arzt oder auch ein Collegium hinzuziehen, schon jetzt kann, nach 
§ 83, in „wichtigen“ Fällen das Gutachten einer Fachbehörde 
eingeholt werden, und ich weise darauf hin, dass in Fällen von 
Vergehen wider § 222 unseres Strafgesetzbuches (fahrlässige 
Tödtung) ohnehin schon zwei Aerzte vernommen zu werden pflegen. 
Dies hindert nicht, dass, wie die Erfahrung lehrt, gerade auch in 
Anklagen wegen Kunstfehler Gutachten auf Gutachten gehäuft, 
Collegium wider Collegium aufgerufen wird; es kann dies nicht be¬ 
fremden und erscheint entschuldbar, da jeder Angeschuldigte, 
namentlich aus gebildetem Stande und wenn er selbst wähnt, in 
gutem und bestem Glauben gehandelt zu haben oder von einem 
rührigen Anwälte unterstützt wird, sein Loos zu verbessern und 
das günstigste „herauszuschlagen“ bemüht ist. Sehr erbaulich sind 
dann die Vorgänge für die Aerzte mitunter nicht; ist ein Collegium 
zu einem Ober-Gutachten veranlasst, weil die beiden erst vernom¬ 
menen Gerichtsärzte verschiedener Ansicht sind, so kann es Vor¬ 
kommen, dass durch eine dritte Berufung, hernach durch ein 
Oberst-Gutachten, wieder eine andere Meinung zum Ausdruck ge¬ 
langt, welcher dann wieder von anderen, mündlich vernommenen 
Aerzten zu Leibe gegangen wird. Auf die Richter kann dies je 
nach Umständen belustigend oder verwirrend wirken. Man 
glaube nur nicht, dass jederzeit das Oberst-Gutachten für die 
Entschliessungen der Richter den Ausschlag giebt, dass der Ge¬ 
richts-Beschluss ausnahmslos den Anschauungen jenes Super- 
Arbitriums entsprechend ausfällt; am schwersten kommt die Sache 
zur Ruhe, wenn das oder die Ober-Gutachten nicht im Sinne eines 
energischen Vertheidigers sind. In manchen Fällen erfolgt Frei¬ 
sprechung, weil die Ansichten der Sachverständigen zu schroft 
von einander ab weichen, und der Gerichtshof eben nicht als ein 
medicinisches Forum erscheinen will; in anderen Fällen wirkt 
gerade das in lebendiger Form mündlich vorgetragene Gutachten 
des Physikus obsiegend und überzeugend, so dass sich diesem 
das Urtheil der Richter anpasst; diese hat es eben mehr über¬ 
zeugt, als ein entgegenstehendes, gewöhnlich nur verlesenes, sei 
es noch so gelehrtes Collegial-Gutachten. 

Auch, wenn es überhaupt denkbar wäre, dass mit Uebergeh- 
ung aller anderen Aerzte nur höchste Collegien zur Begutachtung 
herangezogen würden, nie wird man befehlen können, dass durch 



Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung der Kunstfehler. 


18 


diese Gutachten auch die Richter sich immer ohne Weiteres für 
überzeugt erklären. 

Man darf ja nicht vergessen, dass sich bei dem gegenwärtigen 
mündlichen und öffentlichen Verfahren ein gewichtiger Theil ge¬ 
richtsärztlicher Thätigkeit in mündlichem Vortrage innerhalb des 
Gerichtssaals abspielt, und da könnte sogar ein auf Grund von 
§ 255 der St.-P.-0. mit mündlicher Vertretung eines Collegial- 
Gutachtens betrauter Arzt auch bei voller wissenschaftlicher 
Qualifikation einfach dadurch in’s Gedränge und in’s Hintertreffen 
kommen, dass er nicht wie die ständigen Gerichtsärzte in der 
Uebung ist, medicinische Dinge vor Laien, diese belehrend 
und überzeugend, zu entwickeln. Es mag dies eine Schatten¬ 
seite des mündlichen Gerichtsverfahrens sein, es ist aber wohl 
kaum anzunehmen, dass man es opfern wird, lediglich weil 
hierdurch den wegen Kunstfehler angeschuldigten Aerzten viel¬ 
leicht ein Dienst erwiesen werden könnte. Uebrigens, wie soll 
es gehalten werden, wenn mitten in dem Audienz-Termine Fra¬ 
gen auftauchen, die das Collegium noch nicht beschäftigt haben? 
Sollen die Juristen oder der Deputirte nun noch einmal auf das 
Collegium recurriren oder soll dieser dann allein die Autorität 
des Collegiums repräsentiren? Man sollte, meine ich, alles thun, 
um die Behelligung von Collegien durch oft ziemlich frivole 
Anträge der Partheien zu erschweren, und auch die Processe 
wegen Kunstfehler sollen nicht zu einer Abbröckelung der Thä¬ 
tigkeit der ordentlichen Gerichtsärzte, zur Schmälerung des An¬ 
sehens der Physici dienen. 

So bin ich konservativ, d. h. gegen jene Aenderungen und liberal, 
d. h. für gleiches processualiches Recht der verschiedenen Stände 
und mag keine Sonder-Rechtsordnung bei technischen Vergehungen 
von Medicinal-Personen. 

Man könnte einwenden, dass ich dadurch die Denunciationen, 
auch die unbegründeten, gegen Aerzte erleichtern helfe; ich habe 
aber schon erwähnt, dass die Zahl der Denunciationen durch ein 
Processverfahren wahrlich kaum beherrscht werden kann; wohl 
aber wird durch solche Versuche, die rechtliche Verfolgung ärzt¬ 
lichen Handelns zu erschweren, der Spottlust des Publikums und 
der Agitation der „Pfuscher“ Vorschub geleistet. Bedauerlich 
ist es ja, dass zu allen den Mühseligkeiten des ärztlichen Be¬ 
rufes sich auch noch die Gefährdung durch Angeberei und die 
Möglichkeit strenger Ahndung einer gelegentlichen Abweichung 
vom üblichen Berufshandeln hinzugesellt. Derartiges theilt 
aber die ärztliche mit anderen Berufsarten, denen die Sorge 
um das physische Wohl der Mitmenschen an vertraut wird; hat 
man doch erst jüngst z. B. vom Eisenbahnpersonal gesagt, dass 
es stets mit einem Fusse im Grabe, mit dem andern im Gefang- 
niss steht. Und wie leicht können sich Bauverständige und Indu¬ 
strielle Anklagen wegen fahrlässiger Tödtung nach § 222, Alinea 
2 zuziehen! Ich habe aber nicht das Verlangen gehört, dass dann 
ausnahmslos gleich eine Akademie für das Bauwesen um ein Gut¬ 
achten angegangen oder erst hohe obrigkeitliche Bewilligung von 



14 


Dr. M. Froyor. 


Handels- oder Gewerbekammern eingeholt weiden solle. Den an¬ 
gehenden Medieinern kann man nur zurufen: „drum prüfe, wer 
sich ewig bindet“; die in Praxis getretenen aber sollen, wenn 
ich an einige mehrfach besprochene Vorgänge aus jüngster Zeit 
anspielen darf, es sich recht reiflich überlegen, ehe sie gegen 
Uebel, die zu bekämpfen die Wissenschaft altbewährte Heilmittel 
und unschwere Encheiresen besitzt, mit Medicationen, über deren 
Werth die Erfahrensten noch nicht recht einig sind, oder mit 
Proceduren, welche besondere Geschicklichkeit voraussetzen, zu 
Felde ziehen. 

Wer wirklich die jetzt für die Verfolgung von Kunstfehlern 
geltenden Bestimmungen für höchst verbesserungsbedürftige er¬ 
achtet, der sollte in strengster Consequenz die Aburtheilung über¬ 
haupt den Juristen absprechen und nur medieinischen Gerichts¬ 
höfen zuweisen, wäre dies schon Unrecht, hätte es doch Methode." 


Lieber arachnoideales Emphysem. 


Von Dr. M. Freyer, Kroispliysikus in Stettin. 


Ein gerichtsärztlicher Obduktionsfall bot mir Gelegenheit, 
ein arachnoideales Emphysem zu beobachten, dessen Deutung 
mir nicht sofort klar war, und das daher die Veranlassung zur 
nachfolgenden Betrachtung wurde. 

Im März v. J. secirte ich die Leiche eines Steinschlägers, 
der gegen Abend beim Heimwege auf der Chaussee von einem 
daherfahrenden, mit Holz schwer beladenen Schlitten erfasst und 
überfahren worden war. Er hatte dabei eine grössere Wunde 
über dem linken Orbitalrande und schwere innere Verletzungen 
erlitten, denen er bereits in der folgenden Nacht um 3 Uhr er¬ 
lag. Bei der Section der Schädel höhle fiel nun nach Entfernung 
der Dura eine ganz abnorme Ansammlung von Luftblasen inner¬ 
halb der Arachnoidealräume auf. In dem bezüglichen Seetions- 
protokoll heisst es mit Bezug hierauf: 

„Nach der Entfernung der harten Hirnhaut präsentirt sich 
die Oberfläche der grossen Hirnhalbkugeln mit stark gefüllten 
Gelassen der weichen Hirnhaut und mit. einer auffallend starken 
Ansammlung grösserer und kleinerer Luftbläschen unterhalb der 
weichen Hirnhaut im Verlauf der Blutgefässe und Fluchen des 
Gehirns. Die Ansammlung der Luftblasen ist eine so starke, dass 
die Oberfläche des Gehirns wie mit Schaum bedeckt aussieht. 


Die einzelnen Luftblasen lassen sich längs den Furchen weiter¬ 
schieben und oft zu ganzen Luftcylindern vereinigen.“ 

Und weiter: 

„Nach Entfernung des Gehirns aus der Schädelhöhle, wobei 
bereits eine reichliche Menge klarer, seröser, blutig gefärbter 
Flüssigkeit abfliesst, zeigt sich das Gehirn stark saftig infiltrirt, 
die Luftansammlung jedoch an der Grundfläche des Gc- 



I T c»l*or araclmoiilt’iilt's Kinplivseni. 


15 


hirns viel spärlicher ausgesprochen, doch in den ein¬ 
zelnen Furchen durchaus vorhanden.“ 

Die Deutung dieser abnormen Luftansammlung wurde zu¬ 
nächst noch durch den Umstand erschwert, dass ihre etwaige 
Entstellung durch Fäulniss -wegen der Frische der Leiche über¬ 
haupt — es herrschte noch Winterkälte, und die Leiche hatte über¬ 
dies in einem kalten Raume gelegen — sowie wegen der Frische 
des gesammten Schädelinhaltes auszuschliessen war. Andererseits 
war auch die Annahme auszuschliessen, jene Luftansammlung hätte 
sich vielleicht erst während der Section ausgebildet, indem Luft 
durch die an verschiedenen Stellen etwa angerissene Arachnoidea 
in deren Hohlräume eingedrungen wäre, wie dies ja wohl bei 
jeder Section leicht geschieht. Allein das sind dann immer nur 
vereinzelte Luftblasen, die ebenfalls in den Hirnfurchen zu längeren 
Luftcylindern zusammentreten und sich dort hin- und herschieben 
lassen. Meistens vermehren sie sich noch bei längerem Liegen 



des Gehirns an der Luft. Hier aber war im Gegensatz hierzu 
das gesammte Luftquantum ein ungleich grösseres und imponirte 
sofort als ein ganz abnormes durch den Eindruck, den es durch 
seine Schaumähnlichkeit gewährte. Es war daher nur noch 
an die dritte Möglichkeit, an seine traumatische Entstehung 
intra vitam zu denken, und diese Deutung sollte durch den 
weiteren Verlauf der Section ihre volle Bestätigung erhalten. 

Schon äusserlich war über dem linken Orbitalrande eine 
4 cm lange, dem letzteren parallel verlaufende Hautwunde zu 
bemerken, die auf entblössten Knochen führte, der dazu noch 
muldenförmig eingedrückt und am freien Augenhöhlenrande 
eingebrochen war. Nach Entfernung der harten Hirnhaut von 
der Schädelbasis zeigte sich weiter, dass von dieser Knochen¬ 
impression beginnend, ein Knochensprung durch das obere Dach 
der Orbita zum vorderen Rande der Siebbeinplatte hinzog, hier 
rechtwinklig umbog, durch die ganze Länge der linken Siebbein- 



16 


Dr. M. Freyor. 


hälfte, dem Hahnenkamm parallel, nach liinten weiterzog, den 
hinteren Theil der Platte in einem Durchmesser von 5 mm um¬ 
kreiste und endlich in einer unregelmässigen Linie längs dem kleinen 
Keilbeinflügel wieder nach vorn zog. Der von der Bruchlinie 
umkreiste hintere Theil der Siebbeinplatte war zudem einge¬ 
drückt und gegen das Niveau der übrigen Platte nach 
der Nasenhöhle zu verschoben. Die sofort bei der Section 
aufgenommene Zeichnung Üieser verletzten Stelle veranschaulicht 
leicht die Form der beschriebenen Bruchlinie (s. vorstehende Figur). 

Somit war durch die zerbrochene Siebbeinplatte eine Com- 
munication zwischen der oberen Nasenhöhle und dem vacum cranii 
hergestellt, der Weg also, den die Luft zu nehmen hatte, um in 
die Hirnhöhle zu gelangen, gegeben. Denn der zweite Weg längs 
dem Riss durch das obere Orbitaldach, der ja den freigelegten 
zerbrochenen Orbitalrand mit der durchsprengten Siebbeinplatte 
verband, dürfte für den Lufteintritt weniger in Betracht zu ziehen 
sein, da die Dura über dem Riss nicht mit durchtrennt war, dem 
verletzten Orbitaldache vielmehr durchweg fest anhaftete. Wenn 
dieser Weg daher auch für die Einwanderung von Infektions¬ 
keimen von aussen her sehr gut geeignet gewesen wäre, so war 
er doch zu eng, um grössere Luftmengen zur Hirnhöhle weiter- 
zufuhren. Mit der Vorgefundenen Zertrümmerung der Siebbein¬ 
platte dagegen mussten nicht nur die sie bedeckenden häutigen 
Ueberzüge, die Dura nebst Arachnoidea einer- und die Schneider- 
sche Haut andererseits mit zerreisen, sondern es mussten auch 
einzelne fila olfactoria nebst ihren von der Dura herstammenden 
Scheiden mit durchtrennt werden. Und seitdem die neueren Unter¬ 
suchungsmethoden der Anatomie uns gezeigt haben, dass die 
arachnoidealen Räume nicht nur mit einander, sondern auch mit 
dem strikter subduralen Raume einer- und den epicerebralen Räu¬ 
men nebst den aus ihnen entspringenden perivasculären Mantel¬ 
röhren andererseits communiciren, so kann uns heute das Ver- 
ständniss für den Weg von aussen bis zu den arachnoidealen 
Räumen der Schädelhöhle leichter werden, als es, wie wir weiter 
unten sehen werden, früheren Beobachtern geworden ist. 

Mit dem Yerständniss für den Weg allein war aber in dem 
vorliegenden Falle die Erklärung für das Auftreten des Emphy¬ 
sems noch nicht gegeben. Denn so nahe es auch zu liegen scheint, 
einfach anzunehmen, dass die Luft mit dem Exspirationstrome bei 
den Exspirationsanstrengungen — der Verletzte hatte ja noch 
10 Stunden nach der Verletzung gelebt und nach Angabe der 
Ehefrau viel gestöhnt und über Schmerzen geklagt — in die 
Schädelhöhle liineingetrieben worden sei, ähnlich wie sie bei Ver¬ 
letzung des Thränenbeins oder der sonstigen knöchernen Ver¬ 
bindung zwischen Nase und Orbita bei jedem Exspirationsstoss 
in die letztere getrieben wird und das so oft beobachtete trau¬ 
matische Emphysem der Orbita erzeugt, so muss es doch auffallen, 
dass nicht schon öfters nach ähnlichen Brüchen der Schädelbasis, 
also durch das Siebbein hindurch, wie sie schon oft genug zur 
Beobachtung gelangt sind, eine solche Luftansammlung unterhalb 



Ueber arachnoidealos Emphysem. 


17 


der weichen Hirnhäute beobachtet worden ist. Wenigstens ist 
es mir bei recht emsiger Durchforschung der Literatur nicht ge¬ 
lungen, auch nur einen einschlägigen Fall aufzufinden. Es muss 
daher wohl noch einen anderen Faktor geben, der beim Zustande¬ 
kommen eines traumatischen Emphysems der arachnoidealen Räume 
mitzusprechen hat, und dieser Faktor dürfte vielleicht in folgen¬ 
dem Analogon zu suchen sein. 

Etwa um die Mitte dieses Jahrhunderts ist zuerst von Bischoff, 
dann später von Dittrich, Gerlach und Herz zu Erlangen das 
interessante Phänomen beobachtet worden, dass nach Enthaup¬ 
tungen die Gefässe und das Zellgewebe der weichen Hirn¬ 
häute mit Luft angefüllt angetroffen werden, so dass die Ober¬ 
fläche der Hemisphären hierdurch ein eigenthümliches Ansehen 
erhält. In den mir zugänglichen Beobachtungen der drei letzt¬ 
genannten Forscher heisst es mit Bezug hierauf:*) 

„Die erste Hinrichtung betraf eine Frau von 29 Jahren. 
Der Kopf fiel auf den ersten Hieb und war in der oberen Parthie 
des 3. Halswirbels vom Rumpfe abgetrennt. Anat. Untersuchung ... 
Die Arachnoidea längs der Mittellinie über den Hemisphären 
leicht getrübt, theils gleichförmig, theils in Form von Pacchioni- 
schen Granulationen verdickt. Die Gefässe der Pia mater blut¬ 
leer und mit Luft gefüllt. Ueber den Hemisphären erscheinen 
besonders in dem Zellgewebe der Pia mater zwischen den 

Windungen bis erbsengrosse Luftblasen. Auf der 

blutleeren Basis des Gehirns erscheinen die Venen mit viel Luft 
gefüllt. Die art. bas. collabirt, leer. Auch in dem Zwischen¬ 
zellgewebe der Pia um den Pons, die Med. obl. und um 
das Chiasma nerv. opt. grosse Luftblasen.“ 

Die zweite Hinrichtung betraf einen 49 jährigen Tagelöhner, 
dessen Kopf erst auf den dritten Streich fiel. Die anat. Unter¬ 
suchung ergab: „Das Zellgewebe der Pia mater sowohl auf als 
zwischen den Windungen der Cortikalsubstanz von einer un¬ 
gewöhnlichen Menge Luftblasen erfüllt und dadurch 
emporgehoben; auch in den Gefässen der Pia mater und in den 
Blutleitern viel Luft, dagegen in letzteren wenig weich coagu- 

lirtes, hellrothes Blut.An der Basis des Gehirns finden 

sich ebenfalls in den Maschen des Bindegewebes der Pia 
mater besonders zu beiden Seiten des Pons Varolii und 
um das Chiasma n. opt. kleinere und grössere Luftblasen.“ 

Diese Beobachtungen konnten von Fr. Betz**) bestätigt wer¬ 
den, und auch Luschka sah, wie Bergmann in seinen Kopfver¬ 
letzungen***) anführt, „bei einem mit dem Fallbeil hingerichteten 


*) Beobachtungen an den Leichen von zwei Hingerichteten. Von Prof. 
Dittrich, Prof. Gerlach und Dr. Herz in Erlangen. Piag. Viertelj. 3. 1851. 

Schmidt’s Jahrb. Bd. 72 (1851), p. 13. 

**) Ueber die Luftinjection der weichen Hirnhäute bei Enthaupteten. Von 
Fr. Betz. Württemb. Corr.-BL 48. 1852. Schmidts Jahrb. Bd. 77 (1853), p 291. 

***) Bergmann, die Lohre von den Kopfverletzungen, in Pitha und Billroth, 
Chirurgie, Band III, Abth. 1, pag. 181. 



18 


I)r. Scbmi<lin»iinn. 


Verbrecher an Stelle des ausgeflossenen Liquor Luftblasen die 
subaraclinoidealen Räume erfüllen.“ 

Die richtige Deutung dieses Phänomens war damals bei der 
Unkenntnis» des feineren anatomischen Baues der weichen Hirn¬ 
häute und der physiologischen Vorgänge in den von ihnen ge¬ 
bildeten Räumen wohl kaum möglich. Bischoff erklärt geradezu, 
dass ihm der Grund dieser Luftinjection völlig unklar sei und 
meint, es müsse noch verborgenere Wege geben, durch welche 
die Luft eindringen könne. Dittrich, Gerlach und Herz halten 
den Eintritt der Luft von der durchhauenen Stelle aus zwischen 
Arachnoidea und Pia für unwahrscheinlich, weil diese Membranen 
zu dicht aufeinanderliegeu. Sie nehmen vielmehr einen Eintritt 
durch die Blutgefässe und ein Zerreissen der feinsten Blutgefässe 
an, von welchen aus die Luft in die subaraclinoidealen Hohl¬ 
räume eindringe. Auch Betz schliesst sich der letzteren An¬ 
nahme an, indem er voraussetzt, dass unmittelbar nach der Ent¬ 
leerung der Carotiden und Vertebrales die Luft mit grosser 
Gewalt in diese Gefässe eindringt, die Wandungen der Gefässe 
aber diesem Drucke nicht zu widerstehen vermögen und zer- 
reissen. Seitdem nun aber unter Leyden’s Vorgang von diesem 
und anderen Forschern die Druckverhältnisse in der Schädelhöhle 
näher ergründet sind, weiss man, dass die Umgebung der Gefässe, 
hier also die in den arachnoidealen Räumen befindliche Cerebro¬ 
spinalflüssigkeit, stets einem gewissen Drucke ausgesetzt ist, und 
dass dieser intracranielle Druck mit dem nachlassenden Blut¬ 
drucke zugleich nachlässt. Er wird sogar negativ werden und 
nach Bergmann*) aspirirend wirken können, wenn die Schädel¬ 
höhle blutleer wird, und vermöge dieser Aspirationswirkung 
erklärt Bergmann auch das gedachte Phänomen bei der Ent¬ 
hauptung. 

Es scheint demnach, als ob zum Zustandekommen eines arach¬ 
noidealen Emphysems gleichzeitig eine momentane Blut¬ 
leere der Schädelhöhle erforderlich sei, und dass eine solche 
in unserem Falle im Zeitpunkte der Verletzung thatsächlich vor¬ 
handen gewesen, ist nachträglich aus folgendem Befunde zu 
folgern. 

„Bei der weiteren Section fand sich ein grosser Bluterguss 
in der freien Bauchhöhle, eine Zerreissung des Muse. rect. abdom. 
rechterseits mit starkem Bluterguss in die Bauchdecken, ein 
freier Bluterguss in der linken Pleurahöhle und Zerreissung des 
unteren Lungenlappens mit sehr erheblichem Bluterguss in das 
Lungengewebe hinein, die 5. bis 10. Rippe beiderseits mehrfach 
zerbrochen, die linke Niere stark blutunterlaufen, die rechte von 
der Basis bis zum Nierenbecken zertrümmert und hochgradig mit 
geronnenem Blute imprägnirt, die Leber an mehreren Stellen 
zertrümmert und mit Blutgerinseln erfüllt, endlich blutige Im- 
prägnirung des Gekröses und der lockeren Zellgewebe längs der 
ganzen Wirbelsäule.“ 


*) L c. 



Miesmuschel Vergiftung. 


19 


Es ist klar, dass ein so enormer Blutaustritt nach der freien 
Brust- und Bauchhöhle hin, verbunden mit der durch die aus¬ 
gedehnten Verletzungen gesetzten ShokWirkung, eine momentane 
Blutleere innerhalb der Schädelhöhle zu bewirken durchaus 
geeignet waren, eine Blutleere, die sehr wohl eine so starke in- 
tracranielle Druckschwankung erzeugen konnte, dass gleichzeitig 
eine Aspiration von Luft durch die Frakturstelle der Siebbein¬ 
platte stattfand. 

Ob nun dieser Faktor der gleichzeitigen Blutleere des Ge¬ 
hirns zum Zustandekommen eines araclinoidealeu Emphysems 
durchaus nothwendig ist, lasse icli füglich dahingestellt. In dem 
vorliegenden Falle ist er jedenfalls vorhanden gewesen und 
kann zur Erklärung des Vorgefundenen Emphysems wohl mit¬ 
benutzt werden, falls man den durch den Schmerz sicherlich so¬ 
gar gesteigert gewesenen Exspirationsstrom der Athmung zur 
Bewerkstelligung des Lufteintritts in das Schädelcavum für aus¬ 
reichend nicht hält. Nur weiteren Beobachtungen von Basis- 
frakturen durch das Siebbein hindurch mit etwa consecutivem 
arachnoidealen Emphysem bei gleichzeitigem Fehlen von gros¬ 
sen Blutentleerungen nach aussen oder nach anderen Körper¬ 
regionen hin werden Aufschluss über diese Frage geben können. 

Wenn das in meinem Falle beobachtete arachnoideale 
Emphysem in Anbetracht der ausgedehnten anderweitigen Ver¬ 
letzungen für die Frage nach der Todesursache eine praktische 
Bedeutung nicht mehr erhalten konnte, so kann es in einem 
anderen Falle eine solche Bedeutung doch einmal gewinnen, und 
so dürfte die Publikation dieses, wie es scheint nur selten be¬ 
obachteten, bisher jedenfalls nicht weiter bekannt gegebenen Be¬ 
fundes sicher gerechtfertigt erscheinen. 


Miesmuschelvergiflung zu Wilhelmshaven im Herbst 1887. 

Vom Kreisphysikus Dr. Schmidt mann in Wilhelmshaven. 

Die im October 1885 in Wilhelmshaven stattgehabte Ver¬ 
giftung durch den Genuss von Miesmuscheln, welche den Tod 
von 4 Menschen und die mehr oder minder schwere Erkrankung 
von weiteren 15 Personen bewirkte, wurde durch die am 30. Sept. 
d. J. vorgekommene Vergiftung dreier Personen aufs neue in Er¬ 
innerung gebracht, und gab die letztere Anlass, die bei der früheren 
Muschel-Giftperiode gesammelten praktischen Erfahrungen und 
wissenschaftlichen Errungenschaften zu festigen und zu erweitern. 
Die vor zwei Jahren zuerst entdeckte spezifische Giftigkeit der 
Miesmuscheln veraulasste zahlreiche fortlaufende Thierversuche, 
welche in erster Linie die Thatsache eines örtlich begrenzten 
Giftbezirkes und weiterhin die einer zeitlichen Begrenzung der 
Giftigkeit feststellen Hessen. Der Giftbezirk umfasste damals die 



20 


Dr. Schniidtmann. 


alten Hafenanlagen von der ersten Seeschleuse an landeinwärts. 
Hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung wurde konstatirt: 

Die Giftigkeit bestand schon im September 1885, hielt sich 
auf der Höhe bis zum Dezember und nahm von da an merklich 
ab bis zum April, nach welchem Monat die Giftigkeit erloschen 
schien. Wider Erwarten zeigte sich dann nochmals im August 
1886 eine hochgradige spezifische Gift-Wirkung und zwar im 
besonderen Grade bei Benutzung der im Vorhafen gewachsenen 
Miesmuscheln, trotzdem hier nachweislich gerade zu jener Zeit 
eine häufige und bedeutende Erneuerung der Wassermassen statt¬ 
gefunden hatte. Im September 1886 war nur noch eine abge¬ 
schwächte, theilweise gar keine Giftwirkung der Miesmuscheln 
zu erzielen, und im Oktober 1886 war die Giftigkeit bei allen 
Miesmuscheln vollständig geschwunden. Wie die fortgesetzten 
Thiervsrsuche erwiesen, blieb die Giftigkeit erlosshen im Winter 
1886, Frühling und Sommer 1887. Die letzten Versuche waren 
am 19. Juli 1887 angestellt und hatten die Ungiftigkeit bestätigt, 
da trat Ende September die Giftigkeit der Miesmuscheln durch 
die erneuten Erkrankungsfälle von 3 Männern in Erscheinung 
und wurde alsbald durch den Thierversuch als in vollem Um¬ 
fange und grösster Intensivität vorhanden bestätigt. Da ausserdem 
nachweislich im September 1880 und im Dezember 1883 charak¬ 
teristische Vergiftungen durch Muschelgenuss vorgekommen, so 
hat man mit grösseren anscheinend zweijährigen Hauptperioden 
zu rechnen, wobei zunächst unentschieden bleibt, ob die im August 
und September 1886 beobachtete kürzere Giftperiode ein Anhängsel 
der grösseren des Vorjahres oder eine verkümmerte selbständige 
Giftperiode vorstellt. 

Die Muscheln, welche in diesem Jahre zur Vergiftung An¬ 
lass gaben, waren einem eisernen Prahm der grossen Schwimm¬ 
brücke des Hafenkanals durch einen dort beschäftigten Zimmer¬ 
mann entnommen und wurden von ihm selbst, seinem Vater und 
Bruder gekocht genossen, trotzdem dieselben von anderer Seite 
vor dem Genuss gewarnt waren. Die verzehrte Menge betrug 
bei dem 52 jährigen Vater circa 14 Stück, bei den anderen je 4 
und 6 Stück. Nachdem sich der Vater schlafen gelegt, erwacht 
er 2—3 Stunden später mit den Erscheinungen der weitgediehenen 
Muschel Vergiftung. Bei Ankunft des Arztes war besonders die 
hochgradige Athemnoth, die auch bei den vergifteten Thieren in 
den Vordergrund tritt, ferner die Erkaltung der Extremitäten 
ausgesprochen. Die angewendeten Brechmittel hatten keinen Er¬ 
folg, und der Tod stellte sich 6 Stunden nach der Muschelmahlzeit 
als ruhiges Einschlafen bei erhaltenem Bewusstsein ein. 

Die beiden anderen Personen, Männer im Alter von 23 und 
27 Jahren und von kräftigster Constitution, zeigten schon in der 
Nacht die charakteristischen Vergiftungssymptome: Leichtigkeits¬ 
gefühl etc., am anderen Morgen Lähmungserscheinungen etc. Die 
Krankheitserscheinungen waren dieselben, die bereits bei der 
früheren Vergiftung geschildert wurden. Zur Erprobung des im 
Preuss. Medicin. Kalender I. S. 601 gegen Muschelgift empfoh- 



Miesmuschelvergiftung. 


21 


lenen Natr. earbonic. wurde der eine Kranke mit, der andere ohne 
dasselbe behandelt. Eine Abkürzung’ resp. ein Aufhören der letzten 
Vergiftungserscheiiiungen, welche sich noch über mehrere Tage hin, 
insbesondere durch Schwindelgefühl beim Aufstehen morgens do- 
cumentiren, konnte bei diesem Vergleich nicht beobachtet werden. 
Für die Behandlung der Vergifteten wird man also vorläufig 
daran festhalten müssen, dass Natr. earbonic. als wirksames Gege- 
gift nicht anzusehen ist, und dass in erster Linie für ausgiebige 
Entleerung des Magens und t)armes mittelst energischer Dosen 
zu sorgen, sowie weiterhin eine excitirende Behandlung anzu¬ 
wenden ist. 

Die ärztliche Beobachtung an den diesjährigen Vergifteten 
lieferte fernerliiu die Grundlage zur Richtigstellung einer früheren 
Annahme. Bei der Section des 1885 an Muschelgift Verstorbenen 
war die erhebliche Grösse der Milz (: 2 ctm., 12 ctm.. 4 ctm.) 
direct der Giftwirkung zugeschrieben (Virchow). Nachdem mir 
nach langen Unterhandlungen 1 Stunde vor dem Begräbniss ein 
Einblick in die Bauchhöhle des jetzt Verstorbenen gestattet war, 
fand ich eine Milz von 14 ctm. Länge, 10 ctm. Breite und 4 ctm. 
Dicke. Percutorisch war weder an dem Verstorbenen, noch an 
den beiden anderen Vergifteten eine Vergrösserung der Milz nach¬ 
weisbar. Subjective Schmerzen wurden in der Milzgegend von 
keinem der Vergifteten je geklagt, und doch wird man annehmen 
müssen, dass eine so bedeutende, zumal rapide Organanschwellung 
nicht ohne die grössten Schmerzen vor sich gehen kann. Bei 
den vergifteten Thieren wurde eine Milzvergrösserung nicht ge¬ 
funden. Es ist somit die Annahme berechtigt, dass die frühere 
Auffassung über die Vorgefundene Milzvergrösserung eine irr- 
thümliche war, und dass nicht eine durch Muschelgift, sondern 
vielleicht durch Malariagift vergrösserte Milz Vorgelegen hat. 
Jedenfalls dürfen wir nach der diesjährigen Beobachtung die Milz¬ 
vergrösserung als konstanten Befund der Muschelvergiftung nicht 
mehr ansprechen. 

Nachdem die Vergiftung der Menschen vorgekommen, wurde 
sogleich am Morgen des 1. October die Giftwirkung der Mies¬ 
muscheln, welche von dem Gerichte übrig geblieben waren, durch 
jden Thierversuch erprobt. Dieselben zeigten sich von erschrecken¬ 
der Giftigkeit, indem das erste Kaninchen, welchem 2 Lebern 
unter die Haut gebracht wurden, in weniger als 1 Minute ver¬ 
endete. (In der Regel wurden Kaninchen zu den Versuchen ver¬ 
wendet, und meist mit Einlegen von Muschelstücken unter die 
Haut operirt.) Die weiteren Versuche bezweckten zunächst die 
Feststellung des örtlichen Giftbezirks und ergaben alle Mies¬ 
muscheln, welche sich von der ersten Seeschleusse an der alten 
Hafeneinfahrt landeinwärts fanden, als intensiv giftig. Die Thiere 
verendeten bei Anwendung einer Giftleber in 2—4 Minuten. Ein 
Unterschied in der Giftwirkung zwischen den Muscheln des Boots¬ 
hafens (westliches) und des Vorhafens (östliches Ende) konnte 
nicht konstatirt werden. Die Muscheln der alten Hafeneinfahrt 
erwiesen sich entgegen dem Befund von 1885 ebenfalls stark 



22 


])r. H. Mitten/.weig. 


giftig, so dass ein am Nachmittag vergiftetes Thier in der darauf 
folgenden Nacht, ein anderes sogar nach 1 Stunde verendete. 

Die Muscheln der Jade, Neuen Hafen-Einfahrt, und des sog. 
Handels-Hafens waren ungiftig. Besonders ist der letzterwähnte 
Befund im Handelshafen nacli mehreren Seiten beachtenswerth. 
Einmal beweist er, ebenso wie das Verhalten der Muscheln im 
Vorhafen, dass die Stagnation nicht das wesentliche Moment bei 
der Giftbildung ist, sodann macht er die Bestrebungen, nach der 
äussem Gestaltung und dem Aussehen die giftige von der ungiftigen 
Muschel zu unterscheiden, vollends hinfällig, da sich die im 
Handelshafen gewachsenen gesunden Miesmuscheln in nichts von 
den giftigen der alten Hafenanlagen nach dieser Richtung unter¬ 
scheiden. Dass in dem Wasser des Handelshafens die Bedin¬ 
gungen für die Giftbildung z. Z. noch fehlen, wurde ausserdem 
noch dadurch bewiesen, dass es nicht gelang, hineingesetzte ge¬ 
sunde Muscheln aus der Jade giftig zu machen. Dieser Versuch 
wurde angestellt, da es wegen Hochstand des Wassers lange Zeit 
nicht gelingen wollte, Muscheln aus dem Handelshafen zu erhalten. 

Bei der ersten Üeberlegung erscheint der Gedanke berech¬ 
tigt, dass die verschiedene chemische Zusammensetzung des Wassers, 
verschiedener Salz- und Luft-Gehalt, Vermengung mit Süsswasser 
aus dem Kanal, Schwefelwasser aus dem Boden die ursächlichen 
Bedingungen für die Giftbildung in den Muscheln direct abgeben 
können. Hiergegen spricht jedoch die Thatsache, dass gerade die 
Miesmuschel sich den verschiedenartigsten Gewässern und ver¬ 
schiedenen Breitengraden etc. anpasst, ohne in -ihrem physiolo¬ 
gischen Dasein alterirt zu werden. Ferner ist bei der Periodi- 
cität, welche bisher die Giftigkeit der Muscheln gezeigt, nicht 
anzunehmen, dass so ständig wirkende Ursachen direct und un¬ 
vermittelt in Betracht kommen. Die chemische Zusammensetzung 
des Wassers kommt meines Erachtens (gleich der Stagnation) in- 
direct in Betracht und bedarf der Feststellung insofern, als die¬ 
selbe die Entwickelung des bis jetzt unbekannten Mittelgliedes: des 
Gifterzeugers, ermöglicht resp. begünstigt. 

Auf Veranlassung des Herrn Reg.- u. Med.-Rathes Dr. Rap¬ 
mund wurde trotzdem der Versuch angestellt, ob durch Mischung 
verschiedenen Wassers eine gifterzeugende Einwirkung auf gesunde 
Muscheln zu erzielen sei. Es wurde Leituugswasser und Seewasser 
zu diesem Zwecke in bestimmten Procentverhältnissen gemischt. 
Eine Giftbildung konnte an den hineingebrachten Muscheln nicht 
festgestellt werden, doch liess sich dieser Versuch auch nur auf 
circa 5 Tage ausdehnen, da dann das Wasser anfing zu faulen. 
Jedoch giebt die Ungiftigkeit der Muscheln, in welchem See- und 
Süsswasser zur Mischung gelangt, einen weiteren Beleg, dass in 
dieser Richtung die giftmachende Wirkung des Hafenwassers nicht 
ZU suchen ist. (Schluss folgt.) 



MinisterialVerfügung: Cieimss des Fleisches porlsüchtiger Thiero betr. 23 


Die Ministerialverfügung vom 15. September 1887, 

betreffend den zulässigen Genuss des Fleisches perl¬ 
süchtiger Thiere. 

Von Dr. H. Mittonzweig. 

Eine Eingabe des Niederrheinischen Vereins für öffentliche 
Gesundheitspflege hat dem Herrn Minister der Medieinal-Angelegen- 
heiten Veranlassung gegeben, die bezüglichen Verfügungen vom 
22. Juli 1882 und 22. Juni 1885 einer erneuten Prüfung zu unter¬ 
werfen und mit Abänderung einiger wesentlicher Punkte der letz¬ 
teren unter dem 15. September d. J. nachstehende Verfügung zu 
erlassen: 

„Da sich die durch die Circularverfügung vom 27. Juni 1885 
— ad No. 4678 M — gegebene Richtschnur für die Beurtheilung 
der Geniessbarkeit des Fleisches perlsüchtiger Thiere nicht durch¬ 
weg als zulänglich erwiesen hat, so sehe ich mich veranlasst, 
dieselbe, wie folgt, abzuändern: 

1. Eine gesundheitsschädliche Beschaffenheit des Fleisches 
von perlsüchtigem Rindvieh ist der Regel nach dann anzunehmen, 
wenn das Fleisch Perlknoten enthält oder das perlsüchtige Thier, 
auch ohne dass sich in seinem Fleische Perl knoten finden lassen, 
abgemagert ist. Dagegen ist das Fleisch eines perlsüchtigen Thieres 
dann noch für geniessbar zu halten, wenn 

a) das Thier gut genährt ist und 

b) die Perlknoten ausschliesslich in einem Organ vorgefun¬ 
den werden oder im Fall des Auffiudens in zwei oder 
mehreren Organen diese doch Organe derselben Körper¬ 
höhle und mit einander direct oder durch Lymphgefässe 
oder durch solche Blutgefässe, welche nicht dem grossen 
Kreislauf, sondern dem Lungen- oder dem Pfortaderkreis¬ 
lauf angehören, verbunden sind. 

2. Nach Massgabe der vorstehenden Grundsätze haben 
fortan die Organe der Fleischbeschau bei der Beurtheilung des 
Fleisches mit Perlsucht behaftet gefundener Thiere zu ver¬ 
fahren. 

3. Im Uebrigen bleibt es dem Ermessen des Sach¬ 
verständigen im Einzelfall überlassen, ob und inwiefern nach 
dem geringen Grade der Ausbildung der Perlsucht und der 
übrigens guten Beschaffenheit des Fleisches der Genuss des 
letzteren als eines nur minderwerthigen für statthaft zu er¬ 
achten ist und dementsprechend ein Verkauf desselben auf dem 
Schlachthof unter Aufsicht und namentlicher Angabe der kranken 
Beschaffenheit erfolgen darf“. 

Der Niederrheinische Verein, an dessen betreffender Sitzung 
in Folge einer speciellen Einladung auch der Unterzeichnete 
Theil nahm, hatte sich dahin ausgesprochen, dass sich mit 
der Zunahme der Schlachthäuser eine Verschiedenheit in der 
Auffassung von der Schädlichkeit des Genusses von Fleisch krank 



24 


Dr. H. Mittenzweig. 


befundener Thiere für den Menschen herausgebildet hätte, und 
dass diese Verschiedenheit namentlich hei der Behandlung des 
Fleisches perlsüchtiger Rinder hervorgetreten wäre. Die beiden 
genannten Erlasse hätten diesen Uebelstand nicht beseitigt, indem 
die Voraussetzung, es wäre das Fleisch eines jeden perlsüchtigen 
Rindes, auch wenn der Grad der Krankheit nur eiu geringer und 
das Fleisch von gesunder Beschaffenheit wäre, als minderwerthig 
zu erachten, von einer Reihe städtischer Verwaltungen nicht be¬ 
rücksichtigt würde. Auch der zweite Erlass gestatte dem sanitäts¬ 
polizeilichen Verfahren einen weiten Spielraum, und indem er die 
Entscheidung der Frage, ob das Fleisch für verdorben zu er¬ 
achten, beziehungsweise der Verkauf desselben gegen gesetzliche 
Bestimmungen verstosse, dem Richter Vorbehalte, so entbehrten 
die sanitätspolizeilichen Organe für ihre vorbeugende Thätigkeit 
auch fernerhin der sicheren Directive. 

Der Verein, dessen Wirksamkeit und Werth für die öffent¬ 
liche Gesundheitspflege nicht nur am Niederrhein, sondern in der 
ganzen Monarchie die höchste Anerkennung erworben hat, hat 
an seine Erörterungen die Bitte geknüpft, dass der Herr Mi¬ 
nister in Erwägung ziehen wolle, ob die einschlägigen Fragen 
der Schädlichkeit des Fleisches perlsüchtiger Rinder für den 
menschlichen Genuss und seiner sanitätspolizeilichen Behand¬ 
lung, insbesondere auch der Bedingungen, unter welchen es frei¬ 
gegeben werden darf, nicht zweckmässiger Weise zum Gegen¬ 
stand einer öffentlich zu stellenden Preisaufgabe gemacht werden 
könnte. Der Minister hat letzterem Wunsche stattzugeben nicht 
für opportun gehalten, dagegen Veranlassung genommen, die Ver¬ 
fügungen vom Jahre 1882 und 1885 zu combiniren und zu modi- 
ficiren. 

Eine Besprechung dieser Verfügung dürfte für Medicinal- 
beamte und die betheiligten Kreise von um so grösserem Werthe 
sein, als unsere Kcuntniss und Erfahrung über den gesundheits¬ 
schädlichen Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere noch nicht 
Allgemeingut geworden ist, die Massregeln zur Verhinderung der 
durch den Genuss entstehenden Gefahren noch lebhafter Dis- 
cussion unterliegen und die Merkmale gesundheitsschädlichen Flei¬ 
sches noch keine feststehenden sind. 

Vor Eintritt in die Erörterung der Einzelheiten der Ver¬ 
fügung selbst dürfte es sich empfehlen, das Wesen der Tuber¬ 
kulose wie die genannten drei Punkte in der Kürze zu 
erörtern. Die diesbezügliche Literatur ist eine sehr umfangreiche, 
und ist aus derselben im Wesentlichen benutzt worden: 
die Cellularpathologie von R. Vircliow, 
die Aetiologie der Tuberkulose von Dr. R. Koch, 
das Handbuch der Fleischkunde von Dr. Schmidt-Mülheim, 
der Verkehr mit Fleisch und Fleischwaaren von demselben, 
die Fütterungstuberkulose von Dr. F. Wesener, 

Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der Hausthiere 
von Prof. Friedberger und Fröliner, 

Zeitschriften von Eulenberg, Schmidt u. a. 



Ministeri&lVerfügung: Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere hetr. 25 

Die Massregeln gegen den schädlichen Genuss des Fleisches 
tuberkulöser Thiere und besonders tuberkulöser Rinder lassen 
sich bis in die Urzeiten der menschlichen Geschichte verfolgen. 
Schon im 3. Buche Moses, Capitel 22, Vers 8, heisst es: „Ist es 
aber blind oder gebrechlich oder geschlagen oder dürre oder 
räudicht oder schabicht, so sollt ihr solches dem Herrn nicht 
opfern“, und hieraus wird gefolgert, dass Thiere, welche die 
Schwindsucht hatten, nicht verspeist werden durften. Nach den 
Kirchengesetzen der Franken war der Genuss von Rindern oder 
Schweinen, welche mit der Kadedrie (Perlsucht) behaftet waren, 
verpönt. Im 14. Jahrhundert war bereits in München das Feil¬ 
halten von pfindigem d. h. perlsüchtigem Fleische untersagt. Im 
Beginne des 18. Jahrhunderts machte sich die Ansicht geltend, 
dass die Tuberkulose der Thiere mit der Syphilis der Menschen in 
einem ursächlichen Zusammenhang stände, und dass durch die Sünde 
der Sodomiterei der Mensch bei der geschlechtlichen Vereinigung 
mit einem tuberkulösen Thiere die syphilitische Erkrankung 
erwerbe. Seitdem belegte man die Perlsucht und Tuberkulose 
mit dem Namen der Franzosenkrankheit, ein Name, welcher 
bis auf den heutigen Tag sein Recht in dem Ausdruck * fette 
und magere Franzosen“ behalten hat. Auf Grund dieser An¬ 
schauung musste alles perlsüchtige Vieh radikal vernichtet wer¬ 
den, und diese Vernichtung war eine so kostspielige, dass nach 
den Angaben von Graumann in dem preussischen Staate zu Ende 
des 18. Jahrhunderts noch jährlich für ungefähr 6000 Thlr. perl¬ 
süchtiges Rindvieh getödtet, und sein Fleisch dem Genuss 
entzogen wurde. Erst Ende des Jahrhunderts wuchs die Er¬ 
kenntnis von dieser irrthümlichen Lehre, und noch im Laufe 
der achtziger Jahre wurden in allen deutschen Staaten sämmt- 
liche Vorschriften aufgehoben, welche gegen den Genuss 
des Fleisches von perlsüchtigen Rindern erlassen worden 
waren. Auf diese Weise hatte sich im Ablauf des vorigen 
Jahrhunderts die radikalste sanitäre Beschränkung in die radi¬ 
kalste sanitäre Freiheit bezüglich des Genusses solchen Fleisches 
umgewandelt. Ob mit Recht oder Unrecht, das sollte in unserem 
Jahrhundert entschieden werden. 

Das Wesen der Tuberkulose ist in anatomischer und aetio- 
logischer Hinsicht in einem Grade aufgeklärt worden, dass die 
ältere Generation der noch lebenden Aerzte ihre kühnsten Träume 
erfüllt und übertroffen sieht. Laennec und Virchow, Villemin, 
Klebs und Koch, sowie hervorragende Lehrer der Thierkrank¬ 
heiten haben diesen Umschwung bewirkt und zugleich Veran¬ 
lassung gegeben, dass auch die sanitätspolizeiliche Behandlung 
des Fleisches der erkrankten Thiere eine der neuen Wissen¬ 
schaft und Erfahrung angemessene geworden ist. 

Das Experiment der Einführung tuberkulösen Materials von 
menschlicher und thierischer Herkunft in den Thierkörper, nament¬ 
lich vielseitig vorgenommene Fütterungsversuche haben neben 
einzelnen Erfahrungen am Krankenbett die Ueberzeugung reifen 
lassen, das der Genuss tuberkulösen Fleisches auch bei den 



28 


Dr. H. Mittonzweig. 


Menschen diese Krankheit hervorzurufen vermag, und die 
Entdeckung des Tuberkulosebacillus, wie die Erkenntniss von 
seinen Lebenseigenschaften, seiner Einwanderung und Verbreitung 
in dem thierischen und menschlichen Organismus, lehren uns die 
Mittel und Wege kennen zur Beurtheilung des Fleisches der 
kranken Thiere, zur Erkennung der Gefahren, welche ihr Genuss 
herauf beschwört und zur Auffindung von Massregeln, um das 
menschliche Geschlecht gegen die Gefahr der Ansteckung zu 
schützen. Wir wissen jetzt, dass das wirksame Gift der Tuber¬ 
kulose und Perlsucht, der bewegungslose Tuberkelbacillus mit 
seinen Sporen, hauptsächlich durch die Lungen und den Ver- 
daungstractus in den Körper gelangt, dass er hier im Stande ist 
sich festzusetzen und entweder an der Eingangspforte oder nach 
weiterer Einschleppung in die Körperorgane sich zu entwickeln, 
zu vermehren und krankhafte Veränderungen hervorzurufen. Da 
er eine Eigenbewegung nicht besitzt, so muss ihm die Bewegung 
von anderer Seite mitgetheilt werden. Eine eigene Beweglich¬ 
keit vermittelt er sich selbst durch sein Wachsthum und seine 
Theilung, die fremde erhält er durch die Aufnahme in den Leib 
der Wanderzellen und durch das Hineingerathen in strömende 
Flüssigkeiten des Körpers, sei es Lymphe, Chylus oder Blut. 
Die einzelnen Organe, Drüsen, Lunge, Leber etc., bieten eine zeit¬ 
lang der Verbreitung der Bacillen über ihr Terrain hinaus Wider¬ 
stand. Später oder, wenn letztere in grossen Haufen einwandern, 
überwinden sie sofort dieses Hinderniss und fuhren zur Allgemein- 
infection. Hiermit sind die Strassen markirt, auf denen wir den 
Bacillus oder seine Kolonien mit ihren pathologischen Folgen zu 
suchen haben. Die Lungen bieten dem Bacillus ein geeigneteres 
Terrain zur Ansiedelung, als der Verdauungskanal. An dieser Ein¬ 
gangspforte finden wir deshalb die häufigsten und verbreitetsten 
tuberkulösen Herde. Doch ist es auch nicht selten, besonders für 
das kindliche Alter, dass die Lungen frei, dagegen die nächste Station, 
die bronchialen Lymphdrüsen die erste Gelegenheit zur Ansiedelung 
geboten haben. Für den Verdauungskanal gilt das Gegentheil; 
hier findet sich primäre Tuberkulose der Mesenterialdrüsen in der 
überwiegenden Mehrzahl, während primäre Affectionen der Schleim¬ 
häute und der Ivanalwandungen zu den Seltenheiten gehören. 

Adam in Augsburg fand bei 3451 tuberkulösen Rindern: 
1230 Fälle von Tuberkulose der Lungen und serösen Häute, 
1725 Fälle von Lungentuberkulose, 

480 Fälle von alleiniger Tuberkulose der serösen Häute und 
10 Fälle von Tuberkulose anderer Organe. 

Er erwähnt keinen Fall von primärer Erkrankung des Dar¬ 
mes oder Magens selbst. 

Von äusserster Wichtigkeit für die Fleisbeschau ist der Um¬ 
stand, dass das Muskelfleisch der erkrankten Thiere so selten 
tuberkulös erkrankt, dass man zu der Annahme berechtigt ist, 
die Muskelfaser des Schlachtthieres sei stets gesund. Da es 
indes unmöglich ist, das Bindegewebe mit seinen Lymphspal¬ 
ten und mit den aus diesen sich bildenden oder im Gewebe ver- 



MinisterialVerfügung: Genuss des Fleisches porlsüclitiger Thiere hetr. 27 

laufenden Lymph- und Blutgefässen aus der Muskulatur her¬ 
auszunehmen, so ist man gezwungen bei Verdacht der tuberkulösen 
Affection der muskulären Lymphbahnen den Verdacht der 
Giftigkeit auf die Muskulatur selbst auszudehnen und darnach 
seine sanitären Massregeln zu treffen. Wir berühren hiermit 
den Punkt, der für die moderne Fleischbeschau voraussichtlich 
für immer oder wenigstens auf lange Zeit hin die Richtschnur 
abgeben wird, nämlich die Zustände der sogenannten lokali- 
sirten und general isirten Tuberkulose. 

Unter lokalisirter Tuberkulose versteht man den Kraukheits- 
zustand, bei welchem die Erkrankung örtlich begrenzt ist, und 
wo aus der allgemeinen Beschaffenheit des Thieres, wie aus dem 
Sitze und der Verbreitung der örtlichen Krankheitsherde der 
Schluss gezogen werden darf, dass das Gift nicht in die arte¬ 
rielle Abtheilung des Blutkreislaufes gedrungen ist *) 

Wir dürfen in diesem Falle annehmen, dass trotz der Er¬ 
krankung eines oder mehrerer Körperorgane, und zu letzteren 
rechnen wir selbstverständlich auch die kleineren und grösseren 
Lymphdrüsen, dennoch die Muskulatur vor der Einwanderung des 
Giftes bewahrt geblieben ist und dass deshalb keine Veranlassung 
vorliegt, das Muskelfleisch von der menschlichen Nahrung auszu- 
schliessen. 

Anders verhält es sich bei generalisirter (allgemeiner) Tuber¬ 
kulose. Mit diesem Zustande benennt man die totale Infection 
des Körpers, bei welcher man anzunehmen hat, dass der arterielle 
Abschnitt des Blutkreislaufes oder wenigstens der grösste Theil 
desselben mit Tuberkelgift inficirt ist, und den wir dann als vor¬ 
handen annehmen müssen, wenn der allgemeine Körperzustand dafür 
spricht, oder wenn wir Beweise dafür finden, dass das Gift bereits in 
den arteriellen Kreislauf des Blutes eingedrungen und durch dessen 
Strömung in die verscliiedensten Körperterritorien getrieben ist. 
Dies erkennen wir an der Erkrankung solcher Organe, von denen 
wir berechtigt sind anzunehmen, dass nur das Blut der arteriellen 
Bahn ihnen in ihrer Gesammtheit die Tuberkelbacillen zu¬ 
führen kann, nicht aber die Portalvene oder die grosse venöse 
Blutbahn. 

Halten wir diese beiden Gesichtspunkte für zutreffend, so 
gewinnen wir einen festen Anhaltspunkt, um die Gesundheits¬ 
gefährlichkeiten des Genusses von Fleisch tuberkulöser Herkunft 
zu beurtheilen, und ebenso haben wir daran einen Massstab für 
die Zweckmässigkeit von specielleren Vorschriften, nach welchen 
diese gasundheitliche Beschaffenheit festgestellt werden soll, ge¬ 
wonnen. 

Wir beschränken uns an dieser Stelle darauf, die Ver¬ 
fügung vom 15. September 1887 nach dieser Richtung hin zu 
prüfen. (Schluss folgt.) 


*) Statt der Bezeichnung „grosser und Lungen-Kreislauf“ ziehen wir den 
Ausdruck „arterielle und venöse Blutbahn“ vor, da sich hierdurch die lnfec- 
tioiwterritorien und ihre Abgrenzung deutlicher markiren. 



28 


Dr. H. Mittenzweig. — Referate. 


Referate. 

Die Ohnmacht bei der Geburt vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 

Eine Abhandlung für Aerzte u. Juristen v. Dr. Moritz Frey er, Kreis- 
physikus in Darkelimen. Berlin. Verlag v. Julius Springer. 1887. 

Freyer, der durch seine Kasuistik in der Eulenberg'schen Vierteljahrs- 
schrift sich bereits als scharfsinniger Beobachter und klar combinirender Ge¬ 
richtsarzt erwiesen hat, hat sich in „der Ohnmacht bei der Geburt“ die Auf¬ 
gabe gestellt, dieses in der Neuzeit zu Unrecht vernachlässigte Thema von 
Grund auf zu bearbeiten und neues Material zu seiner Klärung zu gewinnen. 
Letzteren Weg hat er mit neuen Mitteln betreten und mit grosser Beharr¬ 
lichkeit vollendet. 

Er wollte ein für allemal feststellen, dass die Möglichkeit des fraglichen 
GeburtsVorganges durch unzweifelhafte Beobachtungen gestützt wird, und dass 
eine Wahrscheinlichkeit für sein Vorkommen auch in gerichtlichen Fällen an¬ 
zunehmen ist. Zu diesem Zwecke hat er reiches literarisches Material gesam¬ 
melt und Rundfragen bei Aerzten und Juristen gehalten. 

Geleitet von dem alten Schmidt’schen Grundsätze: „Der Factor der Wahr¬ 
heit und des Rechts soll nie dem der Billigkeit unterliegen“, dessen Hand¬ 
habung besonders der bedauernswerthen Klasse der heimlich Gebärenden zu 
Gute kommen soll, bekämpft er die Ansicht vieler Gerichtsärzte, dass solche 
Angeklagte allzuhäufig den leeren Einwand der Ohnmacht bei der Geburt 
machten. Wie ihm dies gelungen, das zu beurtheilen. möchte ich dem Leser 
selbst überlassen. Freyer selbst stellt als Resultat seiner Untersuchungen 
Folgendes hin: 

1. Die Möglichkeit eines Geburts Vorganges während einer Ohnmachtsbe- 
wusstlosigkeit ist theoretisch unbestreitbar und durch zuverlässige Be¬ 
obachtungen erwiesen. 

2. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Vorgang bei der heimlichen Geburt 
verhältnissmässig häufiger vorkommt; jedenfalls häufiger, als unter ge¬ 
wöhnlichen Verhältnissen. 

3. Bei der Beurtheilung des gegebenen Falles hat man nach dem 
Vorhandensein derjenigen Bedingungen zu forschen, welche erfahrungs- 
gemäss zum Zustandekommen einer Gebäractsohnmacht nothwendig sind. 
Von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieser Bedingungen 
wird auf eine grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit der be¬ 
haupteten Ohnmacht zu schliessen sein. 

Wenn wir uns gestatten, den Verfasser darauf aufmerksam zu machen, 
dass in der Literatur noch manches Goldkorn verborgen liegt, welches 
er nicht angeführt so z. B. in „Frankenhäuser: Monatsschrift für Geburts¬ 
kunde 1866“, und wenn wir auch in der Deutung mancher von ihm ange¬ 
führter Fälle zu anderen Resultaten gekommen sind, so können wir ihm doch 
nur zu grossem Danke verpflichtet sein, dass er dieses heikle Thema für seine 
Arbeit gewählt und dass er es in so gründlicher und eigenartiger Weise be¬ 
handelt hat, dass jeder Arzt und Jurist es mit Vergnügen lesen und mit Be¬ 
friedigung aus der Hand legen wird. 

Sein Studium sei deshalb bei den bet heiligten K re i sen au f das Wärmste 
empfohlen. 

Berlin. Mitten zweig. 


Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau. Von Dr. Anton Baränski, 

Professor an der K. K. Thierarzneischule in Lemberg. Dritte 
gänzlich umgearbeitete und vermehrte Auflage. Wien und 
Leipzig. Urban und Schwarzenberg 1887. 

Die Anleitung dos rührigen Verfassers bringt in ansprechender Darstellung in 
einem allgemeinen Theile die Grundsätze der Vieh- und Fleischbeschau, eine Be¬ 
schreibung der Beschaffenheit dos lebenden und geschlachteten Viehes, welches 
zur menschlichen Nahrung dienen soll, und eine Darstellung der Schlachtung und 
der Schlachthäuser, um dann in einem besonderen Theile auf die Vieh- und 
Fleischbeschau in Oesterreich und Deutschland überzugehen. Den Medicinal- 



Verordnungen und Verfügungen. 


29 


beamten interessiren von den folgenden Abschnitten besonders die Ausfüh¬ 
rungen über die Beschaffenheit des Fleisches, über Geniessbarkeit und Unge- 
niessbarkeit desselben, wie auch der Abschnitt VI., welcher von den Krank¬ 
heiten handelt, bei deren Vorkommen der Fleischgenuss verboten ist. 

Dass sich die Anschauungen über die sanitatspolizeiliche Behandlung des 
Fleisches kranker Thiere allmählich consolidiren, geht unter Anderm aus dem 
Urtheile über die Geniessbarkeit und Verwerthung des Fleisches von perlsüch¬ 
tigem Schlachtvieh hervor. 

Eine Darstellung der gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen über 
Fleischbeschau in Deutschland schliesst diese Anleitung, deren Studium allen 
Fachmännern sehr zu empfehlen ist. Auch der Umstand, dass sich Verfasser 
vielfach eng an die Ansichten von Schmidt-Mülheim anlehnt, ist dem Buche 
nicht zum Schaden gewesen. 

Berlin. Mittenzweig. 


Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nach 
Verletzungen. Von Dr. Becker, Königl. Bezirks-Physikus. Berlin 
1887. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin. 

Die Anleitung soll einem praktischen Bedürfnisse Rechnung tragen und 
wird voraussichtlich der Vorläufer manch ähnlicher Arbeit werden. Bisher 
waren wir bei Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit, besonders bei der heiklen 
Frage ihres Prozentsatzes vielfach auf die ungenügenden Definitionen angewiesen, 
welche die Statuten der Unfallversicherungen, des Militär-Invaliden-Gesetzes etc. 
bieten, wenn wir nicht vorzogen, nach freiem Ermessen zu urtheilen. Jetzt 
bietet uns Verfasser einen Leitfaden, in welchem er auf Grund zusammen 
— respective einander gegenüber gestellter Erkenntnisse und massgebender 
Begriffsbestimmungen neue Normen zu errichten versucht. Ob diese in der 
Praxis bestehen werden, dass wird die Praxis selbst lehren. Auf jeden Fall 
bietet Verfasser für den concreten Fall einen Anhalt, an welchen der Sach¬ 
verständige sich anlehnen kann. Dass dem subjectiven Ermessen des Sach¬ 
verständigen ein weites Feld bleibt und die Gewinnung von Normen eine 
äusserst schwierige ist, hebt Verfasser gelegentlich der Besprechung der Simu¬ 
lation besonders hervor. 

Eine eingehende Berücksichtigung hat im II. Abschnitte die Würdigung 
der Verletzungen der einzelnen Körperterritorien erfahren, und enthält dieser 
Theil, welcher bisher in der Literatur sehr stiefmütterlich behandelt war, 
manchen Fingerzeig für die Beurtheilung des concreten Falles. 

Wenn die Anleitung den Praktiker nicht völlig befriedigt, so ist dies 
nicht dem Verfasser, sondern der Eigenartigkeit des Stoffes beizumessen, 
dessen Behandlung bisher der medicinischen Wissenschaft ferner lag und erst 
durch die Unfallsgesetze näher gerückt ist. Eine reichere Erfahrung wird 
auch in dieses Gebiet, das augenblicklich noch vielfach auf theoretischem 
Raisonnement beruht, mehr Fleisch und Blut bringen. Das Buch verdient warme 
Empfehlung und wird sich gewiss trotz mancher Mängel schnell bei den dies¬ 
bezüglichen Sachverständigen und Richtern einbürgern. 

Berlin. Mitten zweig. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Terzeiciiniss 

deijenigen Geheimmittel, welche chemisch untersucht worden 
sind und deren öffentliche Ankündigung in Berlin verboten wurde. 


Achilles Wundsalbe. 

Asch’s Sc Sohn Causticums. 

Abdallah’s Gholera-Liqueur. 

American coughing eure. Heilmittel gegen 
Lungenleiden. 

American consumption eure. 

Barella’s Universal-Mageftpulver. 

Becks Dr. Kräutersaft gegen Keuchhusten. 


! Barheine’s Universal-Zahntropfen. 
Buchholz’s Thee gegen Krampfleiden. 
Bräutigam’s Bandwurmmittel. 
Bieritz-Amyna-Gichtmittel. 

Brandts Schweizer-Pillen. 

Barheine’s Zahnengel. 

Bilfinger’s Balsam gegen Gicht. 
Bäuchler’s Zahnextract. 



30 


Verordnungen und Verfügungen» 


Becker’&che Pillen gegen verschiedene 
Leiden. 

Brose’s Heilmittel gegen Flechten. 
Barella's Traubenwein. 

Beister’s Rheumatismusheil. 

Cotti’s Schönheitsmittel und Hustenheil. 
Dreher’s Hundswuthmittel. 

Desmarets Hämorrhoidalmittel. 
Emmerich’s Göttertrank gegen Magen* 
leiden. 

Endruweit’s Bandwurmmittel. 

Esser’s Huhneraugentinctur. 

Engeljohann, Mittel gegen Zahnschmerzen. 
Fiereking’s Bandwurm-Pastillen. 

Frankens spezifisches Pflanzenheilpulver. 
Funke’s Pflanzenheilpulver. 

Falkenberg’s Trunksuchtsmittel. 

Fritsche Frau, Heilmittel gegen Magen* 
leiden. 

Flothow’s giftfreies Ungeziefer-Vertilgungs¬ 
mittel. 

Geist’s Mittel gegen Blasenleiden. 
Gerbsch’s Salbe gegen Brustwunden. 
Guckuck’s Salbe gegen Wunden. 

Gerlach’s Praeservativ-Cream. 

Goldstein’s Gicht- und Rheumatismus- 
Balsam. 

Golz’sche Heilmittel gegen Zahnschmerzen. 
Glein’s Universalthee. 

Gadczika Invalide, Mittel gegen Lungen¬ 
leiden. 

Grinot’s Mittel gegen Magenleiden. 
Heimann’s Trunksuchtsmittel. 

Haberecht’s Universalthee. 

Hager’s Catarrh-Pillen. 

Herzig’s Kaisertropfen. 

Heil-Essig gegen Lungenkrankheiten. 
Homeriana-Thee, Schwindsuchtsmittei. 
Harzer Gebirgsthee. 

Hennigs Bandwurmmittel. 

Happes Heilmittel gegen Kolik. 

Hess’sche Lebens tropfen. 

Helmsen’s Pillen gegen Frauenleiden. 
Harmsen’s Pflanzenauszug. 

Haarlemer Tropfen. 

Jacobi’s Koenigstrank. 

St. Jacobs’s Tropfen. 

Kleins Gicht- und Rheumatismusmittel. 
Konetzki’s Trunksuchtsmittel. 

Koenig’s Rheumatismustinctur. 

Kwiet’s Pflaster. 

Kirchner’s Balsam oder Poren-Oel. 
Kiekebusch’s Keuchhustenmittel. 

Knop’s Diphtheritismittel. 

Kwiet’s Lebensthee, Extract, Universal¬ 
pflaster. 

Keim’s Trunksuchtsmittel. 

Kirstens Bandwurmmittel. 

Koepcke’sche Choleratropfen. 

Kretschniar, Mittel gegen Zahnschmerz. 
Kühne, Mittel gegen Blähungen bei 
Pferden. 


Kräuter-Liqueur gegen Rheumatismus. 
Luhnerts Restitutions-Fluid. 

Lehmann’s Heilmittel gegen Diphtheritis. 
Lieber’s Dr. Nerven-Kralt-Elixir. 
Lehmann’s Thee. 

Lohse’sche Heilmittel gegen Zahnschmerz, 
v. Lossberg’s Einreibung für Frauen. 
Lützow’s Heilmittel gegen Lungenleiden. 
Lallement’s Blutrehiigungsthee. 

Müller’s Dr. Mirakulo-Präparate. 

Müllers Lebensei ixir. 

Mohrmann’s Bandwurmmittel. 

Mohrmann’s Zahnrenovator. 

Meyer’s Heilmittel gegen Kopfschmerzen. 
Meyer’s Heilmittel gegen Rheumatismus. 
Mark’s Zahnsyrup. 

Meyer’s Heilmittel gegen Blasenleiden. 
Maaz, Uni versal-Balsam. 

Manthes Schweizer-Alpenthee. 

Meissner’s Schweizer-Alpenthee. 

Meyer’s Heilmittel gegen Magenleiden. 
Maass’sche Muskauer Blutreinigungs-Pillen. 
Mariazeller Magentropfen. 

Narewski’s Gicht* und Rheumatismusfluid. 
Neumanns Schwindsuchtsmittel. 

Netz’sche Bräune-Einreibung und Ver- 
dauungs- und Lebens-Essenz. 

Nicolai’s Hämorrhoidal-Liqueur. 

Naedgelers Salbe gegen Hautausschlag. 
Neubecker’s Hustensyrup. 

Otto’s Lebens-Oel. 

Oelmann’scher Wund-Balsam. 

Penellis Dr., Graines de beaute. 

Popp’s Magenmittel. 

Pfotenhauers Bandwurmmittel. 

Pagliano’s Pulver u. Syrup. 
Polychrest-Thee. 

Pain-Expeller. 

Röhls Bandwurmmittel. 

Rosetters Haar-Regenerator. 

Dr. Richter’sche Eisenpillen. 

Rothe’s Heilmittel gegen Gesichtsfinnen. 
Schönfeld’s Migräne-Extract. 

Sperpers Brustpastillen. 

Salomons Augenbalsam. 

Schmidt’s Dr., Gehöroel. 

Sachs, Magen-Lebens-Essenz. 

Stahn’s Mirakulo-Injection und Mirakulo- 
Pillen. 

Scholz’s Heilpflaster. 

Sachs, Pain Expeller. 

Shaker Extract. 

Sauter’s electrohomöop. Salbe und Pillen. 
Selle’s Heilmittel gegen Lungenleiden. 
Schmeling’s Heilmittel gegen Leber¬ 
krankheit. 

Schallers Heilmittel gegen Lungenleiden. 
Sachshausers Catarrh- und Magensalz. 

I Stange’sche Asthmasalbe. 

! Strucks Heilmittel gegen Magenkrampf. 
Schwarzlose’s Heimittel gegen Zahn¬ 
schmerzen. 



Personalien. 


31 


Spelmamfs Magentropfen. 

Simpson’sche Lotion gegen Leiden des 
Gehörganges. 

Selle's Heilmittel gegen Lungenleiden. 
Smiths Diphtheritis-Mittel. 

Sachs alte Schadensalbe. 

Sandrocks Blutreinigungs*Thee. 

Dr. Schumacher’s Rheumatismusheil. 
Schmidt, Dorothea, Mittel gegen Augen¬ 
leiden. 

Schöne, Droguist, Mittel gegen Kopf¬ 
schmerz. 

Stornier, Thorner Lebenslropfen. 

Dr. Spranger'sche Heilsalbe und Magen¬ 
tropfen. 

Spanischer Kräuterthee. 

Speer, Heilmittel gegen Magenkrampf. 
Trantows Gicht- und Rheumatismusmittel. 
Telle’s Heilmittel gegen Schwächezustände. 
Tinkalin, Heilmittel gegen Zahnschmerzen. 
Thorner Lebenstropfen. 


Ullrichs Wundwasser. 

Voss’che Catarrhpillen. 

Volkmann’s Gichtbalsam. 

Vollmann’s Trunksuchtsmittel. 

Wolffs Gicht- und Rheumatismus-Tinctur. 
Wipprecht’s Haarzucker. 

Wilhelm’s Blutreinigungsthee. 

Wortmann, Mittel gegen Blutspeien. 
Weber’s Dr. Alpenkräuterthee. 

Wendt’s Heilmittel gegen Rheumatismus. 
WurfTs Heilsalbe. 

Werner’s Catarrh- und Hustentropfen. 
Warners Safe Cure. 

Weidemann’s Homerianatliee. 

Weissmann’s Schlagwasser. 

Zimmermann’s Magensalz. 

Zeidler’s Universalthee. 

Zenkner’s American consumption eure. 
Dr. Zacharias Litholydium gegen Blasen¬ 
leiden. 

Zechlin’sches Mittel gegen Rheumatismus. 


Bekanntmachung« 

Die Polizei-Verordnung vom 7. Februar 1. J., betreffend Desinfection, ordnet 
im § 1 für jeden Krankheits- wie Sterbefall an asiatischer Cholera, Pocken, 
Diphtherie, Fleck- und Rückfall typlius unbedingte Desinfection an, für welche 
die unter demselben Tage veröffentlichte Anweisung zum Desinfektions-Ver¬ 
fahren bei Volkskrankheiten die Auslührungsbestimmungen enthält. 

Nachdem wiederholt Fälle vorgekommen sind, in welchen die nothwendige 
Desinfektion erst Tage und Wochen nach der Genesung oder dem Tode der 
Erkrankten stattgefunden hat, sehe ich mich veranlasst, die Herren Aerzte 
hiesiger Stadt ergebenst zu ersuchen, in den Eingangs gedachten Fällen dahin 
zu wirken, dass die vorgeschriebene Desinfektion bald thunlichst nach dem 
Ablauf der Krankheit stattfindet, gleichzeitig aber auch die Vorschriften der 
Anweisung zum Desinfektions-Verfahren bei den übrigen dort aufgeführten 
Krankheiten vorkommenden Falles zur Nachachtung zu empfehlen und die 
Betroffenen über Lage und Thätigkeit der städtischen Desinfektions-Anstalt 
Reichenbergerstrasse 66 zu unterrichten. 

Berlin, den 28. Dezember 1887. Der Polizei-Präsident. 

Freiherr v. Richthofen. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Seine Majestät der König haben allergnädigst geruht, den pract. Aerzten 
Dr. Oscar Rothmann und Dr. Clemens Mayer in Breslau den Character 
als Sanitätsrath zu verleihen. 

Ernennungen t 

Der seitherige Hilfsarbeiter beim Medicinal-Collegium der Rheinprovinz, 
Kreisphysikus Sanitätsrath Dr. Schulz in Coblenz ist zum Medicinal-Assessor 
bei dem genannten Collegium, der seitherige commissarische Verwalter der 
Kreiswundarztstelle des Kreises Gumbinnen, Dr. Gebhard in Gumbinnen, 
definitiv zum Kreiswundarzt und der seitherige commissarische Verwalter des 
Physikats des Kreises Stolzenau, Dr. Tampke in Stolzenau, definitiv zum 
Kreisphysikus des gedachten Kreises ernannt worden, der praktische Arzt Dr. 
Kuhnt in Zossen ist zum Kreis-Physikus des Kreises Schmalkalden, der seit¬ 
herige commissarische Verwalter der Kreiswundarzt-Stelle des Kreises Kalau, 
Sanitätsrath Dr. Malin zu Senftenberg. ist definitiv zum Kreiswundarzt des ge¬ 
dachten Kreises ernannt, und der Kreis-Physikus des Kreises Liebenwerda, Dr. 
Rünger, in gleicher Eigenschaft in den Kreis Springe versetzt worden, der seit¬ 
herige commissarLsche Verwalter des Kreisphysikates des Kreises Münden (Keg.- 



32 


Preußischer Medicinalbeamtenverein. 


Bez. Hildesheim) Dr. Schulte zu Münden zum Kreisphysikus gedachten Kreises 
und der praktische Arzt Dr. Schueter zum Kreiswundarzt des Kreises Pyritz, 
der bisherige interimistische Verwalter der Kreisphysikatsstelle des Kreises 
Stolzenau Dr. Tampke in Stolzenau ist definitiv zum Kreisphysikus des ge¬ 
dachten Kreises ernannt. 

Yorstorben sind: 

Amtsphysikus a. D. Sanitätsrath Dr. Justi in Marburg, Kreisphysikus 
Sanitätsrath Dr. Dupr e in Ahaus (Westphalen) und Kreisphysikus Dr. Lorentzen 
in Schleusingen. 

Apotheken-Angelegenheit: 

Der Apotheker Wiese hat in Styrum eine neue Apotheke eröffnet Die 
bisher in Schwarzenfels bestehende Koerner'sche Apotheke Ist nach Sterbfritz 
verlegt worden. 

Yakante Stellen: 

Kreisphysikat Schleusingen, Meldung: beim Regierungspräsident Herrn 
von Brauchitzsch in Erfurt; Kreisphysikat Briesen in Westpreusaen, Meldung: 
beim Regierungspräsident Frhr. von Massenbach in Marienwerder; Kreis¬ 
wundarztstelle der Kreise Wreschen, Meseritz und Schroda, Meldungen bis 
20. Januar 1888 bei der Kgl. Regierung in Posen (Abtlg. d. Innern). Aus¬ 
nahmsweise können auch Aerzte, welche die Physikatsprüfung noch nicht be¬ 
standen haben, sich aber zur Ablegung derselben in angemessener Frist ver¬ 
pflichten, Berücksichtigung durch interimistische Besetzung finden. 


Preussischer Medicinalbeamtenverein. 

Den Mitgliedern des preussischen Medicinalbeamtenvereins die ergebenste 
Mittheilung, dass der von dem Unterzeichneten Vorstande mittelst Rund¬ 
schreibens vom Dezember v. J. zur Abstimmung gebrachte Vorschlag, betreffs 
der im Verlage von Fischer'« medicinischer Buchhandlung H. Kornfeld in 
Berlin neu erscheinenden „Zeitschrift für Medicinalbeamte“ fast einstimmig 
— nur ein Mitglied hat sich dagegen erklärt — angenommen ist. 

Der in Folge dessen mit dem Verleger abgeschlossene Vertrag, tritt vom 
1. Januar d. J. in Kraft und entspricht in seinen Bedingungen genau den¬ 
jenigen, welche den Vereinsmitgliedern in dem obenerwähnten Rundschreiben 
mitgetheilt sind. Darnach wird die gedachte Zeitschrift jedem Mitgliede auf 
Vereinskosten regelmässig zugestellt und das Abonnement aus der Vereinskasse 
bezahlt werden. Dieselbe wird ferner als offlcielles Vereinsorgftn zu allen 
Bekanntmachungen des Vorstandes, zur Veröffentlichung der Tagesordnungen 
für die Hauptversammlungen, zur Besprechung von Vereinsangelegenheiten 
u. s. w. benutzt werden und kommt in Zukunft die Absendung besonderer 
Rundschreiben an die Vereinsmitglieder in Wegfall. 

Indem der Vorstand den Wunsch ausspricht, dass auf diese Weise eine 
bessere Fühlung und lebhaftere Verbindung zwischen ihm und den Vereins¬ 
mitgliedern angebahnt werden möge, bittet er dieselben zugleich, sich mög¬ 
lichst zahlreich als Mitarbeiter an der Zeitschrift zu betheiligen und in der¬ 
selben nicht nur interessante eigene Beobachtungen und Erfalirungen aus dem 
Gebiete der Htaatsarzneikunde zu veröffentlichen, sondern auch Besprechungen 
von Tagesfragen, Vereinsangelegenheiten u. s. w. anzuregen. 

Behufs prompter Zustellung der Zeitschrift, werden die Mitglieder ausser¬ 
dem gebeten, etwaigen Wohnungswechsel oder unrichtige Bezeichnungen in 
den Adressen umgehend dem Unterzeichneten Schriftführer des Vereins an- 
zeigen zu wollen. 

Der Vorstand des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

Im Auftr. 

Dr. Otto Rapmund 

Reg- u. Medicinalrath, Schriftführer des Vereins. 


Fürstl. prlv. Hof buch druckerel (F. Mitzlaff), BttdoUUdt. 




^ Zeitschrift —^ 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Heraasgegeben Ton 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.* und Medidnalrath in Aurich. 

and 

Dr. W1LH. SANDER 

Medidnalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6- 



Erachelnt mm 1. Jeden Monat*. 

Preis jä.hrlioh 6 Hark. 


1. Februar. 


INH 

Seite 

Original-Mittheilunffen: 

Die Bedeutung der Lehre von der Fett- 
embolle für die gerichtliche Medlcin. 

Von Prof. Dr» E. Ungar.33 

Aerztliche Sohnlrevlslon im Reg.-Bez. 
Düsseldorf. Von Dr. /Immermann . 39 

Die Hinlsterialverfügung vom 15. Sep¬ 
tember 1887, betreffend den zulässigen 
Genuss des Fleisches perlsüchtiger 
Thiere. Von Dr. H. Mittenzweig 
(Schluss).42 


ALT: 

Seite 

Miesmuschel Vergiftung zuWllhelmshaven 
im Herbst 18*7. Von Dr. Sehmldtmann 


(Schluss).49 

Trlchinosls ln Inowrazlaw. Von Dr. Ro- 
quette.54 

Referate: 

Dr. C. Moell, Ueber irre Verbrecher . 50 

Das preussische Medicinalweeen 
nach dem Staatshaushalts-Etat 

für das Jahr 1888/89 .öl 

Bekanntmachungen.ö 2 

Personalien.63 


Die Bedeutung der Lehre von der Fettembolie für die 

gerichtliche Medicin. 

Von Prof. Dr. Emil Ungar in Bonn. 

Wird an irgend einer Stelle des Körpers flüssiges Fett frei, 
und gelangt in Tropfenform in die Blutbahn, so wird dasselbe in 
der Richtung des Blutstromes mit fortgeschwemmt, bis es in den 
Capillaren oder in den capillaeren Arterien, welche die Tropfen 
ihrer Grösse wegen nicht mehr passiren können, angehalten wird 
und hier die sogenannten Fettembolieen bildet. Nachdem bereits 
Magendie, Virchow, Cohn, Otto, Weber u. A.*) solche Fett¬ 
embolieen bei Thieren experimentell vermittelst Fettinjectionen 
erzeugt und beschrieben hatten, machte zuerst Zenker**) die 
Mittheilung von dem Vorkommen einer Fettembolie der Lungen 
bei einem zwischen die Puffer der Eisenbahnwaggons gerathenen 
und sofort verstorbenen Manne, ohne jedoch diesem Befunde, „als 


*) S. Scriba. Unters, über die Fettembolie. Deutsche Zeitschr. für 
Chirurgie Bd. XII. p. 118. 

**) Beiträge z. normalen u. putliol. Anatomie der Lunge. Dresden 1802. 












34 


Prof'. Pr. E. Ungar. 


einem von der Natur angestellten pathologischen Experiment", 
eine grössere praktische Bedeutung beizulegen. Fast gleichzeitig 
veröffentlichte Wagner*) einige Fälle von Fettembolie bei 
Menschen. Seitdem haben sich die einschlägigen Beobachtungen 
so gehäuft und so bemerkenswerthe und praktisch wichtige That- 
sachen zu Tage gefördert, dass die Fettembolie heute nicht mehr 
als ein interessantes Curiosum angesehen werden darf, sondern 
als eine verhältnissmässig häufige pathologische Erscheinung von 
wirklich praktischer Bedeutung bezeichnet werden muss. 

Eine solche praktische Bedeutung besitzt die Fettembolie 
auch für die gerichtliche Medicin; schon wegen ihres häufigen 
Vorkommens nach tödtlich verlaufenen Verletzungen hat sie ge¬ 
legentlich in den gerichtsärztlichen Gutachten den Gegenstand 
eingehender Erörterungen zu bilden. Trotzdem hat sie bis heute 
in der gerichtsärztlichen Literatur keine besondere Berücksich¬ 
tigung gefunden. Hat auch v. Hofmann in seinem Lehrbuche 
der gerichtlichen Medicin bei Besprechung des Shok’s der Mög¬ 
lichkeit einer Fettembolie als nächster Todesursache Erwähnung 
gethan, so beschränkt er sich doch darauf, in wenigen Worten 
auf die Möglichkeit einer solchen Todesursache hinzuweisen. Eine 
eingehendere Besprechung ihrer Bedeutung für die forensische 
Praxis hat die Fettembolie bis heute nicht gefunden. 

Der Versuch, diese wohl schon von manchem Gerichtsarzte 
gelegentlich empfundene Lücke auszufüllen und auf Grund einer 
zusammenfassenden Darstellung des heutigen Standes der Lehre 
von der Fettembolie des Genaueren zu erörtern, auf welche Weise 
und unter welchen Bedingungen eine Verwerthung dieser Lehre 
in der forensischen Praxis statthaft erscheint, ist der Zweck 
dieser kleinen Abhandlung. 

Fettembolieen werden verhältnissmässig häufig in Leichen 
angetroffen. Flournoy**) konnte in etwa 250 Sectionen des 
Strassburger pathologischen Instituts 26 mal, also in etwa 10 Pro¬ 
cent der Fälle, Fettembolie der Lungen nacliweisen. Scriba 
fand in 46 Lungen sogar 28 mal Fettembolieen, wenn auch in 
den meisten Fällen nur Spuren derselben. 

Die Hauptquelle der Fettembolieen bilden die Knochenver¬ 
letzungen. Bereits Busch***), der auf Veranlassung v. Reck- 
linghausen’s die Frage der Fettembolie einer eingehenden Be¬ 
arbeitung und experimentellen Prüfung unterzog, betonte diese 
Thatsache. In 43 von ihm gesammelten Fällen von Fettembolie 
hatten 24 mal Knochenverletzungen die Veranlassung zur Fett¬ 
embolie gegeben. 

In 140 von Flournoy zusammengestellten Fällen von Fett¬ 
embolie handelte es sich 84mal um Verletzung der Knochen. 
Unter 177 von Scriba zusammengestellten Fällen waren 93 
Knochenbrüche. 


*) Archiv der Heilkunde III. Jahrgang p. 241. 

**) Contribution a lY-tude de l’embolie graisseuse. Paris. Strasbourg 1878. 

***) Virchow’s Archiv Bd. XXXV. p. 321. 



Die Bedeutung der Lehre von der Fetterubolie f. d. gericlitl. Med. 35 


Fettembolieen bilden sich aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn 
auch meist nur in geringem Umfange, fast constant nach Knochen¬ 
brüchen aus. Hierfür sprechen die experimentellen Untersuchungen 
von Busch, Riedel*) und Halm**), sowie der von Scriba ge¬ 
lieferte Nachweis, dass nach Kochenfracturen fast regelmässig 
Fett durch den Harn zur Ausscheidung gelangte. In keinem von 
21 Fällen von tödtlich verlaufenen Knochenfracturen vermisste 
Halm Fettembolieen der Lungen und verschiedener anderer Organe. 

Am ehesten sind verbreitetere Fettembolieen nach Ver¬ 
letzungen der langen Röhrenknochen mit Eröffnung der Mark¬ 
höhlen zu erwarten; je ausgedehnter diese Verletzungen aus¬ 
fielen, je mehr das Knochenmark hierbei in Mitleidenschaft ge¬ 
zogen ward, um so reichlicher werden im Allgemeinen die Fett¬ 
embolieen angetroffen. Amputationen und Resectionen haben zwar 
auch häufig Fettembolieen im Gefolge, doch sind dieselben wegen 
des geringeren Umfangs der Verletzung des Knochenmarks meist 
nur unbedeutend. 

Unter den Ursachen der Fettembolie finden sich jedoch auch 
wiederholt Verletzungen der platten, wenig markhaltigen Knochen 
(Schädel, Becken, Schulterblatt) angeführt; in einigen dieser 
Fälle waren diese Fettembolieen sogar besonders verbreitete 
und massige, doch waren alsdann auch stets ausgedehnte Weich- 
theilverletzungen vorhanden, welche, wie Pinner***) mit Recht 
hervorhebt, selbst bei Verletzungen stark markhaltiger Knochen 
als Fettquelle in Betracht kommen. Mit den Schädelverletzungen 
können Laesionen des Gehirns verknüpft sein, und kann alsdann 
ein Theil des embolischen Materials von diesem fettreichen Organ 
geliefert werden (Wiener f). 

Nächst den Knochenverletzungen geben acute, sowie chro¬ 
nische Entzündungen des Knochens und Knochenmarkes, sowie 
degenerative Processe und Geschwulstmetastasen des Knochen¬ 
marks am häufigsten Veranlassung zu Fettembolieen. Von den 
177 Fällen Scriba’s gehören 37 in diese Kategorie. Nament¬ 
lich scheinen sich häufiger im Gefolge der acuten Osteo¬ 
myelitis Fettembolieen zu entwickeln. Sodann sind Fett¬ 
embolieen beobachtet worden bei Caries, Ostitis, Periostitis, rother 
Degeneration des Knochenmarkes, sowie Enchondrom und Car- 
cinom desselben. Flournoy betont, dass sich Fettembolie häufig 
bei Greisen im Gefolge einer AltersVeränderung des Knochen¬ 
marks vorfinde. 

Es scheinen also alle krankhaften Prozesse, welche von 
einer Destruction des Knochenmarks begleitet sind, dadurch auch 
Veranlassung zur Bildung von Fettembolieen geben zu können. 

Wie bereits angedeutet, können fernerhin Verletzungen fett¬ 
haltiger Weichtheile, so namentlich des fettreichen Unterhaut- 


*) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 8 Bd. p. 571. 

**) Beiträge zur Lehre von der Fettembolie. München 187G. 

***) Berliner klin. Wochenschrift 1883, No. 13. 
f) Archiv f. Palhol. und Pharmac. 11 Bd. p. 275. 



36 


Prof. Dr. E. Ungar. 


Zellgewebes, zur Fettembolie führen. So betont Jolly,*) unter 
Hinweis auf einen von ihm (Section: v. Recklinghausen) und 
einen ferneren von Fitz beobachteten einschlägigen Fall die 
Möglichkeit, dass bei sehr fettreichen Personen schon ausge- 
breitetere Contusionen, welche zu einer Zertrümmerung des Fett¬ 
gewebes führten, ohne dass andere Verletzungen erforderlich seien, 
Fettembolieen im Gefolge haben könnten. Doch scheinen die 
Bedingungen für eine derartige Entstehung von Fettembolieen 
nicht besonders günstige zu sein, da es Halm nicht gelang, durch 
Zertrümmerung des Unterhautfettgewebes bei Hunden Fettembolieen 
zu erzeugen. Auch Flournoy und Riedel gelang es nicht, den 
experimentellen Beweis zu liefern, dass Weichtheilverletzungen 
Fettembolieen zu erzeugen vermöchten. Wohl aber gelang es 
Wiener nach subcutanen Injectionen von Olivenöl bei Kaninchen 
vereinzelte Fettembolieen in den Lungen nachzuweisen, aber erst 
nach Ablauf von 5 Tagen. In jüngster Zeit hat jedoch auch 
Virchow**) wiederum mitgetheilt, dass eine ziemlich fette, 
unter den Erscheinungen der Eclampsie verstorbene Person, 
bei welcher sich Fettembolieen in der Lunge in grosser Aus¬ 
dehnung vorfanden, eine Unsumme von Quetschungen an den 
verschiedensten Körperstellen aufwies, wodurch das Unterhaut¬ 
fettgewebe in auffallender Weise zertrümmert war. 

Nach Weichtheilwunden, auch solchen, die behufs operativer 
Eingriffe gesetzt worden waren, wurden wiederholt Fettembolieen 
beobachtet. So denkt auch Virchow an die Möglichkeit, dass 
in einigen weiteren Fällen von Fettembolie bei an Eclampsie 
verstorbenen Wöchnerinnen das Fett aus Rupturen am Scheiden¬ 
eingang oder in der Vagina, die bis in das Unterhautfettgewebe 
hineinreichten, herstammte, doch will er damit nicht ausgeschlossen 
haben, dass bei der Frage nach der Herkunft des Fettes auch 
noch andere Theile in Betracht kämen, so auch die Fettan¬ 
häufungen, welche sich im Becken, um die Nieren, in dem retro- 
peritonealen Gewebe, im Mesenterium, im Mediastinum u. s. w. 
befänden. 

Einigemal hat man auch Fettembolieen bei Continuitaets- 
trennungen der Leber angetroffen, so in dem Falle Zenker’s, in 
einem von Wagner***) und in einem von Hamiltonf) beschrie¬ 
benen Falle; in diesen drei Fällen war eine grössere Ruptur der 
Leber vorhanden, und in den Fällen Zenkers und Hamilton’s das 
Organ fettig degenerirt. Auf Perforation von Theilen des ent¬ 
arteten Leberparenchynus in die Vena hepatica, führt neuerdings 
Jürgen eff) Fettembolieen zurück, welche er in vielen Fällen 
von Delirium tremens nachweisen konnte. 


*) Archiv für Psychiatric. 11. Bd. p. 201. 

**) Berliner klin. Wochenschrift 1880 No. 30. 

***) Die Fettembolie der Lnngencapillaren. Archiv für Heilkunde VI. 
Jahrg. p. 481. 

f) S. v. Hofmaim Lelirb. d. geriehtl. lledicin p. 352. 
f|) 8. Berl. klin. Wochenschrift 1886 p. 875. 



Die Bedeutung der I^elire von der Fettembolie f. d. geriehtl. Med. r>7 

Das Fett der Fettembolie kann sodann, worauf Wagner 
zuerst hinwies, aus frischen oder älteren Eiterheerden herstam¬ 
men, indem in diesen Hecrdcn entweder eine Fettmetamorphose 
des Eiters eingetreten ist, oder die Eiterheerde an Stellen liegen, 
an welchen das normal vorhandene Fett in Folge der Eiterung frei 
wurde. So werden subcutane Abscesse, Muskelabscesse, Lungen- 
abscesse, käsige Pneumonien, Empyeme, Eiterheerde im Gehirn, 
eiterige Processe des weiblichen Genitalapparats, wie Periuterin- 
abscesse und Endometritis mit Metrophlebitis, als Quellen ftir 
Fettembolieen angegeben. Doch ist hierbei zu bemerken, dass es 
sich in der Mehrzahl dieser Fälle (Scriba hat 21 zusammen¬ 
gestellt) nur um sehr spärliche Embolieen in den Lungen handelte, 
ja dass einigemal nur von ganz vereinzelten Embolieen in einigen 
wenigen Präparaten die Rede ist. In einzelnen der Fälle, welche 
Scriba in diese Categorie rubricirte, fanden sich ausserdem bei 
der Obduction krankhafte Veränderungen des Knochenmarks, auf 
welche die Entstehung der Fettembolie mit mindestens gleich 
grosser Berechtigung zurückgeführt werden kann. 

Auch in einem von 7 Fällen, welche in der Zusammen¬ 
stellung Scriba’s unter dem Titel, „verschiedene andere Krank¬ 
heiten“ aufgeführt sind, nämlich einem von Flournoy als Maras¬ 
mus senilis bezeichneten Falle, handelte es sich gleichfalls um 
die Folgen einer Altersveränderung des Knochenmarks. Die 
gleiche Vermuthung dürfte in Betreff eines von Wagner als 
Marasmus senilis bezeichneten Falles berechtigt sein. Gehirn¬ 
erweichungsheerde, Phthisis pulmonum, Granularatrophie der 
Nieren mit fettiger Degeneration des Herzens und zwei Fälle von 
Emphysem, einer derselben mit ausgesprochener fettiger Ent¬ 
artung des Herzens, bilden die 5 übrigen Fälle. 

Schliesslich hat man Fettembolieen beobachtet (5 der Fälle 
der Zusammenstellung Scriba’s), welche als sogenannte gemischte 
Fettembolieen iutravasculaeren Ursprungs sind, d. h. welche sich 
aus degenerirten thrombotischen Ausscheidungen in die Gefäss- 
lumina oder aus Heerderkrankungen der GefässWandungen ge¬ 
bildet haben. 

Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass die Quellen 
ftir die Fettembolieen höchst mannigfaltiger Natur sind, dass, 
wenn auch das zur Entstehung derselben erforderliche flüssige 
Fett vorzugsweise aus dem Knochenmark herstammt, doch auch 
verschiedene andere fettreiche Gewebe, sowie das durch patho¬ 
logische Processe entstandene Fett, jene das Material der Fett¬ 
embolieen bildenden Fetttropfen liefern können. 

Auf welchem Wege aber gelangen die Fetttropfen in den 
Blutkreislauf? Zenker und Wagner hatten die Ansicht aus¬ 
gesprochen, dass eine Aufnahme des Fettes durch die zerrissenen 
Venen stattfinde. Busch, der zuerst diese Frage einer experi¬ 
mentellen Untersuchung unterzog, gelaugte zu dem Resultate, 
dass die Fettaufnahme bei Knochenverletzungen hauptsächlich 
durch die zerrissenen, klaffenden Blutgefässe des Knochens erfolge, 
in geringerer Menge aber auch durch die zerrissenen, nicht aber 



38 


Dr. Ziiumennann. 


durch die unverletzten Lymphgefässe. Die Aufnahme in die 
offenen Lumina der Blut- und Lymphgefässe werde dadurch be¬ 
wirkt, dass das aus den Knochenarterien ausströmende Blut eine 
Drucksteigerung bewirke, und so der flüssige Inhalt der Mark¬ 
höhle in die offenen Gefässlumina getrieben werde. Die Annahme, 
dass das Fett nach Knochenverletzungen, wie auch nach Ver¬ 
letzungen überhaupt, durch die klaffenden Blutgefässe in den 
Kreislauf gelangen könne, und es sich auch in der That bei Fett- 
embolieen nach Verletzungen wohl meist um Fettübertritt in die 
zerrissenen Blutgefässe handele, ist von allen späteren Autoren 
acceptirt worden. So betont auch wiederum Virchow in jüngster 
Zeit die Möglichkeit, dass bei Laesionen der Leber zerdrückte 
Lebersubstanz in die Vena hepatica hineingetrieben werden könne. 
Nicht so fand die Annahme, dass auch durch Vermittlung der 
eröffneten Lymphgefässe Fettembolieen entstehen könnten, allge¬ 
meine Zustimmung. Riedel erhob auf Grund von Thierexperi¬ 
menten den Ein wand, die Lymphgefässe bildeten zwar sehr 
wesentliche Abzugscanäle für das freie Fett, doch werde das 
durch die Lymphwege aufgenommene Fett beim Durchgang durch 
die Lymphdrüsen so fein zertheilt, dass es jedenfalls in sehr 
seltenen Fällen sich Zusammenhalten und noch Embolieen bilden 
könne. Nur die Lymphgefässe des Peritonealüberzuges des 
Zwerchfells bildeten eine Ausnahme, da dieselben ohne zwischen¬ 
geschobene Filtrirungsapparate direct in den ductus thoracicus 
mündeten: Wiener jedoch wiederum trat auf Grund seiner Thier- 
versuche für die Möglichkeit ein, dass überhaupt die Lymph¬ 
gefässe die Fähigkeiten besässen, grosstropfigos Fett zu resorbiren 
und weiter zu befördern, ohne dass die Einschaltung von Lymph¬ 
drüsen im Stande sei, die Bildung von Fettembolieen zu ver¬ 
hindern. Die Fähigkeit Fetttropfen aufzunehmen und weiterzu¬ 
befördern besässen sogar auch die imverletzten, intacten Lymph¬ 
gefässe. In den Versuchen, welche Wiener mit subcutanen 
Oelinjectionen anstellte, fanden sich jedoch stets nur so spärliche 
Fettembolieen vor, und diese erst nach Ablauf eines verhältniss- 
mässig so langen Zeitraums, dass man der Anschauung Riedels 
beipflichten muss und den Lympligefässen bei der Entstehung von 
Fettembolieen bei Verletzungen keine grössere Bedeutung beilegen 
darf. Für diejenigen Fälle von Fettembolie, bei welchen zwischen 
Verletzung und Tod nur ein Zeitraum von wenigen Minuten liegt, 
wie es in dem Falle Zenkers und in Versuchen Büschs und 
Flournoys der Fall war. kann jedenfalls nur von einer Auf¬ 
nahme des Fettes durch die eröffneten Blutgefässe die Rede sein. 

Auf welchem Wege das flüssige Fett bei den übrigen Vor¬ 
gängen, welche Fettembolieen zur Folge haben, wie bei den 
entzündlichen und degenerativen Processen des Knochenmarkes 
und den Eiterheerden der Weichtheile, in die Blutbahn gelangt, 
ist eine offene Frage. Ob hier, wie Busch und Wiener meinen, 
die Aufiiahme durch die Lymphgefässe eine grössere Rolle spielt, 
muss einstweilen dahingestellt bleiben. (Fortsetzung folgt.) 



Aoratlicho äi'hulrevurion im Reg.-W<»z. Düsseldorf. .‘19 

Aerztliche Schulrevision im Reg.-Bez. Düsseldorf. 

Von Dr. Zimmermann, Kreisphysikus in Düsseldorf. 

Wenn die hygienische Sektion der Schlesischen Gesellschaft 
für vaterländische Cultur unter dem 2. Juni 1886, in ihrer Peti¬ 
tion (um Einführung einer ärztlichen Schulaufsicht) an den 
Magistrat der Kgl. Haupt- und Residenzstadt Breslau, die Behaup¬ 
tung aufgestellt hat (Aerztliches Vereinsblatt, November d., Nr. 187), 
dass, wie in Breslau, ebenso auch im ganzen Preussischen Staate 
eine ärztliche Schulaufsicht so gut wie vollständig fehle, so ist 
allerdings hierbei insofern ein kleiner Irrthum mit untergelaufen, 
als eine regelmässige ärztliche Revision der Volksschulen im 
ganzen Reg.-Bez. Düsseldorf bereits seit 12 Jahren von der 
Kgl. Regierung angeordnet und mit einem wahrhaft grossartigen 
Erfolge ausgefiihrt worden ist. 

Meist ist diese Thätigkeit in die Hände der Kreisphysiker 
gelegt, mitunter wird sie aber auch von den Armenärzten oder 
sonst dafür angestellten honorirten Privat-Aerzten ausgeübt. 

Wir verdauken die Einrichtung der regelmässig im Jahre 
zweimal vorzunehmenden ärztlichen Revision aller Elementar¬ 
schulen dem kürzlich verstorbenen Reg.-Mediz.-Rath Dr. Beyer 
dahier, der, wie auf vielen Gebieten der hygienischen und öffent¬ 
lichen Medizin, so auch in der Schulhygieuie als Pionir bahn¬ 
brechend vorangegangen ist. Beyer hat u. A. die regelmässigen, 
jährlich vorzuuehmenden Revisionen sämmtlicher öffentlichen und 
privaten Krankenanstalten des Kreises durch den Kreisphysikus 
in’s Leben gerufen, dieselben bei der Revision der Apotheken und 
Materialläden betheiligt, und ihre Hülfe bei Errichtung von öffent¬ 
lichen Gebäuden aller Art, zumal Kranken- und Irren-Häusern, 
Schulgebäuden u. s. w. durch Revision und Begutachtung der 
Baupläne in Anspruch genommen. 

Worauf sich die Thätigkeit der ärztlichen Schulrevisoren zu 
erstrecken hat, ist aus nachstehend abgedruckten Berichtsformular 
zu ersehen: 


Bericht 

über die 

ärztliche Revision der Schule zu 

pro Semester 18 


Verfügung Königl. Regierung vom 1. Februar 1875 I. II. A. 739, 30. April 1886 
I. II. A. 2180 und 24. Juni 1887 I. II. A. 4646. 


(NB. Die elngeklaramerten Zusätze dienen als Anhalt |bel der Revision ohne andere Befunde 
auszuichliessen. — Die Nummern B 1, 2, 3 sind nur im nächstfolgenden Bericht zu beantworten, 

imgleichen bei jeder ersten Revision.) 



40 


Dr. Ziimncrmann. 


A. Gesundheitszustand der Kinder. 

a. Allgemeiner Eindruck: 

(Gesichtsfarbe, Haltung, Reinlichkeit) 

b. Ansteckende Krankheiten: 

1. Haut-Krankheiten: 

(Eczem, Krätze, Kopfgrind u. s. w.) 

2. Ansteckende Augen-Krankheiten: 

3. Infektions-Krankheiten: 

(Diphthcritis, Keuchhusten, Tuberkulose u. s. w.) 

4. Sonstige Krankheiten: 

n. Gesnndheitsyerhältnisse der Schule. 

1. Lage: 

2. Gebäude: 

(ob massiv oder in Fachwerk, Dach, ob unterkellert ; 
Wohnungen im Schulgebäude, ob Eingang zur 
Schule und Wohnung getrennt?) 

3. Treppen: 

(hölzerne, steinerne; Geländer, ob überhaupt gefahrlos?) 

4. Schulzimmer: 

a. Grösse: 

(Höhe, Länge, Breite; Zahl der Kinder, es waren 
wegen Krankheit abwesend; Bodonfläche für jedes 
Kind) 

b. Fussboden: 

(ob dicht und gestrichen) 

c. Wände und Decken: 

(Anstrich) 

d. Reinlichkeit im Allgemeinen: 

e. Fenster: 

(Grösse, Zahl und Lago, Verhältnis« der Fläche der 
Fensteröffnungen zur Bodenfläche; Schutz vor 
direkten oder reflektirton Sonnenstrahlen) 

f. Scbultische, Bänke: 

(ob solid, zweckmässig, Sitzraum) 

g. Lichtverhältniss im Allgemeinen: 

h. Heizung: 

(Art derselben; Oefen; ob genügender Schutz gegen 
Verbrennung und Wärmestrahlung; Temperatur, 
Thermometer) 

i. Ventilation: 

(Einrichtung der Oberlichter der Fenster; Klapp¬ 
scheiben, Glas-Jalousien? centrale Ventilat ion u.s.w.) 

k. Stand des Katheders und der Wandtafel: 

5. Abtrittsanlagen: 

(Lage, ob in genügender Entfernung vom Schulge¬ 
bäude; Ausdünstung, Reinlichkeit der Sitze, An¬ 
zahl derselben im Verhältniss zur Kinderzahl) 

6. Spiel- und Turnplatz: 

(Grösse, Lage; ob Turngeräthe solid und ungefähr¬ 
lich; ob der Boden unter Barren und Reck fest 
oder mit Sägemehl bedeckt u. s, w.?) 



Aerztliche Schulrevision im Reg.-Bez. Düsseldorf. 


41 


7. Wasserversorgung: 

(Trinkgefliss; Entfernung der Brunnen von den Ab¬ 
tritten) 

8. Sonstige Bemerkungen: 

Düsseldorf, den . 18.. 

Der Arzt: 


Was ist zur Beseitigung der erwähnten 
Mängel angeordnet worden? 

Der BQrgerfneister: 


Die in Frankfurt am Main bislang vermisste Theilnahme des 
ärztlichen Schulrevisors an den Sitzungen der städtischen Schul¬ 
deputation liegt hier in Düsseldorf günstiger, indem der Kgl. Kreis- 
physikus, der im Stadtkreise als ärztlicher Schulrevisor fungirt, 
Mitglied der städtischen Schuldeputation ist. 

Zu der bereits, wie oben schon bemerkt, seit Jahren be¬ 
stehenden ärztlichen Revision der Elementarschulen, ist nun, im 
Laufe der letzten Jahre durch Reg.-Verf. auch die Revision der 
höheren Töchterschulen, sämmtlicher Privatschulen, der Waisen¬ 
häuser und Kleinkinderbewahrschulen hinzugekommen — eine 
Thätigkeit, welche den betreffenden Beamten Arbeit in Menge 
bringt; denn mit der Revision der Schulen allein ist es nicht 
abgemacht; über jede Schule muss speciell berichtet werden, und 
zu berichten giebt es immer Etwas. Die durch die ärztliche 
Revision erzielten Resultate waren überraschend; denn während 
z. B. im Jahre 1876, als Referent die Schulrevision zuerst vor¬ 
nahm, Scabies und Eczema capit. bei einer grossen Anzahl von 
Kindern vorgefunden wurden, und schmutzige Gesichter, Hälse und 
Finger die Regel waren, gehören heute die genannten Krank¬ 
heiten und Unarten zu den Ausnahmen. 

Das Kind, welches wegen Krätze, schmutziger Hände, un¬ 
sauberen Kopfes, schlecht gekämmter Haare etc. aus der Reihe 
der Schulbänke hervorgezerrt und als Schrautzfinke bezeichnet 
wird, giebt meist niemals wieder Veranlassung zum Tadel — 
wenn die häuslichen Verhältnisse irgendwie günstig liegen; mit¬ 
unter freilich kann man ein 6—7jähriges Mädchen nicht dafür 
verantwortlich machen, wenn es in einem total verwahrlosten Zu¬ 
stande in die Schule kommt, und zwar dann, wenn die Mutter 
oder älteren Geschwister im Hause fehlen; dann wird ein der¬ 
artiges Kind einem Krankenhause zur Reinigung und Cur über¬ 
wiesen. 

Eine weitere, wenn auch nicht direkt ärztliche Einwirkung 
auf den Schulbesuch resp. das unberechtigte Versäumen der Schul¬ 
stunden, hat der Revisor durch die Controllirung der eingereich¬ 
ten Krankenscheine auszuüben. 

Auf den ärztlichen Scheinen, welche das Fehlen der erkrank¬ 
ten Kinder in der Schule rechtfertigen, muss der Name der 






42 


Dr. H. Mittenzweig. 


Krankheit genannt werden und die Zeit, welche ungefähr bis zur 
Wiederaufnahme des Schulbesuches verstreichen wird. 

Ersteres ist nöthig, damit der Lehrer die Geschwister des 
erkrankten Kindes und die in demselben Hause vorhandenen 
Schulkinder vom Schulbesuche ausschliessen kann, falls eine In¬ 
fektions-Krankheit vorliegt. Letzteres hat den Zweck, dass ein 
Kind nicht neben der Schule herläuft, wenn es längst gene¬ 
sen ist. 

Fehlt ein Kind länger, als es nach dem betr. Scheine zu 
erwarten war, dann wird dasselbe durch seine Eltern dem Schul¬ 
revisor zugeführt, welcher endgültig über Schulbesuch der Pa¬ 
tienten oder Befreiung von demselben entscheidet. 

Eine weitere Aufgabe fäUt dem genannten Arzte zu, indem 
er mit den betreffenden Lehrern diejenigen Kinder auszusuchen 
hat, welche in die Classe der geistig gering veranlagten Schüler 
übergeführt werden sollen, bezw. diejenigen auszuscheiden, welche 
sich als völlig bildungsunfähig erwiesen haben. 

Auch die vorzeitige Entlassung eines Kindes aus der Schule, 
sowie längere Beurlaubung von Schülern und Lehrern liegen in 
seiner Beiügniss. 

Bei richtigem Zusammengehen von städtischen Behörden, 
Lehrpersonal und ärztlichem Schulrevisor kann Vieles erreicht, 
Grosses geleistet werden, und dass solches in Düsseldorf ge¬ 
schehen ist, dafür geben unsere allen sanitären Anforderungen 
der Neuzeit entsprechenden Schulgebäude, der geringe Prozent¬ 
satz der Fehlenden und das gesunde Aussehen der die Schule 
besuchenden Kinder hinreichend Zeugniss. 


Die Ministerialverfügung vom 15. September 1887, 

betreffend den zulässigen Genuss des Fleisches perl¬ 
süchtiger Thiere. 

Von Dr. H. Mittenzweig. 

Schluss. 

Die Möglichkeit freier Beurtheilung wird in derselben durch 
folgende Bestimmung gesichert: „Im Uebrigen bleibt es dem Er¬ 
messen des Sachverständigen im Einzelfall überlassen, ob und wie 
fern nach dem geringen Grade der Ausbildung der Perlsucht und 
der übrigens gesunden Beschaffenheit des Fleisches der Genuss des 
letzteren als eines nur minderwerthigen für statthaft zu erachten 
ist, und dementsprechend ein Verkauf desselben auf dem Schlacht¬ 
hof unter Aufsicht und unter namentlicher Angabe der krank¬ 
haften Beschaffenheit erfolgen darf.“ 

Diese Bestimmung birgt freilich die Gefahr in sich, dass 
weniger tüchtige Kräfte und eigensinnige, wie minder lautere 
Charaktere gelegentlich von der durch sie gebotenen Machtvoll¬ 
kommenheit Gebrauch oder Missbrauch machen könnten. Eiu 



Hinisterialverfügung: Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere betr. 43 

solcher Missbrauch würde indess leicht erkannt werden, und seine 
Folgen würden dann den Urheber selbst treffen, so dass der 
hieraus erwachsende Uebelstand als ein sehr kleiner zu erachten 
sein dürfte im Vergleich zu dem grossen Vortheil, den die all¬ 
gemeine Ermächtigung zur uneingeschränkten, selbständigen Be- 
urtlieilung geeigneter Fälle darbietet. Betreffs der folgenden Be¬ 
stimmung: .Nach Massgabe der vorstehenden Grundsätze haben 
fortan die Organe der Fleischbeschau bei der Beurtheilung des 
Fleisches mit Perlsucht behaftet gefundener Thiere zu verfahren“, 
möchten wir auf den Umstand aufmerksam machen, dass die 
Generalisirung des Ausdruckes Perlsucht und die Gleichstellung 
desselben mit dem Ausdruck Rindertuberkulose eventuell von 
einem Freunde scharfer Begriffsbestimmungen beanstandet werden 
dürfte. Aber mit demselben Recht, mit dem man den Ausdruck 
Tuberkulose, der streng genommen nur für die Neubildung des 
pathalogisch-anatomischen grauen Tuberkels und seiner Verände¬ 
rungen gilt, auf die käsigen und auf alle Processe übertragen hat, 
bei welchen man Tuberkelbacillen auch ohne Knötchenbildungen 
constatiren kann, mit demselben Rechte darf man auch mit dem 
Namen „Perlsucht“ die käsigen Processe in den Organen des 
Rindes belegen, selbst wenn man die Perlbildung in ihnen nicht 
vorfindet, sobald man nur die Bacillen in ihnen als ätiologisches 
Element erkennt. 

Hiernach kommen wir zu den technischen Fragen selbst. 
Die Grundsätze, welche zur Richtschnur dienen sollen, sind in 
folgender Bestimmung enthalten: 

„Eine gesundheitsschädliche Beschaffenheit des Fleisches 
von perlsüchtigem Rindvieh ist der Regel nach dann anzunehmen, 

a. wenn das Fleisch Perlknoten enthält, 

b. oder das perlsüchtige Thier, auch ohne dass sich in sei¬ 
nem Fleische Perlknoten finden lassen, abgemagert ist. 

Findet man also in einem Schlachtthiere in irgend einer 
Drüse, in irgend einem anderen Organe, in einem Knochen oder 
Gelenke Veränderungen perlsüchtiger (tuberkulöser) Natur, so 
muss das ganze Thier mit allen seinen Bestandteilen vom Nah¬ 
rungsgenuss ausgeschlossen und verworfen werden: 

a. wenn das Fleisch selbst Perlknoten enthält. Selbstver¬ 
ständlich ist nach obiger Auseinandersetzung darunter zu ver¬ 
stehen, wenn das intermuskuläre Bindegewebe und namentlich die 
daselbst befindlichen Lymphgefässe und Lyraphdrüsen oder Blut¬ 
gefässe als perlsüchtig erkrankt sich erweisen. Denn in diesem 
Falle haben wir den augenscheinlichen Beweis, dass an dem 
Muskelfleisch selbst das Gift örtlich vorhanden ist. 

Der Einwand, dass man das Gift durch anhaltendes Kochen 
vernichten und wirkungslos machen könne, darf als allgemein 
abgethan ohne weiteres hier fallen gelassen werden. 

b) Aber auch, wenn das Muskelfleisch und seine bindege¬ 
webigen Adnexa frei von Tuberkulose gefunden werden, selbst 
dann muss das Schlachtthier mit allen seinen Bestandtheilen ver- 



44 


Dr. H. Mittenzweig. 


worfen werden, sobald sich ein zweites Kriterium, nämlich all¬ 
gemeine Abmagerung, vorfindet. 

Diese Bestimmung klingt hart, ist aber eine nothwendige. 

Man könnte einwenden, dass Magerkeit nicht immer ein 
Zeichen von Krankheit, namentlich tuberkulöser Erkrankung sei, 
dass z. B. Kälber, welche mit entrahmter Milch genährt werden, 
ebenfalls einen mageren Zustand darbieten, ohne dass sie irgend¬ 
wie an einer Krankheit leiden, und dass gerade solche Kälber 
nicht selten die kräftigste Muskulatur aufweisen, mit einem Worte 
also, dass sich die Magerkeit hier nicht auf den Schwund, sondern 
auf den Mangel an Fettgewebe beschränkt Hat ein solches 
Kalb eine einzige krankhafte oder einige krankhafte Drüsen, soll 
es deshalb wegen seines mageren Zustandes verworfen werden? 
Dem ist zu entgegnen, dass sich die Abmagerung d. h. der 
Schwund des Fetts aus seiner Beschaffenheit ersehen lässt, und 
dass ein sachkundiger Sachverständiger den angegebenen Um¬ 
ständen Rechnung zu tragen wissen wird. 

Im Allgemeinen aber ist das Abmagern eines Thieres ein 
sicherer Beweis allgemeiner Erkrankung, da meistentheils in 
solchen Fällen im Leben Fieber vorhanden gewesen sein wird, 
welches in erster Linie die Abmagerung des kranken Thieres be¬ 
dingt. Damit aber ist ohne weiteres der Uebergang des Giftes oder 
seiner Zersetzungen in die Blutmasse erwiesen oder zum wenigsten 
höchst wahrscheinlich gemacht. Freilich kann man auch sagen, 
die Abmagerung sei wahrscheinlich durch die geringe Capacität 
der gesunden Lungenreste bedingt und damit eine Folge mangel¬ 
haften Sauerstoffes gewesen, oder Folge einer Verödung grösserer 
Mengen von Mesenterialdrüsen und damit geringer Aufnahme von 
Nahrungssäften etc. Alle diese Einwände werden uns indess beim 
Vorfinden grosser Magerkeit nicht irre machen in der Annahme 
einer hohen Wahrscheinlichkeit der Allgemeinerkrankung, und 
mit solchen hohen Wahrscheinlichkeitsgraden muss die Gesund¬ 
heitspolizei überall rechnen. 

Nach diesen Bestimmungen für die Unzulässigkeit des Ge¬ 
nusses des Fleisches perlsüchtiger Rinder wenden wir uns zu den 
gegentheiligen, welche die Zulässigkeit solchen Fleisches als 
Nahrungsmittel festsetzen, wenn auch nur als eines minderwer- 
thigen. 

Dass die letzteren aus der Verfügung vom Jahre 1882 bei¬ 
behalten sind, ist gerechtfertigt im Hinblick auf die grosse Menge 
perlsüchtiger Rinder, deren Verlust als Nahrungsmittel sich so¬ 
wohl für die Landwirthschaft, als auch für die arbeitende Volks¬ 
klasse sehr fühlbar machen würde. Auf die Controversen hierüber, 
wie über die völlig freie Zulassung des Fleisches minimal er¬ 
krankter Rinder etc. können wir uns hier nicht näher einlassen. 

Das Fleisch eines perlsüchtigen Thieres ist also nach der 
neuen Verfügung noch für geniessbar zu halten, 
wenn das Thier gut genährt ist 

und wenn a) die Perlknoten ausschliesslich in einem Organe 
vorgefunden werden, 



Ministerialverfügung: Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere betr. 45 

oder b) im Falle des Auffindens von Perlknoten in mehreren 
Organen diese doch Organe derselben Körperhöhle und mit 
einander direct oder durch Lymphgefässe oder durch solche 
Blutgefässe, welche nicht dem grossen Kreislauf, sondern dem 
Lungen- oder dem Pfortaderkreislauf angehören, verbunden sind. 

Das Hauptkriterium für die Zulässigkeit ist hier wiederum 
der gute Ernährungszustand des perlsüchtigen Thieres. 

Ausser dem guten Ernährungszustände sind aber folgende Um¬ 
stände für die Feststellung der Geniessbarkeit ins Auge zu fassen. 

a) Werden die Perlknoten nur in einem Organe vorgefunden, 
so ist das Fleisch, natürlich nach Entfernung des kranken 
Organes, frei zu geben. Dies trifft z. B. zu, wenn bei einem fetten 
Schlachtthiere nur eine Lunge, eine Drüse, eine Niere, wenn 
die Milz, die Leber oder eine Mesenterialdrüse sich tuberkulös 
fände, oder wenn nur das Brustfell oder nur das Bauchfell mit 
Perlknoten behaftet wäre. 

In letzterer Beziehung dürfte eine Erinnerung an den jüdi¬ 
schen Gebrauch nicht unwillkommen sein, nach welchem das Thier 
verworfen wird, wenn beim Abreissen des Rippenfelles die Lunge 
einen Einriss bekommt, durch welchen die eingeblasene Luft ent¬ 
weicht. Es deutet dies auf ein feines Gefühl der alten Hebräer 
für den Yerbreitungsmodus des Giftes und seiner Wirkung auf das 
subpleurale Bindegewebe mit seinen Lymphspalten und Lymph- 
kanälen. 

Wir wollen damit diese Einschränkung indess als gesetzliche 
Bedingung nicht aufgenommen wissen. 

b) Das Fleisch des gut genährten Thieres soll ferner auch 
für zulässig als Nahrungsmittel gelten, wenn zwei oder 
mehrere Organe erkrankt sind, insofern sich die Vermuthung 
geltend macht, dass trotz dieser Multiplicität der kranken Oert- 
lichkeit eine generalisirte Tuberkulose nicht vorhanden ist. 

Als fernere Bedingung wird aufgestellt, dass die erkrankten 
Organe derselben Körperhöhle angehören. 

Ob diese Bedingung auch für das Urtheil des kundigen Sach¬ 
verständigen eine unumgängliche sein wird, werden wir an ge¬ 
eigneter Stelle erörtern. 

Für gewöhnlich und mit Ausnahme ganz seltener FäUe wird 
ihre Erfüllung ganz unerlässlich sein. 

Neben dieser Einschränkung nach dem Sitze der Krankheit 
sollen die Organe derselben Höhle noch die gemeinsame Eigenschaft 
haben, dass sie entweder direct mit einander verbunden sind oder 
dass sie in eine solche Verbindung treten durch Lymphgefässe 
oder durch Blutgefässe des Lungen- oder des Pfortaderkreislaufes. 

Der Ausdruck „directe Verbindung“ ist leicht verständlich 
und giebt an und für sich zu keinen Bedenken Veranlassung, 
man müsste denn etwa eine Schwierigkeit des Verständnisses in 
dem Umstande suchen, dass man nur eine anatomisch-dauernde 
Verbindung gelten lassen will, nicht aber eine Verbindung 
durch zeitweilige Berührung. Als Beispiel der ersteren würde die 



46 


Dr. H. Mittenzweig. 


Verbindung von Pia mater mit dem Gehirn, als zweite der Con- 
tact der Höhlenorgane mit dem serösen Ueberzug ihrer Höhle 
aufzufassen sein. Dass ein solcher directer Contact z. B. von grossem 
Netz und Bauchfell, zur Uebertragung des Giftes führt, ist aus ana¬ 
logen Fällen der Pathologie hinreichend bekannt. Es besteht hier 
eine directe Infection. In entfernterem Sinne lässt sich auch 
die Uebertragung des Giftes durch Dissemination hierher zählen 
d. h. durch Ausstreuung des Giftes von einem Organ über die 
ganze Höhle, auf welche Weise Organe aus verschiedensten Ver¬ 
bänden dasselbe an ihre Oberfläche aufnehmen können. 

Bei der directen. anatomischen Verbindung dringt das Gift 
von dem ursprünglichen Herd aus schrittweise in das benachbarte 
Gewebe vor, indem die Mikroorganismen durch ihr Wachsthum 
ein immer grösseres Terrain inficiren oder durch Wanderzellen, 
in deren Leib sie aufgenommen sind, kurze Strecken weit fort- 
getragen werden. Bei nur zeitweisem Contact von serösen oder 
Schleimhautflächen wird es durch die Berührung der kranken 
Fläche auf die gesunde übertragen, und zwar seitens der serösen 
Häute hauptsächlich in Folge der Athembewegung in Brust- und 
Bauchhöhle, seitens der Schleimhäute in Folge der Peristaltik und 
Contraction der mit Schleimhaut ausgekleideten Kanäle. 

Als eine durch den anatomischen Zusammenhang vermittelte 
Affection ergiebt sich die Tuberkulose des gesammten Urogenital- 
apperates. Eine lokalisirte Erkrankung des Uterus und der Harn¬ 
blase, der Ureteren und der Nieren oder einzelner dieser Organe 
gehört nicht gerade zu den Seltenheiten, und selbst wenn der 
Begriff der Körperhöhle etwas stark gedehnt werden muss, um 
die Bedingung von b. zu erfüllen, so wird doch dem kundigen 
Auge der anatomische Einfluss auf die Verbreitung der Krankheit 
und damit die lokale Begrenzung der Tuberkulose nicht entgehen. 

Auch das wird nicht leicht misszuverstehen sein, was die 
Verfügung mit dem Ausdruck „Verbindung durch Lymphgefässe“ 
besagen will. 

In erster Linie ist hier natürlich an die Lymphdriisen zu 
denken, welche in dem centripetalen Stromgebiet einer Lymph- 
bahn liegen, und deren selbst massenhafte Erkrankung, wie wir 
sie so häufig beim Binde finden, uns doch sofort als rein lokale 
Infection imponirt. Zu denken ist sodann an die Verbindung von 
Lungen- und Bronchialdrüsen, von Brustfell und Bronchialdrüsen, 
von Bronchial- und Mediastinaldrüsen, von Mediastinaldrüsen 
und Herzbeutel, ferner von Darmwand und Mesenterialdrüsen. 

In welcher Weise die Tuberkelbaeillen das Filter einer 
Lymphdrüse passiren, oder ihre Brut über deren Terrain hinaus 
centripetal in das abführende Gefäss gelangt, das hat Koch in seiner 
„Aetiologie der Tuberkulose“ eingehend erörtert. Dass auch hier 
der sachkundige Beurtheiler einen Schritt weit von der allge¬ 
meinen Regel abweichen darf, ergiebt die Erinnerung au einen 
Complex von Erkrankungen, bei welchem die Organe nicht der¬ 
selben Höhle angehören, bei w elchem indess der Verbreitungsweg 
und der Ausgang der Tuberkulose in die Augen springt, so dass 



Ministerialverfügung: Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere betr. 47 


kein Zweifel über die örtliche, begrenzte Infection entstehen kann. 
Wir meinen das Vorkommen von Perlgeschwülsten auf beiden 
Seiten des Zwerchfells und die Erkrankung der Lymphbahn, 
welche das Centrum tendineum durchläuft. 

Rücksichtlich des Kriteriums der Verbindung von Organen 
durch Gefässe des Lungen- oder Pfortaderkreislaufes ist zu be¬ 
merken, dass des Ausdruck „grosser und kleiner Kreislauf 4 von 
den Physiologen der Neuzeit vermieden wird, weil nach ihrer 
Anschauung die ganze Blutbewegung nur einen einzigen Kreislauf 
bildet. Unter grossem oder Körper-Kreislauf versteht man nach 
dem älteren Sprachgebrauche den Abschnitt vom linken Herzen 
durch die Körperkapillaren zum rechten Herzen, unter kleinem 
oder Lungen-Kreislauf den Abschnitt vom rechten Herzen durch 
die Lungenkapillaren zum linken Herzen. Die neuere Physiologie 
zerlegt dagegen den Kreislauf in eine arterielle und eine venöse 
Abtheilung. Die erste Abtheilung führt in ihren Bahnen arterielles 
Blut und umfasst die Lungenvenen, die linke Herzhälfte und 
die Körperarterien, die zweite Abtheilung führt venöses Blut und 
umfasst die Körpervenen, die rechte Herzhälfte und die Lungen¬ 
arterien. Beide Abtheilungen werden begrenzt durch das System 
der Körper- und der Lungenkapillaren. In ihnen vollzieht sich 
die Umwandlung des arteriellen Blutes in venöses und umgekehrt. 

Ein Theil des Körpervenenblutes, nämlich das aus den 
Kapillaren des Magens, des Darmes, der Milz und des Pankreas 
vereinigt sich in einem Venenstrom (Pfortader), welcher nicht 
ohne weiteres zum Herzen geht, sondern sich erst, wie eine 
Arterie, zu einem zweiten Kapillarsystem in der Leber ver¬ 
zweigt; auch dieser Abschnitt des Gefässsystems wird missbräuch¬ 
lich als Pfortader-Kreislauf bezeichnet (Physiologie von Hermann). 
Die Körper-, Lungen- und Pfortadercapillaren bilden Communi- 
cationskanäle feinsten Kalibers, welche in verlangsamtem Strome 
das Blut mit seinen Blutkörperchen passiren lassen und so von 
einer Kreislaufsabtheilung in die andere' überführen. Für viele 
Fremdkörper aber sind sie nicht passirbar. Diese werden fest¬ 
gehalten und geben event. unter dem Namen von Emboli Anlass 
zu pathologischen Processen. Auch die Tuberkelmassen scheinen 
zu den Einwanderern zu gehören, welche die Kapillaren 
nicht oder doch wenigstens nicht ohne Weiteres zu passiren 
vermögen. Wenigstens sprechen Erfahrungen am Krankenbett, 
in Experimenten und in der pathologischen Anatomie für 
diese Eigenschaft. Und auf diese Eigenschaft gründet sich auch 
die Annahme von der Lokalisation bezw. Generalisation der 
Tuberkulose im Organismus.*) 

Es ist hiernach leicht verständlich, dass Bacillen, welche in 
den kleinen Kreislauf d. h. nach neuerer Sprachweise in den 
venösen Absclmitt gerathen, bis zur Lunge ev. bis zur Leber 
mit dem Blute geführt, und dass sie hier in den Kapillaren eines 


*) Kleinste Partikel und isolirte Bacillen vermögen die Kapillaren und 
namentlich diejenigen der Lunge direct zu passiren (Cohnheim, Koch, Weigert). 



48 


Dr. Schmidtmann. 


dieser Organe dauernd oder vorübergehend festgehalten werden. 
Damit aber werden sie verhindert, in den grossen (arteriellen) 
Kreislauf einzudringen, und dies wieder bewirkt, dass sie nicht 
mit dem arteriellen Blute vom linken Herzen aus in die Kapillaren 
der einzelnen Körperorgane und Territorien gelangen. 

Wir haben somit eine directe Verbindung durch Blutbahnen 

1. von den Venen der Lungen durch das linke Herz und 
durch die Körperarterien nach jedem Körperorgan; 

2. von den Venen der einzelnen Körperorgane mit Ausnahme 
von Verdauungsrohr, Bauchspeicheldrüse und Milz durch die 
Körpervenen und durch das rechte Herz nach beiden Lungen und 

3. vom Verdauungsrohr mit seinen drüsigen Anhängen, Milz 
und Bauchspeicheldrüse, nach der Leber. 

Nehmen wir zu No. 1 an, dass eine Bacillencolonie der Lunge 
in die Wand einer Lungenvene hinein wuchert, diese durchbricht 
und so in den arteriellen Blutstrom gelangt, so wird sie mit den 
Körperarterien in sämmtliche Organe gestreut werden können und 
dort eine multiplicirte Miliartuberkulose verursachen. Wir haben 
damit das typische Bild einer generalisirten Tuberkulose und 
müssen umgekehrt ihr Vorhandensein annehmen, wenn wir eine 
solche Kombination von Organerkrankungen antreffen, dass sie 
uns zu der Annahme drängt, die Infection der einzelnen Organe 
sei durch die Aufnahme des Giftes in den arteriellen Abschnitt 
des Blutkreislaufes erfolgt. 

Nehmen wir zu No. 2 an, dass die Vene einer tuberkulösen 
Halsdrüse in gleicher Weise von einem bacillenhaltigen Drüsen¬ 
herd durchbrochen würde, so würden die Mikro-Organismen in die 
absteigende Hohlader und durch das rechte Herz und die Lungen¬ 
arterie in eine oder beide Lungencapillarsysteme gerathen, hier 
aber festgehalten, nicht in die arterielle Blutbahn dringen. 
Wir fanden nur Tuberkulose beider Lungen und event. ihren 
wahrscheinlichen Ausgangsort, die tuberkulöse Drüse, sonst 
aber nur gesunde Organe. Wir könnten den Eintritt in den 
arteriellen Kreislauf ausschliessen und würden vom wissenschaft¬ 
lichen Standpunkt uns für das Vorhandensein einer lokalisirten 
Tuberkulose aussprechen. Selbst wenn der Ausgangspunkt in 
einer primären Nieren- oder Knochen- oder Lebertuberkulose zu 
suchen wäre, würden wir so urtheilen. Und fänden wir neben 
einer einseitigen oder selbst einer doppelten Lungentuberkulose 
eines dieser Körperorgane erkrankt, so könnte uns niemand ver¬ 
wehren, diesen Schluss vom wissenschaftlichen Standpunkte aus 
zu ziehen. 

Nehmen wir ad 3 an, dass wir eine Erkrankung des Darmes, 
einer oder mehrerer Lymphdrüsen oder der Bauchspeicheldrüse 
neben einer Erkrankung der Leber fänden, die anderen Organe 
aber gesund, so wären wir ebenfalls zu dem Schluss berechtigt, 
dass wir es mit einer lokalisirten Tuberkulose zu thun haben; ja 
selbst wenn noch eine Lungentuberkulose zugegen wäre, dürften wir 
dies thun, denn hier befände sich die vorläufige Endstation der Ver- 



Miesmuschelvergiftung. 


49 


breitung, über welche hinaus in den arteriellen Abschnitt eine 
Auswanderung nicht anzunehmen ist. 

In der Theorie lassen sich diese variablen Fälle und Combi- 
nationen denken und vervielfältigen, in der Praxis können wir 
aber durch dieselben leicht in ein Labyrinth gerathen, in dem 
wir uns nicht zurecht finden. Wir werden uns deshalb mit Vor¬ 
theil mit seltenen Ausnahmen an die gegebene Richtschnur der 
Verfügung halten müssen, welche sich im Allgemeinen an das 
vorstehende Schema anschliesst, jedenfalls aber von ähnlichen 
Gesichtspunkten ausgegangen ist. 

Dabei wird allerdings der Sachverständige, welcher sich an den 
Wortlaut der Verfügung hält und namentlich das Beisammensein der 
erkrankten Organe in einer Höhle betont, nicht selten gegen den 
Sinn der Verfügung fehlen und sein Gutachten mehr zum Vortheil 
der Hygiene, als der Landwirtschaft und der consumirenden Bevöl¬ 
kerung abgeben. Gleichwohl wird er gut daran thun, in zweifel¬ 
haften Fällen sich lieber streng an die Verfügung zu halten, als 
nach eigenem subjectiven Ermessen zu handeln. 

Wenn wir in der vorstehenden Erörterung die wissenschaft¬ 
lichen Anschauungen, welche der Ministeriellen Verfügung vom 
15. September 1887 als Richtschnur dienten, richtig gekenn¬ 
zeichnet haben, und wenn es uns gelungen ist, die Ueberein- 
stimmung dieser Anschaunngen mit der Summe unserer Kenntnisse 
und Erfahrungen von dem schädlichen und nnschädlichen Genüsse 
des Fleisches tuberkulöser Herkunft nachzuweisen, so dürfen wir 
die vorliegende Vereinigung und Abänderung der Erlasse aus den 
Jahren 1882 und 1885 als einen grossen Fortschritt unserer 
Nahrungsmittel-Gesetzgebung begrüssen. 

Insonderheit können wir nicht umhin, es als einen grossen 
Vorzug der neuen Verfügung hinzustellen, dass sie das Eine der 
Kriterien der allgemeinen Tuberkulose so umfassend als ein§ 
Infection der arteriellen Blutbahn definirt, da uns die gegen¬ 
teiligen Versuche, diesen Begriff an die Erkrankungsreihe 
benannter Organe zu knüpfen, wegen der Lückenhaftigkeit 
solcher specialisirender Bestimmungen verfehlt zu sein scheinen. 


Mie8mu8chelvergiftung zu Wilhelmshaven im Herbst 1887. 

Vom Kreisphysikus Dr. Schmidtmann in Wilhelmshaven. 

Schluss. 

Um die eventuelle Wirkung von Bakterien des Wassers zu 
verschliessen, wurde folgendermassen verfahren: 

Es wurden Plattenculturen angelegt aus Wassertropfen der 
gesunden, der giftigen und der giftig gemachten Muscheln, ferner 
aus der Quetschleber dieser 3 Sorten. Im Wesentlichen fanden 
sich constant 4 zahlreich wiederkehrende Kolonien: eine weisser¬ 
habene, eine grauweissvertiefte, eine grünliche, eine gelbbraune. 
Eis wurden Stichpräparate angelegt und im Hohlschliff untersucht. 
Es hatte anfangs den Anschein, als ob die grauweiss vertiefte 
Kolonie nur in den Giftmuscheln und im Hafenwasser zu finden sei, 



50 


Dr. Schmidtmann. 


und wurde daraufhin dieser Mikroorganismus, der sich mikro¬ 
skopisch als grosses Stäbchen präsentirte, in Bouillon gezüchtet, 
und in sterilisirtem Glase gewonnenes Seewasser damit infizirt, 
um gesunde Muscheln darin giftig werden zu lassen. Die weitere 
Beobachtung und Kontrollversuche erwiesen jedoch die erste An¬ 
nahme als unrichtig, indem sich die Kolonie auch bei Verwendung 
gesunder Muscheln und Seewassers zeigte. Das Resultat der zahl¬ 
reichen bacteriologischen Untersuchungen muss ich dahin zusam¬ 
menfassen, dass bis jetzt bei Vergleich der gesunden und giftigen 
Muscheln, wie der entsprechenden Wässer kein der Giftmuschel 
und ihrem Wasser allein zukommender Mikroorganismus gefunden 
wurde. 

Wie im Jahre 1885, so konnte auch jetzt wieder durch Ein¬ 
setzen gesunder See-Muscheln in das Binnenwasser die von der 
Oertlichkeit veranlasste Giftbildung in denselben experimentell 
nachgewiesen werden. Die ungiftig eingesetzten Muscheln tödteten 
unter den charakteristischen Erscheinungen ein Kaninchen, nachdem 
sie 24 Stunden im Binnenwasser verweilt, in l l /a Stunden, nach 
2x24 Stunden in 12 Minuten, nach 3 mal 24 Stunden in 4 1 /* Mi¬ 
nuten, nach 4 mal 24 Stunden in 2—4 l /a Minuten. Wir sehen 
also eine allmälige Steigerung der Giftwirkung, welche bereits 
vom 3. bis 4. Tage eine vollkommene und die gleiche, wie bei 
den im Hafenwasser gewachsenen Muscheln, ist. In dieser Ent¬ 
wickelung haben wir zugleich einen Beleg dafür, dass es sich 
nicht um die einfache Aufnahme eines im Wasser präformirten 
Giftes, sondern um eine allmälige Giftentwickelung in dem 
Muschelorganismus handelt. Die Thatsache, welche durch die 
exacten Untersuchungen von Wolff bereits bei der früheren Gift¬ 
periode festgestellt wurde, dass nämlich die Leber, das giftbil¬ 
dende Organ, der eigentliche Giftsitz sei, wurde auch bei den 
diesjährigen Versuchen hier bestätigt gefunden. 

Dem Beweise der auffallend raschen Giftentwickelung müssen 
wir eine besondere sanitätspolizeiliche Wichtigkeit beilegen. Denn 
wenn in Zeit von wenigen Tagen die Giftigkeit der Muscheln 
sich herausbilden kann, so wird eine Untersuchung auf eventuelle 
Giftigkeit, selbst wenn sie regelmässig monatlich wiederholt wird, 
doch keinen ausreichenden Schutz behufs rechtzeitiger Warnung 
gewähren, und man wird, so lange nicht feste Punkte für die 
Giftperioden gegeben sind, daran festhalten, die Miesmuscheln in 
dem bekannten Giftbezirk ein für alle Mal als giftig verdächtig 
anzusehen und vor ihrem Genuss jederzeit zu warnen. 

Um die Entgiftung der Giftmuscheln festzustellen, wurden 
drei mit denselben gefüllte Körbe an verschiedenen Stellen aus¬ 
gesetzt: 

1. Vor der Schleuse in der alten Hafeneinfahrt, an welcher 
Stelle es vor 2 Jahren gelungen w'ar, den Giftmuscheln innerhalb 
14 Tagen ihre giftigen Eigenschaften zu nehmen; 

2. am Eingang zur alten Hafeneinfahrt, einwärts vom Moh- 
lenkopfe; 

3. am Eingänge zur neuen Hafeneinfahrt. 



Miesmuschelvergiftung. 


51 


Wie zu erwarten, ist an den beiden erstgenannten Stellen 
eine vollständige Entgiftung nicht erzielt worden, wohl aber eine 
Abschwächung, so dass z. B. nach 9 Tagen der Entgiftungsdauer 
der Tod des Versuchsthieres erst in 1 1 / 2 Stunden erfolgte. Die 
gleiche Abschwächung wurde an der dritten Stelle, an welcher 
nachweislich die Muscheln ungiftig sind, schon nach 4 Tagen er¬ 
reicht. Die Entgiftung geht jedoch allgemein langsamer von 
statten als die Giftbildung, und beansprucht die vollkommene 
Entgiftung 7 bis 10 Tage. 

Bei diesen Versuchen muss genau darauf geachtet werden, 
dass die Muscheln, welche zur Feststellung der Zeiten der Gift¬ 
bildung wie Entgiftung verwendet werden, auch noch vollkommen 
lebend sind. Am besten beurtheilt man dieses zunächst darnach, 
ob sich die Muscheln im Wasser geöffnet haben und nun beim 
Herausholen schliessen. Man beobachtet nämlich besonders, wenn 
die Muscheln nicht frisch aus einem Wasser in das andere ver¬ 
setzt werden, dass einige sich zuerst gar nicht öffnen und erst 
späterhin bei vollständigem Absterben klaffen. Diese geschlos¬ 
senen, zwar lebenden, aber nicht mehr lebensfähigen Muscheln 
können bei oberflächlicher Betrachtung als vollkommen lebende 
angesehen werden, wenn nicht auf die geringe oder fehlende 
Reaction des Beilfusses bei der Berührung und auf das trockene Aus¬ 
sehen der Weichtheile als Zeichen ihres Absterbens geachtet wird. 
Da die Giftbildung und die Entgiftung ein Lebensact ist, so wird 
man bei solchen Muscheln das eine wie das andere vermissen 
können, und findet man es erklärlich, dass nicht alle Muscheln zu 
derselben Zeit denselben Grad der Giftbildung resp. Entgiftung 
zeigen. Diese Beobachtung erinnert an den Befund im April 
1886, in welchem Monat schwach giftige neben giftfreien und 
ausserdem zahlreich abgestorbene Muscheln sich vorfanden. 

Um zu sehen, ob bei der Vergiftung der Tliiere eine Auf¬ 
nahme des Giftes in die Organe derselben stattfindet, wurden von 
einem vergifteten Thiere Organtheile: Blut, Muskelsubstanz, Leber, 
Milz etc. einem lebenden eingeimpft. Das Thier blieb bei diesem 
Versuch gesund und zeigte keine Vergiftungssymptome. 

Von Herrn Professor Salkowsky wurde in seiner Veröffent¬ 
lichung 1885 hervorgehoben, dass die giftigen Muscheln dem Al¬ 
kohol, in den sie gelegt waren, eine weit stärkere goldgelbe 
Farbe ertheilten, als die ungiftigen. Anlässlich der jetzigen Ver¬ 
giftung hat jener Befund in den Tageblättern (Tägl. Rundschau 
vom 9. October 1887) eine missverständliche Erwähnung gefun¬ 
den, als ob die intensivere Färbung dem Gifte zukomme und ein 
Kriterium für die Giftmuscheln sei. Dies ist aber ebenso wenig 
stichhaltig, wie die Unterscheidung nach den äusseren Merkmalen 
der Schalen. Der erwähnte auffallende Farbenunterschied be¬ 
weist nur, dass einerseits Muscheln mit farblosem resp. weniger 
gelbem Fleische, andererseits solche mit gelbem Fleische aus¬ 
gezogen wurden. Da erstere meist in freier See Vorkommen, letz¬ 
tere im Binnenwasser, erstere stets ungiftig, letztere zeitweilig 
giftig sind, so kann sich gelegentlich die Farbendifferenz mit dem 



52 


Dr. Schmidtmann. 


Begriff giftig und ungiftig decken. Vergleicht man dagegen die 
Auszüge der gleichen Art: ungiftige und giftig gemachte Muscheln 
der Jade, giftige und entgiftete Muscheln des Binnenwassers, 
Giftmuscheln des Hafenkanals mit giftfreien des Handelshafens, 
so ist ein Unterschied der Färbung nicht erkennbar. Das Gift 
hat somit nichts mit der Färbung der Auszüge zu schaffen. 

Dass die Färbung nur den Weichtheilen und nicht etwa den 
Muschelschalen zukommt, wurde durch getrenntes Ausziehen der 
Schalen und des Muscheikörpers bewiesen. 

Die von Salkowsky angegebene Farbenveränderung des alko¬ 
holischen Auszuges beim Erhitzen mit Salpetersäure wurde hier 
nicht gesehen. 

Von Herrn Professor Wolff wurden bei der früheren Giftpe¬ 
riode die Seesterne des Hafenkanals und Bootshafens giftig be¬ 
funden. Die Intoxicationserscheinungen glichen denen vollkom¬ 
men, die nach Vergiftung mit Miesmuscheln gesehen werden. Es 
wurden deshalb genau nach seinen Angaben alkoholische Aus¬ 
züge von Seesternen aus dem Kriegshafen und von solchen aus 
der freien Jade bereitet. Von dem ersten Auszug wurde einem 
Kaninchen (645 Gramm schwer) 1 Spritze injicirt. Bereits nach 
10 Minuten begannen die Vergiftungserscheinungen, und unter den 
charakteristischen Erscheinungen hochgradiger Athemnoth und 
Lähmung verendete das Thier nach l */2 Stunden. Der Auszug 
aus den Seesternen des freien Wassers bewirkte keine Vergif- 
tttngserscheinungen. 

Die Frage nach den letzten Ursachen für die ausserordent¬ 
liche Giftbildung ist noch nicht gelöst. Wie 1885, so haben auch 
die diesjährigen Untersuchungen ein bestimmtes Gebiet festge¬ 
stellt, in welchem die Giftbildung der Muscheln vor sich geht, 
mithin die Ursachen derselben enthalten sein müssen. Am meisten 
Wahrscheinlichkeit hat die Annahme, dass die Muscheln zeitweilig 
durch eine besondere Nahrung zur Giftbildung angeregt werden, 
und dass diese Nahrung in einem dem niedersten Thierreiche 
(Protozoen, Infusorien) angehörenden Wesen zu suchen ist, das 
zu bestimmten Zeiten zur geniessbaren oder aussergewöbnlicb 
reichlichen Entwickelung unter günstigen örtlichen Beding¬ 
ungen gelangt. Von dieser Voraussetzung ausgehend, wurden Hrn. 
Generalarzt a. D. Dr. Lindner in Cassel, der sich seit längerer 
Zeit mit dem Studium der Infusorien etc. beschäftigte 1) Gift¬ 
muscheln, 2) giftiggemachte und 3) ungiftige Seemuscheln zuge¬ 
sendet, und seine Mitwirkung erbeten. Derselbe hat mit dankens- 
werther Bereitwilligkeit dieser Aufforderung enstprochen und 
theilt als das Resultat seiner exacten und mühsamen Unter¬ 
suchungen Folgendes mit: 

»Bei der Mehrzahl der untersuchten Giftmuscheln kamen 
grössere Cysten von Cilieten und Gregorinen nur vereinzelt vor, 
dagegen fanden sich bei allen im Schalenwasser constant zahl¬ 
lose kleinere und grössere lebende Monaden, theils einzeln, theils 
in Gruppen mit einander vereinigt; sogen. Uvellen, auch ruhende 
Monaden — einzeln und gruppirte — kamen öfters zur Be- 



Miesmuschelvergiftung. 


58 


obachtung. Bei den Muscheln aus offener See kamen hier 
und da auch vereinzelt lebende Infusorien und Monadenformen 
zur Beobachtung; gruppenweise vereinigte Monaden habe ich je¬ 
doch nicht in dem Schalenwasser wahrgenommen, jedenfalls ge¬ 
hörten die betreffenden Protozoen nicht zu den saprophagen In¬ 
fusorien. Während hier gewisse Mikrophyten (Zellen von niederen 
Algen und Pilzen) die festen Bestandteile des betreffenden Was¬ 
sers bilden, waren in denjenigen der Giftmuscheln die einzelligen 
Thiere und nächst diesen die Spaltpilze in überwiegender Zahl 
vorhanden. Bei den Giftmuscheln ist ausserdem der reichliche 
Gehalt des Schalenwassers an Fettkügelchen aufgefallen. Die 
Untersuchung des Mageninhalts bei den Giftmuscheln ergab fast 
constant das Vorhandensein von mehr oder weniger zahlreichen 
runden, bräunlichen Infusorienkapseln, welche sich bei den See¬ 
muscheln gar nicht oder nur ganz vereinzelt vorfanden. 

Die Atrophie der Schalen der Muscheln im Binnenwasser 
lässt sich wohl dadurch leicht erklären, dass die im Gehäuse der 
Muscheln eingeschlossenen Protozoen, welche so zahlreich sind, 
dass sie wahrscheinlich nur theilweise von den Muscheln ver¬ 
zehrt werden, auf Kosten der zum Aufbau der Schalen erforder¬ 
lichen Nährstoffe (kohlensaurer und phosphorsaurer Kalk nebst 
etwas Eiweiss und Glutin) sich nähren. Aus den vorgenommenen 
Untersuchungen der mir übersandten Giftmuscheln lässt sich im 
Allgemeinen schliessen, dass das stagnirende Wasser im Hafen 
eine sehr reichhaltige Faune von saprophagen Protozoen enthält.“ 

Nach diesen interessanten und beachtenswerthen Befunden 
bestehen also wichtige Verschiedenheiten bei den giftigen und 
ungiftigen Muscheln, und erscheint eine weitere Verfolgung und 
Bearbeitung der Muschelgiftigkeit nach dieser Richtung angezeigt. 

Um die chemische Bearbeitung des Giftes sicher zu stellen, 
sind grosse Mengen der Giftmuscheln nach der Methode von Pro¬ 
fessor Brieger von den Herren Apothekern König hier und in Bant 
verarbeitet, und werden die gewonnenen Giftmassen Herrn Pro¬ 
fessor Brieger, dessen Geschicklichkeit bei der vorigen Giftpe¬ 
riode die Darstellung des specifischen Giftstoffes — Mitilotoxin — 
gelungen ist, zur weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung zuge¬ 
stellt werden. 

Indem ich hiermit die Mittheilungen über das bisherige Er¬ 
gebnis der hier ausgeführten Untersuchungen schliesse, habe ich 
noch die Verpflichtung, mit besonderem Dank der ausgiebigen 
Unterstützung zu gedenken, welche mir bei diesen Arbeiten von den 
Herren Apotheker G. König und Marine-Assistenzarzt Dr. Ari- 
mond geleistet wurde. 



54 


Dr. Roquette. 


Trichinosis in Inowrazlaw. 

Von Kreisphysikus Dr. Roquette. 

In der Zeit vom 24. September bis zu Anfang October v. J. 
sind in der Stadt Inowrazlaw 45 Fälle von Trichinosis zur ärzt¬ 
lichen Cognition gelangt. Bei den ersten Krankheits-Erschei¬ 
nungen, den Magen- und Darmkatarrhen, wurde an Trichinen 
nicht gedacht. Als Gesichtsödeme und weiterhin Muskelentzün¬ 
dung mit Oedemen der Extremitäten auftraten, war die Diagnose 
nahe gelegt. Es wurde auch bald ermittelt, dass die Erkrankten 
in der Zeit etwa vom 15. bis 20. September aus 3 Fleischläden 
von den Fleischern zubereitetes Klopsfleisch im nicht durchgebra- 
teten, resp. rohen Zustande gegessen hatten. Sobald die Nach¬ 
richt von den Erkrankungsfällen im Publikum Verbreitung ge¬ 
funden hatte, meldeten sich mit jedem Tage mehr Kranke, welche 
die ersten Symptome, — auch das Gesichtsödem, zumal dieses oft 
unerheblich gewesen sein soll — nicht berücksichtigt hatten. 
Schmerzhaftigkeit in den Muskeln veranlasste sie, Hilfe zu suchen. 
Alle hatten aus einem oder dem anderen der 3 erwähnten Fleisch- 
lftden Klopsfleisch, Carbonade etc. entnommen, und zwar, wie sich 
beim Examen mit Bestimmtheit ergab, in dem Zeiträume von 
etwa dem 15. bis 20. September. Alle erinnerten sich, in der Zeit 
vom 24. bis 30. September die ersten Krankheits-Symptome wahr¬ 
genommen zu haben. 

Die Erkrankungen sind in dem 4. Theile der Fälle als 
schwere zu bezeichnen, welche neben den durch Muskelentzündung 
in den Extremitäten veranlassten Beschwerden hohe Temperaturen, 
quälende Bronchialcatarrhe, eine bis zur Aphonie gesteigerte 
Heiserkeit, pleuritische und pneumonische Erscheinungen darboten. 
Ein Todesfall trat am 17. October ein, und sind zur Zeit noch 
einige Erkrankte bettlägerig. 

Die gerichtliche Obduction des am 17. October Verstorbenen 
fand leider erst am 2. November statt. In der Hauptsache waren 
spiralig gewundene, in beginnender Verkapselung begriffene Tri¬ 
chinen in den vorschriftsmässig zu untersuchenden Muskeln, auch 
in den Schläfen- und Kehlkopfsmuskeln in Massen vorhanden. 
Der Kranke hatte während seiner Leidenszeit über grosse Schmerz¬ 
haftigkeit der Hoden geklagt., und wurde deshalb die Tunica 
dartos microscopisch berücksichtigt, aber ohne Erfolg. Dagegen 
zeigten sich Trichinen im Cremaster. Ausserdem waren beide 
untere Lungenlappen durchweg hypostatisch verdichtet. Der linke 
Brustfellsack hatte lose Adhäsionen, die serosa war getrübt, und 
befand sich im Grunde ein erhebliches trübflüssiges Exsudat. 
Die Mesenterialdrüsen waren geschwollen. Leider hatte die vor¬ 
geschrittene Fäulniss manchen erwarteten Befund verwischt. Die 
Schleimhäute des Kehlkopfes, der Bronchien, des Magens und 
Dünndarmes waren durch Fäulniss hochgradig verändert. Die 
geschwollene Leber war aussen und innen grün, trocken, und 
waren in den Leberzellen keine Fetttröpfchen. 



Trichinosis in Inowrazlaw. 


55 


Die bereits zu Anfang October vorgenommenen Untersuchungen 
der incriminirten Fleischläden ergaben nichts. Die Fleischer er¬ 
klärten, von den Mitte September geschlachteten Schweinen keine 
Yorräthe mehr zu besitzen. Alles Fleisch sollte im frischen Zu¬ 
stande verkauft worden sein. Es wurden nun zunächst die vor- 
räthigen, nicht geräucherten und sodann sämmtliche geräucherte 
Fleischwaaren microscopisch untersucht, doch wurden Trichinen 
nicht gefunden. Man konnte also annehmen, dass das trichinöse 
Fleisch verzehrt war, und sprach für diese Annahme die oben 
angeführte Thatsache, dass die letzten bekannt gewordenen Er¬ 
krankungsfälle etwa am 30. September aufgetreten sind, und bei 
diesen das trichinöse Fleisch etwa am 20. September genossen war. 

Auf welche Weise ist nun das trichinöse Fleisch in den 
Handel gekommen? 

Das städtische Schlachthaus steht unter der Controlle des 
Kreisthierarztes. Die von diesem nach der microscopischen Unter¬ 
suchung für gesund befundenen Schweine werden von den Fleisch¬ 
beschauern microscopisch untersucht. Für das Auffinden von 
Trichinen wird eine Prämie von 5 Mark bezahlt. Alle Fleisch¬ 
beschauer haben sich auf die Verordnung der Königlichen Regie¬ 
rung zu Bromberg vom 27. Juli 1886 im October desselben Jahres 
einer Nachprüfung unterziehen müssen, und sind als geübt und 
geschickt für ihren Beruf befunden worden. Ausserdem hat Jeder 
von ihnen während der letzten Jahre wiederholt selbstständig 
Trichinen gefunden, da von den im Jahre 1885 im Schlacht¬ 
hause geschlachteten 3276 Schweinen in 10 Fällen, in den 1886 
geschlachteten 3055 Schweinen in 11 Fällen, und in diesem Jahre 
bereits in 8 Fällen Trichinen waren. Die frischen, Trichinen ent¬ 
haltenden Fleischpräparate sind mir regelmässig zur Superrevision 
vorgelegt worden, und habe ich in jedem Falle die Richtigkeit 
des Befundes constatiren können. Ein Uebersehen von Seiten der 
Fleischbeschauer halte ich deshalb für unwahrscheinlich, glaube 
vielmehr annehmen zu dürfen, dass das Fleisch, welches die Tri¬ 
chinosis verursacht hat, überhaupt nicht microscopisch untersucht 
worden ist. Ich stelle mir den Vorgang als einen einfachen Be¬ 
trug vor. Es werden in den benachbarten kleinen Städten und 
auf dem Lande Schweine geschlachtet und, in Stücke zerlegt, zu 
Markte gebracht In den meisten Fällen werden die Schweine 
ja microscopisch untersucht worden sein, in einzelnen Fällen aber 
nicht. Den Aufsicht führenden Polizeibeamten wurden zur mora¬ 
lischen Beruhigung solche Stücke vorgezeigt, welche mit dem 
vorschriftsmässigen Stempel versehen waren, und lässt sich wohl 
annehmen, dass seitens der Fleischer, welche in Gemeinschaft von 
zweien oder dreien das Fleisch im Ganzen aufzukaufen pflegen 
wenig Gewicht darauf gelegt worden ist, ob jedes Stück den be¬ 
treffenden Stempel an sich getragen hat oder nicht. Hierbei 
mussten offenbar Unterschiebungen von nicht untersuchtem und 
zufällig trichinösem Fleische leicht ausführbar sein. 

Derartige Missstände werden für die Zukunft nicht mehr 
eintreten können. In der Schlachthaus-Commission habe ich vor- 



56 


Referate. 


läufig den Beschluss erwirkt, dass ausserhalb geschlachtete 
Schweine nur im ungeteilten Zustande nach der Stadt gebracht 
werden dürfen, und dass in jedem Falle eine microscopische Unter¬ 
suchung derselben im hiesigen Schlachthause auegeftihrt werden 
muss. 


R efe rat e. 

Dr. C. Moeli, dirigirender Arzt der Irren-Siechen-Anstalt Dalldorf- 
Berlin, Docent an der Universität Berlin. Ueber irre Verbrecher, 
Berlin NW., 1888. Fischer’s Medicinische Buchhandlung, 
H. Kornfeld. 

Die Moeli'sche Studie über irre Verbrecher reiht sich dem vor zwei Jahren 
erschienenen Werke von Sander-Richter über die Beziehungen zwischen Geistes¬ 
störung und Verbrechen in würdiger Weise an. 

Auch Moeli beabsichtigt nicht, eine systematische und erschöpfende Be¬ 
handlung aller solcher Beziehungen oder eine solche über das geistige Wesen 
der Verbrecher überhaupt zu liefern, sondern nur einzelne wichtige Punkte 
auf Grund eigener Erfahrungen .eingehender zu untersuchen und klarzulegen. 

Zur Grundlage seiner Untersuchungen wählt er eine grosse Reihe von 
Fällen geistiger Erkrankung von Inhaftirten, die er in der Dalldorfer Anstalt 
selbst beobachtet hat, und er gruppirt diese im ersten Abschnitte seiner Ab¬ 
handlung nach der verschiedenen Beschaffenheit ihrer Verbrechen in vierzehn 
Gruppen, in denen er die einzelnen Fälle selbst nach dem klinischen Charakter 
der Geistesstörung an einander reiht. 

Gruppe I. enthält die wegen Betteins und verwandter Uebertretungen 
Bestraften. 

Von diesen litten 30°/ # an angeborener Geistesschwäche, andere an chroni¬ 
schem Alkoholismus, Epilepsie, Verrücktheit oder Paralyse. 

Bei dieser Gruppe vermissen wir nur ungern einige typische Kranken¬ 
geschichten. 

Die II. Gruppe bilden Ruhestörer und ähnliche Verbrecher. 

Diese rekrutiren sich überwiegend aus Alkoholisten, in zweiter Linie aus 
Epileptikern, Verrückten und Paralytikern. 

Noch stärker tritt der Einfluss des Alkoholismus zu Tage bei Gruppe III., 
welche die wegen Körperverletzung Bestraften umfasst. Hier sind neben dem 
Alkohol-Missbrauch Kopfverletzungen, Sorgen wie Gemüthsbewegungen und 
acute Geistesstörungen aetiologisch zu vermerken. 

Gruppe IV. enthält die wegen Mord, Mordversuch oder Todtschlag Ver¬ 
urteilten, welche wesentlich aus Alkoholisten und Epileptikern bestehen. 

Gruppe V. sammelt die Verbrecher gegen die Sittlichkeit, welche sich 
als Imbecille, als Kranke mit erworbenem Schwachsinn und als Epileptiker 
erweisen. 

Gruppe VI. nennt die wegen Beleidigungen Bestraften. 

Diese leiden nicht selten an Hallucinationen und Wahnvorstellungen, welche 
in solchen Fällen meist recht schwer zu erkennen sind. 

Gruppe VII. und VIII. umfasst die Gotteslästerer und Majestätsbeleidiger; 
dies sind Exaltirte, Imbecille und Paranoiker. 

Gruppe IX. die irren Verbrecher, welche in militairischem Verhältniss 
stehen, meist Schwachsinnige niederen Grades, deren Schwachsinn bei der Ein¬ 
stellung nicht erkannt wurde. 

Gruppe X., diejenige der Brandstifter, vermerkt Schwachsinnige, Verwirrte, 
Hysterische. 

In Gruppe XI. finden wir die wegen einfachen Diebstahls Bestraften, 
welche eine bunte Gesellschaft verschiedenster Geisteskrankheiten bilden. 



Kofer.it o. 


57 


Gruppe XII. sammelt die schworen Kigenthumsvorbrecher, welche meist 
Gewohnheit«- oder ge worbs massige Diebe sind. Sie bilden jedenfalls die inter¬ 
essanteste und deshalb am eingehendsten besprochene Kategorie. 

Ihre Vertreter beginnen ihre verhängnisvolle Laufbahn oftmals schon in 
früher Jugend. Gerade hier verbinden sich angeborene Abweichungen verschie¬ 
denster Art mit epileptoiden und epileptischen Zuständen oder mit zum Theil 
rasch vorübergehenden, zum Theil dauernden hallucinatorischen Erregungen 
oder Wahnbildungen. Auch zeigt es sich hier, dass neben der geistigen An¬ 
lage das wüste Leben, der Verbmuch der Nervenkraft, Kopfverletzungen, Trunk¬ 
sucht und andere Laster ursächlich für das Leiden mitwirkten. Nicht selten 
tritt auch der Einfluss der Haft selbst schädlich hervor, und so ist gerade 
bei diesen Patienten oft das ganze Weh und Ach nicht aus einem Punkte 
herzuleiten. 

Die Lebens- und Krankengeschichten dieser Gruppe geben lebendige 
Bilder von Verbrechorlaufbahnen, sie zeichnen Charakteranlagen und Er¬ 
ziehung, krankhafte Geisteszüge und äussere Verhältnisse als ursprüngliche 
Quellen, aus deren allmählichem Zusammenwirken der jugendliche Verbrecher 
ersteht und zum hartgesottenen Verächter von Sitte, Recht und Gesetz wird. 

An sie schliesst sich Gruppe XIII. und XIV., welche wegen Betruges und 
Raubes Bestrafte nennt, für unsere Betrachtung aber weniger bedeutungsvoll ist. 

Im zweiten Abschnitt bespricht Moeli den Zusammenhang von Geistes¬ 
störung und Verbrechen und tritt hierbei dom Ausspruche Sander's bei, dass 
die Irren sehr viel häufiger das Strafgesetz übertreten als Geistes¬ 
gesunde. Als neuen Beweis hierfür citirt er die Erfahrung von Motet, nach 
welcher auf 1000 Gefangene im Seine-Departement 4,5 Geisteskranke zu rechnen 
waren, während auf 1000 der freien Bevölkerung 1,38, also nicht ein Drittel, 
gefunden wurde. 

Moeli führt ferner an, dass erfahrene Gefängnissärzte, wie Thomson, über¬ 
haupt bei allen Verbrechern das Damiederliegen der geistigen und ästhetischen 
Thätigkeit betonten, dass andere Aerzte trotz des Vorhandenseins der 
intellektuellen Schwäche bei demselben Individuum grosse Listigkeit und 
Verschlagenheit vorfanden, und noch andere Autoren auf den Stammbaum der 
Verbrecher hingewiesen hätten. 

Aber alle diese Momente sind nach ihm für die in Rede stehende Frage 
nicht beweiskräftig. Hier, wo es sich um die Würdigung des bestimmten 
Falles in Bezug auf den Zusammenhang des Vergehens mit geistigen 
Abweichungen handelt, dürfen nur ganz unzweideutige, für das 
geistige Leuen und für das äussere Handeln als erheblich sich er¬ 
weisende Veränderungen berücksichtigt werden. 

Und diesen Zusammenhang sucht Verfasser bei der Untersuchung der von 
ihm aufgestellten Gruppen zu erbringen. 

Wir würden den Rahmen dieses Referates überschreiten, wenn wir uns auf 
die interessanten Einzelheiten, welche hier folgen, einlassen wollten. Es möge 
statt dessen die Anführung der Worte genügen, welche den ersten zehn Gruppen 
gemeinsam gelten: „Bei einem Rückblicke finden wir also in den bisher De- 
sprochenen Gruppen der in die Anstalt gelangten Gesetzesübertretor ein ganz 
ausserordentliches Ueberwiegen der sicher bereits zur Zeit der Strafthat 
Kranken, also der sog. verbrecherischen Irren. 

Im Allgemeinen stehen die Handlungen mit Atfecten in Verbindung und 
sind im Einzelnen sogar zum grössten Theile (abgesehen von den Sittlichkeits- 
Delicten) durch diejenigen aus der Krankheit entspringenden Veränderungen 
veranlasst, welche positive Antriebe für die Begehung der That in sich tragen. 

Anders, fährt Moeli fort, ergeben sich die Verhältnisse bei Betrachtung 
, der gegen das Eigenthum sich richtenden Delicto unserer Kranken (namentlich 
Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Raub). Unter diesen ist namentlich die 
Würdigung der gewohnheits- oder gewerbsmässigen Diebe bemerkenswerth, bei 
denen sich vier Klassen unterscheiden lassen: 

1) Die verbrecherische Laufbahn steht sicher mit schon vorhandenen 
krankhaften Eigenthümlichkeiten in Verbindung, ist zum Theil sogar 
in erster Linie davon abhängig. 

2) Es bestanden höchst wahrscheinlich Abweichungen vom normalen geisti¬ 
gen Zustande, die sicher einen begünstigenden Einfluss auf die 



58 


Referate. 


vielleicht in erster Linie durch andere Verhältnisse voranlasste ver¬ 
brecherische Handlungsweise ausübten — einen Einfluss, dessen Trag¬ 
weite gegenüber der Mitwirksamkeit anderer Factoren nicht genau ab¬ 
gegrenzt werden kann. 

3) Bei einer dritten Kategorie lässt sich eine Veränderung, welcher ein 
irgend wesentlicher Einfluss auf die gesetzwidrige Handlungsweise zu¬ 
geschrieben werden müsste, nicht mit genügender Sicherheit feststellen; 
die Erkrankung ist, trotz Kenntniss des Vorlebens, erst nach dem Be¬ 
gehen der Strafthaten nachweisbar. 

4) Es fehlen überhaupt ausreichende Grundlagen zur Beurtheilung der in 
Frage kommenden Verhältnisse der Kranken. 

Bei dieser Gruppe der schweren Eigenthumsverbrecher führen zwar be¬ 
stimmte Krankheitszustände nicht direct zu gesetzwidrigen Handlungen, sie 
sind aber von erheblichster Bedeutung in Bezug auf gewerbsmässige Diebstähle. 

So die psychische Schwäche in ihrem weitesten Sinne. Allerdings fehlen 
die hochgradig Schwachsinnigen in dieser Gruppe, weil sie überhaupt zur 
Ausführung von Diebstählen nicht leistungsfähig sind oder doch sofort als krank 
erkannt werden, die höher stehenden beginnen dagegen oft schon im relativ 
frühen Alter. Neben dem Schwachsinn aber wirken gleichzeitig die äusseren 
Umstände, Unwissenheit, Verwahrlosung und Noth als wichtiger Faktor mit. 

Ausser der geistigen Schwäche sind noch andere krankhafte Eigentüm¬ 
lichkeiten von Bedeutung, Ungleichmässigkeit der Stimmung, abnorme Erreg¬ 
barkeit oder Affecte, einseitige oder wahnhafte Auffassung der Verhältnisse, 
welche aus abnormen Charakter-Eigenthümlichkeiten entspringen, die nicht 
vorzugsweise als Mangel an geistiger Bewegung überhaupt, sondern als eine 
einseitige Richtung des Fühlons und Denkens sich darstellen. 

Der Einfluss dieser krankhaften Eigentümlichkeiten auf den Lebensgang 
lässt sich allerdings nur vermuthen, wie sich auch die Beziehung des deut¬ 
lichen Schwachsinnes zur Straftat nicht in voller Schärfe darlegen lässt.“ 

Wir können nicht umhin, schon an dieser Stelle diese Auslassungen Moeli’s 
hervorzuheben, da diese Erwägungen die schwierigsten Punkte der gericht¬ 
lichen Medicin berühren, und die Beurtheilung solcher Grenzzustände von Ge¬ 
sundheit und Krankheit, von krankhaftem und verbrecherischen Charakter 
nicht nur für die Gerichtsärzte, sondern auch für die Psychiater selbst in con- 
creten Fällen die grössten Schwierigkeiten und Differenzen herbeizuführen 
vermag. Es betrifft dies die Zustände, welche die Sachverständigen an und für 
sich richtig und übereinstimmend beurtheilen, welche sie nach Anamnese und 
Beschaffenheit wissenschaftlich in der gleichen Weise behandeln, über welche 
aber eine Einigung bezüglich der Kriterien des § 51 Str.-G.-B. unter ihneu 
nicht erzielt werden kann. Ueber wirkliche ausgesprochene Geistesstörungen 
wird eine Disharmonie kaum entstehen, es müsste denn auf der einen Seite 
völlige Unkenntniss und Unerfahrenheit herrschen. Selbst Fälle von zeitweiliger 
Geistesstörung, wie die epileptische Absence, der pathologische Rausch, die 
hysterische Verrücktheit bieten in der Jetztzeit bei dem überwiegendem Ein¬ 
fluss der somatischen Würdigung der Geisteskrankheiten nicht mehr die 
früheren diagnostischen Schwierigkeiten. Auch der angeborene Schwachsinn 
niederen Grades, welcher sich nicht allzuselten hinter glänzender Aussenseite 
und bestechenden sporadischen Geistesgaben und Talenten verbirgt, wird bei der 
jetzt bahngreifenden anthropologischen Untersuchungsweise der Geisteskranken 
leichter erkannt und von der noch normalen, physiologischen Geistesarmuth 
klarer abgegrenzt, als in der Vorzeit. 

Sobald wir aber diese Schwachsinnigen vor das criminale Forum bringen, 
beginnt unsere Verlegenheit, ob wir sie, kurz zu sagen, in die Reihe der Zu¬ 
rechnungsfähigen einreihen sollen, oder nicht. Man wird uns antworten, dies, 
sei nicht unsere Sache, wir seien nicht einmal competent, über den Ausschluss 
der freien Willensbestimmung zu urtheilen, wir genügten unserer Pflicht, wenn 
wir das Individuum nach allen Richtungen hin ärztlich demonstrirten, so dass 
das Endurtheil dem Richter als reife Frucht von selbst zufallen müsste. In 
manchen Fällen niedrigen Schwachsinnes oder geistiger Entartungen und Ab¬ 
weichungen mag dies ja wohl angehen, zumal wenn körperliche Abnormitäten 
das Urtheil gleichfalls nach der Annahme geistiger Abnormität hindrängen. 
In sehr vielen Fällen indess wird der Richter nach der gelehrtesten Ausein- 



Kolb rate 


59 


andersetzung, welche völlig überzeugend das Vorhandensein abnormer geistiger 
Eigentümlichkeiten beweist, fragen: Ist dies Geisteskrankheit, und schliesst 
diese abnorme Beschaffenheit die freie Willensbestimmung aus? Der Arzt wird 
dies nicht beweisen können, der Richter oder Geschworene, auch wenn er nicht 
zu der von Knecht beschriebenen Kategorie zahlt, wird den Thäter verurteilen, 
und der Verurteilte wandert in das Strafgefängniss. Derselbe Verurteilte 
kommt vielleicht schon diesmal oder sonst bei späteren Rückfällen als Unter- 
suchungs- oder Strafgefangener in die Irrenanstalt, und der Psychiater reiht 
ihn ohne weiteres in die Zahl der verbrecherischen Irren d. h. in die Zahl der 
zu Unrecht Bestraften ein. Und jede Nummer dieser Kategorie soll im Grunde 
ein Vorwurf für den Richter, den Geschworenen, den Staatsanwalt, den Ge¬ 
richts- event. den Gefüngnissarzt sein. Ob mit Recht oder Unrecht, das mag 
der Leser entscheiden. Moeli selbst verkennt die Schwierigkeit dieser Situation 
nicht, und wir müssen ihm doppelt dankbar sein, dass er als Psychiater vom 
Fach dieselbe anerkennt und erörtert, wenn er auch nicht zu unseren Gunsten 
urtheilt. Auch der mässig Schwachsinnige, fährt er dann fort, kommt erst in 
irrenärztliche Behandlung, wenn er durch hinzugetretene Erregungen, Angst¬ 
zustände, Sinnestäuschungen auffällig geworden ist. Man muss deshalb nach 
wichtigen Entstehungsmomenten von Psychosen forschen, nach erblicher Be¬ 
lastung, Trunksucht, Kopfverletzungen, körperlichen Erscheinungen, dabei aber 
berücksichtigen, dass' letztere nicht in nachweisbaren engeren Bezie¬ 
hungen zur Geisteskrankheit stehen. 

Unter 74 Gewohnheitsverbrechern findet Moeli: 

28 Personen, welche bereits vor ihrer Strafhaft geistig abnorm waren; 

28 Personen, bei denen vor Beginn ihrer verbrecherischen Thätigkeit 
eine psychische Abweichung nicht erweisbar; 

18 Personen, bei denen neben geistiger Abnormität geringeren 
Grades vielfach andere Einflüsse sich geltend machten. 

Auch die Beantwortung der Frage, ob die ersten 28 Personen und welche 
davon als verbrecherische Irre zu betrachten sind, mag der Leser der Casuistik 
sich selbst geben. Er wird dadurch gleichzeitig ei*fahren, in wie weit er be¬ 
ziehentlich der Anwendung des § 51 mit dom Verfasser dieselbe Anschauung 
theilt. 

Im dritten Abschnitt behandelt Moeli die Feststellung des Geisteszu¬ 
standes seiner Kranken, d. h. die Frage, in wie weit bei den genannten Kran¬ 
ken das Verhältniss des krankhaften Geisteszustandes zur Gesetzesübertretung 
richtig beurtheilt und für die äusseren Schicksale von Einfluss geworden ist. 
Moeli deutet diese Frage indess nur an und geht nur auf die Beantwortung 
der Unterfrage ein: Wie stellt sich dieses Verhältniss bei den einzelnen Gruppen 
heraus? 

Die Antwort lautet: 

1) Bei leichten Vergohen wird der Schwachsinn meist verkannt, bis sich 
Erregungszustände etc. einstellen. 

2) 3) und 4) Bei Vergehen des Widerstandes, der leichten und schweren 
Körperverletzungen handelt es sich meist um Verkennung des Alkoholismua. 
Nur die Form des Delirium tremens wird hier für gewöhnlich richtig 
gewürdigt, weniger dagegen geschieht dies mit den anderen pathologi¬ 
schen Formen. 

Wo dem Trinken krankhafte Eigenthümlichkeiten zu Grunde 
liegen (s. v. v. beim pathologischen Durst), oder wo die Wirkung mässiger 
Mengen von Spirituosen auf das geschädigte Nervensystem sich in ab¬ 
weichender Art äussert (pathologischer Rauschzustand) — da wird die 
volle Erkenntniss erst durch die Häufigkeit der Strafthaten angebahnt. 

Nicht minder leicht wird das pathologische explosive Benehmen 
der Alkoholisten verkannt. 

Wir huldigen der Anschauung, dass solche Zustände auch von den 
Gerichtsärzten seltener übersehen werden, dass sie aber für Staatsanwalt 
und Richter eine Klippe bilden, für deren Ueberwindung der Gesetzgeber 
in Zukunft Handhaben bieten wird und muss. (Referent). 

5) Nach Moeli werden geisteskranke Querulanten häufig bestraft aus den 
von ihm Seite 26 dargelegtem Grunde, weil nämlich die erhaltene Be¬ 
sonnenheit und der zusammenhängende Gedankengang neben lebhaftem 



60 


Kol o rat o. 


Denken und geläufigem Handeln die Erkenntniss der walinliaften Vor¬ 
stellungen erschwert, um so mehr, wenn letztere sieh nur in krankhafter 
Weise an Erlebtes (verlorene Prozesse etc.) anknüpfen. 

6) Die Schwachsinnigen und Paralytischen, welche Sittlichkeitsverbrechen 
begehen, werden meist richtig beuitlieilt. 

7) Anders stellt es sich mit der Beurtheilung schwachsinniger Militairs. 

8) Der grösste diesbezügliche Missstand aber tritt bei der Beurtheilung 
der schweron Eigenthumsverbrecher hervor, und liegt dies nach Moeli 
hauptsächlich an der verkehrten Auflassung, dass sich eine geistige 
Störung äusserlich auffällig ausprägen müsse. Deshalb sei diese Frage 
bei der gerichtlichen Untersuchung gar nicht aufgetaucht. 

Im vierten Abschnitt würdigt Verfasser die Simulation der 
Geistesstörung und stimmt auch hier mit Sander darin überein, da-ss Simu¬ 
lation von Geisteskrankheit selten sei, und dass sie noch immer viel zu häufig 
angenommen werde. 

Als wichtigste Momente, welche Arzt und Richter diesbezüglich kennen 
müssten, nennt er das Lügen und das ungewöhnliche Benehmen der fraglichen 
Simulanten. Schon Delbrück hob hervor, dass Gewohnheitsverbrecher auch zu 
Gewohnheitslügnom würden und, wenn sie geistig erkranken, naturgemäss 
solche blieben. 

Andererseits sei das Lügen eine Eigentümlichkeit vieler Geisteskranken. 
Schwachsinnige lügen aus Renommage, aus Neigung zum Schwatzen und 
Abenteuerlichen, Hysterische und Epileptische aus innerem Drange, andere aus 
alberner Selbstgefälligkeit. Manche Kranke aber lügen nur scheinbar, indem 
unerkannte Wahnvorstellungen ihren Auslassungen zu Grunde liegen. 

Aber es giebt auch wirkliche Simulanten von Geisteskrankkeit, solche mit 
reiner Simulation und solche, welche geistig abnorm sind und ausserdem siinu- 
liren. Die ersteren werden leicht entlarvt, die letzteren verrathen sich leicht 
selbst. 

Moeli resumirt, dass der sichere Nachweis der Simulation unter Um¬ 
ständen ehor auf das Vorhandensein einer Geistesstörung als auf ihr Fehlen 
hinweisen kann, und dass er mindestens gegen das Bestehen einer 
psychischen Abweichung in keiner Weise etwas beweist. 

In der Strafhaft kommt nach Moeli Simulation noch seltener vor als in 
der Untersuchungshaft. 

Bei Behandlung der Simulanten empfiehlt Verfasser sorgfältige Berücksich¬ 
tigung der nicht direkt beobachteten Erscheinungen, langdauernde Beobach¬ 
tung, Enthaltung aller Einschüchterungsversuche und Unbefangenheit des 
U nte rauchenden. 

Der fünfte Abschnitt betrifft die Unterbringung geistesgestört er 
Gefangener und basirt auf so speciellen fachmännischen Erfahrungen, dass 
wir seine Beurtheilung einer fachmännischen Feder überlassen. Der Streit, ob 
geisteskranke Strafgefangene in Specialanstalten der Gefängnisse oder der 
Irrenanstalten oder in selbstständigen Etablissements unterzubringen sind, 
lässt sich wohl nur durch die Probe entscheiden. 

Der vorliegenden Arbeit könnte man auf den ersten Blick den Vorwurf 
machen, dass sie, im Grunde genommen, nichts Neues brächte und in ihrer 
ganzen Haltung allzusehr dem Sander-Richter’schen Werke gliche. Bei näherem 
Studium indess gewinnt der Leser die Ueberzeugung, da-ss sie nicht überflüssig 
ist, sondern ihrer Vorgängerin würdig zur Seite steht, dieselbe completirt und 
wesentliche Punkte, welche dort nur oberflächlich gestreift sind, in ausführ¬ 
licher und nicht minder klassischer Weise behandelt, als jene. 

Die lichtvollen, lebendigen Krankengeschichten sind auf demselben Boden 
gewachsen, die Kranken Moeli’s rekrutiren sich aus derselben Provinz und 
leben unter den gleichen Verhältnissen wie die Sander’schen. Nur werden sie 
von Moeli nach anderen Gesichtspunkten geordnet und verarbeitet. Schon 
diese Anordnung wird dem Gerichtsarzte willkommen sein, so oft er sich über 
ähnliche Fälle in seiner Praxis orientiren will. 

Die Betrachtungen Moeli's über den Zusammenhang von Geistesstörung 
und Verbrechen sind nicht wesentlich verschieden von den Sander’schon Ideen, 
gleichwohl bringt auch dieser Abschnitt neues Material und neue Anregungen. 



Referate. 


61 


Aehnliches gilt von dem dritten Abschnitt , in welchem Moeli das Ver¬ 
bal tniss der irren Verbrecher zu den verbrecherischen Irren für die einzelnen 
Gruppen des ersten Abschnittes festzustellen sucht. Moeli berührt bei dieser 
Gelegenheit einen angeblich wunden Punkt unserer Criminal-Justiz. Denn ohne 
einen Vorwurf auszusprechen, birgt sich ein solcher in den Schluss¬ 
folgerungen, welche aus der hier gewonnenen Statistik hervorgehen. 

Indess, wir können es nicht hindern, dass wir trotz des guten Willens des 
Gesetzgebers und der Strafrechtspflege noch immer verbrecherische Irre in unseren 
Strafanstalten vorfinden. Wir haben einmal mit der allgemeinen Mangel¬ 
haftigkeit menschlicher Institutionen zu rechnen, ein ander mal mit dem 
Umstande, dass wir eine unverkennbare Grenzmarke zwischen geistiger Gesund¬ 
heit und Krankheit überhaupt nicht besitzen, und dass diese Grenze noch viel 
weniger feststeht rücksichtlich des § 51. Dazu kommt noch, dass das geistige 
Bild des Angeschuldigten und Angeklagten bei weiten nicht mit der Schärfe 
gezeichnet werden kann, mit der dasjenige des Gefangenen später in der An¬ 
stalt entworfen und ausgeführt wird. Denn dem Gerichte fehlt zur Zeit 
noch das ganze Material, welches sich erst im Laufe späterer Verhand¬ 
lungen ansammelt. Es kennt meist nur die Maske, nicht aber die einzelnen 
Züge und muss nach jener urtheilen. Ausserdem fehlt nicht selten der 
Beweis, dass die spätere Untersuchung in der Irrenanstalt auch wirklich das 
richtige Bild aus der Zeit der Verurtheilung reconstruirt, dass damals in Wahr¬ 
heit das Gericht sich getäuscht und einen nicht zutreffenden Spruch gefällt 
hat. Auf jeden Fall dürfen wir hoffen, dass auch nach dieser Richtung hin 
etwaige Mängel schwinden werden, je mehr bei Richtern und Aerzten die 
früheren Anschauungen zurücktreten, welche in alten, vor der naturwissen¬ 
schaftlichen Zeit der Psychiatrie entstandenen Doctrinen wurzeln. (Referent). 

Der Abschnitt über die Simulation von Geisteskrankheit fasst ältere Er¬ 
fahrungen und Ansichten zusammen und verbreitet neues Licht über diesen 
Punkt der gerichtlichen Psychiatrie, welcher mehr und mehr aus seiner einst 
dominirenden Stellung zurückgedrängt wird. 

Wie sich die Anschauungen aus dem fünften Abschnitt in Zukunft ge¬ 
stalten werden, das werden wir voraussichtlich nach längerer Wirkung der 
neuen Irrenstation des Berliner Zellengefängnisses erfahren. 

Wir schliessen mit dem Wunsche und der Hoffnung, dass das Moeli’sche 
Werk ebenso fruchtbringend wirken wird, wie das Sander’sche es bereits 
gethan hat. 

Berlin. Mittenzweig. 


Das preussische Medicinalwesen nach dem Staatshaushalts-Etat 

für das Jahr 1888/89. 

Die Hoffnung, dass bei den jetzigen günstigen Finanzen des preussischen 
Staates die schon längst in Aussicht gestellte und allseitig als dringend noth- 
wendig erachtete Reorganisation der Medicinalverwaltung insonderheit der 
Stellung der Kreismedicinalbeamten in diesem Jahre durchgefühlt und ein 
bezüglicher Gesetzentwurf dem Abgeordnetenhause vorgelegt werden würde, 
ist leider wiederum getäuscht worden, wenigstens sind in dem neuen Etat 
keine Mehraufwendungen zu diesem Zwecke vorgesehen. Derselbe zeigt gegen¬ 
über demjenigen des Vorjahres überhaupt wenig Veränderungen und sind aus¬ 
geworfen : 

1. Für Besoldungen der Mitglieder der Provinzialkollegien, 

Regierungs-Medicinalräthe u. s. w.Mk. 236604,— 

2. Für Besoldungen der Stadt-, Kreis- und Bezirksphysiker, 

Kreiswundärzte u. s. w.„ 746612,97 

3. Für Wohnungsgeldzuschüsse für die Regierungsmedi- 

cinalräthe.„ 21360,— 

4. Für Remunerirung der Bureau- und Kanzlei-Hülfs- 

arbeiter bei den Provinzial-Medicinalkollegien . . . „ 8098,— 

5. Für Bureaubedürfnisse der letzteren, sowie zu Reise¬ 

kosten und Tagegeldern für auswärtige ausserordentliche 
Mitglieder der Provinzial-Medicinalkollegien . . . . „ 8422,— 

Uebertrag: ~Mk7 1021096^97 






62 


Staatshaushalts-Etat 1888/89Mes preuss. Medicinal wesens. 


Uebertrag: Mk. 1021096,97 

6. Für Remunerirung der Mitglieder der Kommissionen 

für die Staatsprüfungen der Aerzte, Zahnärzte, Apo¬ 
theker, Physiker und zu sachlichen Ausgaben bei den¬ 
selben .Mk. 114740,— 

7. Für Unterrichts-, Heil- und Wohlthätigkeits-Anstalten 
besonders an Zuschuss für das Charite-Krankenhaus 

in Berlin.. 213326,32 

8. Für das Impfwesen: Remunerirung der Vorsteher 

Assistenten u. 8. w. der Impfinstitute, sowie für sach¬ 
liche Ausgaben der letzteren, Impfprämien u. s. w. . * 55176,— 

9. Für Reagentien bei den Apothekenrevisionen . . . „ 1900,— 

10. Für Unterstützungen von Medicinalboamton und deren 

Wittwen und Waisen.. 45 000,— 

11. Gesetzliche Wittwen- und Waisengelder.* 6 800,— 

12. Zu Almosen an körperlich Gebrechliche zur Rückkehr 

in die Heimath, sowie für arme Kranke.„ 900,— 

13. Für medicinal-polizeiliche Zwecke (für veterinärpolizei¬ 
liche Zwecke: 127465 Mk.!).* 28 500,— 

14. Zu verschiedenen anderen Ausgaben (Quaraniainean- 

stalten, Aussterbebesoldungen u. s. w.).. 50440,83 

Zusammen Mk. 1537880,12 
im Vorjahre: * 1496699,55 

demnach mehr Mk. 41180,57 

Diese Mehrausgaben wurden abgesehen von den erhöhten Ausgaben für 
ärztliche Prüfungen (23,370 Mk.) denen jedoch eine entsprechend höhere 
Einnahme aus den letzteren gegenübersteht, hauptsächlich bedingt: 

a) durch die Ausgaben für Tagegelder und Reisekosten, welche nach § 11 
der Allerhöchsten Verordnung vom 25. Mai 1887 betreifend die Einrichtung 
einer ärztlichen Standesvertretung, den zu den Sitzungen der Provinzial- 
Medicinalkollegien von auswärts einzuberufenden Vertretern der Aerzte- 
kammern zu gewähren und die mit 5000 Mk. veranschlagt sind. 

b) durch die Remunerationen der Vorsteher (3000 Mk.) und Assistenten 
(750 Mk.) der neu zu errichtenden animalen Impf- und Lympferzeugungs- 
Instituten zu Königsberg i. Pr. und Kassel zusammen 7500 Mk., sowie durch 
die sachlichen Ausgaben für die letzteren im Betrage von 10220 Mark. 

c) durch voraussichtlichen Wegfall der von den Beamten bisher gezahlten 
Wittwen- und Waisengelder im Betrage von 2100 Mark. 

An einmaligen Ausgaben sind für das Medicinal wesen — abgesehen von 
denjenigen für Universitätszwecke — nur diejenigen für bauliche und innere 
Einrichtung des Impf- und Lympherzougungs-Institutos zu Königsberg i. Pr. 
mit 6800 Mk. und zu Kassel mit 1500 Mk. in Anschlag gebracht. 

Aus den Bemerkungen zum Etat geht übrigens deutlich hervor, dass die 
königliche Staatsregierung die Zahl der Kreiswundarzt stellen immer mehr ein- 
zuschränken beabsichtigt, wenigstens sind ebenso wie in den neuen Kreisen 
der Provinz Hannover bezw. der Provinz Hessen-Nassau auch in den in Folge 
der durch das Gesetz vom 6. Juni 1887 getheilten Kreisen der Provinz Posen 
und Westpreussen keine Kreiswundärzte mehr vorgesehen. Ein Gleiches gilt 
für die neuen Stadtkreise Spandau und Cottbus wie für den bisher mit dem 
Kreise Duisburg einen gemeinschaftlichen Physikatsbezirk bildenden Kreis 
Mühlheim a. d. Ruhr. Für 20 neue Kroisphysicatstellen ist die Besoldung in 
Anschlag gebracht (3 im Reg.-Bez. Danzin, 1 im Reg.-Bez. Marienwerder, 
10 im Reg.-Bez. Posen, 3 im Reg.-Bez. Bromborg und je 1 in den Stadt - 
bezw. Landkreisen Spandau, Cottbus und Mühlheim a. d. Ruhr) und 23 Kreis¬ 
wundarztstellen theils schon jetzt, tlieils als künftig wegfallend bezeichnet. 


Bekanntm achungen* 

Obwohl es den Fortschritten der Chemie gelungen ist, arsenik- und andere 
gifthaltige Farben durch giftfreie, unschädliche Farben zu ersetzen, gelangen 
insbesondere arsenhaltige Farben noch immer häufig zur Verwendung, so zur 







Bekanntmachungen. — Personalien. 


6 


o 
•J 


Herstellung grüner Tapeten, zum Bemalen der Zimmerwände, geringwerthiger 
Fenstervorhänge, Färben von Kleiderstoffen, künstlichen Blättern und Blumen 
und dergl. mehr. 

Neuerdings ist besonders darauf hingewiesen worden, dass 
Tapeziror zur Beseitigung des Haus-Ungeziefers dem Tapeten¬ 
kleister Schweinfurter Grün (Schwabenpulver) hinzufügen, wo¬ 
durch die Gesundheit der Bewohner solcher Zimmer ebenso gefährdet wird, 
wie die Gesundheit derjenigen, welche in Zimmern mit arsenikfarbenen Wänden 
wohnen oder die oben bezeichneten Gebrauchs-Gegenstände benutzen. 

Das Publikum wird wiederholt auf die Gefahren aufmerksam gemacht, 
welche der Gesundheit und dem Leben durch die Verwendung gift-, besonders 
arsenhaltiger Farben drohen, und vor der Benutzung solcher Gegenstände bez. 
dem Bewohnen von Räumen, deren Wände mit arsenhaltigen Farben bemalt 
sind, ernstlich gewarnt. Die Gewerbetreibenden, welche derartige Farben zu 
vorgedachten Zwecken verwenden, oder in den Verkehr bringen, werden auf 
die Bestimmungen der §§ 324 und 326 des Strafgesetzbuches hingewiesen. 

Berlin, den 10. Januar 1888. Der Polizei-Präsident. 

Freiherr v. Richthofen. 

Mit Rücksicht auf die grosse Zahl von Gesuchen, welche wegen Zulassung 
zum Hebeammen-Unterricht hier eingehen, mache ich hierdurch bekannt, dass 
alljährlich nur etwa 8 Schülerinnen für Berlin zugelassen werden und dass 
mir solche Personen auf Zulassung zu rechnen haben, welche durch gute 
Schulbildung zur Erlernung der Hebeammenkunst vorzugsweise befähigt sich 
zeigen und nicht jünger als 20 oder älter als 30 Jahre sind. Die 
Gesuche um Zulassung zu dem am 1. October d. J. beginnenden Unterricht 
sind im Monat April d. J. einzureichen und denselben 1. der Geburtsschein, 
2. ein Attest über die erfolgte Wiederimpfung, 3. das von dem hiesigen 
Königlichen Stadtphysikus (Tempelhofer-Ufer 29), welchem die vorbe- 
zeichneten Atteste vorzulegen sind, ausgestellte Befähigungszeugniss beizufügen. 

Meldungen, welchen die vorerwähnten Papiere nicht beige¬ 
fügt sind, bleiben ohne Antwort und unberücksichtigt. 

Für die Dauer des Unterrichts sind 260 Mk. Kostgeld und ausserdem 
31 Mk. 80 Tf. für Bücher und Instrumente, welche bei der Ausübung des 
Hebeammengewerbes unentbehrlich sind und von der Königlichen Charite- 
Direktion geliefert werden, sow r ie für den Stempel des Zeugnisses im Voraus 
an die Königliche Charite-Kasse zu zahlen. Die letztere Summe wird den¬ 
jenigen Schülerinnen, welche die Prüfung nicht bestehen, von der gedachten 
Kasse zurückgezahlt. 

Berlin, den 14. Januar 1888. Der Königl. Polizei-Präsident. 

Freiherr von Richthofen. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Seine Majestät der König haben allergnüdigst geruht, den Professoren 
R. Hartmann in Berlin und J. Doutrelepont in Bonn den Character als 
Geheimer Medicinalrath zu verleihen, dem Geheimen Medicinalratb Professor 
extraordin. Dr. Schwartze zu Halle a. S. zur Anlegung des ihm verliehenen 
Ritterkreuzes des Grossherzog]. Mecklenburgischen Hausordens der Wendischen 
Krone, und dem prakt. Arzt Dr. Erlen in ey er zu Bendorf zur Anlegung des 
ihm verliehenen Fürstlich Waldeck’schen Verdienst-Ordens II. CI , sowie des 
Ritterkreuzes des Königl. Schwedischen Wasa-Ordens die Allerhöchste Ge¬ 
nehmigung zu ertheilen. — Bei Gelegenheit des Krönungs- und Ordensfestes 
haben erhalten: den Rothen Adler-Orden III. CI. mit der Schleife: 
Regierungs- und Geheimer Medicinalrath Dr. Schwartz in Trier, General- und 
Korpsarzt Dr. Strube in Breslau. — Den Rothen Adler-Orden IV. CI.: 
Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Berkofsky in Prenzlau, Geheimer Sanitäts¬ 
rath Dr. Brandis in Aachen, Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Claus in 
Saarlouis, Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Goetting in Paderborn, Ober¬ 
stabs- und Regimentsarzt Dr. Graf in Altenburg, Oberstabs- und Regimenis- 
arzt Dr. Haertel in Krotosehin, Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Heim- 



64 


Personalien. 


lieh in Tilsit, Oberstabs- und Garnisonarzt Dr. Huyn in Mainz, Prof. Dr. 
Kuelz in Marburg, Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Lorenz in Thorn, Stabs¬ 
arzt a. D. Dr. Marung in Schönberg (Mecklenb.-Strl.), Stabs- und Bat.-Arzt Dr. 
M ulnier in Northeim, Kr.-Phys. Sanitätsrath Dr. N oeldechen in Lauban, Kreis¬ 
arzt Dr. Pawollek in Bolchen, Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Richter in 
Magdeburg, Apotheker Schliekum in Winningen, Kr. Coblcnz, Polizeistadt 
physikus Sanitätsrath Dr. Schlockowin Breslau, Stabs- und Bat.-Arzt Dr. Senft- 
lebeninBreslau,Regierungs- und Medicinalrath Dr. Wiebeckein Frankfurta.0., 
Arzt Dr. Zartmann in Metz. — Den Stern zum Königl. Kronen-Orden 
II. CI.: Geh. Regierungsrath Professor Dr. von Helmholtz in Berlin. — 
Den Königl. Kronen-Orden II. CI.: Geh. Medicinalrath Professor Dr. von 
Volkmann in Halle a. S. — Den Königl. Kronen-Orden III. CI.: 
Ministerial-Referent Oberstabsarzt Dr. Grossheim in Berlin, Oberstabs- und 
Regimentsarzt Dr. Kirchner in Breslau, Oberstabs- und Regimentsarzt 
Dr. Kohlhardt in Metz, Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Rothe in Frank¬ 
furt a. 0. — Den Rothen Adler-Orden IV. CI.: Hofarzt Dr. Boer in 
Berlin, Kreiswundarzt Rudloff in Delitzsch. 

Ernennungen: 

Der praktische Arzt Dr. Blokusewski in Pasewalk zum Kreisphysikus 
des Kreises Aurich; der praktische Arzt Dr. Helming zu Ahaus zum Kreis¬ 
physikus des Kreises Ahaus; der praktische Arzt Dr. Helm zu Tangermünde 
unter Belassung seines Wohnsitzes zum Kreis Wundarzt des Kreises Stendal, der 
bisherige Kreiswundarzt des Kreises Ost-Sternberg Dr. Weissenborn in 
Zielenzig zum Kreisphysikus des gedachten Kreises, der prakt. Arzt Privat¬ 
dozent Dr. Tuczek zu Marburg ist unter Belassung in seinem Wohnsitz zum 
Medicinal-Assessor beim Königl. Medicinal-Kollegium der Provinz Hessen-Nassau, 
und der seitherige Kreiswundarzt des Kreises Landsberg a. W. zum Kreis¬ 
physikus desselben Kreises ernannt worden. 

Versetzt sind: 

Der Kreiswundarzt Masurke zu Dirschau in gleicher Eigenschaft in den 
Stadt- und Landkreis Eiberg mit dem Wohnsitz in der Stadt Elbing; der 
bisherige Kreiswundarzt des Saalkreises Dr. Strübe zu Halle a. S. in gleicher 
Eigenschaft in den Stadtkreis Halle. 

Kommissarisch Übertragen: 

Die Kreiswundarztstelle des Kreises Grottkau an Dr. Wottje zu Ottmochau. 

Verstorben sind: 

Kreiswundarzt Mroczeck in Nikolaiken. 

Fähigkeitszengniss znm Physikat 

erhielten im 4. Quartal 1887: Die DDr. Chr. Le Blanc in Opladen, I. Cordes 
in Lingen, P. Druffel in Trier, Fr. Faulhaber in Jüterbog, J. Gading in 
Schwerin i. M., Fr. Gebhardt in Gumbinnen, J. Heitsch in Belgern, A. 
Herrmann in Melilauken, L. Kleine in Schweidnitz, W. Koenig in Dall¬ 
dorf bei Berlin, E. Landgrebe in Neustettin, M. Michaelsohn in Pieschen, 
R. Müller in Reetz, R. Oehmke in Dessau i. Anhalt, H. Räuber in Nord¬ 
hausen, Fr. Rehder in Flensburg, P. La Roche in Liegnitz, C. Schulte in 
Münden, 0. Schulze in Schönebeck, H. Simon in Breslau, W. Tampke 
in Stolzenau, H. Wiese in Sehlodien. 

Vakante Stellen. 

Kreisphysika te: Darkehmen, Dirschau, Putzig, Briesen, Lamlsberg a. W., 
Liebenwerda, Mansfeldt (Gebirgskrois), Schleusingen, Gramm, Neustadt a. U., 
Adenau und Daun. 

Kreis wund arztstellen: Fischhausen, Mohrungen, Darkelimen, Heyde- 
krug, Ragnit, Sensburg, Tilsit, Karthaus, Loebau, Stuhm, Angermünde, Templin, 
Soldin, Ost- und West-Sternberg, Regen wähle, Biitow, Dramburg, Schievelbein, 
Meaeritz, Schroda, Wreschen, Strehlen, Reichenbach, Jerichow I, Wanzleben, 
Saalkreis, Naumburg a. S., Koesfeldt, Steinfurt, Warendorf, Höxter, Warburg, 
Lippstadt, Meschede, Zell, Kleve, Solingen, Bergheini, Rhoinbach, Wipperfürth 
und St. Wendel. 


Fürst!, prlv. Hofbuolidnickerel (F. MJtzlaff), Rudolstadt. 



— Zeitschrift — 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medicinalrath in Aurich. 

und 

Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6- 


No. 3. 


Kmctieliit am 1. Jadn JloaaU. 

Preis jährlioh 6 Hark. 


1. März. 


INH; 

Seite | 

Oriffin&l-Mittheilunffen: 

Bacterien bei der Lelchenfäulniss. Von 
Dr. F. Stnmsinanu u. Dr. ('. Strecker 6ß 
Ueber posteplleptigche Bewusstseins* 
trübung und epileptische Aequlvalente. 

Von Dr. (*. Kosen bau m ...... 69 j 

Gutachten, betreffend den Geisteszustand I 
des cand. theol. B. aus B., — keredl- | 
täre Psychose mit perverser Sexual- | 
empfindung; Sittlichkoitsverbrechen. , 
Von Dr. K. Thomson.72 j 


.LT: 

Seite 

Zur Untersuchung und Beurthellung der 
Trinkwässer. Von Dr. H. Welgmanu 84 

Referate: 

Dr. .1. Rosenthal. Vorlesungen über die 
öffentliche und private Gesundheits¬ 


pflege .89 

San.-Rath Dr.JBaer, Medicinalpfuscherei 91 

Bekanntmachungen.92 

Personalien.98 

Preuss. Medicinalbeamtenverein . '.»6 


Bacterien bei der Leichenfäulniss. 

Von l)r. Fritz Strassmann und Dr. Carl Strecker, Assistenten an der Unter, 
riehtsanstalt für Staats-Arzneikunde zu Berlin. 

Im 4. Bande des Archivs für Hygiene 1886 berichtet J. von 
Fodor über eine Reihe von Versuchen, aus denen er „die 
Folgerung für zulässig hält, dass im Blut von gesunden Kaninchen 
selbst bei hochgradiger Fäulniss Bacterien in der Regel nicht 
vorhanden sind, oder doch in so geringer Anzahl, dass auf ein 
bis zwei Tropfen noch nicht ein lebendiger Keim entfällt; ins¬ 
besondere enthalten auch die in der Nähe von Magen und Därmen 
gelegenen Venen keine Bacterien.“ 

Die Versuche von Fodor’s waren derart angestellt worden, 
dass ein Tropfen Blut aus dem Herzen oder den Venen in Pepton¬ 
gelatine übergeimpft, diese längere Zeit gebrütet und dann bei 
Zimmertemperatur gehalten wurde. Wenn Fodor demnach von 
der Abwesenheit von Bacterien spricht, so meint er damit nur 
solche, die „in gut bereiteter und zum Züchten höchst geeigneter 
Peptongelatine bei 20—37° züchtbar sind.“ 

Nun kann es ja keinem Zweifel unterworfen sein, dass unter 
diesen von Fodor gewählten Züchtungsbedingungen nur ein ge- 









66 


Dr. F. .Strassmalm und Dr. ('. Streukor. 


ringer Theil der etwa im Leichenblut vorhandenen und eventuell 
microscopisch nachweisbaren Organismen zur Entwickelung ge¬ 
langen wird. Das Missverhältnis zwischen den Resultaten der 
microscopischen Beobachtung und denen des Culturverfahrens, 
welches sich bei der Untersuchung der verschiedensten Fäulniss- 
gemische, des Mundsecrets etc. zeigt, ist mehrfach hervorgehoben 
und darauf zurückgeführt worden, dass ein grosser Theil der in 
Frage stehenden Bacterien Anaeroben sind und daher unter den 
gewöhnlichen Culturbedingungen nicht wachsen. C. Flügge, der 
in seinem Lehrbuch diese Verhältnisse genauer bespricht, führt 
auch speciell an, dass, wenn, wie es im Leichenblut der Fall ist, 
der Luftzutritt und Sauerstoffgehalt des Nährmediums von vorn 
herein ein beschränkter ist, gleich von Anfang an Anaeroben in 
den Vordergrund treten. Erhalten so die Experimente Fodor’s 
eine theoretische Stütze, so bleibt seine Behauptung von der voll¬ 
ständigen Abwesenheit unter gewöhnlichen Bedingungen zücht¬ 
barer Bacterien im Blut faulender Leichen doch immerhin sehr 
auffallend. 

Mit Untersuchungen über die bacteriologisehen Verhältnisse 
bei Leichenfäulniss beschäftigt, hatten wir Gelegenheit, der vor¬ 
liegenden Frage näher zu treten und das Blut menschlicher 
Leichen auf das Vorhandensein derartiger Bacterienformen zu 
untersuchen. Die betreffenden Untersuchungen wurden mittels des 
typischen Plattenverfahrens unter Anwendung 10°/ o Fleischpepton¬ 
gelatine angesteltt. 

Von 7 auf diese Weise untersuchten Fällen ergaben drei 
ein positives, vier ein negatives Resultat, Die letzteren betrafen 

1. einen erwachsenen Erhängten, dem 43 Stunden post mortem 
bei noch wenig bemerkbarer Fäulniss Blut aus der Vena saphena 
entnommen wurde; 2. einen erwachsenen Erhängten, dem 00 Stunden 
post mortem Blut aus einem Varix des linken Unterschenkels 
entnommen wurde, 3. Blut aus der Vena femoralis eines Er¬ 
schossenen, 5 Tage post mortem; 4. Blut aus der Art. femoralis 
eines Erhängten, 3 Tage post mortem entnommen. 

Die positiven Fälle sind die folgenden: 

1. Blut aus der Vena cava inferior eines halbjährigen Kindes 
(Darmkatarrh), 4 Tage post mortem bei stark vorge¬ 
schrittener Fäulniss entnommen; hier wuchs eine Bacillenart. 

2. Blut aus der Vena poplitea eines erwachsenen Erschosse¬ 
nen, 50 Stunden post mortem bei wenig bemerkbarer 
Fäulniss entnommen, hier wuchs eine von der ersten ver¬ 
schiedene Bacillenart. 

3. Blut aus der Art. femoralis eines vor 4 Tagen ver¬ 
storbenen erwachsenen Deliranten; hier fanden wir einen 
mit dem Bacillus des ersten Falles identischen Organismus. 

Der erst erwähnte Bacillus zeigt sich unter dem Microscop 
in Trockenpräparaten in Form von dicken ( 3 /* /») Stäbchen, die 
grösstentheils sehr kurz sind (2V 2 /a), zum Theil aber auch zu 
längeren Formen ausgewachsen sind (6 fi und länger). Nach 
Gram färben sie sich. Im hängenden Tropfen bewegen sie sich 



Uacterien 1 »ei <U*r Leiclieiitaulniss. 


67 


lebhaft, jedoch nur mit geringer Locomotion. Auf der Gelatine¬ 
platte bewirken sie in der ersten Verdünnung bereits nach 24 
Stunden, in der zweiten nach 48 Stunden vollständige Ver- 
llüssigung unter intensivem Geruch nach faulem Leim. Auf der 
dritten Platte zeigen sich nach 48 Stunden sehr zahlreiche kleine 
und kleinste Colonien, die grössten mit Verflüssigung. Unter dem 
Microscop vermag man einen Entwickelungsgang der Colonien zu 
erkennen, derart, dass als jüngste Glieder kleine runde gelbliche 
mehr compacte Körperchen erscheinen, dass weiterhin die Gelatine 
in der Umgebung sich verändert, wie durchfurcht erscheint, dass 
später der gelbe Kern unregelmässig krümlig wird, die Peripherie 
im ganzen Umfange eine Art von Strahlenbildung zeigt; bei den 
noch weiter vorgeschrittenen Colonien ist die Umgebung muschel- 
schal eulormig verflüssigt. Bei Stichkulturen im Reagenzglase 
bemerkt man an der Oberfläche eine mehr oder minder ausge¬ 
sprochene luftblasenartige Vertiefung; unterhalb derselben findet 
sich ein Trichter verflüssigter, ziemlich klarer Gelatine, an dessen 
Boden die Cultur in dicken körnigen Massen angehäuft ist. 
Darunter befindet sich ein mehr oder minder entwickelter klein¬ 
körniger Impfstrich. Die Verflüssigung erstreckt sich bei höherer 
Temperatur schneller, bei niederer langsamer über die gesammte 
Gelatine; dabei entwickelt sich ausgesprochener Schwefelwasser¬ 
stoffgeruch. Bei 18° C. beginnt die Verflüssigung nach 48 Stunden 
und hat nach etwa 3 Wochen dass gesammte Reagenzglas ergriffen, 
wobei anfangs die Verflüssigung schneller vorschreitet wie später. 
Stichkulturen in Agar entwickeln sich an der Oberfläche zu einem 
dicken weissen Belage, der später Falten bildet und ebenfalls 
exquisiten Fäulnissgeruch verbreitet. Im Impfstrich sehr geringes 
Wachsthum. Nährbouillon wird vom Bacillus getrübt, der am 
Boden einen dicken Satz bildet; auch hier zeigt sich Fäulnissgeruch. 
Auf Kartoffeln entwickelt er sich in Form eines saftigen, weissen, 
schwach gelblich gefärbten Belages, bei dem man noch stellen¬ 
weise die Zusammensetzung aus kleinen Körnchen erkennt. Die 
umgebende Partie ist bläulicli braun gefärbt. Strichculturen auf 
Gelatineplatten zeigen unter dem Glimmerplättchen keine Ent¬ 
wickelung. Subcutane Impfungen geringer Cult.urmengen bei 
Mäusen bewirken keine Erkrankungen derselben; bei Injection 
von 0,1 cbcm einer verflüssigten Cultur unter die Schwanzhaut 
von Mäusen sterben dieselben im Coma nach ca. 6 Stunden. Bei 
der Obduction findet sich vorgeschrittene Fäulniss, keine localen 
Veränderungen mit Ausnahme des Darms, dieser, speciell der 
Dickdarm, erscheint blauroth, in seinem Innern befinden sich 
blutige Massen, die auch öfters entleert um den Anus sich finden. 
Die Schleimhaut ist geschwollen und geröthet, die Drüsen sind 
stark vergrössert. Im Herzblut, ebenso wie in den Blutgefässen 
der im Alkohol gehärteten Organe (Leber, Lunge, Milz, Nieren) 
befinden sich dicke Stäbchen von wechselnder Länge. Züchtungen 
des Bacillus aus dem Herzblut gelingen ausnahmslos, dagegen 
bleiben Impfungen mit demselben erfolglos. Ein Meerschweinchen, 
dem subcutan 0,3 cbcm Culturaufschw’emmung injicirt worden ist. 

6 * 



l)r. (i. Rosen bäum. 


r>8 


wird bald somnolent und stirbt nach 20 Stunden. Das Unter¬ 
bautfettgewebe an Rücken und Bauch blutig serös imbibirt. 
Bacterien waren im Blut nicht nachweisbar, Infectionsversuche 
mit demselben bei Mäusen erfolglos. — Impfungen von Mäusen 
mit durch Hitze sterilisirten Reagenzglasculturen, in gleicher 
Weise wie oben ausgeführt, führen ebenso zum Tode der Thiere 
und erzeugen dieselben Darmerscheinungen. 

Wir haben es demnach hier mit einem ziemlich schnell unter 
Verflüssigung wachsenden aeroben Bacillus zu thun, der exquisit 
täulnisserregende Eigenschaften hat, und dessen Producte auf kleine 
Thiere toxisch wirken und die bekannten Darmerscheinungen 
hervorrufen, die seit Panum’s Experimenten als characteristisch 
für Fäulnissvergiftung gelten. Als infectiös kann er nicht ange¬ 
sehen werden; der Befund desselben im Blute der Impfthiere muss 
vielmehr als durch mechanischen Transport mit der injicirten 
Flüssigkeit bedingt betrachtet werden.*) 

Der zweiterwähnte Bacillus erscheint im Trockeupräparat 
unter dem Microscop in Form von oblongen Stäbchen (0.6 /* breit 
0,9 (t lang), die von Coccen nur schwer zu unterscheiden sind; 
sie sind überwiegend in Reihen angeordnet derart, dass ihr längerer 
Durchmesser in der Richtung der Reihe liegt. Nach Gram färben 
sie sich, im hängenden Tropfen bewegen sie sich nicht. Auf der 
Platte erscheinen sie als kleine hellgelbe Kolonien, die, wo sie 
die Oberfläche der Gelatine erreichen, eine kreisrunde Verflüssigung 
zeigen. Die Colonien selbst erscheinen unter dem Microscop theils 
kreisrund, theils mehr elliptisch, von punktirtem Aussehen. Im 
Impfstich zeigt sich an der Oberfläche eine höchst exquisite luft- 
blasenartige Vertiefung; am Grunde derselben besteht ein kleiner 
gelber Belag, unterhalb derselben eine klare Verflüssigungsschicht, 
auf deren leicht concaven Grunde sich die Cultur in Form einer 
gelben, nicht sehr reichlichen Masse angehäuft findet, von dieser 
ausgehend ein Impfstich aus einzelnen längsgestellten Körnern 
bestehend. Die Verflüssigung entwickelt sich bei mittlerer Tempe¬ 
ratur nach etwa 3 Tagen und erstreckt sich erst nach mehreren 
Wochen über das gesammte Reagenzglas. Die Culturen zeigen 
ausgesprochenen Schwefelwasserstoffgeruch, wenn auch nicht so 
intensiv wie der ersterwähnte Bacillus. Derselbe Fäulnissgeruch 
zeigt sich in Agarstichculturen, in denen sich der Organismus als 
gelber Belag entwickelt, der jedoch nicht die Dicke des ersten 
Bacillus erreicht. In Bouillon bewirkt er nur geringe Trübung 
und sammelt sich am Grunde des Reagenzglases in krümligen 
Massen. Auf Kartoffeln bildet er einen trockenen, citronengelben. 
leicht körnigen Belag ohne Veränderung der Umgebung. Unter 
dem Glimmerplättchen wächst er nicht. Mehrfache Infections¬ 
versuche mit verflüssigter Oultur bei Mäusen waren erfolglos. 

Dieser zweite Organismus ist demnach ein Fäulniss erregender 
aerober Bacillus, der ein gelbes Pigment bildet, und dem toxische 
Eigenschaften nicht zuzukommen scheinen. 


*) Vergl. z. B. C. Fninkel, Gntiulriss. S. 138. 



Weber postopileptiselie Bewusstseinstrübung u. epileptische Äquivalente. 69 


Die chomische Untersuchung der Producte beider beschriebenen 
Bacterienarten, die ja möglicherweise noch zu interessanten Er¬ 
gebnissen führen kann, müssen wir uns vorläufig Vorbehalten. 

Soweit uns ersichtlich, sind beide Organismen in der bacterio- 
logischen Litteratur bisher noch nicht beschrieben worden; wir 
würden für sie, da sie doch auch einen Namen haben müssen, die 
Benennung Bacillus albus und Bacillus citreus cadaveris Vor¬ 
schlägen. 

Dass ausser diesen beiden noch andere Bacterienarten im 
Leichenblut Vorkommen können, haben wir aus einigen weiteren 
Versuchen gesehen, die äusserer Umstände halber leider nicht ab¬ 
geschlossen werden konnten. 


lieber postepileplische Bewusstseinstrübung und epilep¬ 
tische Aequivalente. 

Von ]>r. G. Koscnbaum, Assistent dos Prof. Dr. Eulenburg und dos Professor 

Dr. Mendel. 

Seit Morel und Fallet ihre Beobachtungen über Epilepsie 
ira Anfang der sechziger Jahre veröffentlicht haben, hat man auf¬ 
gehört, den Kreis des epileptischen Krankheitsbildes enge nach 
den typischen Convulsionen zu begrenzen. Die Epilepsia larvata, 
charakterisirt durch die mannigfachsten psychischen Reizzustände, 
(Delirien, Hallncinationen, Angstgefühle) d. h. nach Kraft-Ebing l * * ) 
durch Transformationen und Substitutionen des epileptischen An¬ 
falls im psychischen Gebiet, ist ein uns Aerzten ganz geläufiger 
Krankheitsbegriff geworden. Von Griesinger ist über epileptoide 
Zustände (Ohnmachtsgefühl, Besinnungslosigkeit, Wiederkehr des 
normalen Verhaltens nach reichlichem Schweissausbruch) und von 
Emminghaus über epileptoide Schweisse*) geschrieben worden. Es 
sind das Fälle, in denen z. Th. die Schweisse an die Stelle früher 
dagewesener Anfalle traten, z. Th. dieselben ersetzten, während 
genuine Convulsionen nie vorher bemerkt worden waren. Die 
Arbeiten von Samt „über epileptische Irreseinsformen*)“ und von 
Kraft-Ebing „über epileptoide Dämmer- und Traumzustände“ 4 ) sind 
bekannt und für den Gerichtsarzt von der grössten Bedeutung, 
weil in den epileptischen Irreseiusformen nach Gefühlen des Un¬ 
behagens und schreckhaften Hallucinationen die gefährlichsten 
Handlungen gegen Eigenthum und leibliches Wohl des Nächsten 
oder Gewultthaten gegen die eigene Person beobachtet sind. 
Solche Patienten glauben sich verfolgt, umringt, bedroht und 
brennen und morden mit der ganzen Energie und Wucht des 
epileptischen Grundleidens, was ihnen in den Weg kommt. Der 


l ) Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie XXIV. pag. 464. Z. Lehre v. der 
Kpilepsia larvata. 

*) Archiv f. Peychiatr. IV. pag. 574. 

*) Archiv f. Psychiatr. V. pag. 393. 

4 ) Allgem. Zeitschr. f. Psych. XXXIII. 



70 


Dr. G. Rosenl»aum. 


epileptische Schlaf, über den Westphal 5 ). und Siemens 6 ) berichtet 
haben, nimmt nach dieser Richtung 1 eine geringere forensische Be¬ 
deutung in Anspruch. Wenn man ferner bedenkt, dass diese 
einzelnen Aequivalente unter einander abwechseln können, so 
sieht man, dass das Gebiet der Epilepsie seine Grenze weit hinaus 
schiebt, und dass manche bis dahin räthselhafte Erscheinungen 
unter diesem Gesichtswinkel ihre Erklärung finden werden. Am 
weitesten ist in dieser Beziehung Arndt gegangen, der in seinem 
Lehrbuch über Psychiatrie die Anschauung verficht, dass für die 
klassischen Convulsionen Entladungen in die Gebiete der psy¬ 
chischen, der secretorischen und der trophischen Vorgänge 
erfolgen können. Ebenso wie den typischen Anfall psychische 
Erregungen, Stupor, Schlaf oder einfache Bewusstseinstrübungen 
mit folgendem Gedächtnissdefekte ersetzen können, so können 
sie denselben auch ablöseu. Solche postepileptischen Zu¬ 
stände bekommen wir in dem reichen Material an Epileptikern, 
das in der Poliklinik von uns behandelt wird, verhältnissraässig 
nicht selten zu sehen. So beobachteten wir ausser einigen 
wenigen interessanten Fällen von stupor postepilepticus längere 
oder kürzere Bewusstseinstrübungen, die eine kurze Erwähnung 
verdienen. 

1) A. S. 32 J., geistig etwas zurückgeblieben: leichte her. An¬ 
lage; Vater Hypochonder. Mutter soll gesund sein. S. litt seit 
dem 2. Jahre an Krämpfen, die sich in verschiedener Dauer. 
Anzahl, Intensität und Intervallen wiederholten. Nach längeren 
Pausen traten die Anfälle immer heftiger auf und liessen dann 
wieder an Stärke nach; sie kamen bei Tage und bei Nacht vor. 
Am 4. X. 87 sahen wir den Pat. zum 1. Male, nachdem Tags- 
vorher ein sehr heftiger Anfall stattgefunden hatte, worauf eine 
Geistesstörung von 12—14 stündiger Dauer folgte, in der Pat. 
sich aus dem Fenster herausstürzen wollte, hochreligiöse Reden 
führte, auf seine Umgebung eindrang. Als charakteristisch für 
das jähzornige Element seines Naturells giebt er an. dass ei 
niemand auf der Strasse ausweichen wolle, dass er dann gleich 
den Trieb fühle, mit Jedermann anzubinden. Auf diese 
starke Erregung folgte ein 36stündiger Schlaf, und hieran schloss 
sich der frühere gewöhnliche Zustand. Vor 3 Wochen fand, 
nachdem Pat. inzwischen Bromkalium in grossen Einzeldosen 
bekommen, ein Anfall statt, gefolgt von Delirien religiöser Natur 
von mehrstündiger Dauer. Sprache ist langsam, etwas lallend. 

2) Frau A. Arbeiterfrau. 37 J., über hereditäre Anlage nichts 
zu eruireu, 2 Kinder gesund, 1 im Alter von 2 J. 2 Mon. an 
Krämpfen gestorben. Sonstige Krankheiten haben nicht bestanden. 
Die Convulsionen stelten sich seit 14 Jahren ein, doch in den ersten 
Jahren nur Nachts auftretend, meistens mit Pausen von 4 — 6 
Wochen bis zu einem Vierteljahre. Vor 4 Jahren wurde Frau 
A. wegen Ovarialtumor castrirt beiderseits. Die Periode blieb 


•) Archiv f Psychiatr. Vll. jmg. 631. 
*) Archiv f. Psychiatr. IX. 



Ueber postopilcptisrlie Bewusstseinstrübung u. epileptische Aequi valente. 71 


sofort aus; während die Krämpfe nach einjähriger Pause wieder¬ 
kehrten, sie hatte damals Bromkali bekommen. Seit Pfingsten 
d. J. stellten sich die früher nur nächtlich auftretenden Anfalle 
auch am Tage ein, wurden leichter, hinterliessen aber ein deut¬ 
liches postepileptisches Stadium von l U bis l /s ständiger Dauer, 
in dem sie allerhand unzweckmässige Handlungen vornahm, 
ohne Erinnerung daran zu bewahren. Die Anfälle leiteten sich 
meistens durch Globnusgefühle ein. Seit einiger Zeit sollen die 
geistigen Kräfte der A. etwas abgenommen haben. Nach Brom¬ 
kalium haben auch diese Zustände aufgehört und Pat. wird jetzt 
nur von Paroxysmen, von heftigem Kopfschmerz und Angstgefühlen 
geplagt. 

3) W. K. 23. J. Maurer, ohne nachweisbar hereditäre Anlage, 
seit November vorigen Jahres an 4wöchentlich wiederkehrenden 
Anfällen leidend. Die Convulsioneu dauern '/* Stunde, daran 
schliesst sich ein 1 l j 2 tägiger Schlaf. 

4) 0. F. 10 J. alt, Vater Techniker, soll im Alter von 
I V 4 Jahren in Folge Schrecks einen epileptischen Anfall bekom¬ 
men haben, der sich häufig bis zum 6. Jahre wiederholte. Nach 
Brom kaliumgebrauch schwanden die epileptischen Anfalle und es 
stellten sich epileptoide ein. Seit Mai d. J. wieder grosse 
Anfälle, besonders oft nächtlich. Dauer des Anfalls 1 Minute; 
zuweilen folgt postepileptisches Irresein. 

5) 0. R. 52 J. Gürtler; Verdacht auf Alcoholismus, tremor 
man. et ling.; die Krankheit hat sich erst seit einigen Jahren ent¬ 
wickelt. In Pausen von 8 —14 Tagen traten meist nächtliche 
Anfalle auf, die mit ausgesprochenen postepileptischen Irreseius- 
formen einhergingen, wegen deren Pat. 1 Jahr hindurch in Dall¬ 
dorf behandelt wurde. 

6) A. M. Makler, 53 J. Anfälle bestehen seit 10. Jahre, die 
angeblich zum ersten Male in Folge einer Gemüthsaufreguug sich 
zeigten. Bromkali ohne Erfolg genommen; nach Atropin geringe 
Besserung. In der Poliklinik ereignete sich ein Anfall, in der 
Pat. sich zum Fenster hinausstürzen wollte. Postepileptisches 
Irresein häufig beobachtet. 

7) Z. P. 17 J. Bäckergeselle; die Krämpfe bestehen seit 15 J., 
gewöhnlich Abends sich zeigend. Oefters leiten Dämmerstadien 
den Anfall ein und schliessen die Scene; dabei herrscht Zer- 
störungswuth (Pat. wirft z. B. alles um sich). 

8) E. J. 30 J. alt. Sattler; vor 2 Jahren der 1. Anfall, als 
er zur Reserve entlassen wurde. Epileptoide Zustände wechseln 
mit wirklichen epileptischen Krämpfen, die in letzter Zeit selten 
aufgetreten sind. Häufige postepileptische Erregungszustände. 

9) A. M. Schlosser, 30 J. alt, litt im Alter von 9—10 J. und 
in der Confirmationszeit an Krämpfen. Nach langer Pause stellte 
sich vor 14 Tagen ein Anfall ein. Seit 8 Tagen leidet Pat. 
unter der Wahrnehmung von Reden, die er zu hören glaubt, 
während auf dem linken Ohre stets schöne Musik erklingt. Schlechter 
Schlaf, schlechter Appetit, quälende Gedanken, Herzklopfen, Ge¬ 
sichts Hallucinationen und in Folge dessen schreckhaftes Wesen 



72 


Dr. R. Thomson. 


vervollständigen das Bild der epileptischen Aequivalente. Nach 
Bromkali gegenwärtig Heilung. 

10) Vor einigen Tagen kam F. 8. 16 J. alt. Schlosserlehrling, 
in unsere Behandlung. Heredität scheint vorhanden; eine lljähr. 
Schwester ist epileptisch. Er selbst, Achtmonatskind, hat nie an 
Krämpfen gelitten. Im Alter von 8'—9 Jahren traten Reitbahn¬ 
bewegungen auf, wonach Pat. plötzlicli umfiel und einschlief. 
Turnus von 10 Tagen, darauf Pause von G l / 2 Jahren. Vor 5 
Wochen beim Spazierengehen plötzlich Geistesabwesenheit unter 
fortwährendem Gähnen. Besinnungslos kam er nach Hause. Dämmer¬ 
zustände mit Amnesie, Pause von 8 Tagen. Anzahl der Anfälle 
bis zu 3 und 4 pro die. In der Zwischenzeit häufig Nasenbluten. 

Die Kürze des zugemessenen Raumes darf wohl als Grund 
für die cursorische Mittheilung der vorstehenden Krankheitsge¬ 
schichten gelten. Jedenfalls genügen sie, um die Häufigkeit 
besonderer psychischer Störungen bei der Epilepsie darzuthun. 
und zwar weniger bei den Formen, die in grösseren Pausen ver¬ 
einzelte klassische Anfälle zeitigen, als bei denen, wo typische 
und epileptoide Zustände (Erscheinungen des petitmal) durch 
einander auftreten. Es mag interessanter sein, von den grossen 
langdauernden Tobsuchtsstadien der Epilepsie zu hören, lehr¬ 
reicher aber und deshalb für den Gerichtsarzt wichtiger sind 
Fonneu, wie sie den Kranken der Poliklinik entsprechen, die 
zuweilen bis an die Grenze des Normalen heranstreifen. Einige 
in letzter Zeit beobachtete prägnante Fälle müssen späterer Be¬ 
sprechung aufgespart bleiben. 


Gutachten, betreffend den Geisteszustand des cand. 
theol. B. aus B., - hereditäre Psychose mit perverser 
Sexualempfindung; Sittlichkeitsverbrechen. 

Von Dr. B. Thomson, I. Assistent der psychiatr. Klinik an der Charite, Docent 

an der Universität. 

Am 15. April 1887 kam der cand. theol. B., geboren 1857 
in B., in die Destillation von L. in Berlin, liess sich von der 
12jährigen Tochter des L. ein Glas Bier geben und knüpfte mit 
ihr ein Gespräch an; im Verlauf desselben drückte er das Kind 
an sich und fasste ihm unter die Röcke an die Genitalien. Er 
verliess, da das Kind weg lief, unangefochten das Lokal, das er 
am 15 cj. wieder betrat, bei welcher Gelegenheit er auf Veran¬ 
lassung des L., dem übrigens das stumpfe Benehmen des B. auf¬ 
fällig war, verhaftet wurde. 

B. gab seine That sofort zu und suchte dieselbe dadurch zu 
entschuldigen, dass er früher einmal geisteskrank gewesen und 
langjähriger Onanist sei. 

Er sei sich des Unrechts seiner That schon im Augenblick 
derselben bewusst gewesen. Der übrige Inhalt der Acten kann, 
da er sich im Wesentlichen mit dem gleich mitzutheilenden, von 



Guturhtt'n, Ui't-retVenrl <iun GtMstosziisUiiHl iIps ntnd. theol. B. aus B. 7-» 


dem B. selbst verfassten Lebenslauf deekt, hier ausser Betracht 
gelassen werden. Da nach Briefen der Verwandten, den Attesten 
mehrerer Aerzte und den Angaben der Umgebung des B. der 
Geisteszustand desselben zweifelhaft erschien, wurde der Gerichte- 
physicus Geheimrath W. mit einem Gutachten beauftragt, welches 
derselbe dahin abgab, dass B. Gewohnheitsonanist und 1879 geistes¬ 
krank gewesen sei. dass auch jetzt ein stilles deprimirtes Wesen 
und eine Neigung zu Geistesstörung bei ihm bestehe, dass eine 
wirkliche Geistesstörung aber thatsächlich nicht vorhanden sei. 

Er sei frei von Wahnideen und sich der Bedeutung seines 
Verbrechens wohl bewusst. Die ihm innewohnende Nervosität, die 
überstandene Psychose und der infolge der Gewohnheitsonanie 
gesteigerte Geschlechtstrieb lasse die Annahme einer verminderten 
Widerstandsfähigkeit gerechtfertigt erscheinen, aber das ganze 
Denken und Handeln des B. beweise die intacte Intelligenz und 
die Zurechnungsfähigkeit desselben. B. sei daher jetzt nicht 
geisteskrank, sondern zurechnungs- und verhandlungsfähig. 

B. wurde danach zur Beobachtung der Charite zugeführt, und 
erstattete ich über denselben unter dem 24. Juli 1887 folgendes 
Gutachten: 

Der Angeschuldigte ist ein untersetzter, kräftig musculöser 
Mensch von gesunder Gesichtsfarbe. Die körperliche Untersuchung 
ergiebt bei ihm keinerlei Abweichungen, der Appetit und die Ver¬ 
dauung sind ungestört, nur gelegentlich klagt er über Kopf¬ 
schmerzen und geistige Abspannung, die Antworten sind präcis, 
klar und offen, Intelligenz und Gedächtniss vortrefflich. 

Aftectzustände fehlen ganz. B. ist vielmehr auffallend in¬ 
different und resignirt. 

Pat. ist stark erblich belastet: sowohl väterlicherseits wie 
mütterlicherseits sind in auf- und absteigender Linie zahlreiche 
(elf) Fälle von Geistes- resp. Nervenkrankheiten vorhanden. 

Die folgenden Angaben sind aus einem 48 Bogenseiten langen 
ausführlichen Lebenslauf des Angeschuldigten ausgezogen. 

Schon als Kind war B. „nervös“, erlitt im 4. Lebens¬ 
jahre eine Gehirnerschütterung und musste sich später immer 
geistig schonen z. B. aus der Arbeitsstunde fernbleiben ohne 
positiv krank zu sein. Nach einer Lungenentzündung im 11. Jahre 
wurde er kräftiger wie früher, sogar übermüthig und ausgelassen. 

Bald aber stellte sich Neigung zum Grübeln und später bei 
erwachendem Denken imd Selbstbewusstsein Schwermuth, Selbst¬ 
quälerei und ein frühzeitiger Pessimismus ein. So weit er zurück¬ 
denken kann, ist er sich des Bestehens einer hochgradigen ge¬ 
schlechtlichen Erregung bewusst — schon im 11. Jahre will er 
Krectionen gehabt und sexuelle Unarten getrieben haben, so liess er 
z. B. ein kleines Mädchen während er am Boden lag, über sein 
Gesicht Weggehen und empfand ein Wollustgefühl, als er die 
Genitalien von unten sah. 

Als 13 jähriger Knabe suchte er mit Vorliebe Pensionärinnen 
des Vaters in Stellungen zu beobachten, welche ihre Reize Preis¬ 
gaben. 



74 


L>r. R. Thomson. 


Im 14. Jahre begann er, ohne dazu verfuhrt zu sein, zu 
onaniren, nachdem er vorher schon Pollutionen gehabt hatte. — 
Nachts umgaukelten ihn wollüstige Phantasiebilder, die ihn zur 
Selbstbefleckung veranlassten. ehe er überhaupt sich der objectiven 
sexuellen Vorgänge bewusst war und erkannte, was er eigent¬ 
lich that. 

Seitdem hat ihn die Onanie nie ganz verlassen, obwohl 
Remissionen und Steigerungen oft vorhanden waren, er hat wohl 
zu verschiedenen Malen (cf. später) versucht, den normalen Ge¬ 
schlechtsact zu vollziehen, hat auch einige Male reüssirt — während 
er zu anderer Zeit kalt neben dem Mädchen im Bette lag — hat 
aber niemals dabei Genuss gehabt, vielmehr so wenig Befriedigung 
davon verspürt, dass er zuweilen noch nachher onanirte. Seine 
erotischen Träume und Phantasien beschäftigten sich immer mit 
halberwachsenen, halbnackten Mädchen resp. Kindern, deren Beine 
er sich vorstellte resp. die er in Gedanken küsste und umarmte 
— der Coitus spielte in diesen Träumen nie eine Rolle, audh 
verwandelte sich bei Berührung der Geschlechtstheile eines 
Kindes seine Wollust sofort in Ekel. Beim Küssen kleiner Mäd¬ 
chen bekam er Erectionen und Pollutionen. 

Als 15 jähriger Knabe fühlte er eine ihm jetzt räthselhafte 
und seitdem nie wiedergekehrte Neigung zu Pferden, die IV 2 Jahre 
anhielt — er bekam beim Anschmiegen an dieselben wollüstige 
Empfindungen. 

Auch bei Betastung von Unterhosen und Strümpfen jüngerer 
Mädchen bekam er Erectionen, ebenso vor halbnackten Bildern 
und Statuen — er onanirte einmal in Düsseldorf im Museum vor 
einem solchen Gemälde. War seine Phantasie in dieser Weise 
entzündet, so onanirte er mit Leichtigkeit, fast von selbst, doch 
weckte auch jede Gemüthsbeweguug, angenehmer und unange¬ 
nehmer Art den Drang zur Onanie, den er dann schwieriger unter 
Zuhülfenahme wollüstiger Phantasiebilder befriedigte. 

Hinneigung zum männlichen Gesohlechte hat er nie gefühlt, 
hat nie mit anderen zusammen gegenseitige Onanie getrieben, 
ebensowenig wurde er beim Anblick nackter männlicher Gestalten 
geschlechtlich erregt. Immer von geschlechtlichen Voretelhingen 
und Empfindungen geplagt, konnte er auf dem Gymnasium doch 
tüchtig arbeiten, machte ein gutes Examen und bezog zunächst 
die Universität Leipzig, wo er weiter onanirte und durch menschen¬ 
scheues sarkastisches Wesen auffiel. 

In Halle 1878/79 ergriff ihn eine starke Verzweiflung, oft 
lag er in heissen Thränen über den Büchern oder stürmte, mit 
Selbstmordsgedanken erfüllt, hinaus. Das „Culturexamen“ bestand 
er zwar gut, dann aber stellte sich ein chronischer Tiefsinn ein, 
d. h. er konnte keinen Gedanken fixiren, brachte keine Arbeit 
fertig; schwer gebrochen, gab er das Examen vorläufig auf und 
ging nach Hause. 

Dort erhielt er eine unangenehme Nachricht, und sofort stellte 
sich ein furchtbarer Schmerz im Rückgrat und ein Gefühl innerer 
Hemmung ein, er fühlte sich wie ausgedörrt im ganzen Körper 



Gutachten, betrettend den (JeisteszuHtand des cand. theol. B. aus B. 75 


und wie von einem electrischen Strome durchzogen, dabei bestand 
ein heftiges Angstgefühl. 

Er hoffte, in der Arbeit Besserung zu finden und ging an 
die Präparandenanstalt zu 0., aber die Angst, die Gejagtheit 
stieg nur, er glaubte, unheilbar zu sein, an Rückenmarks¬ 
schwindsucht zu leiden; bald brütete er vor sich hin, bald irrte 
er umher, bald weinte und raste er — seine Lehrpflichten konnte 
er nur sehr mühsam und ungenügend erfüllen. 

6 Wochen später entwich er unter Zurücklassung eines Zettels, 
in welchem er vorausahnte, ihm stände entweder das Zuchthaus 
oder die Irrenanstalt bevor, irrte am Rheine umher, man fand 
ihn und brachte ihn nach Hause, von dort nach Borkum. Er 
glaubte, jeden Augenblick sterben zu müssen und war böse auf 
die Aerzte, welche diese Meinung nicht theilten. 

Anfangs war er nur mit Mühe zum Baden zu veranlassen, 
das ihm aber sehr gut that, sodass er sich allmählich erholte, 
wieder Lebensmuth bekam und Antheil an äusseren Dingen 
nehmen konnte. 

Später aber überfiel ihn — als die Herbsttage kamen und 
die Badegäste abreisten — ein unheimliches Gefühl, ein Grauen 
vor der Zukunft und eine widerwärtige Bitterkeit; er kam sich 
als verloren für seine Carrtere vor, werde wohl als Kellner oder 
Portier in America enden. Vor dem Festlande hatte er Angst, 
da er fürchtete, sofort in die Onanie, welche er auf Borkum 
beträchtlich zurückgedrängt hatte, znrückzufallen und in der 
That war das der Fall, da auf der Heimreise schon die Reize 
eines halbwüchsigen Mädchens seine Sinne mächtig erregten. 
Verzweiflung und Resignation setzten sich in ihm fest, er lebte 
ein Doppelleben, ein nach Zerstreuung haschendes Aussenleben 
und ein davon unabhängiges in Selbstaufreibnng begriffenes 
Innenleben — je mehr Anregendes und Ideales von Aussen 
an ihn heran trat, desto mehr trat das Innenleben zurück. 
Ostern 1880 ging er als Stipendiat nach Utrecht. Auch dort hatte 
er Anfangs noch viele Wahnvorstellungen schweren körperlichen 
Leidens, später aber machte die Frische des studentischen Lebens 
ihren Einfluss geltend und in den Sommerferien 1881 hatte er 
das dankbare Gefühl des „relativen Gerettetseins“. Er hatte zu¬ 
weilen ein Kraftgefühl und eine Zuversicht, immer aber trat bald 
darauf unter unmännlichen Thränen und tiefer Sehnsucht nach 
etwas Besserem der Rückschlag zugleich mit einem Rückfall zur 
Onanie wieder ein. 

Eine Reise nach Böhmen gewährte ihm Anfangs grossen 
geistigen Genuss — als er aber im Hotel Zeuge war, wie ein 
15 jähriges Mädchen sich aus- resp. ankleidete, verfiel er in starke 
Onanie und damit in die alte Verzweiflung. 

Der Arzt rieth ihm zu mechanischer Thätigkeit, zu bota¬ 
nischen Studien, aber gerade das Bestimmen der Pflanzen kam ihm 
als eine ekelhafte Untersuchung der pflanzlichen Gesell lech ta- 
theile vor. 



76 


l)r, R. Thomson. 


Der Anblick eines Backfisches regt ihn dann wieder, als das 
Kind beim Ballspiel ihre Formen enthüllt, so auf, dass er gleich¬ 
zeitig Heirathsideen bekam und in starke Onanie verfiel; als in 
Leipzig der Anblick der auf dem Caroussel fahrenden Kinder ihn 
noch mehr erregte, gerieth er wieder in Verzweiflung, dass er 
tief verstimmt nach Utrecht zurückkehrte. 

Ein Göthecolleg dort erweckt seine Phantasie wieder, er sah 
in dem Dichter völlig einen Halbgott und erklärte den Faust für 
ein der Bibel gleichstehendes Buch. Dann wurde er wieder in 
das Studentenleben hinein gezogen: war, wie er selbst sagt, 
stets zwischen den beiden Polen der Wollust und des Ehrgeizes, 
sein schwankender Sinn neigte sich mehr zu ersterer hin — er ver¬ 
suchte Bordelle zu besuchen, spielte dort aber nur Klavier, er 
war danach so erregt, dass schon der Anblick einer Annonce, in 
welcher ein Schlittschuh an einem Damenbein abgebildet war, 
geschlechtliche Empfindungen hervorrief. 

Wieder sucht er eine zweifelhafte Schenke auf und findet 
Befriedigung in Umarmungen eines Schenkmädchens, weil — die¬ 
selbe mit ihm derselben Ansicht ist, der Beischlaf sei verdammens- 
werth — als ihm ein anderes Schenkmädchen einen Kuss ver¬ 
weigert, geräth er in furchtbare Wuth und onanirt heftig. 

Der Anblick zuerst eines im Walde badenden ganz jungen 
Mädchens, sodann von sich die Füsse waschenden Kindern, führt, 
das alte Laster zu früherer Höhe, er geräth in Verzweiflung, irrt 
in der Nacht umher, bricht fast körperlich zusammen. 

Bei einem Schenkmädchen in einer Kneipe niedrigsten Genres 
findet er Trost; stundenlang verweilt er dort täglich, erzählt er ihr 
seine Leidensgeschichte und hält es für einen Heldenstreich, als 
er sie küsst. 

Er verliert alle Haltung, verkelirt mit Leuten der untersten 
Classen, will frivol sein, berauscht sich wieder an dem Anblick 
auf dem Caroussel fahrender Mädchen und reist ganz plötzlich 
wider alle Verabredung nach Hause. (Sommer 1882.) 

Er tritt dann versuchsweise als „Oberhelfer“ in die Diakonen- 
Anstalt zu D. ein, fühlt sich sehr unglücklich. Stundenlang 
irrt er herum, um den inneren Zwiespalt zu besänftigen, finstere 
Verzweiflung, im Anschluss an religiöse Vorstellungen bemächtigt 
sich seiner, seine Energielosigkeit wird stärker, sow'ohl mit Be¬ 
zug auf die Onanie als auch mit Bezug auf seine Arbeiten — er 
hat eine lebhafte Angst besonders vor schriftlichen Arbeiten, w eil 
ihn die Gedanken bald übermässig reichlich Zuströmen, bald 
ganz fehlen, dagegen fühlt er zuweilen einen unwiderstehlichen 
Drang zu öffentlichem Sprechen. Wegen seines finsteren Gebahrens 
und Herumstreifens heisst er in der Anstalt „der verlorene Sohn“ 
oder der „Arbeitsscheue.“ 

Angesichts von kleinen Mädchen, welche am Bache waschen, 
onanirt er im Gebüsch und kommt in den Verdacht, unsittliche 
Handlungen zu beabsichtigen, er gesteht dabei seine Onanie ein 
uud verlässt die Anstalt. (Juli 1883.) 



Gut;irl)U»n, ln>t rottend den Geist o<ms1 and «los rund, tliool. B. aus B. 77 


Er privatisirt dann in N. und wieder tritt eine Re¬ 
mission ein. in der er sich wohler, freier fühlt und die Onanie 
fast ganz zurückdrängt. Vom 1. October 1883 bis 1884 diente 
er als Staatseinjähriger in N. Die seiner ganzen Weise wider¬ 
strebende strenge militärische Zucht macht ihm den Aufent¬ 
halt in der Kaserne zur „Hölle“, im ersten Winterhalbjahr ist er 
tief verdüstert und melancholisch und erscheint seinen Kameraden 
als „verrückt“. Zweimal auf den Sprunge zu desertiren, kann er 
sich, als Posten mit scharfen Patronen, kaum vom Selbstmord 
zurückhalten, nur der Gedanke an eine entsetzlichere Ewigkeit 
verhindert ihn daran. 

Mit dem Frühjahr tritt eine Besserung ein; Angst und 
Melancholie werden geringer; er onanirt wenig, ist aber Angesichts 
einer normal-geschlechtlichen piquanten Scene in der Kaserne 
ganz kühl. 

Er selbst bezeichnet als Resultat des Militärjahres eine Ab¬ 
schwächung seiner krankhaften Empfindlichkeit, sittliche Demora¬ 
lisation, Erreichen einer gewissen Energie, Abnahme der Selbstmord¬ 
gedanken, October 1884 tritt er dann als Oberhelfer in die 
Diakonenanstalt zu Z. ein und fühlt sich Anfangs ganz wohl, 
fast gehoben und übermüthig. Mit Gewalt will er von der 
Onanie los und reist nach Berlin, wo er thatsächlich im Bordell 
cohabitirt. nachher aber von den schwersten Selbstvorwürfen ge¬ 
quält wird, einmal weil er sein Keuschheitsgelübde gebrochen 
und ferner weil er absolut keine Befriedigung gefühlt hatte. 

Gleichzeitig erfasst ihn eine reine Leidenschaft zu einer 
Dame, man macht ihm zunächst Hoffnungen, setzt ihm aber eine 
zweijährige Wartezeit, Obwohl er mit der Dame noch kein Wort 
über seine Neigung gesprochen, verlässt er seine Stellung ganz 
plötzlich ohne Noth und privatisirt auf dem Lande (Ostern 1885); 
alsbald giebt er sich selbst auf, glaubt, man habe ihn nur vertröstet, 
um ihn los zu sein, das Bild der Geliebten verblasst rasch, und mit 
rückkehrender Angst, Menschenfeindlichkeit und Melancholie stellt 
sich von neuem die Onanie in stärkerem Masse eine. Anfangs 
tüchtig mit seiner Examenarbeit beschäftigt, ist er dazu bald 
nicht im Stande, er kann nicht denken, sitzt stundenlang über 
derselben Seite, leidet an den heftigsten Kopfschmerzen. In Ver¬ 
zweiflung nimmt er eine Hauslehrerstelle an, bricht sich den Arm 
(Herbst 1885) und findet auf dem Krankenlager einige Haltung 
wieder, sodass er wenigstens den schriftlichen Theil des Examens 
partiell erledigt. Eine weitere Thätigkeit als Hauslehrer war 
nicht von Dauer, denn sein Unterricht in den elementaren Fächern, 
besonders Rechnen, war ungenügend, sodass die Schüler Rück¬ 
schritte machten. Resignation und Verzweiflung im Herzen geht 
er November 1885 nach Berlin, wo er derart herunter kommt, 
dass er im Begriff ist, Clavierspieler in einem Tingeltangel zu 

werden, da wird ihm eine Stellung als Oberhelfer am J. 

stift angeboten (Januar 1886) und er theilt dieses seinen Ver¬ 
wandten in K., für die er ganz verschollen w r ar, mit. Er fühlt 
noch dieselbe dumpfe Resignation, doch aber Grund unter 




78 


Dr. R. Thomson. 


den Füssen, und bei einem ihm anregenden Unterricht erwacht 
sein Ehrgeiz, er sucht durch Geist, Witz und Klavierspiel zu 
glänzen und zu imponiren. In phantastischem Spiel auf dem 
Klavier sucht er eine innere Entladung, oft fühlt er einen enormen, 
fast electrischen Drang zum spielen [„bis ich ein Klavier finde, 
oder — onanire!“] Damit wechseln Schwächezustände ab, in 
denen er keine Taste anrühren mag. 

In der Einsamkeit seines Zimmers fasst ihn aber die alte 
Melancholie, Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten, Furcht 
vor seinem zerrütteten Nervensystem, Ekel vor seiner unzüchtigen 
Phantasie imd vor seiner Ehrlosigkeit, da er sein Keuschheits¬ 
gelübde gebrochen hat — im Allgemeinen ist aber sein Zustand 
ein leidlicher, er besteht ein gutes Staatsexamen, und seine 
äusseren Chancen erscheinen grade jetzt günstiger als jemals zuvor. 

Allmählich aber stellt sich oline äusseren Grund eine inner¬ 
liche Verzweiflung ein, er wird interesselos, versieht seinen Dienst 
nur automatisch, er fühlt in sich eine diabolische Frivolität und 
denkt zuweilen im Hinblick auf die nahegelegene Strafanstalt 
Plötzensee: „dahin gehöre ich!“ Er beginnt seine Umgebung zu 
beargwöhnen, glaubt, sie sei ihm feindselig gesinnt, man hat ihn im 
Verdacht (so glaubt er), dass er Ungehöriges beabsichtigt, man 
schliesst ihn von der Begleitung der halbwüchsigen Mädchen aus, 
man spionirt, man lacht, man kichert ; selbst wenn er predigt, glaubt 
er höhnische Gesichter zu sehen, als wenn jeder seine Vergangen¬ 
heit genau kenne. Er kommt sich als Lügner und Heuchler vor 
und kann sich nur mit Mühe zum Predigen und Beten zwingen. 

Immer mehr umnachtet sich sein Gemüth, es entwickelt sieh 
in ihm eine langsam aber stetig wachsende Selbstverachtung und 
Selbstaufgabe und eine abwechselnde Angst und Wuth — Angst 
vor etwas Unfassbarem, Schrecklichem, das passiren könnte, Wuth 
über alle Menschen, in denen er seine Feinde sieht. Bitter ruft 
er einmal seinen Collegen gegenüber aus: „Soll ich denn mit 
Gewalt ein Verbrecher sein, dann will ich auch wirklich einer 
werden!“ Man weicht ja auch, wie vor einem Verbrecher schon 
vor ihm zurück. 

Immer noch fühlt er sich durch den Anblick, ja die Stimme 
kleiner Mädchen eigenthümlich berührt und zu erotischen Empfin¬ 
dungen veranlasst. 

Im Herbst 1886 ist seine Wirkensfreudigkeit schon fast dahin, 
er fühlt, dass man ihn bald „hinauswerfen“ würde, aber er will 
aus Trotz bis dahin ausharren und sieht sich dann bereits ver¬ 
kommen in Laster und Elend, als „Pennbruder“, er fühlt sich 
als „latenter Verbrecher“ und glaubt, auch Andere witterten 
denselben in ihm. 

Es ist ihm Alles einerlei, und er hat eine gewisse Freude 
daran, seine Umgebung durch boshafte oder heftige Aeusserungen 
zu quälen. 

Als er eines Tages zu einer Festlichkeit in den Saal will, 
überfällt ihn eine heftige Angst, er muss laut weinen und sich 
entfernen. 



Gutiirlitpn, hofroftoiul don (Joi't(>.s/.iisin.nd dos cnnd. tliool. B ans B. 


79 


Er kann seinen anfangs mit Erfolg begonnenen Unterriehl 
nicht in gleicher Weise fortsetzen, er kommt mit seinen Schülern 
nicht vom Fleck, er verliert die Haltung, wird in den Stunden 
so heftig, dass ihm seine Schüler den Gehorsam aufsagen, er lässt 
sich zu den gröbsten Auslassungen hinreissen, sagt z. B.: „wissen 
Sie, was ein Oberhelfer ist? ein A . . . wisch ist er, noch einmal 
und zum dritten Mal ein A . . . wisch!“ 

Das Weihnachtsfest geht vorüber, sein Bruder besucht ihn. 
er entschuldigt sich, er könne wegen Kopfschwäche keine ordent¬ 
lichen Dispositionen zu einer Besichtigung Berlins treffen, er sei 
dispositionsunfähig. Er reist auf Drängen des Bruder zu einer 
Familienhochzeit in Halle — er fühlt sich dort als „Nicht-B.“ als 
zum Lüstling und Roue gereiften Egoisten, als Don Juan, sitt¬ 
lich vergiftet und vergiftend. 

Er fährt verzweifelt zurück nach Berlin, vertrinkt an einem 
Abend sein ganzes Geld, lässt sich mit einer Soubrettenfamilie 
ein. Eine Predigt über Judas Ischarioth, die er hört, erfüllt ihn 
mit Grausen imd einer namenlosen Angst trotz seiner gleichzeitigen 
Apathie. 

Im Examen mit seinen Schülern macht er Fiasco; unter den 
schmerzlichsten Seelenkärapfen, da er sich unwürdig fühlt, aber 
zum Examen einen Beweis seiner kirchlichen Gesinnung geben 
muss, geht er am Charfreitag (8. April) zum Abendmahl, und nun 
erfasst ihn die Vorstellung, die unvergebbare Sünde gegen den 
heiligen Geist begangen zu haben. Trotzdem — als Geistlicher 
nach genossenem Abendmahl! — ist er am Charfreitag Nachmittag 
auf dem Spandauer Bock, Abends kehrt er zurück, wie von 
Dämonen gejagt, in seinem Zimmer findet er eine Bürste, ein 
Erbstück, er zertrümmert sie voll Schmerz und Wuth und fallt 
gleich darauf in seine Apathie zurück. 

Am 13. April geht er auf einem Spaziergang in das 
L... ’sche Lokal, das ihm früher nicht bekannt war, er spricht 
mit dem Mädchen und, als sie ihm zutraulich näher tritt, erfasst 
ihn eine heftige geschlechtliche Erregung; er bekommt eine 
Erection, greift dem Kinde an die Geschleclitstheile und fühlt in 
demselben Moment eine Pollution: „in demselben Augenblick ver¬ 
wandelte sich meine Geilheit in Ekel und ich war mir meiner 
That mit einem Schlage durchaus bewusst, ohne übrigens etwas 
Besonderes dabei zu fühlen. In einem unklaren Triebe hatte ich 
das Scheu8sliche vollführt, ob mein Bewusstsein ganz klar, weiss 
ich nicht, ich kann nur sagen, dass ich mich in einem ähnlichen 
Zustande befand, wie in 0., K. und Borkum, nur mit dem frei¬ 
lich bedeutsamen Unterschied: mein Verstand mein rein logisches 
Denken war klarer, vielleicht ganz klar, aber mein Gemüth durch 
eine entsetzliche Verzweiflung umnachtet.“ Zu Hause bricht er 
fast zusammen. In den nächsten Tagen lässt es ihm keine Ruhe, 
er will Gewissheit haben, obwohl ihm die Gefahr klar ist, er geht 
wieder hin. Der Vater lässt ihn arretiren, das Folgende ist ihm 
jetzt wie ein Traum, im Gefängniss fühlt er dumpfe Resignation, 



Dr. R. Thomson. 


aber keine Angst, mehr, denn das Schlimmste ist geschehen, und 
er ist jetzt sicher vor Anderen und Andere vor ihm. 

B. hält sich selbst für nervös, wegen seiner Neigung zu 
Kopfweh und hypochondrisch-melancholischer Ideen. Es erschreckte 
ihn besonders der unregelmässige Wechsel, das stetige Auf und 
Ab seines Befindens. Nur vorübergehend, 2—3 Tage lang, fühlte 1 
er sich kopffrei, dann verliessen ihn die sonst fast stets vor¬ 
handenen Angstgefühle, obwohl das Grundgefühl innerer Gejagt- 
heit immer bestehen blieb. 

Er selbst wurde schliesslich nicht mehr klug aus sich, er 
fühlte bald einen Ueberschwang an Ideen, bald Ideenarnmth bis 
zur Stupidität, Die Perioden von Depression und Erregung waren 
unregelmässig unabhängig von Pollutionen und von der Onanie, 
dagegen abhängig von äusseren Verhältnissen. Der Schlaf wurde 
dann schlecht und wurde erst besser, wenn er onanirte. auch 
dann nicht immer. 

Verfolgungsideen will er nie gehabt haben, nur meinte er 
öfter, man halte ihn für zu sinnlich und unterschätze seine Fähig¬ 
keiten. Zuweilen fühlte er sich so überkräftig, dass ihm war. 
als müsse er Bäume ausreissen, dann folgte wieder ein Gefühl der 
grossen eigenen Schwäche. Meist menschenscheu, suchte er zu¬ 
weilen leichten Verkehr und frivolen Umgang, kam sich dabei als 
Schauspieler vor. 

Als 15 jähriger Knabe schon litt er an Lebensüberdruss, 
später hatte er oft directe Selbstmordideen, die besonders seit 
Ende 1886 wieder lebhaft waren, sodass er den Drang fühlte 
sich unter die Eisenbahnzüge zu werfen. 

Nach Vorstehendem ist B. ein erblich stark belasteter 
Mensch, bei dem sich auf dem Boden dieser Disposition ein 
psychopathischer Zustand etablirt hat, der bald mehr, 
bald weniger intensiv, das gesammte geistige und gemüthliche 
Leben des Kranken beherrscht, der seiner Existenz sowohl nach 
aussen wie nach innen einen characteristischen Stempel aufprägt 
und der als „psychische reizbare Schwäche“ bezeichnet werden 
muss, d. h. alle äusseren und inneren Vorgänge rufen bei dem 
Angeschuldigten momentan abnorm leicht eine abnorm starke 
Reaction hervor, die aber keine rechte Tiefe und keine rechte 
Dauer hat. 

Daraus resultirt das phantastische Gedankenspiel, der Wechsel 
zwischen geistiger Anspannung und Schlaffheit, zwischen Ideen¬ 
reichthum und Ideenarmuth, daher rührt der Wechsel der Affecte. 
das stete Auf und Ab zwischen Verzweiflung und Kraftgefühl. 
Stumpfheit und Schwärmerei, daher auch die abnorme Erregbar¬ 
keit des Geschlechtstriebs bei krankhafter Richtung. 

Auf jeder Seite in dem Lebensbuche des p. B. zeigt sich 
diese psychopathische Anlage: Keiner Lage des Lebens ist er 
auf die Dauer gewachsen, in keiner fühlt sich sein brennender 
Ehrgeiz auf die Dauer befriedigt. 



Gutachten, bptrofl'onil don Geisteszustand dos cand. thool. B. aus B. 81 


Aus Kleinigkeiten gewinnt er den Boden für Zukuufts- 
träumereien, wichtige Interessen sind nicht im Stande, ihn zu den 
nöthigsten Dingen zu veranlassen. 

Zu momentanen glänzenden Geistesleistungen wohl befähigt, 
ist er doch nicht im Stande, seine Examina zu beenden, sein 
Interesse am Unterricht- erlischt rasch und im Elementarunterricht, 
wo es sich um strenge methodische Sammlung handelt, versagt 
er ganz. 

Auch in guten Zeiten sind seine Aftecte wechselnd, seine 
Stimmungen unberechenbar; er geräth leicht in Wnt-h. in masslose 
Jähzomausbrüche bei geringen Veranlassungen. Von Jugend auf 
besteht bei ihm eine trübe Weltauffassung, ein Mangel an Selbst¬ 
vertrauen und Lebensmuth, Melancholie. Pessimismus und Apathie 
bilden die Grundstimmung seines affectiven Seins. Dazu gesellt 
sich meist ein mehr oder weniger deutlich vorhandenes Angstgefühl. 

Ein sehr cliaracteristisches Symptom ist das eigenthümliehe Ver¬ 
halten des Geschlechtstriebes. Abnorm früh, weit eher als das 
Geschlechtsbewusstsein, erwacht der Trieb, schon als Kind hat 
B. ausgesprochene sexuelle Empfindungen, sehr frühzeitig, 
ohne Verführung stellt sich Onanie ein, nachdem vorher vorüber¬ 
gehend eine sexuelle Neigung zum Thiere vorhanden war. Seit¬ 
dem besteht der Geschlechtstrieb in abnormer Stärke dauernd, 
er beherrscht das Leben des Angeschuldigten; immer nacli 
Befriedigung verlangend und immer unbefriedigt., da er eine 
abnorme Richtung hat. Der gewöhnliche Geschlechtsact hat 
keinen Reiz, er wird mit Unlust ja mit Ekel vollzogen, auch bei 
der Berührung weiblicher Genitalien erlischt er sofort: dagegen 
findet er eine lebhafte Steigerung und Befriedigung beim Anblick 
halbverhüllter weiblicher Reize, beim Anblick von auf dem 
Oaroussel fahrenden, badenden, fusswaschenden Kindern, ja schon 
beim Anblick von Gemälden, Statuen und Schlittschuhannoncen. 
Die Phantasie des Angeklagten, der dem sexuellen Drang durch 
Onanie gerecht wird, schwelgt in Bildern, die sich auf halb¬ 
wüchsige Mädchen beziehen, der Coitus spielt darin gar keine Rolle. 

So ist denn auch seine Liebe zu weiblichen Personen eine 
eigenartige: sie tritt auf wie ein Trieb, sie erscheint ihm selbst 
ungeheuer, tief und ideal — Bestand hat sie nicht, rasch verblasst 
das Bild. Zu Schenkmädchen, die den geschlechtlichen Verkehr nicht 
ambiren, fühlt er sich hingezogen und schüttet ihnen sein Herz 
aus, in einem Hause, wo unzüchtige Scenen täglich vor sich gehen, 
bettelt er um einen Kuss. 

So zeigt sich auf jedem Gebiete der psychischen Existenz 
des p. B. die reizbare Schwäche, welche die Basis abgiebt für 
Exacerbationen des psychopathischen Zustandes, die auch dem 
Laienauge als Geisteskrankheit imponiren. 

In solchen Exacerbationen bietet der Angeschuldigte das 
Bild eines schweren Hypochondrisch-Melancholischen mit Angst¬ 
zuständen. Die erste derartige Steigerung fällt in das Jahr 1879, 
deren Hauptsymptom ausgeprägte hypochondrische Wahnideen sind. 



82 


Dr. Thomson. 


nebeu Angst, Verzweiflung und entschiedener Hemmung aller 
psychischen Funktionen bis zur Verwirrung. 

In ca. 2—3 Monaten bessert sich der Zustand, ohne aber zu 
heilen. Kaum von Borkum zurückgekehrt, verfällt er schon wieder 
in die alte Schwermut!). 

Eine zweite Exacerbation fällt in das Ende seines Utrechter 
Aufenthaltes (Sommer 1882). Wieder folgt dann eine Remission 
und darauf während des Militärjahres eine Exacerbation (1884). 

Thatsächlich kehrt ein besserer Zustand in der nächsten Zeit 
überhaupt nur vorübergehend zurück, er wechselt jeden Augenblick 
seine Stellung, da ihm keine genügt und er keine ausfüllt, er ist 
nahe daran, auch gesellschaftlich völlig zu verkommen, da ändert 

sich durch die Aufnahme als Oberhelfer am J.stift noch 

einmal seine äussere Existenz und damit auch sein Seelenleben 
zum Guten, er findet für eine Weile sein Gleichgewicht, seine 
Arbeitsfähigkeit und einen etwas ungetrübteren Blick wieder. 

Er unterrichtet mit Erfolg, er macht ein gutes Staatsexamen. 
Aber wieder hat die Sache keinen Bestand, im Gegentheil: es 
tritt allmählich eine Exacerbation ein, in der manche Züge 
auch dem Laienauge ohne Weiteres als krankhaft erscheinen. 

Dahin gehört das übermässige Klavierspielen, das mit 
geschlechtlicher Erregung einhergeht, die Erschwerung der Fähig¬ 
keit zum Unterrichten bis zum Nichtkönnen derart, dass Resultate 
nicht mehr erzielt w T erden, dahin die masslose Heftigkeit gegen 
die Schüler, das Explodiren in eines Geistlichen ganz unwürdigen 
Ausdrücken, dahin die Vorstellung, beobachtet, zurückgesetzt, be¬ 
argwöhnt, nur geduldet, als Verbrecher angesehen zu sein. Dahin 
gehört ferner der‘heftige, plötzliche Atfectausbruch, das Weinen 
ohne äussere Veranlassung, begleitet von intensiver Angst, die 
Verzweiflung, welche ihn nach dem Familienfeste, wo er sich als 
ganz fremdes Element fühlt, erfasst und zu sinnlosen Debanchen 
veranlasst, dahin vor allen Dingen der Umstand, dass er als 
Geistlicher nach genossenem Abendmahl, zu dem er sich nur 
unter schweren Seelenkämpfen entschlossen hat, gleich darauf ein 
inferiores Vergnügungslokal aufsucht und, nach Hause zurück¬ 
gekehrt, seiner inneren Zerrissenheit durch Zerstören von Gegen¬ 
ständen Luft verschafft. Die Vorstellung, die schwerste Sünde, 
die unvergebbare, verübt zu haben, bemächtigt sich seiner. 

Sein Benehmen bei der Verhaftung ist dann so stumpf, dass 
es selbst dem gekränkten Vater des Mädchens auffällt. 

Im Gefängniss resp. in der Irrenanstalt ist B. dann allmählich 
zum Status quo zurückgekehrt. 

Der Vorgutachter, Herr Geheimrath W., fasst die geistige 
Existenz des Angeschuldigten anders auf, er sieht in ihm einen 
Gewohnheitsonanisten, der infolge der Onanie nervenkrank und 
vorübergehend geisteskrank geworden sei. Mir aber scheint 
diese Auffassung nicht der irrenärztlichen Erfahrung und den 
thatsächlichen Verhältnissen zu entsprechen. 

Nicht, weil B. Onanist ist, ist er infolge davon vorüber¬ 
gehend geisteskrank, sondern weil er eine ab ovo durchaus 




fiutiir.liton, 1 »otrotl'ornl <lon (lp^lpsm^t.iiul «Irs r.ind. thonl. B. aus B. 83 


psychopathische Natur ist. deshalb treten vorübergehende Stei¬ 
gerungen bis zu ausgesprochener Geisteskrankheit auf und des¬ 
halb onanirt er. Das wird bewiesen durch den schon vor 
der Onanie bestehenden Zustand von Gemüthsdepression einerseits 
und von geschlechtlichen Empfindungen andererseits, das wird 
ferner bewiesen dadurch, dass in der Folge zwar ein Zu¬ 
sammenhang von Gemüthszustand und Onanie besteht, derselbe 
aber meist doch ein derartiger ist, dass zu der primären Ver¬ 
stimmung secundär das stärkere Onaniren hinzutritt, sowie da¬ 
durch, dass auch Abstinenz von Onanie das Wiederausbrechen 
der Verstimmungen nicht verhindern kann. 

Als durchaus das ganze Leben des Angeschuldigten um¬ 
fassend, aber gelegentlicher Steigerungen sehr fähig, muss der 
krankhafte Zustand des p. B. angesehen werden, und es 
entspricht ganz der irrenärztlichen Erfahrung, dass sich der 
Zustand findet bei einem sog. „Hereditarier“, d. h. einem erblich 
sehr stark belasteten Menschen. Eben darum handelt cs sich 
auch bei ihm nicht um eine aus einem geschlechtlichen Laster 
durch Erschöpfung entstandene Charakterschwäche und um einen 
Nachlass der Energie, sondern um eine angeborene, wohl momentaner 
Anspannung fällige, aber keiner dauernden Anstrengung gewachsene 
Schwäche sowohl der intellectuellen Vorgänge als auch der 
Aftecte und ganz besonders des Willens bei gesteigerten Trieben. 

In diesem Sinne kann der Meinung des Vorgutachters, es 
bestehe bei dem p. B. jetzt (resp. zur Zeit der That) 
keine wirkliche Geistesstörung, nicht beigetreten werden, denn 
aus dem momentanen Zurücktreten einzelner Symptome kann nicht 
das Verschwinden des seit Jahren bestehenden Zustandes gefolgert 
werden. Es sind aber auch eine Reihe von bereits erwähnten 
Momenten vorhanden, welche dafür sprechen, dass B. sich grade 
zur Zeit der That in einem geistigen Zustande von erheblicher 
Verschlechterung befand, ähnlich demjenigen, welcher 1879 in 
0. bei ihm bestand und sowohl derzeit von den Aerzten als 
jetzt von dem Vorgutachter als ein ausgesprochen geisteskranker 
bezeichnet wird. 

Er war intellectuell hochgradig gehemmt, konnte nicht ar¬ 
beiten, hatte Beeinträchtigungsideell, hatte krankhafte Aftecte, 
heftige Angst, hochgradige Apathie und Verzweiflung und eine 
Willenlosigkeit, die ihn zu den widersinnigsten, mit seinem ganzen 
Wesen in Widerspruch stehenden Handlungen veranlasst. 

In diesem Zustande begeht er die incriminirte Handlung — 
es kann der Augeschuldigte in dieser Zeit nicht anders denn als 
entschieden geisteskrank bezeichnet werden. 

Schwierig erscheinen auf den ersten Blick die Beziehungen 
dieser Geisteskrankheit zu der Zurechnungsfähigkeit, da der An¬ 
geschuldigte selbst angiebt, sich sofort nach der That vollständig 
der Tragweite und der Strafbarkeit jener Handlung bewusst ge¬ 
wesen zu sein und einen willenlosen Zustand bestreitet. 

Wenn man aber einmal in Rechnung zieht, dass bei dem 
B. ein abnorm lebhafter, nach eigenartiger Richtung stre- 



84 


Dr. H. Weiguiann. 


bender Geschlechtstrieb immer vorhanden war, der wie beschrie¬ 
ben, besonders intensiv dann war, wenn sich der Angeschuldigte 
in einem Zustande geistiger und gemüthlicher Zerrüttung befand, 
und wenn man ferner erwägt, dass aus dem gleichen Zeitraum 
eine Reihe von Handlungen Seitens des Angeschuldigteu vorliegen, 
die dafür sprechen, dass er nicht völlig Herr seines Willens war 
— wir verweisen da nur auf die unziemlichen Aeusserungen seinen 
Schülern gegenüber, auf die Wuthausbrüche, die sinnlosen 
Debauchen. die Entweihung des Abendmahls, durch sofortiges 
Kneipen auf dem Spandauer Bock, die fast unwillkürliche Zer¬ 
störung von Dingen, die an eine bessere Vergangenheit ge¬ 
mahnten — wenn man alles das zusammen mit dem gesammten 
Vorleben, mit dem sonst doch auf das Ideale und Anständige ge¬ 
richteten geistigen Streben des Angeschuldigten in Erwägung 
zieht, so erscheint es schwierig zu einem anderen Schlüsse zu 
gelangen, als dass der Angeschuldigte sich zur Zeit der That in 
einem Zustande befand, wo seine freie Willensbestimmung infolge 
seiner Geisteskrankheit eine erhebliche Einbusse erlitten hatte. 

Ob diese Eiubusse bis zur völligen Aufhebung der freien 
Willensbestimmung ging, liegt ausserhalb der ärztlichen Beur- 
theilungssphäre und muss dem Ermessen des Richters anheim 
gegeben werden. 


Diesem Gutachten trat das Medicinalcollegium der Prov. 
Brandenburg mit dem Zusatz bei, dass der p. B. zu der 
Zeit der That sich in einem Zustande von Geisteskrankheit 
befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausge¬ 
schlossen war. 

B. wurde darauf aus der Haft entlassen und später der 
Obhut, seiner Familie übergeben. 


Zur Untersuchung und Beurtheilung der Trinkwässer. 

Von Dr. H. Weidmann, I. Assistenten der agric. chem. Versuchsstation zu 

Münster i. W. 

In Folge der grossen Fortschritte, welche im letzten Jahr¬ 
zehnt die bakteriologische Forschung auf dem Gebiete der Aetio- 
logie der Infektionskrankheiten gemacht hat, sowie in Folge der 
nicht zu verschliessenden Thatsache, dass Brunnenwasser ein Ver¬ 
breitungsweg von Infektionskrankheiten sein kann, wird jetzt 
vielfach der Ansicht gehuldigt, dass die bisher geübte Beurtheilung 
der Güte und hygienischen Brauchbarkeit eines Trinkwassers auf 
Grund chemischer Untersuchung unzureichend, ja sogar voll¬ 
ständig werthlos sei, und nur die bakteriologische Untersuchung 
ein massgebendes Urtheil in dieser Beziehung erlaube. Diese 
zuerst von Koch auf der Choleraconferenz in Berlin ausgesprochene 
und später von seinen Schülern vertretene Ansicht hatte nicht 



Zur Untersuchung und Beurtheilung der Trinkwmser. 


85 


nui* eine grosse Zahl von vergleichenden Trinkwasser-Unter- 
suchungen nach beiden Verfahren, sondern auch ein genaueres 
Studium der Wasserbakterien und ihres Verhaltens im Wasser 
zur Folge. 

Was nun zunächst clie ersteren anbetrifft, so fand sich, dass 
in vielen, ja in den meisten Fällen eine Uebereinstimmung der 
Resultate beider Untersuchungsmethoden nicht statt fand, indem 
die Grösse der Zahl der in einem Cubikcentimeter Wasser aufge¬ 
fundenen Bakterien mit dem chemischen Befunde meist nicht 
harmonirte. Von der bakteriologischen Untersuchung resp. von 
der Zählung der in einem Cubikcentimeter enthaltenen Keime 
lässt sich also erfahrungsgemäss nicht erwarten, dass sie der 
chemischen Untersuchung ein weiteres eventuell ausschlaggebendes 
Kriterium bietet, wie dies von vielen Seiten wohl erwartet wurde. 

Dasselbe lehrt aber auch der zweite oben ins Auge gefasste 
Punkt, das Studium des Verhaltens der Bakterien im Trinkwasser. 
Es zeigte sich nämlich, dass die Vermehrung der Bakterien selbst 
in destillirtem Wasser, eine so ausserordentliche ist, dass von 
einer Abhängigkeit der Bakterienzahl von den accessorischen 
Bestandtheilen des Wassers überhaupt keine Rede sein kann. 
Ausserdem ging aber auch aus den Untersuchungen hervor, dass 
Grund- bezw. Quellwasser, falls jede Verunreinigung desselben 
ausgeschlossen ist, gar keine oder nur sehr wenige Bakterien 
enthält, und die darin vorhandene Menge der letzteren nur als 
Beweis bezw. Massstab dienen kann, dass und wie lange ein 
solches Wasser mit der Oberfläche in irgend welche Berührung 
gekommen ist. 

Wenn somit die Zahl der Bakterien in der grossen Mehrzahl 
der Fälle mit der chemischen Zusammensetzung eines Wassers in 
keinem ursächlichen Zusammenhänge steht und sich die beiden 
obengenannten Untersuchungsmethoden in ihren Ergebnissen 
keineswegs immer decken, so ergiebt sich von selbst die Frage: 
welche von diesen Methoden liefert uns die besten Anhaltspunkte 
für die hygienische Beurtheilung eines Trinkwassers, und welcher 
müssen wir uns daher in Zukunft vertrauensvoll zuwenden? 

Vom bakteriologischen Standpunkte aus wird in erster Linie 
bezüglich der Qualität eines Wassers verlangt, dass es frei von 
Infektionsstoffen sei, und diese Forderung erst dann als erfüllt 
erachtet, wenn ein möglichst vollständiger Ausschluss der Bak¬ 
terien überhaupt erreicht ist. Von dieser Theorie geleitet, hat 
man sich bemüht, in den Trinkwässern solcher Oertlichkeiten, 
welche als Herde gewisser Infektionskrankheiten bekannt waren, 
nach den betreffenden Infektionskeimen zu suchen, jedoch, mit 
Ausnahme einiger weniger, noch angezweifelter Fälle ist dies 
nicht gelungen. Das Studium des Verhaltens der pathogenen 
Bakterien gegenüber den gewöhnlichen Wasserbakterien hat im 
Gegentheil gelehrt, dass die Möglichkeit eines solchen Fundes 
überhaupt nicht wahrscheinlich ist, sondern in den Bereich der 
seltensten Ausnahmen gehören dürfte. 



86 


Dr. H. Weidmann. 


Angesichts dieser Thatsachen nun, zu deren Erkenntniss die 
Anhänger der bakteriologischen Untersuchungsmethode selbst mit 
am meisten beigetragen haben, ist es befremdend, dass dieselben 
noch weiter auf dem nämlichen Princip verharren und darauf 
fussend, den möglichsten Ausschluss aller Bakterien aus dem 
Trinkwasser als unerlässliche Bedingung für dessen Brauchbar¬ 
keit fordern. Begründet wird diese Anschauung durch einen neuer¬ 
dings von Plagge und Proskauer in einem Anhänge zum 
Bericht über die Untersuchung des Berliner Leitungswassers auf¬ 
gestellten Fundamentalsatz, welcher lautet: * Nicht an sich, 
sondern wegen ihrer nahen Verwandtschaft mit den Infektions¬ 
stoffen verdienen die Bakterien das hygienische Interesse.“ 

Es ist wohl anzunehmen, dass die Verfasser bei diesem Aus¬ 
spruche eine bestimmte Klasse von Bakterien im Auge habeu, 
und wenn sie damit die Fäulnissbakterien meinen oder den Begriff 
Infektionsstoffe auch mit auf diese ausdehnen und bei der bak¬ 
teriologischen Untersuchung des Wassers das Hauptaugenmerk auf 
diese gerichtet wissen wollen, so dürfte ihnen darin nur beizu¬ 
stimmen sein; denn es kann nicht einerlei sein, ob ein Wasser 
etwa eine Million unschädlicher, gewöhnlicher Wasserbakterien, 
oder wenige Hundert oder Tausend Bakterien, die in faulenden 
»Substanzen vorzukommen pflegen, enthält. Wir wissen zwar 
erfahrungsgemäss, dass es Fäulnissbakterien giebt, welche ebenso 
unschädlich zu sein scheinen, wie die gewöhnlichen Wasser¬ 
bakterien, wir müssen aber auch annehmen, dass es noch andere 
Fäulnissbakterien giebt, und zwar theils solche, deren Genuss 
eine putride Infektion zur Folge hat, theils solche, welche putride 
Gifte erzeugen und dadurch eine putride Intoxication hervorzu¬ 
rufen im Stande sind. Wenn nun auch derartige Fäulnissbak¬ 
terien selten im Wasser vorzukommen pflegen, so können doch 
verwandte Formen und Gattungen, welche ähnliche Wirkungen 
hervorzurufen und ähnliche Zersetzungsprodukte zu erzeugen ver¬ 
mögen, sehr häufig darin enthalten sein. Ein Wasser, welches 
Zuflüsse von Fäulnissherden erhält, oder selbst fäulnissfähige und 
faulende Stoffe enthält, wird immer eine grosse Zahl derartiger 
Bakterien in sich beherbergen, so dass man aus dem vorwiegenden 
Vorhandensein derselben auf eine schlechte Beschaffenheit des 
Wassers wird schliessen können. Also weniger die Zahl als die 
Gattung oder Art der in einem Trinkwasser gefundenen Bakterien 
dürfte uns Aufschluss über die hygienische Beschaffenheit des¬ 
selben geben, und der bakteriologischen Forschung demnach die 
Aufgabe zufallen, die verschiedenen Arten der im Wasser vor¬ 
kommenden Bakterien, namentlich aber die Fäulnissbakterien 
näher zu studiren. 

Im Anschluss an jenes Postulat des möglichsten Ausschlusses 
aller Bakterien aus dem Trinkwasser verwerfen genannte Autoren 
alle Kesselbrunnen und fordern die Einführung von Röhrenbrunnen 
oder der Filtration. Es ist unleugbar, dass damit ein grosser 
Fortschritt gemacht und die Verunreinigung der Trinkwässer auf 
ein bedeutend geringeres Mass zurückgeführt würde, jedoch ist 



Zur Untersuchung und Beurtheilung der Trinkwässer. 


87 


(lies eine sehr weit gehende Forderung, die erst nach langer Zeit 
und nur mit grossen Geldopfern durchzuführen sein wird. Ganz 
abgesehen davon tritt aber auch nach Durchführung dieser 
Forderung unsere Frage, welche von den beiden Methoden die 
richtige für die Beurtheilung eines Wassers sei, wieder in den 
Vordergrund, und man darf z. B. mit Recht fragen, ob ein Wasser, 
welches nach den chemischen Indicien als verunreinigt oder 
schlecht angesehen werden muss, als hygienisch brauchbar be¬ 
zeichnet werden kann, wenn es nur die Bedingung erfüllt, dass 
es möglichst frei ist von Bakterien, gleichviel welche von den¬ 
selben kurz vorher darin mit ihrer Zersetzungsarbeit beschäftigt 
waren und deren Produkte an das Wasser abgegeben haben. 

Die Ausschliessung eines Wassers vom Genuss macht der 
Chemiker bekanntlich abhängig vom Nachweis von Ammoniak, 
salpetriger Säure und eventuell auch von Schwefelwasserstoff und 
phosphorsauren Salzen, feiner von der Menge des Abdampfrück¬ 
standes, der Chloride und Sulfate, auch der Kalk- und Magnesia¬ 
salze, sowie endlich von der Menge der sogenannten organischen 
Substanz und der Salpetersäure. Die Stickstoffverbindungeu: 
Ammoniak, salpetrige Säure und Salpetersäure sind alles End¬ 
produkte der Zersetzung stickstoffhaltiger Körper. Sie kommen 
in nicht verunreinigten Wässern nie oder, wie die Salpetersäure, 
in nur geringen Mengen vor und gelangen in unsere Brunnen¬ 
wässer meist in Folge der mangelhaften hygienischen Einrich¬ 
tungen, welche in der überwiegenden Zahl von Städten und 
Ortschaften noch bestehen. Die „organische Substanz“, welche 
wir im Wasser vermittelst Kaliumpermanpanat bestimmen, besteht 
allerdings aus Stoffen, über deren Natur wir gar nichts weiter 
wissen, als dass sie leicht Sauerstoff aufnehmen. Aber dies ge¬ 
nügt, um sie dahin zu charakterisiren, dass sie mit der Zersetzung 
ohne Sauerstoffzufuhr, d. h. mit der Fäulniss, in innigstem Zu¬ 
sammenhänge stehen, sei es, dass sie Produkte der Fäulniss sind, 
oder selbst leicht in solche übergehen. .Jedenfalls dürften sie bei 
ihrer weitergehenden Zersetzung dem Wasser Sauerstoff entziehen 
und dadurch bei grösserer Menge die Vermehrung derjenigen 
Mikroorganismen hindern, welche des Sauerstoffs bedürfen, die 
Sauerstoffüberträger sind und somit die Reinigung eines Wassers 
vollziehen. Die Chloride, Sulfate, Kalk, Magnesiasalze haben an 
und für sich mit der Fäulniss nichts zu thun und kommen in 
jedem Wasser für sich und vereint in den wechselndsten Mengen 
vor, aber sie werden überall da, wo nachweislich menschliche 
oder thierische Abfallstoffe ins Wasser gelangen, in erhöhter 
Menge gefunden. 

Ganz abgesehen von den nur ausnahmsweise vorkommenden 
Residuen der Fäulniss, dem Schwefelwasserstoff und der Phosphor¬ 
säure, wird nun Niemand ein Wasser für gut und gesundheits¬ 
zuträglich erklären, das Ammoniak, salpetrige Säure, grössere 
Mengen „organischer Substanz“, sowie erhöhte Mengen der übrigen 
vorhergenannten Bestandteile enthält. Jeder einzelne dieser 
Bestandteile besagt selbstverständlich wenig oder gar nichts, 



88 


L)r. H. Wuiginann. 


sondern es müssen mehrere, wenn auch nicht alle, ein Resultat 
in gleichem Sinne ergeben. So dürfen z. B. Schwefelwasserstoff 
und grössere Mengen Ammoniak, als directe Fäulnissprodukte und 
an und für sich giftige Stoffe, einem Wasser von vornherein den 
Stempel der Gesundheitsschädlichkeit aufdrücken. Ferner ist 
salpetrige Säure im Verein mit grösseren Mengen organischer 
Substanz, sowie einer über die localen hydrologischen Verhältnisse 
hinausgehenden Menge von Salzen ein evidenter Beweis für eine 
im Wasser vor sich gehende faulige Zersetzung. Und drittens 
muss ein Wasser als unbrauchbar oder wenigstens als verdächtig 
vom Genüsse zurückgewiesen werden, wenn es neben erhöhten 
Mengen Abdampfrückstand, Salzen, organischer Substanz auch viel 
Salpetersäure (etwa 50 mg. pro 1 Liter übersteigend) enthält; 
denn die letztere ist das Endprodukt der Oxydation stickstoff¬ 
haltiger organischer Stoffe und ein Anzeichen dafür, dass das 
Wasser über Fäulnissherde filtrirt oder an solchen vorbeigegangen 
ist, dass es aber in seinem weiteren Verlaufe Gelegenheit gehabt 
hat, Sauerstoff aufzunehmen und sich mit dessen Hülfe zu reinigen. 
Es bleibt jedoch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass in 
solchem Falle bei fortschreitender Verunreinigung des Bodens die 
reinigende Kraft desselben zu wirken aufhört und das Wasser 
mit der Zeit unvollendete Oxydationsprodukte auf- und eine nach¬ 
theilige Beschaffenheit annimmt. 

Es wird allerdings oft hervorgehoben, die durch die chemische 
Untersuchung aufgefundenen Stoffe seien in den geringen Mengen, 
in welchen sie im Trinkwasser Vorkommen, keineswegs so gefähr¬ 
lich, dass man von einer Gesundheitsschädlichkeit des betreffenden 
Wassers sprechen könne. Dem gegenüber muss aber betont 
werden, dass sich die Bezeichnung Gesundheitsschädlichkeit nicht 
auf diese Stoffe selbst (mit Ausnahme des Schwefelwasserstoffs und 
grösserer Mengen Ammoniaks) bezieht, sondern auf die Möglichkeit 
und Wahrscheinlichkeit, dass ein derartiges, die Indicien der 
Fäulniss aufweisendes Trinkwasser neben den Endprodukten einer 
solchen Zersetzung auch noch höher konstituirte, noch nicht in 
ihre Compouenten zerfallene Stoffwechselprodukte der Fäulniss- 
bakterien, d. h. Stoffe enthalte, welche in einer gewissen Ver¬ 
wandtschaft zu den putriden Giften stehen mögen. Es kann ferner 
nicht bezweifelt werden, dass derartige Stoffe, selbst bei so 
enormer Verdüimung wie im Wasser, bei fortgesetztem Gebrauche 
desselben, doch eine Art putrider Indoxication zur Folge haben 
müssen, ebenso wie der beständige Aufenthalt in schlechter Luft 
eine Art Vergiftung im Menschen herbeiführt. 

Und nun denke man sich ein putrides oder durch Abfallstoffe 
verunreinigtes Wasser der Filtration unterworfen. Man hat lange 
Zeit geglaubt, dass die Filtration durch Sand, wie sie durch die 
Filterwerke städtischer Wasserleitungsanlagen erfolgt, auf die 
Zusammensetzung des Wassers von günstigem Einfluss wäre, indem 
namentlich die Menge der gelösten organischen Substanzen ver¬ 
ringert wurde. Es hat sich aber gezeigt, dass dies nicht oder 
nur in sehr geringem Masse der Fall ist und dass durch die 



Referate. 


89 


Filtration nur die im Wasser suspendirten Stoffe entfernt werden, 
allerdings in so vollkommener Weise, dass auch die so ausser¬ 
ordentlich kleinen Theile, wie die Mikrokokken und Bakterien, 
noch zurückgehalten werden. Es wird sich daher bei Filtration 
selbst eines fauligen Wassers ein von Mikroorganismen ziemlich 
freies Wasser ergeben, und wenn die Zahl derselben 100—150 in 
1 Cnbikcentimeter nicht übersteigt, so wird es nach der Ansicht 
oben genannter Autoren als hygienisch brauchbar erscheinen 
müssen, während es doch alle putriden Stoffe in unveränderter 
Form noch enthält und deshalb nicht als unschädlich bezeichnet 
werden kann. 

Die chemischen Indicien einer Fäulniss werden also auch 
dann noch vorhanden sein, wenn die bakteriologischen fehlen, und 
man ist daher wohl berechtigt zu sagen, dass die chemische Unter¬ 
suchung eine sicherere Methode für die Beurtheilung der Trink¬ 
wässer ist, als die bakteriologische und dass ein nach dieser 
Methode als schädlich zu bezeichnendes Wasser selbst in dem 
Falle als solches erachtet werden muss, wenn die bakteriologische 
Untersuchung ein äusserst günstiges Ergebniss geliefert hat, 
während dies umgekehrt keineswegs statthaft ist. In der Weise, 
wie bisher die bakteriologische Untersuchung des Trinkwassers 
geübt wird, kann sie überhaupt nur als Massstab gelten, ob das 
Wasser gut filtrit t ist oder nicht. Aber, wie schon vorher gesagt, 
nicht die Zahl, sondern nur die Gattung und Art der in einem 
Trinkwasser gefundenen Bakterien kann bei der hygienischen 
Beurtheilung desselben in Frage kommen. Nach dieser Richtung 
hin liegt somit der nicht zu unterschätzende Werth der bakterio¬ 
logischen Untersuchungsmethode, und jemehr durch fortgesetzte 
Forschungen unsere Kenntniss der schädlichen und unschädlichen 
Wasserbakterien erweitert wird, desto mehr dürfte eine Ueber- 
einstimmung in dem Ergebniss beider Untersuchungsmethoden zu 
erwarten sein. 


Referate. 

Dr. J. Rosenthal, o. ö. Professor der Physiologie und Gesundheits¬ 
pflege an der Universität Erlangen. Vorlesungen über die 
öffentliche und private Gesundheitspflege. Mit 64 Ab¬ 
bildungen. Erlangen 1887. Verlag von Eduard Besold. 

Den Inhalt des vorliegenden Buches bilden Vorlesungen, welche der Ver¬ 
fasser in jedem Winter über öffentliche und private Gesundheitspflege gehalten 
hat. Dieselben sind, wie in der Vorrede erwähnt wird, von einem der Zuhörer 
nachgeschrieben, von dem Verfasser sodann durchgesehen, in einigen Punkten 
ergänzt und schliesslich durch Druck veröffentlicht, um einem angeblich vor¬ 
handenen Mangel an brauchbaren Lehrbüchern der Hygiene abzuhelfen. Dass 
ein solcher Mangel in Wirklichkeit besteht, muss Referent allerdings bezweifeln 
imd möge in dieser Hinsicht, ganz abgesehen von den grösseren liier weniger 
in Frage kommenden Sammelwerken, nur auf die Handbücher der öffentlichen 
Gesundheitspflege von Sander und Geigel hingewiesen werden. Aber gleich¬ 
wohl kann das Erscheinen eines neuen derartigen Werkes nur mit Genugthuung 



90 


Referate. 


begrübst werden, besonders wenn es sieh, wie da* vorliegende, durch eine 
ebenso wissenschaftliche, wie leicht verständliche lebhafte und fesselnde Dar¬ 
stellung auszeichnet. 

Die Anordnung des Stoffes ist so getroffen, dass zunächst die allgemeinen 
Lebenssubstrate in der Reihenfolge: Boden, Luft, Kleidung, Nahrung und Wasser, 
sodann die socialen Verhältnisse, das Zusammenleben mit anderen Menschen, 
die Art der Beschäftigung und zum Schluss die Volkskrankheiten besprochen 
werden; von einer Scheidung der privaten und öffentlichen Gesundheitspflege 
ist dabei mit Recht Abstand genommen, ln jedem einzelnen Abschnitte werden 
die Einwirkungen der betreffenden Agentien auf die menschliche Gesundheit 
sowohl in der Norm als in den Abweichungen erörtert, die wichtigeren und 
häufiger auszuführenden Untersuchungsmethoden in möglichst einfacher Form 
beschrieben und die zur Abwehr der fraglichen Schädlichkeiten erforder¬ 
lichen hygienischen Einrichtungen und Massregeln berücksichtigt, jedoch lässt 
das Buch nach der letzten Richtung hin besonders mit Rücksicht auf die 
wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen manches zu wünschen übrig. 

In den ersten Vorlesungen (2—8) sind die verschiedenen Bodenschichten, 
das Grundwasser, die Grundluft, die Bodentemperatur, sowie die Boden Ver¬ 
unreinigung durch feste und flüssige Abfalle und deren Verhütung (Abfuhr, 
Canalisation, Schwemmsystem und Berieselung) eingehend behandelt. In den 
darauffolgenden (9—23) werden sodann die normalen Bestandteile der Lull 
(Sauerstoff, Ozon, Wassergehalt u. s w.), die klimatischen Verhältnisse (Nieder¬ 
schläge, Luftdruck, Temperatur, Wind u. s. w.) und schliesslich die abnormen Be¬ 
standteile der Luft (Staub, Infektionskeime. schädliche Gase u. s. w ). sowie die 
Luftverderbniss in den Wohnräumen, Ventilation, locale und centrale Heizung 
oiner ausführlichen Erörterung unterzogen. Vier Vorlesungen (24—27) handeln 
über Kleidung und Wärmeregulation des Körpers (Einwirkung abnormer Tempe¬ 
raturen, Erkältung, Abhärtung, Bäder), denen elf andere (28—38) über Ernährung, 
Nahrungsstoffe (Fleisch, Fleischpräparate, pflanzliche Nahrungsmittel, Milch) und 
Genussmittel (Fleischextract, Thee, Kaffee, Kakao. Wein, Bier, Branntwein, 
Tabak), sowie über deren Surrogate, Verfälschungen, Schädlichkeiten (Trunk¬ 
sucht) folgen. Wasser und WasserVersorgung (Cisternen, Brunnen, Wasser¬ 
leitung, Filter) bilden den Inhalt der nächsten drei Vorlesungen (39 — 41); in der 
darauffolgenden (42.) worden die Vorgiftungen durch Gebrauchsgegenstände 
und hiernach in vier Vorlesungen (43—46) die Schädlichkeiten der Beschäftigung 
(Frauen- und Kinderarbeit, Unfälle, Staub- und Gaskrankheiten, gewerbliche 
Gifte) besprochen. Drei Vorlesungen (47, 49 und 50) sind der Beleuchtung 
durch Tageslicht bezw. der künstlichen Beleuchtung gewidmet , eine (48.) der 
Schulhygiene, sechs andere (51—56) den Infectionskrankheiten (acute Exantheme, 
typhöse Krankheiten, Cholera, Zoonosen, Malaria, Tuberculose u. s. w.) und 
deren Entstehung (Mikroorganismen), Verbreitung und Verhütung (Impfung, 
Desinfection, Quarantäne u. s. w.). In den beiden letzten Vorlesungen (56 und 
57) finden endlich Krankenhäuser und Leichenbestattung eine kurze Besprechung. 

Im Allgemeinen hat der Verfasser in seinem Buche diejenigen Capitel, 
welche ihm als Physiologen näher liegen, ausführlicher als die übrigen behan¬ 
delt; manche wichtigen Abschnitte der öffentlichen Gesundheitspflege, die 
gleichfalls einer eingehenderen Erörterung bedurft hätten, sind dabei nur 
gestreift, oder gänzlich unerörtert geblieben, wie Wohnungshygiene, Massen¬ 
wohnungen, Gast- und Logirhäuser, Kostgänger- und Schlafstellenwesen. 
Hygiene der Schwangeren, Gebärenden, Wöchnerinnen und Neugebomon 
(Wochenbetttieber, Augenentzündungen der Neugeborenen), Haltekinder, Armen- 
und Krankenpflege, Irrenwesen, Verkehr mit Arzneimitteln und Giften, Gefäng¬ 
nisse, Schiffshygiene, Prostitution u. s. w. Desgleichen fehlen fast überall 
genauere Litteraturangaben, und wenn das Buch auch in erster Linie für den 
Gebrauch der Studirenden der Medicin geschrieben ist und denselben ein über¬ 
sichtliches Bild von dem ganzen Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege 
geben soll, so erscheint es doch durchaus wünschenswerth, den praktischen 
Aerzten bezw. Medicinalbeamten durch Angabe der Quellen ein weiteres Studium 
der sie besonders interessirenden Kapitel zu ermöglichen. 

Es würde den Referenten zu weit führen, auf die Einzelheiten des von 
ihm mit grossem Interesse gelesenen Werkes einzugehen, ln manchen Punkten 
dürften die Ansichten des Verfassers allerdings auf berechtigte Meinungsver- 



Referate. 


91 


schiedönh eiten stossen, z. B. wenn derselbe behauptet, dass die beste Lösung 
der Sch ul bank frage darin gefunden zu sein scheine, dass der Sitz und nicht 
der l isch beweglich gemacht werde. Erfahrungsgemäss laufen aber die Kinder 
gerade bei Beweglichkeit des Sitzes am meisten Gefahr, abnorme Körperhal¬ 
tungen einzunehmen. Auch die Grenze für die zulässige Tiefe oines Schulzim- 
mers (8 Meter) ist zu hoch gegriffen; denn schon bei 7 Meter Tiefe macht 
die Beleuchtung oft grosse Schwierigkeiten. 

Die in dem Abschnitt über Wasser betreffs Anwendung und Wirksamkeit 
der Filter geäusserten Ansichten differiren mit den neueren in dieser Hinsicht 
von Plagge gemachten Untersuchungen und deren Ergebnissen erheblich und 
hätten die letzteren jedenfalls eine eingehende Berücksichtigung verdient. 
Desgleichen befindet sich der Verfasser im Widerspruch mit den Bestimmungen 
des luipfgesetzes bezw. mit den von der Commission zur Berathung über das 
Impfwesen entworfenen und vom Bundesrathe genehmigten Vorschriften zur 
Sicherung der gehörigen Ausführung des Impfgeschäftes, wenn er sagt, dass die 
Impfung in der Regel vor Ablauf des 4. Lebensmonates vorgenommen, und 
dass bei der Abnahme der humanisirten Lymphe das capillar ausgezogene 
Glasröhrchenende „in u die geöffnete Pustel eingeführt werden soll. 

Auch die in dem Abschnitt über Infectionakrankheitcn gegebene kurze 
Beschreibung der wichtigsten bakteriologischen üntersuchungsmethoden und 
Desinl'ectionsverfahren ist nicht frei von Irrthümern. So sind z. B. zur Steril i- 
sirnng durch trockene Hitze nicht 110°, sondern 150° C. erforderlich; ferner 
haben Chlorgas und schweflige Säure als Desinfectionsmittel nach den neueren 
Untersuchungen ebenso wenig Werth als Eisenvitriollösungen, die der Verfasser 
selbst nur desodorisirend nennt; fortdauerndes Lüften wird dagegen gar nicht 
erwähnt, obwohl es eins der wirksamsten Desinfectionsmittel ist. 

Trotz dieser einzelnen, bei späteren Auflagen leicht zu beseitigenden Mängel 
kann das vorliegende Werk als ein ebenso brauchbares wie gutes Lehrbuch 
bezeichnet und nicht nur den Studirenden der Medicin, sondern auch allen 
denjenigen wann empfohlen werden, welche sich für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege interessiren und sich einen Ueberblick über den gegenwärtigen Stand 
und die wichtigsten Punkte derselben verschaffen wollen. 

Die Ausstattung des Buches ist eine recht gute; die beigegebenen Abbil¬ 
dungen sind allerdings nicht zahlreich und nur schematisch gehalten, tragen 
aber wesentlich zum leichteren Verständnis des Textes bei. 

Rapmund. 


San.-Rath Dr. Baer, Bezirk sphysikus und Oberarzt am Strafge¬ 
fängnisse Plötzensee in Berlin: Medicinalpfuscherei. In 
Real-Encyclopädie der gesamraten Heilkunde von Prof. Dr. A. 
Eulenburg. 

Wenn die Aufsätze der Eulenburg'schen Encyclopädie schon im Allgemeinen 
sich des Rufes sachgemäßer Bearbeitung und sachgemässor Kritik des 
jeweiligen Gegenstandes erfreuen, so geniesst die Baer’sche Abhandlung über die 
Medicinalpfuscherei noch den Vorzug, dass sie unter dem irischen Eindruck 
der letzten Verhandlungen dieses Gegenwindes in der Berliner medicinischon 
Gesellschaft entstanden ist. und dass für ihre Anfertigung die Berichte und Ur- 
theile zahlreicher ärztlicher Vereine, sow r ie die neuesten Berichte der Regiemngs- 
Medicinal-Räthe verwendet werden konnten. 

Baer geht davon aus, dass sowohl das staatlich«. 1 wie das private Wohl 
rücksichtlich der Durchführung der prophylaktischen wie der curativen Medicin 
das Vorhandensein eines mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft ausgestatteten 
Heilpersonals erfordert, und dass letzteres nur bestehen und wirken kann, wenn 
das Kurpfuscherthum von Seiten des Staates mit energischen Mitteln unter¬ 
drückt wird. Die Gegner dieser Ansicht betonen zwar, dass die Geschichte 
der Medicin lehre, dass die Kurpfuscherei auch dann blühe, wenn strenge Ge¬ 
setze sie bekämpften; gerade aber die Erfahrungen mit dem Gewerbegesetz 
von 1869, entgegnet Baer, hätten gezeigt, dass mit Freigehung der ärztlichen 
Praxis das Kurpfuscherwesen neue Blütlien treibe und mit neuem Pompe auftrete. 
Denn w r enn auch nicht allgemein anerkannt würde, dass das Curirwesen weitere 



92 


Referate. — Bekanntmachungen. 


Grenzen angenommen, so könnten doch Thatsachen nicht weggeleugnet wer¬ 
den, die wahrhaft erschreckende Früchte dieser Art von Gewerbefreiheit 
wäron. — In Chemnitz existirt eine Schule zur Ausbildung von Medicinal- 
pfuschern, von sogenannten Naturheilkundigen. An höchster officieller Stolle 
wird der Medicinalpfuscher in vom Staate beaufsichtigten Einrichtungen — 
Krankenkassen — den approbirten Medicinalpersonen zur Ausübung der Heil- 
kunst gleichberechtigt angesehen. Legitimationsscheine zum Kuriren im Um¬ 
herziehen werden professionellen Kurpfuschern in einzelnen deutschen Staaten 
ertheilt. Dazu berichten fast sämmtliche Reg.-Med.-Rätho, dass das Kurpfu¬ 
scherwesen in den einzelnen Bezirken überhand nehme. 

So erscheint denn der vielseitige Wunsch nach neuen und strengen Mass¬ 
nahmen, wie sie schon Pappenheim gefordert hat, gerechtfertigt. B. streift 
noch die hier und da auftauchende Besorgniss, dass der berüchtigte § 200, der 
die Aerzte zur Hilfe zwinge, wieder in Kraft treten könnte und drückt rück¬ 
sichtlich dieses Punktes seine Beruhigung aus. 

B. hat die Anschauungen beider Heorlager in charakteristischen Zügen 
gezeichnet. Dass er für staatliche strenge Massnahmen gegen die Kimpfuscherei 

g esonnen ist, leuchtet aus jeder Seite heiaus. Daneben aber hält er die Auf- 
lärung des Publikums und das Wirken der ärztlichen Vereine für wasentliche 
Factoren. Namentlich aber verspricht er sich viel von dem zukünftigen Ein¬ 
greifen der staatlichen Aerztekammern. 

Uns Gerichtsärzten lie^t am nächsten der Wunsch nach einer energi¬ 
schen Justiz auf Grund eines strengen Pfuschereiverbotes mit dom Effect 
empfindlicher Freiheitsstrafen. 

Denn schon heute sehen wir nur in solchen Fällen ein Zurückschrecken 
der professionirten Kurpfuscher von der Fortsetzung ihres gemeinschädlichen 
Metier's, wo ein energischer Staatsanwalt im Vereine mit einem consequenten 
und unbeugsamen Richter, unterstützt von einem sachkundigen gerichtsärzt¬ 
lichen Sachverständigen den § 263, den Betrugsparagraphen der St.-P.-O., zur 
Anwendung zu bringen versteht, und es lässt sich erwarten, dass diese Wirkung 
sich verallgemeinern wird, wenn strenge Strafbestimmungen gegen die Kur¬ 
pfuscherei im Allgemeinen erlassen sein werden. 

Berlin. Mittenzweig. 


Bekanntmachungen. 

Da die Bestimmungen, welche über die Aufnahme von Geisteskranken in 
Privat-Irrenanstalten, über die Entlassung derselben, sowie über die staatliche 
Beaufsichtigung solcher Anstalten zu verschiedenen Zeiten ergangen sind, nicht 
überall gleichmässig ausgelegt und gehandhabt werden, auch zum Theil einer 
Ergänzung bedürfen, sehen wir uns bewogen , hierüber das Nachfolgende an¬ 
zuordnen und ersuchen Ew. Excellenz ergebenst, deswegen das Weitere zu 
veranlassen. 

I. Aufnahme von Geisteskranken in Privat-Irrenanstalten. Entlassung 
derselben. 

Wenn es einerseits verhindert werden muss, dass Personen als geistes¬ 
krank in Irrenanstalten gebracht und darin behalten werden, welche nicht 
geisteskrank sind, so ist es andrerseits von Wichtigkeit, dass solche Geistes¬ 
kranke, deren Zustand es zu ihrem eignen Wohl oder mit Rücksicht auf die 
öffentliche Sicherheit nothwendig oder wünschenswertli macht, mit thunlicher 
Beschleunigung und ohne Schwierigkeit in derartige Anstalten tibergeführt 
werden können. 

1. Aerztliche Aufnahme-Atteste. 

Die Aufnahme eines Menschen in eine Privat-Irrenanstalt darf selbst unter 
dringenden Umständen nicht erfolgen, ohne dass die Nothwendigkeit derselben 
durch ein zuverlässiges ärztliches Attest bescheinigt wird. 

Des Näheren ist für diese ärztlichen Aufhahmo*Atteste Folgendes mass¬ 
gebend : 

a) In der Regel ist für die Aufnahme ein auf Grund eigner Untersuchung 
des Kranken ausgestelltes Attest des Physikus oder des pro physicatu geprüften 
Kreiswundarztes desjenigen Kreises, in welchem der Kranke seinen Wohnsitz 
hat, darüber erforderlich, dass der Aufzunehmende geisteskrank ist, an welcher 



Bekan nt 11 la ch \ \ nge n. 


98 


Form geistiger Krankheit er leidet und dass er der Aufnahme in eine Irren- 
Anstalt bedarf. Ist der Kranke bereits von einem andern Arzte wegen der 
gegenwärtigen Krankheit behandelt oder beobachtet worden, so ist wenn 
möglich' ein Bericht des Letzteren über die Entstehung und den Verlauf der 
Krankheit dem Physikus (oder Kreiswundarzt) vorzulegen und von diesem 
seinem Atteste beizufügen. 

b) Hat der Kranke keinen festen Wohnsitz oder macht sein Zustand, 
während er von seinem Wohnsitz abwesend ist, seine Ueberführung in eine 
Irrenanstalt nothwendig, so ist dem Atteste des zuständigen Physikus (oder 
Kreiswundarztes) das eines anderen Physikus oder pro physicatu geprüften 
Kreiswnndarztes gleichzustellen, jedoch bedarf dasselbe alsdann einer aus¬ 
führlichen Begründung. 

Wird ein solches Attest zu a) oder b) von einem Kreiswundarzte ausge¬ 
stellt, so hat derselbe seiner Unterschrift und dem Amtscharakter hinzuzufügen, 
dass er pro physicatu geprüft ist. 

c) In dringenden Fällen, insbesondere bei Geineingefährlichkeit des Kranken 
darf die Aufnahme desselben vorläufig auch auf Grund eines ausführlichen und 
wohl begründeten Attestes eines jeden approbirten Arztes erfolgen, jedoch ist 
alsdann der Kranke innerhalb der ersten 24 Stunden nach erfolgter Aufnahme 
durch denjenigen Physikus, oder wenn dieser der Arzt der betreffenden Irren¬ 
anstalt sein sollte, durch den pro physicatu geprüften Kreiswundarzt zu unter¬ 
suchen, in dessen Amtsbezirk sich die Anstalt befindet. Sollte der zuständige 
Kreiswundarzt nicht pro physicatu geprüft sein, oder ein Kreiswundarzt in dem 
betreffenden Kreise nicht vorhanden sein, so ist der Physikus eines benachbarten 
Kreises heranzuziehen. 

Die Untersuchung ist in zweifelhaften Fällen in kurzen Fristen wiederholt 
vorzunehmen und dann ein Attest wie zu b) auszustellen, welches für das Ver¬ 
bleiben des vorläufig Aufgenommenen in der Anstalt oder für seine sofortige Ent¬ 
lassung massgebend ist. 

Die amtlichen Atteste zu a) und b) sowie das privatärztliche Attest zu c) 
geben die Berechtigung zur Aufnahme eines Kranken in eine Privat-Irren- 
anstalt nur dann, wenn diese innerhalb einer Frist von 14 Tagen nach der 
Untersuchung (oder wenn mehrere Untersuchungen stattgefunden haben, nach 
der letzten Untersuchung) erfolgt. Es ist daher in den Attesten der Zeitpunkt 
der (letzten) Untersuchung jedesmal anzugeben. 

d) Schon wegen Geisteskrankheit entmündigte Kranke können auf Antrag 
ihres rechtlichen Vertreters ohne weitere Nachweise als den der erfolgten 
Entmündigung aufgenommen werden. 

e) Werden Kranke, welche in eine von einem Kommunalverbande unter¬ 
haltene Irrenanstalt ordnungsmässig aufgenommen sind, von dem Vorstande 
einer solchen Anstalt einer Privat-Irrenanstalt zur Pflege übergeben, so ist für 
jeden Kranken ein Uebergabeschein und eine beglaubigte Abschrift der Auf¬ 
nahme-Atteste bezw. des Nachweises der erfolgten Entmündigung zu den Akten 

er Privat-Irrenanstalt zu bringen. 

f) Für die Aufnahme von nicht entschieden Geisteskranken als sog. 

„freiwilligen Pensionären“ in Privat-Irrenanstalten sind die Bestimmungendes, 
unter dem 17. Juni 1874 — M. 2493 — an die Regierungen der Rheinprovinz 
und vor Westfalen gerichteten Erlasses zu 1. 2. 3. 4. massgebend. Dieselben 
lauten: 

1. Von dem Unternehmer einer jeden Privat-Irrenheil- oder Pflegeanstalt, 
welche in derselben Pensionäre aufnehmen oder halten will, die mit ihrem 
freier Willen sich daselbst befinden, ist zu einer solchen Erweiterung des 
eigentlichen Zwecks der Anstalt eine besondere Erlaubniss der Königlichen 
Regierung noth wendig, welche nur mit dem Vorbehalt des jederzeitigen 
Widerrufs ertheilt wird. 

2. Die Erlaubniss darf nur dann gewährt werden, wenn die ganze Ein¬ 
richtung der Anstalt von vorn herein durch ihre Organisation und durch 
rationelle Krankenbohandlung, Gewähr gegen Missbrauch bietet und der Unter¬ 
nehmer sich schriftlich verpflichtet, die nachstehenden Voraussetzungen in 
Betreff' der Aufnahme und des Verbleibens der Pensionäre und der anznord- 
uenden Kontrollen (No. 3—5) pünktlich und unweigerlich zu erfüllen. 



94 


Bekanntmachungen. 


3. Die Aufnahme eines jeden solchen Pensionärs setzt voraus: 

a) eine ärztliche Bescheinigung der Zweckmässigkeit der Aufnahme 
vom medizinischen Standpunkt. 

b) die schriftliche Einwilligung der Pensionäre selbst oder ihrer gesetz¬ 
lichen Vertreter. 

c) die binnen 24 Stunden nach der Aufnahme zu bewirkende Anmeldung 
jedes Aufgenommenen bei der Ortspolizeibehörde. 

4. Das Verbleiben in der Anstalt darf durch keine, über die Grenzen 
einer geregelten Hausordnung hinausgehende Mittel erzwungen werden. An¬ 
träge auf Entlassung dürfen, wenn sie von den gesetzlichen Vertretern der 
Pensionäre ausgehen, gar nicht, wenn sie von den Pensionären selbst ausgehen, 
nur in dem Fall abgelehnt werden, dass die Voraussetzungen nachgewiesen 
werden, welche für die Aufnahme von Geisteskranken vorgeschrieben sind 
d. h. ärztliche Bescheinigung der Nothwendigkeit ihrer Aufnahme in einer 
Irrenanstalt und die hiervon gemachte Anzeige bei der zuständigen Gerichts¬ 
behörde. 

5. Die Anstalten, welche freiwillige Pensionäre halten, unterliegen in 
Rücksicht hierauf einer monatlichen „auf ihre Kosten abzuhaltenden Revision 
durch den Kreis-Physikus“ und wenn dieser selbst Anstalts-Arzt ist, eines 
anderen von der Königlichen Regierung zu bezeichnenden medizinischen Kom- 
mi88ariii8, welcher sich mit den Pensionären in persönliche Beziehung zu setzen 
und die Beobachtung der gegebenen Vorschriften streng zu kontrolliren hat. 

2. Anzeige der erfolgten Aufnahme. 

a) Ist die Aufnahme eines Geisteskranken in eine Privat-Irrenanstalt nicht 
auf Antrag einer Gerichtsbehörde oder der Polizeibehörde des Wohnortes des 
Kranken, oder unter Genehmigung der letzteren Behörde erfolgt, so ist — 
jedoch mit Ausnahme der Fälle zu 1. e und f — der vorbezeichneten Polizei¬ 
behörde binnen 24 Stunden nach erfolgter Aufnahme von Letzterer unter Bei¬ 
fügung einer beglaubigten Abschrift der Aufnahme-Atteste secrete Mittheilung 
zu machen, desgleichen ist innerhalb derselben Frist dem Staatsanwalt der¬ 
jenigen Gerichtsbehörde, bei welcher der Kranke seinen Gerichtsstand hnt. 
Anzeige von der Aufnahme zu erstatten 

b) Ist der Aufgenommene ein Ausländer oder ist seine Wohnung und sein 
Gerichtsstand unbekannt, so ist dem Staatsanwalt des Gerichtes Anzeige zu 
machen, welches für den Ort der Irrenanstalt zuständig ist und bei Ausländern 
ausserdem der zuständigen Landespolizeibehördo Behuts des von dieser gemäss 
dem Erlass vom 5. August 1881 an den Herrn Minister der auswärtigen An¬ 
gelegenheiten zu erstattenden Berichts. 

c) In jedem Falle ist die Aufnahme binnen 24 Stunden bei der Polizei¬ 
behörde desjenigen Ortes anzuzeigen, in welchem die Anstalt gelegen ist. Bei 
sämmtlichen diesen Anzeigen sind die betreffenden Behörden um eine Empfangs¬ 
bestätigung zu ersuchen. 

3. Die Entlassung der in eine Privat-Irrenanstalt Aufgenommenen (mit 
Ausnahme der sog. „freiwilligen Pensionäre“ für welche der Erlass vom 17. 
Juni 1876 ad. 4 massgebend ist) muss erfolgen 

a) wenn dieselben geheilt sind oder 

b) obgleich dies nicht der Fall ist, sobald der rechtliche Vertreter der¬ 
selben die Entlassung fordert. 

c) In beiden Fällen jedoch hat sie, wenn der Kranke auf Antrag einer 
Gerichts- oder Polizei-Behörde in die Anstalt aufgenomnien worden ist, nicht 
eher zu erfolgen, als bis die betreffende Behörde ihre Zustimmung dazu 
ertheilt hat. 

d) Gemeingefährliche Irre dürfen nur entlassen werden, wenn ihre un¬ 
mittelbare Ueberführung in eine andere Irrenanstalt sicher gestellt ist und 
nach vorgängiger Benachrichtigung der Polizeibehörde desjenigen Ortes, in 
welchem die entlassende Irrenanstalt sich befindet. 

e) Von der erfolgten Entlassung eines Geisteskranken aus einer Privat- 
Irrenanstalt ist — soweit dies nicht durch die Anzeigen zu 3 c und d über¬ 
flüssig wird — denselben Behörden Anzeige zu machen, welchen die Aufnahme 
nach I, 2 angezeigt war. 

ä [eichen ist diesen Behörden anzuzeigen, wenn ein Kranker sich durch 
t der Anstalt entzogen hat oder gestorben ist. Auch betreffs dieser 



Bekanntmachungen. 


95 


Anzeigen (zu e) sind die betreffenden Behörden um Empfangsbestätigung zu 
ersuchen. 

II. Beaufsichtigung der Privat-lrrenanstalten. 

1. Behufs der Beaufsichtigung der Privat-Irrenanstalten sind dieselben 
fortlaufenden Revisionen zu unterwerfen. 

a) Die Revisionen erfolgen in der Regel durch den zuständigen Physikus 
oder statt desselben (z. B. wenn er selbst Arzt der Irrenanstalt ist) durch einen 
von der Landespolizeibehörde zu bestimmenden, psychiatrisch vorgebildeten 
ärztlichen Kommissar. 

b) Alljährlich ist jede Anstalt zwei Mal — einmal im Sommer und ein¬ 
mal im Winter — einer ordentlichen und zwar unvermutheten Revision zu 
unterziehen. Eines besonderen Auftrages bedarf der Physikus bezw. der Kom¬ 
missar zu der einzelnen Revision nicht. 

Ausserordentliche Revisionen können von der Landespolizeibehörde ange¬ 
ordnet werden, so oft sie dieselben für erforderlich erachtet. 

2. Ueber jede Revision ist der Landespolizeibehörde ein ausführlicher 
Bericht zu erstatten, bei welchem insbesondere folgende Punkte zu berück¬ 
sichtigen sind 

a) Zustand und Veränderungen der baulichen Einrichtung der Anstalt, 
soweit sie sanitäre Bedeutung haben. Art der Entwässerung und Entfernung 
der unreinen Abgänge. 

b) Zustand der Krankenräume (Schlafräume, Aufenthaltsräume, Isolir- 
räume) — Reinlichkeit derselben — Beschaffenheit der Luft (Reinheit, Tempe¬ 
ratur) — Erleuchtung — Zustand der Zimmer-Einrichtung (Lagerstätte! — der 
Sicherheits-Vorrichtungen an Fenstern, Thüren, — Art und Beschaffenheit der 
Badeeinrichtungen — Plätze zum Aufenthalt der Kranken im Freien. 

c) Die Kranken. — Derzeitige Bestand, Belegung der Räume (Ueberfüllung) 
— Trennung der Geschlechter — Zustand der Kranken (Reinlichkeit, Ernäh¬ 
rungszustand, Kleidung, etwaige Spuren von Verletzungen und deren muth- 
massliche Entstehung (Anwendung von Zwangsmitteln, Misshandlungen) 
geistiger Zustand — Beschwerden der Kranken — Geistliche Versorgung — 
besondere Vorgänge während der Berichtszeit (Unglücksfälle, Tod, Selbstmord. 
Flucht). — 

d) Personal der Anstalt: Aerzte (im Hause oder ausserhalb wohnend) 
Wärter — Wärterinnen — Wirthschaftspersonal. —- 

e) Registratur: Das Hauptjournal (Zugang, Abgang u. s. w.) — Personal- 
Akten für jeden einzelnen Kranken (Aufnahme-Antrag. Aufnahme-Atteste, Be¬ 
scheinigung der Aufnahme- und Abgangs-Anzeigen (I, 2 Schlusssatz, 1, 3 Schluss¬ 
satz), Nachweis der etwa erfolgten Entmündigung, Krankenjournal). 

3. Die Revision derjenigen Privat-Irrenanstalten, welche auch sog. „frei¬ 
willige Pensionäre“ aufnehmen (Erlass vom 17. Juni 1874) erfolgt von jetzt an 
auch in der vorstehend angeordneten Weise, jedoch mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Bestimmungen des genannten Erlasses. Die Kosten der 
Revisionen sind fortan von diesen Anstalten nicht mehr zu tragen. 

III. K onzessionirung von Privat-Irrenanstalten. 

Bei der Konzessionirung von Privat-Irrenanstalten ist auf dem durch das 
hierfür vorgeschriebenc Verfahren gebotenen Wege dahin zu wirken, dass von 
vornherein in Lage, Bau und Einrichtung der Anstalten den allgemeinen 
sanitären, sowie denjenigen besonderen Forderungen Genüge geschieht, welche 
zur Erreichung des Zweckes solcher Anstalten gestellt werden müssen. 

1. Insbesondere ist festzustellen, welches die Maximalzahl der gleichzeitig 
zu verpflegenden Kranken mit Rücksicht auf die Zahl und Grösse der einzelnen 
Räume, welche zum Aufenthalt der Kranken dienen sollen, sein darf. In der 
Regel sind mindestens 25 cbm Luftraum auf jeden Kranken zu rechnen. 

2. Ferner ist zu verlangen, dass die für die Geschlechter gesonderten 
Badeeinrichtungen einen der Zahl der Kranken entsprechenden Umfang haben. 

3. Dass in Krankenanstalten, welche heilbare Irre aufnehmen, mindestens 
ein Arzt wohnen muss. 

Der Minister des Innern. Der Justiz-Minister. 

Putt kam er. Fri edberg. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. 

Goss ler. 



Personalien. — Preußischer Meilicinalheamienverein. 




Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen wurden: Den Regierung*- und Medicinalräthen Dr. Richter 
in Erfurt und Dr. Zeuschner in Danzig der Charakter als Geheimer Medicinal- 
rath; den Kreisphysikern Dr. Wolke in Gnesen und Dr. Jung in Weener, 
<owie den praktischen Aorzten Dr. Jacoby in Bromberg, Dr. Osonicki in 
Posen, Dr. Drucke und Dr. Loh mann in Hannover der Character als Sanitats- 
rath. Dem Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Lew in zu Berlin wurde die Erlaubnis* 
zur Anlegung des ihm verliehenen Kommandeurkreuzes des portug. San Jago- 
Ordens vom Schwert, dem Geh. San.-Rath Dr. Scholz in Görlitz tür das 
Ritterkreuz I. KL des lierzogl. Sachsen-Ernestinisehen HauKordens ertheilt. 


Ernennungen: 

Der bisherige Kreiswundarzt Dr. Justi zu Idstein zum Kreisphysikus des 
Kreises Hünfeldt, der praktische Arzt Dr. Stern in Glogau zum Kreisphysikus 
des Kreises Bomst unter Anweisung sinne» Wohnsitzes in Wollstein; der seit¬ 
herige commissarische Verwalter der Kreiswumlnr/istelle des Kreises Labiau 
Dr. Herrmann in Mehlauken endgiltig zum Kreiswundarzt des gedachten 
Kreises; der Stabsarzt a. D. Dr. Claes zu Mühlhausen i. Th. zum Kreiswund¬ 
arzt des Kreises Mühlhausen, der prnct. Arzt Dr. Gustav Cohn in Breslau zum 
Kreiswundarzt des Kreises Meseritz. 

Verstorben sind: 

Kreisphysikus Sanitiitsrath Dr. Hecht in Neidenburg. (»eh. Med.-Rath 
Dr. Eitner in Oppeln und Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Wagner in Leipzig. 

Vakante Stellen. 

Kreisphysikate: Darkehnien, Neidenburg, Dirsclmu, Putzig, Briesen, 
Znin, Filehne, Witkowo, Gostyn, Jarotschin, Kosehmin, Li>sa, Neutomischel, 
Schildberg, Schmiegel, Liebenwerda, Mansfeldt (Gebirgskreis), Schleusingen, 
Gramm, Neustadt a. R., Adenau und Daun. 

KreiswundarztsteIlen: Fischhausen, Mohrungen, Darkehmen, Heyde- 
krug, Ragnit, Sensburg, Tilsit, Karthaus. Loebau, St uh in, Angermiiiule, Templin, 
Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West-Sternberg, Regenwalde, Bütow, Drain - 
burg, Scnievelbein, Meseritz, Schroda, Wresehen. Strehlen, Reichenbach, 
Jerichow I, Wanzleben, Saalkreis. Naumburg a. S., Koesfehlt, Steinfurt, Waren¬ 
dorf, Höxter, Warburg, Lippstadt, Meschede, Zell, Kleve, Solingen, Bergheini, 
Rheinbach, Wipperfürth und St. Wendel. 


Preu8sischer Medicinalbeamtenverein. 

Die Mitglieder des preussischen Medicinalbeamtenvereins werden gebeten, 
etwaige Vortritge, Discussionsgegenstände oder sonstige Wünsche für die dies¬ 
jährige Hauptversammlung dem Unterzeichneten Schriftführer des Vereines bis 
spätestens zum 1. April d. J. gefälligst anzeigen zu wollen. 

Der Vorstand des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

Im Auftr. 

Dr. Otto Rapmund, 

Reg.- u. Medicinalrath in Aurich, Schriftführer des Vereins. 


Fürstl. prlv. Hufbuchdruckerei (F. Mltzlaff), Rudolatadt. 




Jahrg. 1. 


Zeitschrift — 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medicinalrath in Aurich. 

and 


Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’: medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 


No. 4. 


Kreehelnt am 1. J e den Boaali. 

Preis jährlioh 6 Mark. 


1. April. 


INH 

Seite 

Orifirin&l-Mittheilunff en: 

Beschädigungen der Gesundheit daroh 


Elnathmang von Giften. Von Dr. 

Mittenzweig.97 

Bearthellang einer Sch&delflssar an einer 
aasgegrabenen Leiche. Von Prof. 

Dr. Llman.112 

Zar Frage der Deslnfectlonsapparate 

Von Dr. Mittenzweig.115 

Die Apotheken-Frage vor der Petitions- 
Kommission des Abgeordnetenhauses. 

Von Dr. Rapmund .116 


lLTs 

Seite 

Zur Frage der Zwangsimp fang impf- 
pflichtiger Kinder. Von Dr. Rapmand 190 

Ueber Einbalsamlren. Von Dr. Lenlfea 198 

Referate: 

Dr.E.Engelhoni, Schul gesundheitspflege 194 
Dr. M. Schulz, Impfang, Impfgesohift 


and Impftechnik.125 

Verordnungen und Verfügungen . 195 

Literatur.127 

Personalien.128 


Beschädigungen der Gesundheit durch Einathmung 

von Giften. 

Eiu Beitrag zur Casuistik der Blausäure-Vergiftung. 

Vom Stadtphysikus Dr. Mitteniweig-Berlln. 

Beschädigungen der Gesundheit durch Einathmung von Giften 
kommen vor sowohl als acute, als auch als chronische Störungen, 
und zwar — was besonders geeignet ist, Interesse zu erwecken 
— als chronische Störungen auch unter Umständen nach 
Einathmungen, welche nicht wiederholt, sondern nur hei 
einer Gelegenheit geschehen waren. 

Man kennt an Thatsachen dieser Art eigentümliche, ver¬ 
schiedentlich beobachtete Wirkungen der Einathmung von Koh¬ 
lenoxyd. Man weiss, dass mitunter nach Vergiftungen mit Koh¬ 
lendunst krankhafte Erscheinungen chronischen Charakters zur 
Entwickelung gelangen, bezw. Zurückbleiben: eine mehr oder 
weniger lange andauernde Benommenheit, Empfindungen von 













98 


Stadtpliysikus Dr. Mittenzweig 


Druck im Kopf, mehrfach wiederkehrende Gefühle von Schwindel, 
von Ohrensausen oder dergl., Abschwächung oder Verlust der 
Sensibilität der Haut an dieser oder jener Partie des Körpers, 
desgleichen Erscheinungen von Schwäche auf dem Gebiete der 
Motilität, leichtes Ermüden, Zittern oder selbst Lähmungen, sowie 
auch ausgesprochene Geistesstörungen, und zwar insbesondere 
solche vom Charakter der Manie oder des Blödsinns. So be¬ 
obachteten Hofmann und Röchelt einen (in der Nummer 49 des 
Jahrgangs 1875 der Wr. medic. Presse beschriebenen) Fall von 
Leuchtgas Vergiftung, in welchem primärer Blödsinn, verbunden 
mit Anästhesie und mit Parese, einen kräftigen Mann zufolge der 
Vergiftung befiel; dieser Fall endigte — jedoch erst nach vielen 
Monaten — mit Genesung. Man weiss des Ferneren, dass sogar 
auf Nekrose hinauslaufende circumscripte Ernährungsstörungen, 
sowie auch Veränderungen, welche eine Ausscheidung von Zucker 
durch den Harn bedingen, im Anschluss an eine durch Kohlen¬ 
oxyd verursacht gewesene Vergiftung mitunter auftreten*). Die 
Fälle pflegen allmählich in Genesung überzugehen; jedoch kommt 
es auch bisweilen vor, dass Störungen der einen oder der anderen 
Art oder sogar Geistesschwäche zeitlebens bestehen bleiben. 

Ich erwähne auch als ebenfalls einigermassen hierher gehörig 
das Symptomen - Bild, welches bekannt ist unter dem Namen 
der „Minenkrankheit“. 

In dem Hinblick auf diese und derartige über Kohlenoxyd 
vorliegende Erfahrungen sollen die nachfolgenden Mittheilungen 
Analoges in Betreff eines dem Kohlenoxyd (CO) sowohl in 
Bezug auf die chemische Constitution, als auch in An¬ 
sehung der physiologischen acuten Wirkung nicht unähn¬ 
lichen anderen Giftes, nämlich des Cyan’s (C N), bezw. ge¬ 
wisser Cyanverbindungen (C N H, KCN S K Cy, pp.) berichten. 

Bekannt ist nicht nur, dass die Blausäure bei vollständiger 
Entfaltung ihrer Wirkung plötzlich oder sehr schnell den Tod 
herbeifuhrt, sondern auch, dass sie — unter anderen Umständen 
— geeignet ist, weniger heftige Erscheinungen von Vergiftung 
zu verursachen. Es heisst in dieser Beziehung in einem Aufsatze 
über Cyan in dem von Eulenberg herausgegebenen Handbuche des 
öffentlichen Gesundheitswesens, Berlin, 1881 I. S. 551: ,Kleinere 
Mengen, z. B. mit Luft verdünnte wasserhaltige Blausäuredärapfe 
in Färbereien, bei der Woll- und Seidenfärberei mit Bleu de 
France, bei der Kattundruckerei, in chemischen Farbenfabriken 
bei Darstellung der sog. Dampf-Farben, in galvanischen Vergol- 
dungs- und Versilberungs- und in photographischen Anstalten 
bewirken Kratzen im Halse, Ohrensausen, Kopfschmerz, Schwindel, 
Uebelkeit, Erbrechen, Dypsnoe, Herzklopfen und trockenen Krampf¬ 
husten. Je nach der Menge des in den Organismus aufgenommenen 
Giftes verschwinden die Erscheinungen in längerer oder kür¬ 
zerer Zeit.“ 


*) Eulenberg, Handln d. off. Gesund heit.sw. Berlin 1881. TT. .8. 248 u. 249. 



BeschPuligungt'u der Gesundheit durch Einathnmng von Giften. 


99 


Nach diesen Vorbemerkungen sollen die nachfolgenden Mit¬ 
theilungen berichten über zwei Fälle von Vergiftung durch Blau¬ 
säure, welche besonders bemerkenswertli erscheinen wegen einer 
eigenthümlichen in denselben von Seiten der Blausäure ausge¬ 
gangenen Einwirkung auf das Nervensystem. Der erste dieser 
Fälle ist beschrieben von dem Professor, Medicinalrath und 
Landgerichtsarzt Dr. Martin zu München in Friedreichs Blättern 
für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei, XXXIX. Jahrgang 
I. Heft. Der zweite Fall wurde kürzlich von mir beobachtet. 

Martin erwähnt zunächst, bei Würdigung der in Betracht 
kommenden Litteratur, eine Angabe Tardieu’s in dem Werke 
desselben „die Vergiftungen in gerichtsärztl. und klin. Bez. Deutsche 
Ausg.“, Erlangen 1808: „es kämen Fälle vor, in welchen die Blau¬ 
säure zu wiederholten Malen während eines mehr oder weniger 
langen Zeitraumes gegeben werde; ohne Zweifel vermöge sie auf 
diese Weise allmählich eine mehr oder weniger tiefe Störung der 
Gesundheit herbeizuführen, doch sei er nicht in der Lage, genau 
anzugeben, welche Zufälle bei dieser Anwendungsweise hervorge- 
rufen werden und in welcher Reihenfolge dieselben auftreten,“ 
In dem Martin’schen Falle hatte die 21 Jahre alte, kräftige und 
gesunde, insbesondere nicht mit krankhaften Erscheinungen im 
Nervensystem behaftete, sowie auch nicht irgendwie erblich be¬ 
lastete Dienstmagd A. K. am 20. und am 27. März 1886 eine 
Arbeit verrichtet, durch welche sie in die Lage gelangt war, 
Blausäure und Staub von Cyankalium einzuathmen. Die am 20. 
März zwei bis drei Stunden und am 27. März eine halbe Stunde 
lang verrichtete Arbeit bestand in einem Abreiben und Abbürsten 
von Metallgegenständen, auf welche zum Zwecke einer Versilbe¬ 
rung eine aus Kreide und Cyausilber-Cyankaliura bereitete Masse 
aufgetragen war. Schon nach der Arbeit am 20. März wurde die 
A. K. von allgemeiner Mattigkeit befallen; sie erschien während 
der nächsten Tage ihrer Umgebung schlaff, blass, ermüdet und 
appetitlos. Während und nach der Arbeit am 27. März stellten 
sich ein: hochgradige Mattigkeit, das Gefühl von Kratzen im 
Halse, innere Unruhe, die Neigung, fortwährend (im Bette) die 
Lage zu wechseln. Am 28. März stellte der prakt. Arzt Dr. Marx 
bei Untersuchung der A. K. fest: Keine Erhöhung der Tempe¬ 
ratur, eine äusserst auffällige, jedoch mehrfach mit Röthung wech¬ 
selnde Blässe des Gesichts, Hüsteln und leichtes Würgen, wech¬ 
selnde Frequenz des Pulses, Kleinheit desselben, auffällige Schwäche 
der Herztöne, Geruch des Athem’s nach Blausäure, grosse Schwäche 
in den Extremitäten, Unfähigkeit zu gehen oder auch nur zu 
stehen, geringe Herabsetzung der Sensibilität der Haut, Ver- 
grösserung der Tastkreise, Zusammenfahren bei Geräuschen. 

Die A. K. musste seitdem dauernd in ärztlicher Behandlung 
verbleiben. Die Anzeichen von Hinfälligkeit wurden nur sehr 
allmählich geringer; Appetitlosigkeit, Stuhl Verstopfung und Schlaf¬ 
losigkeit erhielten sich lange Zeit. Es heisst im Krankenbericht 
unterm 12. April: „die Kranke kann mit Unterstützung und Füh¬ 
rung einige Schritte gehen; die Patellarreflexe mangeln rechts 

7* 



100 


Stadtpliysikus Dr. Mittenzweig. 


und sind links nur schwach; zeitweiliger Kopfschmerz“, ferner 
unterm 17. April: „Schlaf noch äusserst kurz, von schweren 
Träumen und dem Gefühle des Versinkens unterbrochen“, unterm 
25. April: „die Kranke ist zum ersten Male unter Begleitung 
ausgefahren, doch bekam sie während der Fahrt einen leichten 
Ohnmachts-Anfall“, unterm 2. Mai: „die Kranke kehrt von klei¬ 
neren Wegen jedes Mal äusserst erschöpft und nur mit Nachhilfe 
zurück; grosse Herz-Schwäche; das Gesicht ist sehr blass, jedoch 
oft schnell wieder congestionirt, Füsse und Hände kühl“, unterm 
22. August: „Blutarmuth, Müdigkeit, Unruhe besonders nach dem 
Essen, Treppensteigen sehr mühsam, schlaffer Gang, schwache 
Herztliätigkeit, fast absolute Schlaflosigkeit“, sowie unter’m 2. 
September: „die Kranke ist jetzt hinfälliger, als zu Ende des 
Monats Mai“. 

Demnächst wurden Martin, sowie behufs elektrischer Be¬ 
handlung der prakt. Arzt Dr. von Hösslin consultirt. Man fand 
bei einer hiernach gemeinsam vorgenomraenen Untersuchung am 
8. Oktober: auffallend schwache Herz-Thätigkeit, schlaffen Gang, 
Verringerung der motorischen Kraft, Blutarmuth und stark wech¬ 
selnde Füllung der Blutgefässe im Gesicht. Demnächst wurde 
Entartungs-Reaction an der rechten unteren Extremität wahrge¬ 
nommen, sowie Verminderung der Reaction der Haut, Muskeln 
und Nerven der rechten Körperhälfte, insbesondere der unteren 
Extremität auf alle electrischen Ströme. Der Verlauf der Er¬ 
krankung war auch weiterhin langwierig; denn noch eine Mit¬ 
theilung vom November 1887 besagt, dass Reste der schweren 
nervösen Erkrankung noch immer bei der A. K. vorhanden seien. 

Der Fall ist auch zur gerichtlichen Cognition (zufolge einer 
von der A. K. wegen Entschädigung bei dem Landgerichte I zu 
München angestrengten Klage) gelangt. Als Sachverständige 
wurden in diesem Processe vernommen: als Chemiker der Prof. 
Dr. von Baeyer, sowie als Aerzte der Dr. Marx, der Dr. von 
Hösslin, der Professor Dr. J. Bauer und der Landgerichtsarzt 
Dr. Messerer. Von den Bekundungen dieser Sachverständigen 
ist — abgesehen von dem, was schon angeführt ist — das Fol¬ 
gende hervorzuheben. Der Dr. Marx bekundete, dass er die A. K. 
vor ihrer Erkrankung als eine gesunde und robuste Person 
gekannt habe. Der Dr. von Hösslin betonte, dass von Hysterie, 
auf welche Neurose er vom Anfänge an sein Augenmerk gerichtet 
habe, Symptome nicht vorhanden seien. Der Prof. Dr. Bauer 
hob ebenfalls hervor, dass keine hysterische Grundlage für den 
Krankheitszustand vorliege und dass das Symptomen-Bild nicht 
den gewöhnlichen, spontanen Erkrankungen entspreche. Dem 
Klage - Anträge der A. K. wurde durch Erkenntniss des Landge¬ 
richtes, sowie auch — auf die demnächst von der Beklagten ein¬ 
gelegte Berufung — durch Erkenntniss des Oberlandesgerichtes 
stattgegeben. 

Hiermit ist im grossen Ganzen der Thatbestand des Martin- 
sehen Falles aufgeführt. Unzweifelhaft hat Martin der Toxi- 
cologie einen Dienst durch Veröffentlichung dieses Falles erwiesen. 



Beschädigungen der fiosundheit durch Einatliinung von (litten 101 


Die Schlussfolgerungen Martin’s gehen dahin: 1) das Einathmen 
von Blausäure kann eine mehr oder weniger tiefe und anhal¬ 
tende Störung der menschlichen Gesundheit herbeiführen; 2) die 
Vergiftungs - Erscheinungen sind acute und chronische. Acute 
Symptome sind: Geruch nach Blausäure, Zeichen von Beizung in 
den Athmungs- und Verdauungs-Organen, Herzschwäche, Störungen 
in dein Bereiche der Motilität, Sensibilität, sowie des Allgemein¬ 
befindens, Mattigkeit, Kopfschmerz, Gefühle von Schwindel und 
von Versinken, Mangel an Schlaf. Chronische Symptome sind: 
Zeitweise auftretende Kopf- und Kreuzschmerzen, äusserste Mattig¬ 
keit und Hinfälligkeit, schlaffer schleppender Gang, Gefühl von 
Kraftlosigkeit und körperlicher Insufficienz, Energielosigkeit des 
Herzens, Abschwächung der Sensibilität der Haut, vergrösserte 
Tastkreise, Schwäche in den willkürlichen Muskeln und Entar- 
tungsreaction in denselben, zeitweiliges Unvermögen, umherzu¬ 
gehen oder nur längere Zeit zu stehen, Abschwächung der Sehnen¬ 
reflexe, Verminderung der Reaction in Haut, Muskeln und Nerven 
auf alle electrischen Ströme, Mangel an Schlaf, häufiger Mangel 
an Esslust und Zeichen von Blutarmuth. 

Martin hat noch im Uebrigen an einen von Dr. G. Martius 
im Bayrischen ärztl. Intelligenzblatt, Jahrgang 1872 S. 135, mit- 
getheilten Fall von Vergiftung durch „Argentine“ erinnert. Eine 
35 Jahre alte Dame hatte am 14. Februar Mittags etwa */* Stunde 
lang Metall - Gegenstände mittels eines mit Argentine getränkten 
Läppchens abgerieben. Eine bis zwei Stunden später wurde sie 
von Kopfweh und von einem Gefühl von Kratzen im Halse be¬ 
fallen; darauf stellten sich Mattigkeit, Ausbruch von Schweiss, 
Brechneigung und Erbrechen ein; das Uebelbefinden hielt auch 
am 15. Februar an, und steigerten sich demnächst die Beschwerden 
dermassen, dass in der Nacht vom 15. zum 16. Februar die Hülfe 
des Dr. Martius in Anspruch genommen wurde. Der Ehemann, 
welcher sich ebenfalls mit dem Abreiben und zw r ar am 14. und 
am 15. Februar, jedoch immer nur wenige Minuten beschäftigt 
hatte, war ebenfalls von Kopfweh, Uebelkeit und Abgeschlagen- 
heit befallen worden; die Dauer seines Uebelbsfindens erstreckte 
sich auf 3 Tage. Die Argentine-Flüssigkeit erwies sich als eine 
Mischung von Cyansilber, Cyankalium und Kreide. 

Ausserdem erwähnt Martin, dass es bei Gelegenheit einer 
von ihm gehaltenen Vorlesung über blausäurehaltige Arzneimittel 
vorgekommen sei, dass der Erste der Zuhörer, welcher ein mit 
einigen Stücken Cyankalium gefülltes und ein Semester hindurch 
geschlossen gewesenes Glas geöffnet und tüchtig in dasselbe 
hineingerochen habe, sogleich bewusstlos zusammengesunken sei. 

Was den oben angekündigten, von mir beobachteten Fall 
betrifft, so handelt es sich in diesem um eine ebenfalls erblich 
nicht belastete Person, und zwar um einen 32 Jahre alten, mir 
genau bekannten Arzt. Ich verkehrte sehr vielfach mit dem¬ 
selben seit dem Oetober 1886. Derselbe machte mir stets den 
Eindruck eines kräftigen, blühenden, arbeitsfreudigen und lebens¬ 
frischen Menschen, so dass ich sogar im Scherze zu ihm gelegent- 



102 


Stadtphysikus Dr. Mittenzweig. 


lieh sagte, dass er körperlich gedeihe, wie Jemand, der sieh 
einigermassen das Leben bequem mache. Im Verhalten dieses 
Mannes wurde mir im October 1887 eine seitdem mehr und mehr 
bemerkbare Erschlaffung auffällig, welche sich kundgab in einer 
eigenthüralieben Blässe der Gesichtsfarbe, in einem Hängenlassen 
des ganzen Körpers, in einer offenbaren Kraftlosigkeit der Bewe¬ 
gungen, in einer überall hervortretenden Neigung, sich sobald als 
möglich, und so viel, als thunlich, zu setzen und thunlichst alle 
Geschäfte im Sitzen zu erledigen, in einer ungewöhnlichen Art 
und Weise, beim Stehen sich hier oder dort mit den Händen zu 
stützen, sich mit den Händen am Tisch beim Herumgehen um 
einen solchen anzufassen, in einer Neigung, ans Fenster zu treten 
und frische Luft zu schöpfen, in einer absonderlichen Empfind¬ 
lichkeit gegen Ueberheizung des Zimmers, in Zeichen von voll¬ 
ständiger Ermattung nach Geschäften von etwas längerer Dauer 
und dergl. 

Der Mann fing auch an, über sein Befinden zu klagen. Er 
äusserte Derartiges zum ersten Male gegenüber einem Fremden 
am 28. Oktober 1887; er sagte damals, dass er sich seit unge¬ 
fähr vier Wochen krank fühle. Man tröstete ihn damals mit 
einem Hinweise darauf, dass ja wohl ein Mal im Leben eines 
jeden Menschen Eigenthümliches vorkomme und dass ja noch 
nichts gegen die Erkrankung gebraucht worden sei. 

Die subjectiven Erscheinungen der Erkrankung waren fol¬ 
gende: Anwandlungen zu Ohnmächten bei den verschiedensten 
Gelegenheiten im Hause und ausserhalb des Hauses, beim 
Essen, wie beim Arbeiten, zu Hause am Schreibtisch, wie beim 
Verkehr mit Anderen und ganz besonders beim Stehen, sowie 
namentlich beim Gehen auf der Strasse. Der Patient gab an, 
dass er sich mit besonderer Aufbietung des Willens gegen das 
Ohnmächtigwerden in den verschiedensten Situationen wehren 
und dass er sich oft geradezu anstrengen müsse, um das Bewusst¬ 
sein zu behalten darüber, an welchem Orte er sich jeweils be¬ 
finde. Fernere Erscheinungen waren: Flausein nach Verrichtung 
der Stuhlentleerung, Steigerung der OlinmaclitsanWandlungen nach 
den Mahlzeiten, Herzklopfen und abnorme Empfindungen solcher 
Art, als ob unregelmässige Schläge erfolgten, namentlich bei Ge¬ 
legenheit des Aufrichtens Morgens im Bett, nach dem Aussteigen 
aus der Droschke oder bei dergleichen Anlässen, ferner ein Be- 
dürfniss, thunlichst auf halbe Stunden auf dem Sopha eine hori¬ 
zontale Lage aufzusuchen, ferner eine Kühle der Hände, welche 
den Patienten veranlasste, dieselben auf besondere Weise künst¬ 
lich zu erwärmen, sowie ferner Zittrigkeit in den Beinen. Ausserdem 
machten sich mitunter Kopfschmerzen und eine sich mehrfach auf 
die ganze Dauer der Nacht erstreckende Schlaflosigkeit nament¬ 
lich während der zweiten Hälfte des October, sowie während der 
ersten Hälfte des November bemerkbar. Insoweit Patient — seit 
Anfang October — versuchte, Spaziergänge zu unternehmen, 
wurden die Ohnmachtsanwandlungen, je länger er ging, gesteigert, 
um regelmässig den höchsten Grad auf dem Rückwege zu er- 



Boöchädigu ngon der Gesundheit durch Einathmung von Giften. 103 


reichen. Sonst pflegte Patient so viel als möglich alle Wege 
mittelst Droschke zurückzulegen und in der Droschke bewegungs¬ 
los — den Körper lang gestreckt — während der ganzen Dauer 
der Fahrt zu verharren. Aufstehen, nachdem er gesessen hatte, 
pflegte das Befinden zu verschlechtern. 

Patient schleppte sich in dieser Weise Monate hin. Man 
hatte sich verschiedentlich über die Ursache der Erkrankung den 
Kopf zerbrochen. Man fahndete zunächst, da der Anfang der 
Erscheinungen ein plötzlich um eine bestimmte Zeit gege¬ 
bener gewesen war, darauf, ob man nicht eine Schädlichkeit er¬ 
mitteln könne, welche plötzlich um jene Zeit eingewirkt habe. 

Das Schlafzimmer war neu tapeziert worden. Man dachte 
daran, dass die neue Tapete die Schädlichkeit enthalte. Darauf 
wurde an einem Abend ein an Gas erinnernder Geruch in dem 
Schlafzimmer bemerkt; man dachte an eine Undichtheit der übri¬ 
gens gar nicht in Benutzung befindlichen Leuchtgas-Leitung; 
man räumte jenes Zimmer. Ferner dachte man an einen Ein¬ 
fluss von Seiten der Heizung; denn der Beginn der Erscheinun¬ 
gen schien zusammenzufallen mit der Zeit, in welcher man ange¬ 
fangen hatte, die Stuben zu heizen; Patient pflegte deshalb (im 
October) ein Fenster in dem Zimmer, in welchem er sich aufhielt, 
offen zu halten. Man dachte auch an eine etwaige ursächliche # 
Beziehung eines Stosses, welchen Patient am Kopfe von Seiten* 
einer Hängelampe um die fragliche Zeit erlitten hatte. Man 
dachte sogar an eine etwa in dem genossenen Cacao befindliche 
Schädlichkeit. 

Als alle diese Vermuthungen sich als haltlos erwiesen, fing 
man an, in Erwägung zu nelimen, ob es möglich sei, dass es sich 
etwa um eine Herzschwäche handle, welche vielleicht zurück- 
datire darauf, dass Patient einen Rückfalltyphus 1880, sowie 
einen Darmtyphus 1882 durchgemacht hatte. Indessen sprach 
gegen eine dahin gehende Annahme der Umstand, dass Patient 
eine (notorischer Weise) sehr rege gewesene Thätigkeit in den 
sämmtlichen Jahren nach diesen typhösen Erkrankungen ohne 
eine Beschwerde der angegebenen Art hatte entfalten können. 
Er hatte auch niemals — seit der Genesung von dem letzten 
Typhus — wieder seinetwegen Veranlassung gehabt, einen Arzt 
zu consultiren. Eine Untersuchung seines Herzens hatte zum 
letzten Mal in der Zeit seiner Reconvalescenz von dem Darm¬ 
typhus 1882 stattgefunden; man hatte bei dieser Untersuchung 
Abweichendes so wenig, wie in noch früherer Zeit percutorisch 
oder auscultatorisch wahrgenommen. 

Abgesehen von einer etwaigen ursächlichen Beziehung der 
Typhen erwog man, ob vielleicht die seit Anfang October 1887 
bestehende Erkrankung eine Folge von geistiger Ueberarbei- 
tung sei. Verschiedene der krankhaften Erscheinungen schie¬ 
nen für diese Annahme zu sprechen. Andererseits fehlte es 
nicht an Gründen, welche einigermassen gegen dieselbe in’s 
Gewicht fielen. Patient war ein Mensch, welcher früher die 
Thätigkeit, die ihm oblag — wenn man so sagen soll — spielend 



104 


Stadtphysikus Dr. Mittenzweig. 


vemchtet hatte. Es war einigermaßen unwahrscheinlich, dass 
die augenscheinlich ihm jederzeit leicht gefallene Arbeit auf ihn 
so angreifend sollte eingewirkt haben, dass sie Erscheinungen 
von Siechthum nach Art der angegebenen hätte verursachen 
sollen. Deutete schon dieser Umstand darauf, dass etwas An¬ 
deres, als die Arbeit das schädliche agens gewesen sei, so war 
auch des Ferneren nicht zu verkennen, dass einige der Erschei¬ 
nungen abwichen von dem Bilde, welches man hätte erwarten 
sollen von Seiten eines durch Abarbeiten hinfällig gewordenen 
Gehirnes. Patient leistete geistige Arbeit, und zwar solche, 
welche gleich mit seiner früheren in Bezug auf die Schnelligkeit 
und die Vollständigkeit des geistigen Auffassens rangirte, auch 
auf der Höhe der Krankheit; es war nicht bei ihm eine Unlust 
zu geistiger Arbeit oder ein Nachlass der geistigen Spann¬ 
kraft vorhanden insoweit, als es sich um Verrichtungen han¬ 
delte, bei und vor welchen er in der Lage war, körperlich 
Ruhe einzuhalten. Dahingegen standen im Vordergründe die Er¬ 
scheinungen von Energielosigkeit des Herzens und von 
Schwäche der Muskeln. War schon auf diese Weise das 
Wesen des Symptomenbildes einigermassen gekennzeichnet, so fiel 
noch vollends in’s Gewicht, dass die Erscheinungen der Erkran¬ 
kung nicht etwa sich allmählig entwickelt, sondern um eine 
bestimmte Zeit plötzlich eingesetzt hatten, und dies zu einer 
Zeit, in welcher Patient in einem besonderen Masse (wenige 
Wochen nach Rückkehr von einer Sommerreise) frisch, von vor¬ 
trefflicher Gesichtsfarbe und arbeitsfreudig erschienen war. 

So war und blieb es unklar, wo der Ursprung der seit An¬ 
fang October hervorgetretenen Erkrankung zu suchen war. 
Patient wurde inzwischen mehr und mehr schlaff’, sowie die Blässe 
seiner Gesichtsfarbe, welche ich nur mitunter mit einem an ihm 
früher nie bemerkten bläulichen Aussehen wechseln sah, eine 
mehr und mehr augenfällige. Hinzukam, dass die arhythmischen 
Herz-Empfindungen immer stürmischer auftraten. Schliesslich ge¬ 
nügten Wege von nur etwa 250 Schritten, um die Arhythmieen un- 
verhältnissmässig zu steigern, sowie zugleich eine starke Beschleu¬ 
nigung der Pulsfrequenz und die bläuliche Alteration der Ge¬ 
sichtsfarbe herbeizuführen. Die unter diesen Umständen am 8. 
und am 9. Februar 1887 meinerseits vorgenommene ärztliche 
Untersuchung ergab: Der Körperbau ist kräftig, die Ent¬ 
wickelung des Unterhautfettes dem Lebensalter angemessen, die 
Gesichtsfarbe bleich; jedoch ist keine besondere Blutarmuth an 
den sichtbaren Schleimhäuten auffällig. Die Frequenz der Athmung 
und des Pulses wechseln stark, je nachdem Patient Ruhe ein¬ 
gehalten oder sich einer Anstrengung unterzogen hat. Im letz¬ 
teren Falle jagt der Puls und wechselt in Bezug auf Frequenz, 
Intensität, Härte und Curve. Die Percussion des Herzens ergiebt 
fast normale Dämpfung; die letztere rückt nur ein wenig zu weit 
nach rechts, sowie vielleicht nach oben vor. Der Herzstoss er¬ 
weist sich, obgleich das Fettpolster der Brustdecken nicht erheb¬ 
lich ist, als äusserst matt; derselbe ist fühlbar, jedoch nicht 



Beschädigungen der Gesundheit durch Einathmung von Giften. 105 


sichtbar. Die Herztöne erweisen sich an den sämmtlichen vier 
Stellen als rein in ihrer Beschaffenheit; jedoch sind dieselben 
wechselnden Charakters. Nach einigen normalen Doppeltönen von 
gleicher Beschaffenheit und mit gleichen Zwischenräumen hört und 
zählt das Ohr leisere, weniger kräftige, weichere, fast verschwin¬ 
dende Töne, von welchen hin und wieder einige vollständig aus- 
bleiben. Dann wieder setzen dieselben hart und scharf ein, um 
alsbald wieder in der beschriebenen Weise zu wechseln. An den 
Gelassen fühlt man keine Veränderung der Wandung oder des 
Kalibers; auch die sonstige Untersuchung und insbesondere auch 
diejenige derHaut, und der Drüsen, sowie des Nervensystems lässt An¬ 
zeichen oder Residuen einer Erkrankung nicht auflinden. Desgleichen 
fehlen perverse Erscheinungen von Seiten der Sinnesorgane oder 
Ovarie. Eine Untersuchung des Verhaltens der Muskeln pp. 
gegenüber dem electrischen Strom musste vorläufig wegen Hin¬ 
fälligkeit des Patienten unterbleiben. 

Die Erkrankung war in das geschilderte Stadium gelangt, 
als mir über die Ursache derselben die Augen aus Anlass der 
Martin’schen Mittheilung geöflhet wurden. Patient hatte um 
die Zeit, seit welcher der Beginn seiner Erkrankung datirt, die 
Obduction der Leiche eines Arbeiters vorgenommen, welcher in 
ganz ungeheuren Mengen Cyankalium genommen hatte. 

Mau eruirte, dass diese Obduction am 26. September .1887 
stattgefunden hatte. Der damals noch — wie gesagt — lebens¬ 
frische Arzt führte die Obduction allein, d. h. ohne wesentliche 
Beihülfe eines Anderen aus. Der Fall erwies sich, wie bemerkt, 
als ein unter Anwendung ganz ungeheuerer Mengen von 
Cyankalium unternommener Selbstmord. Die Leiche ver¬ 
breitete starken Geruch nach Blausäure, schon als sie 
in das Zimmer hereingefahren wurde. Man öffnete auch in 
Folge dessen die Fenster. Der Geruch wurde ein ausser¬ 
ordentlich intensiver, nachdem der Obducent mittels des 
ersten Schnittes die Bauchhöhle eröffnet hatte. Der 
Obducent glaubte gleichwohl, dass er einer Gefahr für seine Ge¬ 
sundheit durch ein wiederholentliches Abwenden seines Gesichtes 
von den Höhlen der Leiche werde Vorbeugen können. Die 
Dauer der Obduction erstreckte sich auf ungefähr drei 
Stunden. Dem Obducenten wurde während der Ausführung der¬ 
selben wiederholentlieh in einer absonderlichen Weise zu Muthe 
dermassen, dass er (während der Obduction) gegenüber anderen 
Personen, sowie mir gegenüber äusserte: „Mir ist so eigen- 
thümlich.“ Er ging auch aus diesem Anlass eine kurze Zeit 
in’s Freie. Er klagte ausserdem, wie ich mich erinnere, zu wieder¬ 
holten Malen während der Obduction darüber, dass er im Halse 
und in der Brust ein intensives Gefühl von Kratzen empfinde. 
Man vermuthete, dass dieses Kratzen wohl dadurch bedingt werde, 
dass sich Ammoniak aus dem Magen der Leiche entwickele. 
Einen unangenehmen stechenden Geruch habe ich ebenfalls, ob¬ 
gleich ich mich abseits von jener Leiche befand, während jener 
Stunden empfunden. 



106 


Stsultphysikus Dr. Mittenzweig. 


Man eruirte im Uebrigen, dass Patient einige Stunden 
nach jener Obduction gegenüber einem anderen Collegen 
geäussert hatte: „Mir ist so schlecht, mir wird hoffentlich 
nichts passiren.“ Jener College antwortete: „Sie müssen viele 
Stunden laufen.“ Jedoch konnte Patient diesen Rath wegen der 
Eigenthümlichkeit seines Befindens nicht befolgen. DeR Ferneren 
klagte er noch während des ganzen Abends über das erwähnte 
intensive Gefühl von Kratzen im Halse und in der Brust. 

Andererseits vermag er sich nicht zu erinnern, wie er sich 
an dem folgenden Tage, dem 27. September, befunden hat. 
Dahingegen entsann er sich eines bestimmten von ihm verrichteten 
Geschäftes als des ersten, rücksichtlich welches er wusste, dass 
er bei Erledigung desselben elend gewesen war. Er war sogar 
bei dieser Gelegenheit (im Zimmer) gestrauchelt. Man eruirte 
bei Nachforschung, dass der Tag, an welchem die Verrichtung 
dieses Geschäftes stattgefunden hatte, der 28. September gewesen 
war. Des Ferneren entsann sich Patient bestimmter Anlässe, bei 
welchen er Ohnmachtsanwandelungen zum ersten Male beim 
Schreiben erlebt hatte. Es stellte sich heraus, dass diese Vor¬ 
kommnisse der ersten Hälfte des October angehörten. 

Andererseits erinnerte sich Patient eines bestimmten Sonn¬ 
tages insofern, als er an einem solchen eine grössere schriftliche. 
Arbeit zum letzten Male bei gutem Befinden verfasst hatte. 
Man konnte bei Nachforschung feststellen, dass dieser Tag der 
25. September gewesen war und dass Patient jene Arbeit noch 
am selben Nachmittage zu Ende gefühlt und weiter gegeben und 
dass er noch an demselben Abend die Kirche besucht hatte. 
Dahingegen hatte er von seinem sonst regelmässigen Kirchen¬ 
besuche seit Mitte October vollständig desshalb abstehen müssen, 
weil ihm in einer eigenthümlichen Weise in der Kirche, und zwar 
namentlich beim Aufstehen zur Liturgie etc., schwank zu Muthe 
wurde. 

Patient war ein robuster Fussgänger gewesen. Er hatte 
Bergmärsche während seiner Sommerreise und zwar bis zu 
9 Stunden auf den Tag zu wiederholten Malen im August 1887 
mit Vergnügen ausgeführt. Er war geradezu als ein Bild von 
Gesundheit im September beglückwünscht worden. Er hatte 
noch an einer Landpartie im September mit Vergnügen Theil 
genommen. Dahingegen hatte er sich seit Anfang October 
ohne Ohnmachtsanwandelungen auf der Strasse oder — insoweit 
er es versuchte — auf der Promenade niemals bewegt. Er 
erinnerte sich eines bestimmten Spazierganges als desjenigen, bei 
welchem ihn die erste stärkere Ohnmacht befallen hatte. 
Man eruirte, dass dieser Spaziergang an einem der ersten Tage 
des October stattgefunden hatte; Patient war von diesem Gange 
erst nach wiederholtem Ruhen auf Bänken, bedeckt mit kaltem 
Schweisse und förmlich an Zäunen und Sträuchern tastend zurtick¬ 
gekehrt. 



ISocchiuligungi'U «l<*r <lesmitllieit durch Einatlmmng von Giften. 


107 


Er hatte früher seine Geschäfte, wie schon bemerkt, mit 
Leichtigkeit und auch vorkommenden Falls bei vollem 
Magen ohne Beschwerde verrichtet. 

Dahingegen trieb ihn das Einnehmen der Mahlzeiten seit 
der Zeit des Beginnes seiner Erkrankung dem Eintritte der 
Ohnmächten bei gleichzeitiger Alteration seiner Gesichtsfarbe 
regelmässig entgegen. Ferner war unter noch vielem Anderen 
charakteristisch, dass Patient, welcher früher Kaffee zur gewohnten 
Zeit ohne Anstoss getrunken hatte, dieses Getränk, weil er das¬ 
selbe plötzlich nicht mehr vertrug, um Mitte October hatte 
aussetzen müssen. 

Es erhellte aus diesen Ermittelungen, dass zeitlich der 
Beginn der Erkrankung zusammenfiel mit dem Zeitpunkt der¬ 
jenigen Arbeit, welche dem Patienten die Gelegenheit zu einer 
Blausäurevergiftung in einem hohen Masse dargeboten hatte. 
Dass thatsächlich das genannte Gas sich aus dem Cyankalium 
der Leiche und in einer grossen Menge entwickelte, ist unzweifel¬ 
haft nach Lage der Sache und nach dem Gerüche, welchen die 
Leiche verbreitete. Des Ferneren spricht die Dauer der Obduction 
dafür, dass auch thatsächlich der Obducent eine grosse Menge des 
Giftes in sich durch Einathmung aufgenommen hat. Ich erinnere 
im Uebrigen an die Erscheinungen, welche bei ihm schon während, 
sowie sogleich nach dem Einathmen auftraten. 

In Erwägung aller Umstände wird man nicht über die Ursache 
der Erkrankung meines Patienten einem Zweifel Raum geben 
können, insbesondere wird man nicht einen Zweifel in dieser 
Beziehung herleiten daraus, dass man nicht jede einzelne der 
in dem Martin’schen Falle beobachteten Erscheinungen in dem 
m einigen als ebenfalls fest gestellt wiederfindet. Man wird 
berücksichtigen müssen, dass in meinem Falle die Menge des 
geathmeten Giftes nicht eine ebenso grosse, wie in dem Münchener 
gewesen sein wird, dass in meinem Falle die Einathmung nicht, 
wie in dem Münchener zwei Mal, sondern nur ein Mal geschehen 
war, dass mein Patient die gasförmige Blausäure allein und da¬ 
gegen die A. K. diese und ausserdem Staub von Cyankalium 
in sich aufgenommen hatte. Ueberdies weiss man in Betreff von 
Vergiftungen mit anderen Stoffen, wie in Betreff der acuten Ver¬ 
giftung mit Blausäure selbst, dass nicht immer die Erschei¬ 
nungen — selbst unter sonst übereinstimmenden Verhältnissen — 
ganz die gleichen sind. Es erscheint in dem Hinblick hierauf 
belanglos, dass man nicht auch bei meinem Patienten, wie bei 
der A. K. einen Geruch der Ausathmungsluft nach Blausäure 
seiner Zeit festgestellt hat, dass ein acutes Stadium nicht so 
prägnant, wie in dem Münchener Falle hervorgetreten ist und 
dass man nicht jedes einzelne der Symptome des Münchener 
Falles in dem meinigen nach den geschehenen Feststellungen 
wiederfindet. 

Man wird dahin gedrängt, das Ergebniss der Ermittelungen 
in dem Hinblick auf alle Gesichtspunkte dahin zusammenzufassen: 



108 


Stadtphyaikus Dr. Mittenzweig. 


Es ist als Thatsache durch Erfahrungen festgestellt, dass Ein- 
athmungen von Blausäure geeignet sind, krankhafte Erscheinungen 
nach Art der angegebenen herbeizuführen. Ich sage „als That¬ 
sache durch Erfahrungen festgestellt“, ohne andererseits 
verkennen zu wollen, dass sich nicht ebenso einfach die Frage 
nach der physiologischen Erklärung der das Zustandekommen 
dieser Thatsache bedingenden organischen Vorgänge gestaltet. 
Auch in Betreff des Kohlenoxyd steht noch die physiologische 
Erklärung der Eingangs aufgeführten analogen Wirkungen des¬ 
selben aus. 

Eine Fach-Autorität erachtete den Zustand meines Patienten 
als eine Neurasthenie, welche sich aus der Cyan-Intoxi- 
cation entwickelt habe. Uebereinstimmend mit einer der¬ 
artigen Auffassung ergiebt auch bereits die Litteratur, wenn 
man in dieselbe näher eingeht, Anklänge dafür, dass wirklich — 
wenn ich so sagen soll — „Intoxications-Neurasthenieen“ 
Vorkommen. So sagt Arndt in seiner Monographie „die Neu¬ 
rasthenie“ Wien 1885, und zwar in dem Capitel „Ursachen der 
Neurasthenie“ S. 125 und 126: „Die dritte Kategorie der 
hier in Betracht kommenden Substanzen wird durch metallische 
Gifte, namentlich den Arsenik, das Quecksilber, Blei und Kupfer 
und eine Anzahl Gase, z. B. das Leuchtgas, das Gruben-, das 
Sumpf- und Abtritt-, das Kohlenoxydgas gebildet, und weniger 
spielen dabei die einmaligen oder nur vereinzelten Aufnahmen 
grösserer Mengen derselben eine Rolle, obwohl auch von einer 
einzigen acuten Vergiftung bleibende Nachtheile der 
einschlägigen Art entstehen können, als vielmehr die fort¬ 
gesetzten Einverleibungen kleinster Mengen, wie sie den soge¬ 
nannten chronischen Vergiftungen zu Grunde liegen.“ Allerdings 
mag ich mir in Anbetracht des Wortes „Neurasthenie“ nicht ver¬ 
hehlen, dass dasselbe weniger in einer ausgesprochenen Weise 
eine Krankheit sui generis, als nur mehr ein Symptomen- 
Bild bezeichnet und dass es auch sonst Krankheiten giebt, bei 
welchen die zum Grunde liegenden primären Störungen ein 
anderes Organsystem betreffen, als dasjenige welches als das 
vorzugsweise gestörte bei Betrachtung des Symptomen-Bildes 
erscheint. Ich erinnere daran, dass man mit vielem Grunde 
nach den Vircliow'sehen Auffassungen zum Beispiel die Chlorose 
weniger für eine Krankheit des Blutes, als vielmehr für eine 
solche im Bereiche des Gefässsystem’s, sowie die Leukämie für 
eine Affection gewisser blutbereitender Organe (der Milz, des 
Knochenmarkes etc.) ansieht, ln einigennassen analoger Weise 
sagt in Betreff der Neurasthenie Arndt 1. c. P. 132: „Die ver¬ 
schiedenartigsten Zustände, Krankheiten und krankhafte 
Zustände, so namentlich Dyskrasieen und Kachexieen, können 
die Neurasthenie bedingen, und damit erweist sie selbst 
sich denn, wie wir das immer schon haben durchblickcn 
lassen, mehr als ein Symptom der mannigfaltigsten Krank¬ 
heiten und krankhaften Zustände, denn als eine solche 
selbst.“ 



Bcsscliadigungoii der Gesumllinit durch Kiiuithmung von Giften. 109 

Keinesfalls ist. es leicht, die Vorgänge, aus welchen die 
Symptome in dem Martin’sehen und in meinem Falle erwachsen 
sind, physiologisch erklären zu wollen. Ist doch die Erklärung 
der Giftwirkung der Blausäure über das Stadium blosser Ver¬ 
muthungen selbst nicht in Betreff der tödtlichen, acuten Fälle 
hinaus. Es heisst in dem schon erwälmten Aufsatze über Cyan 
in dem Eulenberg’schen Handbuche des öffentlichen Gesundheits¬ 
wesens Berlin 1881, I. S. 551: „Es ist wahrscheinlich dass die 
Blausäure ähnlich, wie Kohlenoxyd, jedoch in weit höherem Grade, 
als dieses den vom Hämoglobin aufgenommenen Sauerstoff ver¬ 
drängt und es zur Sauerstoff-Aufnahme überhaupt unfähig macht 
oder die Wiedererlangung dieser wichtigen Eigenschaft ausser¬ 
ordentlich verzögert. Ausserdem übt sie eine lähmende Wirkung 
auf das Cerebrospinalsystem aus, in Folge deren Stockung der 
Athraungs- und der Herz-Thätigkeit eintritt.“ Lewin in seinem 
Lehrbuche der Toxikologie Wien 1885 äussert sich S. 179 dahin: 
„Die Blausäure ist ein Gift für alle thierischen Organismen. 
Insecten gehen sofort in einer Atmosphäre zu Grunde, welche 
davon nur Vio Gramm im Kubikmeter Luft enthält. Die Gift¬ 
wirkung bei kaltblütigen Thieren verläuft langsamer, als bei 
warmblütigen; bei Amphibien ist sie geringer, als bei Fischen. 
Die Ursache der Giftwirkung ist unbekannt. Sie hängt nicht 
von der Einwirkung auf das Blut ab. Vielleicht spielt hierbei 
eine Erschwerung der respiratorischen Vorgänge in den Geweben 
eine Bolle. Bei Warmblütern tritt nach vorübergehender Er¬ 
regung des Athmungscentrums Lähmung ein. Ebenso verhalten 
sich das vasomotorische Centrum, die motorischen Ganglien des 
Herzens und ferner das Krarapfcentrum.“ Liebreich und Lang- 
gaard sagen in ihrem Recept-Taschenbuch, Berlin 1884 S. 99: 
„Die Wirkung der Blausäure ist vorwiegend auf die Medulla 
oblongata gerichtet, das Respirationscentrum und das vasomoto¬ 
rische Centrum werden zuerst gereizt, dann gelähmt. Der Herz¬ 
muskel wird fast gar nicht afficirt; die peripherischen Nerven 
werden nur bei langsam verlaufenden Vergiftungen betroffen. 
Mit dem Hämoglobin des Blutes geht Blausäure eine Ver¬ 
bindung ein.“ 

Ob bei den in Rede stehenden nicht tödtlichen, chroni¬ 
schen Fällen eins oder mehrere der nach dem Obigen in An¬ 
sehung der tödtlichen acuten Fälle in’s Auge gefassten Organe 
ebenfalls als beeinträchtigt eine Rolle spielen, ob das Blut 
untüchtig wird, bezw. ob dieses oder jenes der blutbereitenden 
Organe Schaden erleidet, ob die genannten motorischen Ganglien 
des Herzens oder das genannte vasomotorische Centrum eine 
Alteration erfahren, ob gerade von Seiten der Muskeln und bezw. 
von Seiten des Herzfleisches die Störungen desshalb hervortreten, 
weil gerade das Muskelgewebe zum Functioniren Sauerstoffes in 
grösserer Menge bedarf, ob als secundäre Störungen auch Ent¬ 
artungen des Herzfleisches Platz greifen. — Beantwortungen dieser 
Fragen müssen noch bei dem derzeitigen Stande der Wissenschaft 
in suspenso bleiben. 



110 


Stadtpbysikus Dr. Mittenzwoig. 


Immerhin sind Erfahrungen, wie die vorgetragenen, geeignet, 
einigermaßen Interesse zu erwecken. Interessant ist schon an 
und für sich der Umstand, dass eine nur bei einer Gelegenheit 
geschehene Aufnahme eines Quantums Gift geeignet ist, Wirkungen 
auf unverhältnissmässig lange Zeit zu hinterlassen. Ich 
meine nicht, dass in dieser Beziehung der Martin’sche und 
mein Fall nova darstellen. Ich erinnere an das, was ich über 
analoge Wirkungen des Kohlenoxyd Eingangs aufgeführt habe, 
sowie daran, dass man auch in Betreff von Vergiftungen mit 
Nitrobenzin (Mirbanöl), und auch in Betreff solcher mit 
Digitalis weiss, dass in den nicht tödtlich verlaufenden Füllen 
von Vergiftung mit diesen Substanzen Genesung nur sehr all¬ 
mählich erlangt wird. Ausserdem sind die in Rede stehenden 
Erfahrungen interessant insofern, als dieselben einen Beitrag 
liefern zu den Kenntnissen darüber, dass gewisse Gifte Be¬ 
ziehungen gerade vorzugsweise zu Functionen des Nerven¬ 
systems einnehmen. Ich erinnere wiederum— auch in dieser 
Beziehung — an das, was ich Eingangs über das Kohlenoxyd 
aufgeführt habe. Ich erinnere an „die Nervosität“ nach Mut¬ 
terkorn, in Betreff welcher sich sogar anatomisch herauszustellen 
scheint, dass dieselbe zusaramenhängt mit einer Affection der 
Hinterstränge des Rückenmarks. Ich erinnere noch schliesslich 
an die Arsenik-Lähmung, und zwar gerade an diese als an eine 
Störung, welche namentlich gerade acuten Vergiftungen folgt. 

Endlich möge erinnert werden an das, was Virchow hier 
lind da in seinen „gesammelten Abhandlungen zur wissenschaft¬ 
lichen Medicin“ ausgesprochen, sowie insbesondere in dem Werke 
„die Ccllularpathologie“, Berlin 1871, S. 268 bis 270, zum Aus¬ 
drucke gebracht hat durch die Worte: 

„Es muss hier noch eine dritte Reihe von Zuständen er¬ 
wähnt werden, diejenige nämlich, wo die innere Beschaffenheit 
der Blutkörpchen Veränderungen erfahren hat, ohne dass dadurch 
ein bestimmter morphologischer Effect hervorgebracht würde. Hier 
handelt es sich wesentlich um Functionsstörungen, welche wahr¬ 
scheinlich mit feineren Veränderungen der Mischung Zusammen¬ 
hängen, also Veränderungen der eigentlichen respiratorischen 
Substanz. So gut nämlich, wie wir bei den Muskeln die Sub¬ 
stanz des Priraitivbündels, die compacte Masse des Syntonins oder 
Myosins als contractile Substanz erfinden, so erkennen wir im 
Inhalte des rothen Blutkörperchens die eigentlich functionirende, 
respiratorische Substanz. Sie erfährt unter gewissen Verhältnissen 
Veränderungen, welche sie ausser Stand setzen, ilire Function fort¬ 
zuführen, eine Art von Lähmung, wenn man will. Dass etwas 
derart vorgegangen ist, ersieht man daraus, dass die Körperchen 
nicht mehr im Stande sind, Sauerstoff aufzunehmen, wie man die¬ 
ses experimentell unmittelbar erhärten kann. Dass es sich dabei 
aber um moleculäre Veränderungen in der Mischung handelt, da¬ 
für haben wir bequeme Anhaltspunkte in der Wirkung solcher 
giftiger Substanzen, welche schon in minimaler Menge 
das Hämoglobin so verändern, dass es in eine Art von 


i 



Boscliiiilif'iinyeti der (rosumllioit durch Eimitliiuung von Billen. 111 


Paralyse versetzt wird. Es sind dies die Blutgifte im 
engeren Sinne des Wortes, bei denen nicht bloss, wie 
bei den meisten Giften die schädliche Substanz durch 
das Blut hindurchgeht, um zu anderen Theilen, z. B. zu 
Ganglienzellen, Drüsenzellen zu gelangen, sondern bei 
denen das Blut selbst in seinen specifischen Elementen 
den Hauptangriff zu erfahren hat. Hierher gehört ein 
Theil der flüchtigen Wasserstoffverbindungen, z. B. Ar¬ 
senikwasserstoff, Cyanwasserstoff; ferner nach Hoppe- 
Seyler’s und Bernard’s Untersuchungen das Kohlenoxydgas, 
von dem verhältnissmässig kleine Mengen ausreichend sind, um 
die respiratorische Fähigkeit der Körperchen zu vernichten. 
Analoge Zustände sind schon früher vielfach beobachtet worden 
im Verlaufe anderer Infectionskrankheiten, z. B. der typhoiden 
Fieber, wo die Fähigkeit, Sauerstoff aufzunehmen, in dem Masse 
abnimmt, als die Krankheit einen schweren acuten Verlauf ge¬ 
winnt. Mikroskopisch sieht man aber ausser einzelnen melanösen 
Körperchen fast gar nichts, nur das chemische Experiment und 
die grobe Wahrnehmung vom blossen Auge zeigen die veränderte 
Beschaffenheit an. Man kann daher sagen, dass in diesem Ge¬ 
biete derToxicämie das Meiste noch zu machen ist. Wir 
haben mehr Anhaltspunkte, als Thatsachen. 

Fassen wir nun das, was wir über das Blut vorgeführt 
haben, kurz zusammen, so ergiebt sich in Beziehung auf die 
Theorie der Dyscrasieen, dass entweder Substanzen in das 
Blut gelangen, welche auf die zeitigen Elemente desselben schäd¬ 
lich einwirken und dieselben ausser Stand setzen, ihre Function 
zu verrichten, oder dass von einem bestimmten Punkte aus, sei 
es von aussen, sei es von einem Organ aus Stoffe dem Blute 
zugeführt werden, welche von dem Blute aus auf andere 
Organe nachtheilig einwirken oder endlich, dass die Be¬ 
standteile des Blutes selbst nicht in regelmässiger Weise ersetzt 
und nachgebildet werden. Nirgends in dieser ganzen Reihe fin¬ 
den wir irgend einen Zustand, welcher darauf hindeutete, dass 
eine dauerhafte Fortsetzung von bestimmten einmal einge¬ 
leiteten Veränderungen im Blute selbst sich erhalten könnte, 
dass also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass 
neue Einwirkungen von einem bestimmten Atrium oder Organe 
aus auf das Blut stattfinden. In jeder Beziehung stellt sich uns 
das Blut dar als ein abhängiges und nicht als ein unabhängiges 
oder selbstständiges Fluidum: die Quellen seines Bestandes und 
Ersatzes, die Anregungen zu seinen Veränderungen liegen nicht 
in ihm, sondern ausser ihm. Daraus folgt consequent der auch 
für die Praxis ausserordentlich wichtige Gesichtspunkt, dass es 
sich bei allen Formen der Dyscrasie darum handelt, ihren 
örtlichen Ursprung, ihre (in Beziehung auf das Blut selbst) 
äussere Veranlassung aufzusuchen.“ 



112 


Prof. Dr. Lixuan. 


Beurtheilung 

einer Schädelfissur an einer ausgegrabenen Leiche. 

Von Prof* Dr. Liman, Director dor Untorrichisanst^lt für dio Staatsarzneikundc. 

Scliädelflssuren an wieder ausgegrabenen Leichen gehören 
nicht zu den alltäglichen Vorkommnissen. Es sind mir in meiner 
langen Praxis nur einige Fälle erinnerlich. Man kann aber ge¬ 
wöhnlich sich mit Bestimmtheit darüber aussprechen, auch bei 
dem Mangel jeder anderen Wahrnehmung an der Leiche, dass die 
Vorgefundene Knochenverletzung namentlich am Schädelgrunde 
bei Lebzeiten entstanden ist, da abgesehen von der Schwierigkeit, 
die Schädelgrundfläche einer Leiche zu verletzen, gewöhnlich gar 
keine Vermuthung vorliegt, eine absichtliche oder unabsichtliche 
Misshandlung der Leiche anzunehmen. Der nachstehend mitge- 
theilte Fall hat aber noch ein anderes und bedeutenderes In¬ 
teresse, weil nicht die vorstehend geltend gemachte Eventuali¬ 
tät allein zur Sprache kam, sondern namentlich die nach der 
Veranlassung des Schädelbruches bei Lebzeiten des Verstorbenen. 
Da in dieser Beziehung der Fall des Interesses nicht ztf ent¬ 
behren scheint, so erlaube ich mir dessen Veröffentlichung. 

Die am 8. Decbr. 1881 verrichtete Section des am 18. Febr. 
1881 verstorbenen, also 10 Monate nach dem Tode wieder aus¬ 
gegrabenen, 2% Jahre alten Knaben Conrad Könxtop ergab als 
mögliche Todesursache eine am Schädel der Leiche Vorgefundene 
Fissur. 

Die Verwesung war zu weit vorgeschritten, um andere an 
den Weichtheilen etwa befindlich gewesene Verletzungen oder 
Veränderungen an den Organen noch wahrnehmen zu können. 

Diese Fissur beschreibt das Obductionsprotokoll in No. 13: 

„Die vorderen Schädelgruben, sowie die mittleren sind voll¬ 
ständig intact, ebenso die linke hintere, während in der rechten 
sich eine Fissur vorfindet, welche in der Nähe der Einmündung der 
inneren Hinterhauptsleiste in das grosse Hinterhauptsloch begin¬ 
nend, das untere Dritttheil der unteren rechten Hinterhauptsgrube 
durchsetzt, um in der rechten Schläfen-Hinterhauptsnaht ihr Ende 
zu finden. Die Umgebung dieser Fissur zeigt dieselbe blasse, 
grünliche bis gelbliche Beschaffenheit, wie die übrigen Theile 
des Schädels und der harten Hirnhaut, welch letztere auch an 
der Schädelgrundfläche unverletzt ist,“ 

Beiläufig imd der Vollständigkeit wegen sei bemerkt, dass 
an der Leiche das Schädeldach fast im ganzen Bereiche des Hin¬ 
terhauptbeines frei vorlag (weil die Weichtheile heruntergefault 
waren), aber unverletzt war, sowohl an der äusseren wie inneren 
Fläche, dass das Gehirn eine formlose Masse darstellte und nach 
Durchtrennung der unverletzten harten Hirnhaut beim Ueber- 
neigen des Schädels ausfloss. 

Dieser Befund allein gestattete zur Zeit der Obduction, wo 
uns weiter gar nichts bekannt war, keinen sicheren Schluss über 
die Ursache des Todes, einerseits, weil ja alle Wahrnehmungen 



Beurthoilung einer SchildeItissur an einer ausgegrabenen Leiche. 118 

über die Beschaffenheit der Organe der Weichtheile, namentlich 
des Schädels, zur Zeit des Todes fehlten, andererseits weil die¬ 
jenigen Veränderungen, welche mit Sicherheit einen Schluss dar¬ 
auf hätten machen lassen, dass die Fissur zur Zeit des Lebens 
des Kindes entstanden ist, Blutungen in der Umgebung der Ver¬ 
letzung ebenfalls nicht mehr wahrzunehmen waren und nach so 
langer Zeit nicht mehr wahrgenommen werden konnten. 

Wir konnten daher in unserem vorläufigen Gutachten auch 
nur sagen, dass wenn die Fissur beim Leben des Kindes entstan¬ 
den ist, sie als Product einer äusseren Gewalt, welche den Schä¬ 
del getroffen habe, geeignet gewesen sei den Tod des Kindes 
herbeizuführen. 

Es entsteht uns daher jetzt die Aufgabe, die Entstehung die¬ 
ser Vorgefundenen Schädelverletzung nach den Zeugen-Depositio- 
uen resp. den Behauptungen des Angeschuldigten zu würdigen. 

Der Letztere behauptet, dass das Kind die Masern gehabt 
und Krämpfe bekommen, in denen es gestorben sei, eventuell die 
Vorgefundene Schädelverletzung durch Stoss mit dem Kopf gegen 
das Bett im Krampfanfalle davongetragen habe. 

Die Zeugenaussagen bekunden, dass das Kind vorher gesund 
gewesen, wie gewöhnlich misshandelt worden und in diesen 
Misshandlungen verstorben sei. 

Es ist zu unterscheiden, was die Zeugen aus eigener Wahr¬ 
nehmung und was sie aus Mittheilungen der Frau Klingbeil 
welche vor Gericht ihr Zeugniss verweigert hat, bekunden. 

Die Brandt giebt an, dass das Kind ganz gesund gewesen 
sei. Sie hatte es noch ein paar Tage vor seinem Tode frisch 
und munter vor ihrem Fenster gesehen. Ebenso Kantowski und 
Andere, wobei die Schilling noch hinzufügt, dass es zwar gesund, 
aber an manchen Stellen „ganz schwarz“ geprügelt gewesen sei. 

Den Hergang der zum Tode führenden Misshandlung bekun¬ 
den die Zeugen nach den Mittheilungen der Frau Klingbeil, 
welche gleichzeitig der Ewert ihr 7 Monate altes Kind gezeigt 
hat, welches von ihrem Ehemanne auf dem Hinterkörper ganz 
braun geschlagen war, woselbst auch Spuren von Kneifen 
und Merkmale von eingekniffenen Nägeln vorhanden gewesen 
sein sollen, sowie ganze Stückchen aus dem Körper des Kindes 
herausgekniffen waren, so dass es blutete. 

Diesen Hergang erzählen die verschiedenen Zeugen im We¬ 
sentlichen übereinstimmend dahin, dass Klingbeil das Kind un¬ 
barmherzig geschlagen, so dass dasselbe zu Boden gestürzt sei, 
worauf der Mann geschrieen habe: „Otto, willst du aufstehen“ 
und da er dies nicht that, ihn an die Schultern gefasst, empor¬ 
gerissen und immerfort auf den Boden aufgestutzt habe, so dass 
dem Knaben das Blut aus Mund und Nase gestürzt sei, und der 
Kopf haltlos heruntergehangen habe. Sie sei aus dem Bett ge¬ 
sprungen mit den Worten „Franz, was hast du gemacht, dem 
Kinde brechen die Augen, es ist ja schon todt.“ 

Es ist nun zunächst zu bedauern, dass Dr. C., welcher die 
Leiche behufs Ausstellung des Todtenscheines gesehen hat, die 



114 


I*i. M ilU'ti/wui^. 


Spuren von .so kurze Zeit, d. h. 2—3 Tage dem Tode voraufgegange¬ 
nen Misshandlungen, wie sie die Zeugin Kantowsky (fol. 37) be¬ 
schreibt, nicht bemerkt hat, denn ihre Spuren konnten nach so 
kurzer Zeit nicht verschwunden sein, und da der besichtigende 
Arzt in dieser Beziehung nur sagt: „dass ich keine äusseren Ver¬ 
letzungen wahrgenommen habe, glaube ich mit Sicherheit be¬ 
haupten zu können“, auch sich in seiner gerichtlichen Vernehmung 
vom 24. Februar 1882 hierüber nicht näher auslässt, so folgt aus 
der Deposition des Dr. C. durchaus nicht, dass Spuren äusserer 
Verletzungen am Körper des Kiudes nicht vorhanden gewesen 
sind, da er nicht einmal sagt, dass er es vollständig entkleidet 
und die Hinterseite des Kindes besichtigt habe. 

Zunächst haben wir die Vorfrage zu erledigen, ob die Vor¬ 
gefundene Schädelfissur nicht erst der Leiche zugefügt worden sei. 

Absolut unmöglich wäre dies ja nicht, da man ja auch einer 
Leiche den Schädel einschlagen kann, und da die Fissur, wie wir 
sie nach 10 Monaten an der Leiche fanden, d. h. ohne vitale Reac- 
tion, an der Leiche hätte entstehen können. 

Aber diese Möglichkeit ist vollständig von der Hand zu 
weisen. 

Die Fäulniss lockert die Knochen, löst die Nahtverbindungen, 
so dass sie lose nebeneinander liegen, erzeugt aber keine Fissur. 

Eine Gewalt müsste also eventuell auf den Schädel der 
Leiche eingewirkt haben. 

Aber welche? und was wäre das für eine Gewalt, welche 
den Kopf getroffen hätte und nicht das Schädeldach zertrümmerte, 
sondern allein die Schädelgrundfläche betroffen hätte. 

Das Kind ist in gewöhnlicher Weise beerdigt worden, mit 
dem Sarge wieder ausgegraben worden, wie jede andere Leiche 
auf den Obductionstisch niedergelegt w r orden. Wie sollte also 
der Knochenbruch an der Leiche entstanden sein. 

Soll eine solche Eventualität ernstlich in Erwägung gezogen 
werden, so müssen doch vor allen Dingen Eingriffe geltend ge¬ 
macht und nachgewiesen werden, welche solchen Erfolg hätten 
haben können. 

Diese Erwägungen bestimmen uns dazu, diese Eventualität 
vollständig von der Hand zu weisen und auszusprechen: 

Die Knochenfissur ist bei Lebzeiten des Kindes entstanden. 

Ein Hergang nun, wie ihn die Zeugen nach den Mittheilungen 
der Klingbeil bekunden, ist vollkommen geeignet, die Entstehung 
der Verletzung zu erklären, denn ein heftiges und wiederholtes 
Aufstossen des Kopfes des Kindes auf den Fussboden kann durch 
Contrecoup sehr füglich diesen Erfolg haben und hat er ihn ge¬ 
habt, so ist damit auch der schnelle Tod des Kindes durch gleich¬ 
zeitige Hirnerschütterung erklärt. 

Je mehr diese Annahme an Wahrscheinlichkeit gewinnt, um 
so mehr verliert die Erklärung des Angescliuldigten an Raum. 

Zunächst ist gar nicht erwiesen, dass das Kind an Masern 
gelitten hat, und wenn es wirklich vor 9—10 Tagen an Masern 
erkrankt gewesen wäre, so ist in dieser Periode der Krankheit 



Zur Frage der Desinfeetionsapparato. 115 

eine Gehirnaffection höchst unwahrscheinlich und kaum erhört. 
Es könnte das Kind aber Scharlachfieber gehabt haben, bei wel¬ 
cher Krankheit diese Affectionen häufig und auch nach 9—10 
Tagen vorgekommen sind. Aber das Kind ist ja wenige Tage 
vor seinem Tode gesund gesehen worden, kann also nicht 9—10 
Tage vor seinem Tode einigermassen ernstlich erkrankt sein, und 
der Ausbruch des Scharlachs pflegt wenigstens in den meisten 
Fällen mit recht heftigem Fieber verbunden zu sein. 

Aber gesetzt, das Kind hätte Krämpfe gehabt, so pflegen 
solche nicht mit starkem Herumwerfen des Kopfes bei Kindern 
verbunden zu sein, wie etwa epileptische Krämpfe, sondern in 
leichteren Zuckungen der Glieder, Verdrehen der Augen und 
leichteren Convulsionen der Nacken- und Halsmuskeln zu bestehen. 
Wenn aber wirklich ein Stoss gegen das Bett des Kindes, in wel¬ 
chem es ja nach der Schilderung des Herganges gar nicht lag, 
stattgefunden hat, so müsste es doch ein wunderbarer Stoss ge¬ 
wesen sein, der lediglich eine solche Schädelfissur durch Contre- 
conp erzeugt hätte. 

Würden dann nicht bei Kindern, die in Krämpfen gestorben 
sind, solche Befunde alltäglich sein? Wir haben aber bei unseren 
zahlreichen Leichenöflhuugen, im Aufträge des Gerichtes, niemals 
eine solche Verletzung als Folge eines Krampfanfalles bei Kin¬ 
dern beobachtet. 

Hiernach begutachte ich: 

dass unter allen Annahmen die allein mit der Erfahrung 
übereinstimmt, dass eine heftig einwirkende Gewalt bei 
Lebzeiten des Kindes die Veranlassung zu dem Schädel¬ 
knochenbruch gegeben hat, und dass nach Lage der 
Sache diese äussere Gewalt in Misshandlungen bestan¬ 
den hat, welche den Kopf des Kindes getroffen haben. 


Zur Frage der Desinfectionsapparate. 

Von Dr. Mittenzweig. 

Die Firma Walz und Windscheid in Düsseldorf hat in Folge 
meiner Bemerkungen über den von ihr in Düsseldorf im Jahre 
1885 errichteten Desinfectionsapparat eine Broschüre in die 
Welt gesandt, welche ich für meine Person unbeachtet lassen 
würde, wenn sie nicht Verhandlungen der letzten Sitzung des 
Preussischen Medicinalbeamten-Vereins beträfe. 

Bei Gelegenheit des Vortrages des Dr. Petri über Desin- 
fection nahm ich Veranlassung, die Medicinalbeamten vor der 
Empfehlung neuer, nicht in der Praxis erprobter Desinfections¬ 
apparate zu warnen, gestützt auf nachstehende Erfahrung. 

Die Stadt Düsseldorf hatte im Jahre 1885 auf Anratheu des 
Herrn Sanitätsrath Dr. Eckardt der Firma Walz und Wind¬ 
scheid in Düsseldorf den Bau eines Desinfectionsofens übertragen, 
und ich hatte aus Interesse an der Sache und aus Gefälligkeit 
die Leitung der bakterioskopischen Prüfung desselben übernom- 



116 


Dr. ltupmund. 


men. Letztere fiel günstig aus, und konnte ich dieses Resultat 
in der Sanitätssitzung bestätigen, in welcher auch die anderen 
Herren, welche den baulichen, technischen und finanziellen Theil 
zu prüfen hatten, günstige Urtheile abgaben. Auf Grund dessen 
nahm die Stadt Düsseldorf den Apparat ab. 

Dies war mein Antheil an dieser Angelegenheit. Als im 
Jahre 1886 auch für die Stadt Duisburg ein Desinfectionsapparat 
beschafft werden sollte, fassten Herr Oberbürgermeister Lehr 
und ich naturgemäss die Firma Walz und Windscheid in’s Auge, 
um von ihr den Apparat bauen zu lassen. Der Vorsicht halber 
indess rieth ich, zuvor bei dem Oberbürgermeisteramte in Düssel¬ 
dorf amtlich anzufragen, wie sich der Apparat in der Praxis be¬ 
währt habe. Wider Erwarten erhielten wir die Antwort, dass 
der Apparat vom grossen Publikum nicht in dem wünschenswerten 
Masse benutzt werde. Da diese officielle Auskunft mit dem über¬ 
einstimmte, was ich privatim aus wohlunterrichteter Quelle er- 
faliren hatte, dass nämlich bei Benutzung des Apparates Sachen 
theils durch Rostflecke, theils durch Ansengen beschädigt wären 
und dass zum Theil deshalb der Apparat wenig in Anspruch ge¬ 
nommen würde, so nahmen wir davon Abstand, einen Desinfections- 
ofen für die Stadt Duisburg von der Firma Walz und Wind¬ 
scheid in Düsseldorf erbauen zu lassen. 

Diese Erfahrung glaubte ich nicht verschweigen zu dürfen, 
als in unserer Versammlung die Frage der Desinfectionsapparate 
in Rede stand, und ich finde in der „Erwiderung der Herren Walz 
und Windscheid“ einen neuen Anhalt dafür, dass der Apparat in 
seiner damaligen Herstellung sicli nicht bewährt hat; denn es 
heisst in dem Gutachten der Sanitätscommission vom 6. Januar 
1888, welche zur Ehrenrettung des Werkes von Walz und Wind¬ 
scheid zusammengetreten war: 

„Der Apparat bestehe, abgesehen von der nachträglich 
hergestellten Holzbekleidung der Eisentheile, noch ganz 
unverändert, wie er eingerichtet worden sei.“ 

Ein Bericht über die Thätigkeit und Brauchbarkeit des 
Apparates ist bisher leider nicht erschienen, während doch nur 
dieser einen Einblick in die Beschaffenheit und Bewährung 
desselben gewähren könnte. — 

Sapienti sat. 


Die Apotheken-Frage vor der Petitions-Kommission 
des Abgeordnetenhauses. 

Die Frage der Neu-Regelung des Apothekenwesens, welche 
längere Zeit vollständig geschlummert hat, scheint jetzt wieder 
mehr in Fluss zu kommen, wie aus nachfolgendem Bericht der 
Petitions-Kommission des Abgeordnetenhauses vom 2. März d. J. 



Die Apothekenfrage v. d. Petitionskommission des Abgeordnetenhauses. 117 


(No. 80) und der in der betreffenden Kommissionssitzung von dem 
Regierungscommissar Herrn Geh. Ober-Medicinalrath Dr. Ker- 
sandt abgegebenen Erklärung deutlich hervorgeht: 

Berichterstatter Abgeordneter Dr. Graf-Klberfeld. Der Apotheker Kempf 
in Steinau beantragt : „Dem hohen Hause der Abgeordneten möge es gefallen, 
bei der Königl. Staatsregierung daliin zu wirken, ihren ganzen Einfluss geltend 
zu machen, dass eine baldige Regelung des Apotliekenwesens auf reichsgesetz¬ 
lichem Wege stattfindet, gleichzeitig aber auch Maassnahmen zu treffen, damit 
dem Apothekenschacher, der weder der Würde des Standes entspricht, noch 
der öffentlichen Wohlfahrt zum Vorthoil gereicht, und der schliesslich zu einer 
schrecklichen, in ihren Folgen unberechenbaren Katastrophe führen muss, so¬ 
bald als möglich ein Ende gemacht wird.“ 

Der Antragsteller motivirt sein Verlangen in erster Linie durch einen 
gegen ihn bei dem Verkauf seiner Apotheke angeblich durch Vorlegung fal¬ 
scher Bilanzen verübten Betrug. Petent hat schon in einer an den Reichstag 
gerichteten Eingabe Vorschläge zu einer anderweitigen gesetzlichen Regelung 
des Apothekenwesens gemacht (Personal-Konzession mit Ablösung der bis¬ 
herigen Werthe). Durch Beschluss dos Reichstags vom 16. Februar 1888 ist 
diese Petition, ohne sich damit die Vorschläge des pp. Kempf anzueignen, 
den verbündeten Regierungen als Material zur gesetzlichen Regelung des 
Apothekenwesens überwiesen *). 

Referent führte aus, dass betreffs des ersten Petitums (nothwendige reichs¬ 
gesetzliche Regelung) bereits vor zwei Jahren hier im Hause umfassende Er¬ 
örterungen stattgefunden haben, welche zu der Annahme der in der Anlage 1 ) 
abgedruckten Anträge führten. Auf den betreffenden Bericht der Petitionskom- 
mission brauche er deshalb in dieser Hinsicht lediglich zu verweisen. Dass 
indes ausser der für die Zukunft in Aussicht genommenen Reichsgesetzgebung 


*) Ueber die in der Petitionskommission bei Berathung der gedachten 
Petition geäusserten Ansichten spricht sich der vom Reichstagsabgeordneten 
Dr. Kruse schriftlich erstattete Bericht vom 18. Januar d. J. (No. 76) wie 
folgt aas: 

„In der Petitionskommisson wurde hervorgehoben, dass die vom Petenten 
angegebenen Uebelstünde im Apothekenwesen, wenigstens zu einem grossen 
Theile, vorhanden seien; dass gegen die Reformvorschläge desselben indessen 
mancherlei Bedenken vorzubringen seien; dass auch von der Kommission ein 
bestimmter Plan zur gesetzlichen Regelung der Apothenfrage nicht aufgestellt 
werden könne, dass aber bei dem grossen Interesse, das dieser Frage allseitig 
entgegengebracht werde, es angemessen erscheine, die Aufmerksamkeit der ver¬ 
bündeten Regierung auf dieselbe hinzulenken“. 

Trotz der Erklärung des Regierungskommissars, „dass seitens der verbün¬ 
deten Regierungen eine Aenderung der gesetzlichen Bestimmungen über das 
Apothekerwesen zur Zeit nicht beabsichtigt werde“, wurde von der Petitions¬ 
kommission dann der obige, vom Reichstag in seiner Sitzung vom 16. Februar 
genehmigte Antrag einstimmig angenommen. Aus dieser Sitzung des Reichs¬ 
tages verdient noch erwähnt zu werden, dass sich der socialdemokratische 
Abgeordnete Schumacher auch im Namen seiner Parteigenossen energisch für 
Communalapotheken aussprach und in der Uebernahme der Apotheken seitens 
der Gemeinden die beste und vernünftigste Regelung des Apothekenwesens sah. 
Dass man übrigens auch auf Seiten mancher Städte die Frage der Communal¬ 
apotheken ernstlich in Erwägung zieht, geht aus einer Mittheilung der Apo¬ 
thekerzeitung vom 29. Februar d. J. No. 17 hervor, wonach höchstwahrschein¬ 
lich das Thema „Communalapotheken“ nicht nur auf dem westphälischen, son¬ 
dern auch auf den Städtetagen anderer Provinzen von neuem zur Besprechung 
gelangen wird. 

*) Das Abgeordnetenhaus beschloss damals „über das Verlangen des Pe¬ 
tenten nach Freigabe des Apothekergewerbes zur Tagesordnung überzugehen 
und die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, dass eine baldige reichsgesetz¬ 
liche Regelung der Apothekenfrage stattfinde, und bis zu dieser reichsgesetz¬ 
lichen Regelung in Preussen nur noch persönliche und unveräusserliche Kon¬ 
zessionen ertheilen zu wollen“. 



118 


Dr. Rapmurul. 


in dieser Materie auch noch Verwaltungsmaassregeln für Preussen nothwendig 
seien, welche dazu bestimmt sind, dringenden Uebelständen schleunigst abzu¬ 
helfen, sei ebenfalls in jener Verhandlung anerkannt und habe in dem zweiten 
Beschluss des Hauses (Personal-Konzession für neu zu gründende Apotheken) 
Ausdruck gefunden. 

Wenn nun Petent gegen den Apothekenschacher gerichtete Verwaltungs¬ 
maassregeln fordere, so sei das wohl ein berechtigter, aber nicht so ganz leicht 
zu erfüllender Wunsch, es werde aber die Bedürfnissfrage einer neuen Apo- 
thokerordnung für Preussen auch noch durch andere Verhältnisse zu einer 
dringenden. Durch Erkenntniss des Kammergerichts vom 3. Februar 1887 sei 
die Preussische Apothekerordnung für die ehemaligen französischen und ber- 
gischen Landestheile als nicht gütig erklärt; es fehle also für diese Bezirke an 
Bestimmungen über Einrichtung, Ausstattung und Betrieb der Apotheken. 
Ein solcher Zustand erfordert schleunigste Abhilfe. 

Vor Stellung eines Antrages bittet Referent um die Erklärung des Herrn 
Regierungskommissars über den gegenwärtigen Stand der Angelegenheit. Der 
Kommissar des Ministeriums der Medizinal-Angelegenheiten, Herr Geheimer 
Ober-Medizinalrath Dr. Kersandt, gab folgende Erklärung ab: 

„Es könnten die in der Petition des Apothekers Kempf zu Steinau zur 
anderweitigen Regelung des Apothekenwesens gemachten Vorschläge seitens 
des Herrn Ministers der Medizinalangelegenheiten um so weniger für annehm¬ 
bar erachtet werden, als seinerseits beabsichtigt werde, dem Königlichen 
Staatsministerium einen Entwurf vorzulegen, welcher für die in Preussen neu 
zu errichtenden Apotheken das Prinzip der Personalkonzession zur Durchfüh¬ 
rung zu bringen bezweckt. Ein diesbezüglicher Entwurf liege dem Herrn 
Minister bereits vor und liesse sich erwarten, dass nach Durchberathung dieses 
Entwurfes die beabsichtigte anderweitige Regelung des Apothekenwesens wie¬ 
der besser in Fluss kommen werde, da zu hoffen sei, dass der qu. Entwurf 
auch bei dem Herrn Reichskanzler für den Fall einer Neuregelung des Apotheken¬ 
wesens für das Reich Beachtung finden werde. Durch die seitens des Herrn 
Ministers beabsichtigte Regelung könne allerdings nur den aus dem jetzt be¬ 
stehenden Konzessionssystem erwachsenden Uebelständen für die neu zu er¬ 
richtenden Apotheken vorgebeugt werden; wie diese Uebelstünde bei den be¬ 
reits im Betriebe befindlichen Apotheken zu beseitigen sein möchten, darüber 
lasse sich einstweilen keine Erklärung abgeben 14 . Ausserdem wurde die Frage 
des Herrn Berichterstatters, „ob auch mit Rücksicht darauf, dass die Apothe- 
kerordnung vom 11. Oktober 1801 nach der Entscheidung des Königlichen 
Kamiuergerichts vom 3. Februar 1887 in den ehemaligen französischen Landes- 
theilen nicht rechtgiltig sei, die Staatsregierung den Erlass einer neuen Apo¬ 
thekerordnung beabsichtige 44 , dahin beantwortet, dass auch diese Angelegenheit 
in dem qu. Entwurf Beachtung gefunden habe“. 

In der nun folgenden Diskussion spricht sich ein Mitglied der Kommission 
für die völlige Freigabe dos Apothekergewerbes aus. 

Referent erklärt sich durch die Ausführungen des Herrn Regierungskom- 
missars für befriedigt und beantragt , mit Rücksicht auf die Erklärungen des 
Herrn Regierungskommissars, welche den in der 1. Session des Abgeordneten¬ 
hauses (1886) gefassten Beschlüssen entsprechen, über die Petition II. 188 zur 
Tagesordnung überzugehen. Dieser Antrag fand widerspruchslose Annahme. 
Die Petitionskommission schlägt daher vor: „Das Haus der Abgeordneten 
wolle beschlossen: über die Petition II. No. 188 mit Rücksicht auf die 
Erklärungen des Herrn Regierungskommissars, welche den in der 
1. Session (1886) gefassten Beschlüssen des Abgeordnetenhauses in 
dieser Angelegenheit entsprechen, zur Tagesordnung üb er zu- 
gehen 44 . 

Man kann die Absicht der Regierung, von jetzt ab bei den 
neu einzurichtenden Apotheken das Princip der reinen Personal- 
conzession streng durchzufiihren, nur mit Genugtuung begrüssen, 
da dadurch wenigstens bei diesen Apotheken jede gewinnsüchtige 
Verwerthung der ertheilten Conzessionen ein für allemal ausge¬ 
schlossen wird. Es ist dies ein Schritt weiter auf dem Wege, 



Die Apothekenfrage v. d. Petitionskommission des Abgeordnetenhauses. 119 


den die Königl. Staatsregierung bereits durch den Ministerialer¬ 
lass vom 21. Juli 1880, betreffend das Verbot der Veräusserung 
neuconcessionirter Apotheken vor Ablauf der ersten zehn Jahre 
eingeschlagen hat und der den vor zwei Jahren im Abgeordneten¬ 
hause in dieser Hinsicht geäusserten Wünschen vollständig ent¬ 
spricht*). 


a ) Inzwischen ist die Apothekenfrage auch im Abgeordnetenhause selbst 
in dessen Sitzung vom 17. März auf Anregung des Abgeordneten Trimborn 
zur Verhandlung gekommen und zwar nicht nur mit Rücksicht auf die Neu¬ 
regelung des Apothekenwesens, sondern auch mit Rücksicht auf die Gültigkeit 
der Apothekerordnung von 1801 in einem Theile der Rheinprovinz, und hat 
sich der Herr Cultus-Minister von Gossler über beide Punkte wie folgt aus¬ 
gesprochen : 

„Die Apothekerordnung von 1801 gilt für einen Theil der Rheinprovinz 
mit Sicherheit nicht. Die Verwaltungsbehörden haben stets daran festgehal¬ 
ten, dass die in der Apothekerordnung aufgestellten Grundsätze, wenigstens 
die Mehrzahl davon, im Wege der Verwaltung«Vorschriften in Kraft bestehen, 
wie in allen anderen Landestlieilen. Wir haben daran festgehalten und halten 
daran fest, dass das Gründen freier Apotheken unzulässig ist. Nachdem die¬ 
ser Versuch einmal gemacht ist und durch polizeiliche Massregeln verhindert 
wurde, ist, soweit mir bekannt, ein neuer Versuch nicht unternommen. Der 
Betreffende hat sich beruhigt. Die französische Bestimmung über die Grün¬ 
dung neuer Apotheken ist bereits durch eine Verfügung von 1814 aus der 
Welt geschafft worden. 

Mit Recht ist, ferner darauf aufmerksam gemacht worden, dass die raschen 
Verkäufe der Apotheken und die fortwährenden Preissteigerungen mit einer 
öffentlichen Gefahr verbunden sind. Ich habe darüber seit Jahren ein sehr 
eingehendes Material gesammelt und ich bin vor 2 Jahren dazu gekommen, 
Se. Majestät zu bitten, eine gewisse Verordnung aufzuheben, welche die Ver¬ 
wischung des Personalkonzessionsstundpunktes und des Realkonzessionsstand¬ 
punktes früher gefördert hatte. Dem Vorredner wird bekannt sein, dass im 
Allgemeinen die Regel war, dass, wenn ein Apothekenbesitzer seine Apotheke 
verkaufte und einen qualifizirten Käufer der Behörde nachwies, dieser ohne 
weiteres die Konzession erhielt, zweitens, dass, wenn der Apotheker starb, die 
Wittwe resp. die minorennen Kinder berechtigt waren, eine Verwaltung ein- 
treten zu lassen, und dass die Verwaltung, welche die Zustimmung der Re¬ 
gierung finden musste, aufgehoben wurde, wenn entweder der Sohn das Apo¬ 
thekergewerbe ergriff oder die Tochter einen Apotheker lieirathete. Das waren 
die beiden Hanptfälle, und da kam es faktisch dazu, dass die Personalkonzes¬ 
sion sich faktisch in eine Art Realkonzession verwandelte. Diesem Unwesen, 
so muss ich es von meinem Standpunkte aus nennen, ist seit ungefähr zwei 
Jahren ein Ende gemacht worden, indem ein entgegenkommendes Verfahren 
den Regierungen oder, korrekter gesagt, den Ober-Präsidenten, nur dann als 
zulässig hingegeben worden ist, wenn eine 10jährige Frist verlaufen ist. Tritt 
dann ein Todesfall oder Verkauf ein, dann lässt sich in der That viel leichter 
übersehen, ob eine unzulässige Spekulation vorliegt oder nicht Es muss also im 
übrigen immer frisch konzessionirt werden, und ich kann bezeugen, dass von 
dieser Anordnung bereit« ein wirkungsvoller Gebrauch gemacht worden ist. 
Das schliesst aber durchaus nicht aus, dass wir allen Anhiss haben, der Apo¬ 
thekenfrage in Bezug auf eine gesetzliche Regelung näher zu treten. An¬ 
knüpfend an die Berathungen, die damals bei der Extrahirung einer Aller¬ 
höchsten Verordnung statt gefunden, hat das preussische Staatsministerium mich 
ermächtigt, erneut die Frage der Apothekergesetzgebung anzuregen. Ich habe 
auch einen Entwurf ausgearbeitet und hotte, dass es mir gelingen wird, in den 
Wegen fortzuschreiten, die schon von mir beschriften worden sind, wie aus 
der angedeuteten Extrahirung einer Allerhöchsten Verordnung hervorgeht“. 



120 


Dr. Rapmund. 


Zur Frage der Zwangsimpfung impfpflichtiger Kinder. 

Man hat bisher vielfach angenommen, dass Eltern, Pflege¬ 
eltern und Vormünder, die sich Jahre hindurch wiederholt weiger¬ 
ten, ihre impfpflichtigen Kinder impfen zu lassen, nach § 14 des 
Impfgesetzes vom 8. April 1874 nur durch fortgesetzte Bestrafungen 
gezwungen werden könnten, ihre Kinder zur Impfung zu stellen 
oder den nach § 12 obigen Gesetzes vorgeschriebenen Nachweis 
einer anderweitig erfolgten Impfung derselben beizubringen; der 
nachstehende in No. 18 des preussischen Verwaltungsblattes vom 
28. Januar d. J. veröffentlichte Fall zeigt jedoch, dass in solchen 
Fällen auch die Zwangsimpfung der betreffenden Kinder auf 
Grund des §132 No. 3 des Landes-Verwaltungsgesetzes vom 30. 
Juli 1883 zulässig ist und mit Erfolg durchgeführt werden kann. 
Damit ist eine Frage durch verschiedene Instanzen ent¬ 
schieden, die für die Ausführung des Impfgesetzes von grösster 
Bedeutung ist: 

Der Pensionär B. zu H. weigerte sich hartnäckig, die Impfung seiner 
Kinder vornehmen zu lassen, und beantragte, als die gegen ihn erkannten 
Polizeistrafen immer höher wurden, beim Minister der geistlichen etc. Angelegen¬ 
heiten Dispensation vom Impfzwang für seine Kinder, sowie Niederschlagung 
der erkannten Polizeistrafen, welchem Gesuch nicht stattgegeben wurde. Der 
Regierungs-Präsident eröffnete zugleich der Polizei-Direktion, dass bei einer 
fortgesetzten Weigerung des B. die Impfung nötigenfalls durch Anwendung 
unmittelbaren Zwanges zur Ausführung gebracht werden müsse. Die Polizei¬ 
direktion verfügte entsprechend, indem sie eine Frist zur Beibringung der 
Impfscheine festsetzte und für den Fall, dass diese fruchtlos verlaufe, unmittel¬ 
baren Zwang zur Herbeiführung der Impfung der Kinder in Aussicht stellte. 

Auf hiergegen eingelegte Beschwerde ertheilte der Regierungspräsident 
dahin Bescheid, dass die Beschwerde unbegründet sei, „da die polizeiliche An¬ 
ordnung den Bestimmungen des Reichsimpfgesetzes vom 8. April 1874 ent¬ 
spricht und die Annahme der Polizeidirektion, dass diese Anordnung im Falle 
Ihrer fortgesetzten Renitenz ohne Anwendung des unmittelbaren Zwanges 
unausführbar ist, durchaus gerechtfertigt erscheint. Die Befugniss der Polizei¬ 
behörde, eine gesetzwidrige Unterlassung durch Anwendung dieses nach § 132 
No. 3 Land.-Verw.-Ges. vom 30. Juli 1883 zulässigen Zwangsmittels zu 
erzwingen, wird nicht durch eine allgemeine Strafvorschrift beschränkt. Wenn 
daher bis zum 10. Mai d. J. der Ihnen aufgegebene Nachweis der erfolgten 
Nachimpfung nicht erbracht werden sollte, so verfallen Sie nicht nur im Rück¬ 
fall der gesetzlichen Strafe des § 14 Abs. 2, Impfges., sondern haben auch mit 
Recht zu gewärtigen, dass diese Impfung sofort im angedrohten Zwangswege 
zur Ausführung gebracht wird.“ 

Eine hiergegen bei dem Oberpräsidenten angebrachte Beschwerde blieb 
erfolglos, und es wurde, nachdem mit Rücksicht auf eine inzwischen einge¬ 
tretene Erkrankung der Kinder und später wegen erfolgter Niederkunft der 
Ehefrau des B. die Frist zur Beibringung der Impfbescheinigung bis zum 
31. Mai 1887 verlängert, dann aber nach seitens der Polizeidirektion einge¬ 
holter hausärztlicher Bescheinigung, dass der Impfung der Kinder ein Hinderniss 
nicht mehr im Wege stehe, bestimmte Auflage zur Beibringung des Impf¬ 
scheines bis zum 31. Mai erlassen. 

Eine hiergegen erhobene neue Beschwerde wies der Regierungs-Präsident 
am 31. Mai zurück, indem er insbesondere ausführte: „Der Impfzwang ist im 
öffentlichen Interesse zum Schutze der Menschen gegen die Pockenkrankbeit 
gesetzlich eingeführt, und dürfen deshalb, da das Gesetz Dispensationen nicht 
Kennt, selbst die höheren Behörden Ausnahmen nicht zulassen, wie auch der 
Herr Polizeidirektor so berechtigt wie verpflichtet ist, die Impfung aller Kinder 
nötigenfalls im Zwangswege zur Ausführung zu bringen. Dieser Ausführung 
steht zur Zeit meiner Meinung nach nicht das geringste Bedenken entgegen“. 



Zur Frage der Zwangsimpfung impfpflichtiger Kinder. 


121 


B. theilte inzwischen der Polizeidirektion am 26. Mai 1887 mit, dass er 
die Zwangsimpfung für gesetzlich unzulässig halte, der Polizeidirection gegen¬ 
über sich als im Zustand der Nothwehr befindlich betrachte und dass er sich 
deshalb „der angedrohten Transportirung seiner Kinder zur Zwangsimpfung 
mit Gewalt in jeder ihm zu Gebote stehenden Weise widersetzen“ werde. 
Die Polizeidirection bestimmte „den 4.“ Juni als Tag der Ausführung der 
angeordneten Zwangsimpfung. Es wurde B. auf diesen Tag vorgeladen, und 
da er auf Betragen wiederholt erklärte, die Impfung seiner Kinder durch den 
Impfarzt nicht dulden zu wollen, so wurde ihm eröffnet, dass er zur Sicherung 
des Impfactes in polizeiliche Verwahrung genommen werde, welche auf Wunsch 
des Impfarztes auf so lange ausgedehnt wurde, bis der Impfstoff eingetrocknet 
war, weil B. in Aussicht gestellt hatte, aus dem Körper der Kinder den Impf¬ 
stoff durch Waschen oder Saugen herauszuziehen. Die Detention des B. geschah 
in Ermangelung eines anderen geeigneten Raumes in einer Gefangnisszelle. 

Hiergegen erhob B. zunächst wieder Beschwerde an den Regierungspräsi¬ 
denten, welche durch Beschluss vom 25. Juli 1887 zurückgowiesen wurde, indem 
der Regierungspräsident Folgendes ausführte: „Dass die Polizeidirection dazu 
schritt, Sie während der Impfhandlung und darüber hinaus bis zum Austrocknen 
der Impfpocken bei Ihren Kindern in einer Zelle zu detiniren, geschah deshalb, 
um Sie vor, bei Ihrer Erregtheit und mit Rücksicht auf die von Ihnen ausge¬ 
sprochenen Drohungen zu erwartenden übereilton und folgenschweren Schritten 
zu bewahren, sowie um Ihnen das etwa beabsichtigte Aussaugen resp. Aus¬ 
waschen der zur Impfung Ihrer Kinder benutzten Lymphe unmöglich zu 
machen Die Unterbringung in einer Gefangnisszelle erfolgte nur in Er¬ 
mangelung eines anderweiten geeigneten Raumes und sollte keineswegs den 
Charakter einer Strafe tragen. Eine Bedrohung Ihrer bereits wieder herge¬ 
stellten Ehefrau seitens der Ihre Kinder zum Impfgeschäft abholenden Polizei- 
Exeeutivbeamten hat nicht stattgefunden und es lag auch zu einer solchen 
Massnahme bei dem völlig angemessenen Verhalten Ihrer Frau in keiner Be¬ 
ziehung eine Veranlassung vor. Die Begleitung der Kinder durch deren Gross¬ 
mutter würde auf den Verlauf das Impfgeschäfts nur störend eingewirkt haben, 
und kann Ihnen die Ablehnung des bezüglichen Antrags umsoweniger zur Be¬ 
schwerde gereichen, als die Polizeidirection eitrigst bemüht gewesen ist, den 
Kindern durch die schonendste und rücksichtsvollste Behandlung die abwesen¬ 
den Angehörigen zu ersetzen. Im Uebrigen muss ich Sie auf meinen Bescheid 
vom 31. Mai d. J. verweisen.“ 

B. versuchte nun die Einleitung des Strafverfahrens gegen den Polizei¬ 
verwalter und den von diesem um die Vornahme der Impfung ersuchten 
Impfarzt Dr. K. zu erwirken und wandte sich an den Ersten Staatsanwalt zu 
H., welcher den Antrag mit folgender Begründung zurückwies: „Ob das Roichs- 
Impfgesetz vom 8. April 1874, wofür der Wortlaut des § 1 zu sprechen scheint, 
einen Impfzwang in der vorliegenden Falls von der Polizeidirection geübten 
Weise hat statuiren oder, wie aus seiner Entstehungsgeschichte, namentlich 
dem Umstand, dass der Bundesrath den vom Reichstag amendirten Entwurf, 
welcher den den „Impfzwang“ ausdrücklich zulassenden § 15 der Regierungs¬ 
vorlage beseitigt, angenommen hat, hervorgeht, unter Ausschliessung eines 
solchen Zwanges die in §§ 1 und 12 für bestimmte Personen begründete Ver¬ 
pflichtung, sich impfen zu lassen, allein durch die Möglichkeit einer wieder¬ 
holten Verhängung von Geld- und Freiheitsstrafen für den Contraventionsfall 
hat erzwingen wollen, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls spricht das 
Gesetz selbst sich über seine Absicht in zweifelfreier Weise nicht aus. Es ent¬ 
hält weder ein Gebot noch ein Verbot des hier in Betracht kommenden 
unmittelbaren Zwanges. Mit Rücksicht auf das Fehlen einer solchen Vorschrift 
im Gesetz selbst muss aber, falls dasselbe diesen Zwang in Wahrheit nicht 
gewollt hat, eine entgegengesetzte rechtliche Auffassung um so mehr als auf 
einem entschuldbaren Rechtsirrthum beruhend erachtet werden, als der impe¬ 
rative Ausdruck „soll“ im § 1 des Gesetzes diese auch von dem Chef der 
hiesigen Polizeidirection vertretende Auffassung zu begründen nicht ungeeignot 
ist. Von einer bewusst rechtlichen Handlung kann deshalb bei Androhung 
der zwangsweisen Impfung Ihrer Kinder ebensowenig die Rede sein, wie bei 
der nachher erfolgten Durchführung derselben, ebensowenig aber auch bei 
Ihrer Unterbringung in polizeiliches Gewahrsam , ohne deren Anordnung die 



122 


Dr. Leuffen. 


Durchführung der Impfung unmöglich gewesen wäre. Das Bewusstsein der 
Rechtswidrigkeit der That bildet aber ein Erforderniss sämmtlichor in §§ 339 
bis 341 des Str.-G.-B. aufgestellten Thatbestände. Mangels eines solchen muss 
ein strafrechtliches Einschreiten sowohl gegen den hiesigen Polizeichef, als auch 
gegen den Dr. med. R., der die Impfung der Kinder vorgenommen hat, abge¬ 
lohnt werden. Was endlich die Art Ihrer Festhaltung im* Polizeigewahrsam, 
über welche Sie Beschwerde fuhren, anbetrifft, so ist zur Entscheidung hier¬ 
über allein die Vorgesetzte Dienstbehörde des Polizeidirektors, der Herr 
Regierungspräsident hier, an welchen ich Sie verweise, zuständig.“ 

B.’s Beschwerde hiergegen wurde vom Oberstaatsanwalt zu C. gleichfalls 
zurückgewiesen, und zwar aus folgenden Gründen: „Es kann zunächst dahin 
gestellt bleiben, ob die Frago nach der Zulässigkeit der zwangsweisen Impfung 
überhaupt von den Justizbehörden im Wege der Rechtsprechung zu entscheiden 
ist und nicht vielmehr lediglich der Cognition der Verwaltungsbehörden 
unterliegt. Jedenfalls handelte der Polizeidirigent Senator Dr. G. bei der 
Durchführung der zwangsweisen Impfung Ihrer impflichtigen Kinder — die 
übrigens mit grösster Schonung und Rücksichtnahme bewirkt wurde — im 
Einverständnis« und im directen Aufträge der ihm Vorgesetzten Dienstbehörde, 
sodass weder von einem Missbrauch seiner Amtsgewalt, noch von der An¬ 
drohung einer solchen zum Zwecke der widerrechtlichen Nöthigung (§ 339 
R.-Str.-G.-B.) noch von einer vorsätzlichen Körperverletzung (§. 340 ibid.), ver¬ 
übt an Ihren Kindern durch die Impfung, die Rede sein kann. Die Anwendung 
der bezeichneten Strafvorschriften setzt die „Widerrechtlichkeit“ der incrimi- 
nirten Handlungen durch den Bezichtigten und dessen Bewusstsein von der 
Widerrechtlichkeit voraus. Im vorliegenden Falle aber wurde die Handlungs¬ 
weise des Denunciaten Dr. G., ganz abgesehen von der Frage, ob die Zwangs- 
impfung überhaupt widerrechtlich ist oder nicht, unbedingt zu einer rechts- 
mässigen, da sie im Aufträge der höheren Dienstbehörde erfolgte und der 
Donunciat Senator Dr. G. zweifelsfrei jeden Bewusstseins der Widerrechtlich¬ 
keit entbehrte. Worin ferner der Tatbestand der fahrlässigen Körperver¬ 
letzung — verübt gegen Ihre Ehefrau (§ 230 R.-Str.-G.-B.) — sich darstellen 
soll, ist überhaupt nicht erfindlich. Was endlich die Bezichtigung der wider¬ 
rechtlichen Freiheitsberaubung durch den Polizeidirigenten Senator Dr. G. 
betrifft — §§ 239, 341 R.-Str.-G.-B. — so ist dieselbe deshalb hinfällig, weil 
durch Ihre Festhaltung während der Vornahme der Impfung Ihrer Kinder nur 
von demjenigen unmittelbaren Zwange Gebrauch gemacht worden ist, welchen 
die bestehenden Gesetze den Polizeibehörden unter den Umständen, wie sie 
liier zutreffen, zu gebrauchen gestatten. Nachdem Sie in dem Schreiben vom 
26. Mai 1887 an den Herrn Polizeidirigenten Senator Dr. G. ausdrücklich 
erklärt hatten, dass Sie sich der Ihnen angedrohten Transportirung Ihrer 
Kinder zur Zwangsimpfung mit Gewalt in jeder Ihnen zu Gebote stehenden 
Weise widersctzon würden, und nachdem ferner bei der protokollarischen Er¬ 
öffnung am 4 . Juni d. J. — dem Tage der Impfung — dem Dr. G. von Neuem 
Ihren Willen dahin geäussert hatten, dass Sie die Impfung Ihrer Kinder durch 
den Dr. K. nicht dulden würden, war die Besorgniss begründet, dass Sie zur 
Verhinderung der in Aussicht gestellten Massnahmen zur Bewirkung der 
Impfung Ihrer Kinder Excesse begehen wüirden, welche die öffentliche Sicherheit 
und Ruhe zu stören geeignet wären. Indem die Polizeibehörde einerseits zur 
Durchsetzung Ihrer Anordnungen von der durch § 132 No. 3 Land.-Verw.-Ges. 
vom 30. Juli 1883 gegebenen Befugnis« der Anwendung unmittelbaren Zwanges 
gegen Sie Gebrauch machte, handelte sie andererseits auch in Ausübung der 
Befugniss gemäss § 6 des Ges. zum Schutze der persönlichen Freiheit vom 
12. Februar 1850, eingeführt in der Provinz Hannover durch § 35 der Kreis¬ 
ordnung 6. Mai 1884, indem die Behörde Sie in polizeiliche Verwahrung nahm, 
weil die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe diese Anordnung — wie aus 
Ihren Drohungen nicht anders zu schliessen — dringend erforderlich machte. 
Dass bereits einer Verwirklichung des angedrohten Widerstandes hätte einge¬ 
treten sein müssen, bevor die Polizeibehörde zu Ihrer Festnahme schreiten 
durfte, war nicht nothwendig, da zu dieser Massregel die Polizeibehörde nicht 
erst bei eingetretener Störung der öffentlichen Ruhe, sondern schon durch die 
Sorge um „Aufrechterhaltung“ derselben gesetzlich befugt, erachtet wird. Die 
Denunciation gegen den Arzt Dr. K. entbehrt jeden haltbaren Grundes. 



Uober Einbalsamiron. 


123 


B. wandte sich schliesslich an das Oberlandesgoricht zu C., welches die 
Beschwerde mit Rücksicht auf die nicht widerlegten Entscheidungsgründe der 
beiden Staatsanwaltschaft liehen Instanzen zurückwiee. 


Ueber Einbalsamiren. 


Von Dr. Leuffen, Stadt. Kr.-Wundarzt und Königl. Sanitatsrath in Cöln a. Rh. 


Das sog. „Einbalsamiren“ umfasst einen doppelten Begriff: 
1) das eigentliche Einbalsamiren des ganzen todten Kör¬ 
pers zur möglichst langen Erhaltung desselben; oder 2) die 
Behandlung einzelner Leichentheile zur Conservirung oder 
Restituirung derselben zu irgend einem Zwecke. — 

Um Letzteres zuerst zu erledigen, so hat sich mir hei Leichen 
und Leichentheilen, die in einem, hier am Rhein häufiger vor¬ 
kommenden, fast unnahbar-ekelhaften, bis zur Unkenntlichkeit 
fortgeschrittenen Fäulnissgrade zur Obduction gelangten, die fol¬ 
gende Mischung als vorzüglich erwiesen, einen erkennbaren Zu¬ 
stand herzustellen und noch Verletzungen (u. A. an Herz und 
Lungen) nachweisbar zu machen: 

R. Jodi 3,0 Aufgegossen, wird die weiche benässte 

„ ,, in Masse fast augenblicklich geruchlos 

Methylaether. 250.0 (Jod) _ fe8t 6 (die Schwefelsäure be- 

ai » i e r , oc a mächtigt sich des Wassers und der al- 

Alcohol. absol. 25,0 ca ii schen Zersetzungsprodukte) — und 

Mixtis sensim admisce v611ig tanglic h zur Section (der 

Aci V u d 1,0 Aether Ter#ttchti s t sich )- - 


Behufs der Erhaltung ganzer todter Körper für eine längere 
Zeitdauer und mit möglichster Lebensähnlichkeit hat lange die 
Sucquet’sche Injectionsmethode (Pariser Morgue) den ersten 
Rang behauptet, obgleich weder Stärke, noch Mischungsverhält¬ 
nis, noch Haltbarkeit der fäulnisswidrigen conservirenden Flüssig¬ 
keit einer thatsächlichen vollkommenen „Einbalsamirung“ genüg¬ 
ten, — und ist dasselbe mit zahlreichen anderen neuerfundenen 
und empfohlenen Compositionen der Fall. 

Als in jeder Beziehung bewährt und das Höchste leistend 
empfehle ich meine folgende Composition und Methode: 

Da die erforderliche Flüssigkeit gewöhnlich beim Erwachsenen 
5—6 Liter beträgt, so verschreibe ich: 

R. Acid. arsenic. 20,0 
Hydr. bichlor. corr. 30,0 
Aq. carbol. (5%) 3250,0 
Alcohol. 200,0 
solve et filtra 
D. S. Injections-Flüssigkeit. 

Statt der 30,0 Hydr. bichl. corr. kann man auch Hydr. bi¬ 
chlor. corros. und Ammon, hydrochl. dep. aa 20,0 nehmen. Es 
bildet sich dann das von mir schon über 25 Jahre lang als viel- 



124 


Keicratc. 


seitiges „Waschmittel“ angewandte altbekannte Alembroth- 
Salz. — 

Die quaest. Flüssigkeit nun wil d injicirt entweder vermittelst 
einer kräftigen Spritze, Kautschukblasbalg oder mit irgend einem 
passenden Pumpwerk durch: die Art. carot. comm., cruralis, bra- 
chialis, — oder durch den arteriellen Hauptstamm der einzelnen 
Körperabschnitte, oder überhaupt durch so viele Aeste wie mög¬ 
lich — unter gewissen Umständen auch von der Aorta aus. Am 
besten macht man die ersten Spritzen rasch hintereinander, die 
letzten in l U —V s stündigen Zwischenräumen, bis die ganze Leiche 
mit Flüssigkeit durchtränkt ist, was ein Paar feine Probestiche 
in die Spitzen der Finger und Zehen erkennen lassen. Färbt 
man die Mischung mit etwas Anilinroth, so nimmt die Haut, be¬ 
sonders des Gesichts, während der Einspritzung schon die natür¬ 
liche Farbe des Lebens an. Am besten gelingt die Injection bei 
einer Temperatur zwischen 15—20° K. — 

Sollen endlich Leichen eine bestimmte Zeit behufs Parade- 
Au sstellung frisch erhalten werden, so bedeckt man den (hölzer¬ 
nen) Boden des Sarges etwa 10 cm hoch mit einem Gemenge von 
100 part. Sulf. sublimat., 50 part. Acid. borac. und 20 part. Myrrh. 
Mit diesem gepulverten Gemenge sind noch so viele andere des- 
inficirende oder starkriechende zerkleinerte Kräuter etc. (beson¬ 
ders Eucalyptus, Kamillen, Salbei u. s. w.) zu mischen, wie es 
die Grösse der Leiche erheischt. Auch zur Ausfüllung der Höh¬ 
len ausgeweideter Leichname lässt sich das Gemenge passend 
verwerthen, während für die Balsamirung der besonders aufzube¬ 
wahrenden Eingeweide die zuerst angegebene Mischung sich 
empfiehlt. 


Referate. 

Dr. E. Engelhorn, Oberamtsarzt in Göppingen: Schulgesundheits¬ 
pflege. Zum Gebrauche für Schulvorstände, Lehrer und 
Eltern. Stuttgart 1888. Verlag von Carl Krabbe. 

Im Allgemeinen kann man sich nach Form und Inhalt mit dem vorliegenden, 
leicht verständlich und ansprechend geschriebenen Buche einverstanden erklären. 
Im ersten, dem gesunden und kranken Organismus des Schulkindes gewidmeten 
Theile schildert der Verfasser die körperliche und geistige Entwicklung der 
Kinder und die krankhaften Störungen derselben im schulpflichtigen Alter. 
Bei dieser Schilderung geht er wohl etwas zu sehr ins Specielle, zumal die 
Erkennung der Krankheiten doch immer dem Arzte überlassen bleiben muss; 
einzelne Krankheiten, wie acuter Gelenkrheumatismus, tuberculöse Kehlkopfs¬ 
geschwüre gehören kaum in den Rahmen des Buches. 

Der zweite Theil, die eigentliche Schulgesundheitspflege ist recht sachge¬ 
mäßes gehalten und kann man nur wünschen, dass die Ansichten des Verfassers 
über die Einrichtungen der Schule und des Unterrichts, insonderheit diejenigen 
über Kindergärten, Hausaufgaben, Nachhülfe- und Privatstunden von den 
Schulvorständen, Lehrern und Eltern aufs Strengste beachtet werden. Dagegen 
dürfte der Vorschlag, das Tanzen als obligatorischen Schulunterrichtsgegenstand 
einzuführen, auf energischen pädagogischen Widerstand stossen 

Das Buch verdient eine warme Empfehlung bei denjenigen Personen für 
deren Gebrauch es hauptsächlich geschrieben ist. Die beigegebenen Ab- 



Referate. — Verordnungen und Verfügungen. 


125 


bildungen sind recht anschaulich, die Ausstattung gut, nur hätte mit Rück¬ 
sicht auf die Augen des Lesers eine etwas grössere Druckschrift gewählt 
werden können. Rapmund. 


Dr. NI. Schulz, Stadtphysikus und Vorsteher der Königlichen Impf¬ 
anstalt in Berlin: Impfung, Impfgeschäft und Impftechnik. 
Ein kurzer Leitfaden für Studirende und Aerzte. Berlin 1888. 
Verlag von Th. Ch. Fr. Enslin (Richard Schötz). 

Das Erscheinen des vorliegenden, von sachkundiger Hand verfassten und 
nach Anlage und Ausführung vortrefflichen Leitfadens wird, nachdem durch 
Beschluss des Bundesrathes vom 31. März v. J. die ärztliche Prüfung auch auf 
die Schutzpockenimpfung einschliesslich der Impffcechnik und des Impfge¬ 
schäftes ausgedehnt ist, insonderheit von den Studirenden der Medicin mit 
grosser Freude begrüsst werden. Dieselben finden in dem Werkchen alles 
Wissenswerthe auf dem Gebiete des Impfwesens in klarer, ansprechender und 
rein sachlicher Darstellungsweise kurz zusammengefasst und hat es Verfasser 
verstanden, gerade diejenigen Punkte besonders hervorzuheben, welche erfahrungs- 
gemÜ8s bei der Ausführung des Impfgeschäftes nicht nur von den Anfängern, 
sondern auch von den älteren Aerzten am häufigsten unbeachtet gelassen werden. 

In dem ersteren mehr theoretisch gehaltenen Theile des Leitfadens wird 
nach kurzer Schilderang der geschichtlichen Entwicklung der Impfung und 
Impfgesetzgebung hauptsächlich der physiologische und pathologische Stand 
der Impffrage erörtert. Der Nutzen der Impfung, die Dauer des Impfschutzes, 
der regelmässige und unregelmässige Verlauf* der Schutzpocken beim Menschen, 
die Impfbeschädigungen und deren Vermeidung sind hier ebenso wie die Ein¬ 
wände der Impfgegner einer sachgemässen Besprechung unterzogen und dabei 
mit Recht die für die Gestaltung des Impfwesens im deutschen Reiche so 
bedeutungsvollen Beschlüsse der Impfkommission eingehend berücksichtigt. 

Der zweite Theil des Buches ist der praktischen Ausführung des Impf¬ 
geschäftes und der eigentlichen Impftechnik gewidmet. Zunächst werden die 
wichtigsten im deutschen Reiche und preußischen Staate zur Zeit geltenden 
gesetzlichen Bestimmungen über das Impfwesen im Wortlaut wiedergegeben 
und hierauf die bei Führung der Impf listen, Ansetzung und Abhaltung der 
Impftermine, Abstattung der Impfberichte, Gewinnung und Aufbewahrung der 
Menschen- und Thierlymphe, Ausführung der Impfung bei Menschen u. s. w. 
von Seiten der Aerzte zu beobachtenden Gesichtspunkte und Vorschriften mit 
grosser Sachkenntniss geschildert. 

Den Schluss des recht gut und mit verschiedenen schätzbaren Anlagen 
(graphische Tafeln über Pockensterblichkeit, Beispiele der Listenführung u. s. w.) 
ausgestatteten Schriftchens bildet ein allerdings nur kurz gehaltener Abschnitt 
über Privatimpfungen. 

Zahlreiche von dem Verfasser auf Grund eigener langjähriger Erfahrungen 
gegebene praktische Winke machen den Leitfaden um so werthvoller und sei 
derselbe nicht nur den Studirenden der Medicin, für deren Gebrauch er in 
erster Linie bestimmt ist, sondern auch allen Aerzten aufs Wärmste empfohlen. 

^_ Rapmund. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Die Fortschritte in der öffentlichen Gesundheitspflege und insbesondere 
der hohe Werth derselben für diejenigen Altersklassen, in denen ein hervor¬ 
wiegend wichtiger Antheil an der Entwickelung des Einzelnen der Schule zu- 
iällt, Hand in Hand mit der Geistesbildung auch der Ausbau des Körpers 
stattfindet und die Fernhaltung krankmachender oder schwächender Einwir¬ 
kungen von weittragendster Bedeutung für das spätere Leben ist, lassen eine 
Erörterung der Frage, ob die gegenwärtige Organisation der Schulaufsicht die 
möglichst umfassende und richtige Erfüllung der der Schule in dieser Be¬ 
ziehung obliegenden Aufgaben genügend sichergestellt, oder ob bezw. inwie¬ 
fern als es erforderlich zu erachten ist, eine grössere Gewähr für dieselbe zu 
schaffen, namentlich Aerzte in stärkerem Masse und zwar auch nichtbeamtete 
zu diesem Zwecke heranzuziehen, angemessen erscheinen. 



126 


Verordnungen und Verfügungen. 


Um das Bedürfnis einer solchen Aenderun^ klar zu stellen, wünsche ich 
eine eingehende gutachtliche Aeusserung der Königlichen Regierung zu erhalten. 
Hierbei werden die nachstehenden Gesichtspunkte besonderer Erwägung 
empfohlen. 

Um ein Urtheil darüber zu gewinnen, ob und event. in welchem Masse 
eine stärkere Betheiligung von Aerzten bei der Gesundheitspflege in den 
Schulen für erforderlich zu erachten sein wird, erscheint es nothwendig, die¬ 
jenigen gesundheitlichen Faktoren, deren Gestaltung von den Schulorganen 
mehr oder weniger abhängig ist, — abgesehen an dieser Stelle von der Art 
und Ausdehnung der Lehrgegenstände und Schularbeiten — einzeln in Be¬ 
tracht zu ziehen, hauptsächlich die Reinheit und Temperatur der Luft in den 
Räumen des Schulgebäudes, die Reinhaltung der Anstalt überhaupt, die Be¬ 
dingungen für die Körperhaltung des Schülers im Schulzimmer, insbesondere 
diejenigen, welche auf die Formung des Körpergerüstes und die Entwickelung 
des Sehorgans von Einfluss und in der Bauart, den Abmessungen und sonstigen 
Raum Verhältnissen, der Sitze und Tische, ausserdem in den Dimensionen und 
der.Belichtung des Schulzimmers, sowie der von dem Schüler vorzugsweise zu 
betrachtenden Gegenstände, namentlich des Lehrmaterials, gegeben sind, fer¬ 
ner die Gelegenheit zur Bewegung im Freien und in bedeckten Räumen wäh- 
tend der Unterrichtspausen, die Bereitstellung guten Trinkwassers in genügen¬ 
der Menge, zweckmässige und ausreichende Abtritte, die Massnahmen zur 
Femhaltung von Keimen ansteckender oder anderer vermeidbarer Krank¬ 
heiten. 

Hinsichtlich der Fürsorge für die gesundheitsgemässe Beschaffenheit und 
Wirkung der Baulichkeiten und der Ausstattung werden die gegebenen Ein¬ 
richtungen und die Erhaltung und Anwendung derselben zu unterscheiden sein. 
Unter den ersteren werden sowohl die vorhandenen als auch die neu zu er¬ 
richtenden Anstalten und die etwaigen Abänderungen Gegenstand der Beur- 
theilung sein; in allen diesen Fällen aber wird es nur einer einmaligen Fest¬ 
stellung und auch dieser nur da, wo dieselbe nicht bereits stattgefunden hat, 
benöthigen. Was dagegen die Handhabung der Einrichtungen, wie z. B. die 
Auswahl angemessen dimensionirter Subsellien für die einzelnen Schüler, die 
Reinhaltung, die Benützung der Lüftungs- oder der Heizvorrichtungen, anbe¬ 
langt, so würde sich die Art derselben nur durch wiederholte Revision nach- 
weisen lassen, und zwar würden die Zeiträume, in denen zweckmässig die 
Wiederholungen zu erfolgen hätten, sowohl nach den örtlichen Verhältnissen, 
wie auch nach den einzelnen Zwecken verschieden zu bemessen sein. 

Die gegen die Verbreitung ansteckender Krankheiten in der Schule vor¬ 
zunehmenden Untersuchungen würden sich, insoweit dieselben nicht von dem 
Lehrer selbst ausführbar sind, nur auf chronische Leiden, namentlich der Haut 
und der Augen erstrecken können, da eine weitere Ausdehnung dieser Mass¬ 
nahme, deren Wichtigkeit an sich nicht verkannt werden kann, zur Aussicht 
auf befriedigenden, einigermassen vollständigen Erfolg einen unverhältniss- 
mässig grossen und an den meisten Orten unmöglichen Aufwand an ärztlichen 
Kräften nothwendig machen würde. Auch hier wird die Kontrolle nach der 
verschiedenen Bedeutung, welche die in Betracht zu ziehenden Krankheiten 
für die einzelnen Gegenden besitzen, in verschiedener Häufigkeit angemessen 
auszuführen sein. 

Während die Feststellungen zum letzteren Zweck unzweifelhaft nur durch 
Aerzte erfolgen könnten, so erscheint die Nothwendigkeit, diese auch zu den 
Übrigen Untersuchungen heranzuziehen, nicht im gleichen Grade feststehend, 
vielmehr zunächst noch eine nähere Erörterung über die bei dem bisherigen 
Verfahren hervorgetretenen Mängel und die Zweckmässigkeit, in dieser Be¬ 
ziehung die Thätigkeit der seither hierin betheiligten Organe (Schul-Kurato¬ 
rien, Direktoren, Inspektoren, Vorstände, Lehrer, Baubeamte) durch Aerzte zu 
verstärken, wichtig. Insbesondere ist hierbei auch zu prüfen, ob bezw. für 
welcherlei Kontrollen die beamteten Aerzte, deren vorzugsweise Berücksich¬ 
tigung sich in ihrer besonderen Verantwortlichkeit und in höherem Masse 
nachgewiesenen Kenntniss der Hygiene begründet, allein ausreichen würden, 
und für welche anderen Zwecke etwa die Heranziehung nicht beamteter Aerzte 
für nöthig oder empfehlenswerther erachtet wird. 



Verordnungen und Verfügungen. — Literatur. 


127 


Da in einigen Verwaltungsbezirken die Einrichtung der ärztlichen Schul¬ 
revisionen bereits besteht, so ist es mir endlich auch von Werth, aus denselben 
zu erfahren, auf welche Schulen und welche Revisionsobjecte sich diese Unter- 
tersuchungen erstrecken, wie oft, von welcherlei Aerzten und auf wessen 
Kosten sie ausgeführt werden, welchen ersichtlichen Nutzen sie bisher gehabt 
haben, und welche sonstigen Erfahrungen von Bedeutung in Betreff derselben 
etwa gemacht worden sind. 

Hiernach veranlasse ich die Königliche Regierung hinsichtlich der der 
dortseitigen Verwaltung zugehörigen Schulen nach den erforderlichen Ermit¬ 
telungen die Frage des Bedürfnisses einer Einführung bezw. Erweiterung der 
ärztlichen Schulrevisionen der Erwägung zu unterziehen und sich über das Er¬ 
gebnis« nach Massgabe der vorstehend bezeichneten Gesichtspunkte gutacht¬ 
lich zu äussern, insbesondere auch dabei etwaige Vorschläge über die Organi¬ 
sation der Revisionen oder einer anderweitigen Heranziehung von Aerzten zur 
Betheiligung an den Aufgaben der Schulaufsicht zu formuliren. 

gez. v. Gossler. 

An sänimtliche Königliche Regierungen. 


Literatur. 

(Der Redaction zur Recension eingegangen.) 

1. Dr. Albert Weiss, Königl. Reg.- und Medicinal-Rath. Das öffentliche 
Gesundheitswesen des Regierungsbezirkes Düsseldorf in den Jahren 
1883—1885. 

2. Dr. 0. Rapmund, Reg.- und Med.-Rath. Erster Gesammt-Bericht über 
das öffentliche Gesundheitswesen des Regierungsbezirks Aurich, insbe¬ 
sondere die Jahre 1883, 1884 und 1885 umfassend. 

3. Dr. Nelotitzky, K. K. Bezirksarzt in Caslau-Eger. Die Infections- 
krankheiten im Sanitätsbezirk Gaslau 1880 und 1885. 

Hebammen und Geburtstabellen. 

Sanitätspolizeiliche Gutachten 1—11 und 12—16. 

Die Verunreinigung des Kuttenberger- und Kleinarka-Baches. 

Die Instruction zur ärztlichen Untersuchung der Wehrpflichtigen. 

4. Dr. Hermann Ortloff, Landgerichtsrath in Weimar. Gerichtlich¬ 
medizinische Fälle und Abhandlungen, Heft I, II und III. Berlin W. 57, 
Verlag von H. Worms. 

5. Dr. Bernhard Lizia, K. K. Bezirksarzt und Sanitätsrath in Teschen. 
Die Blinden des politischen Bezirkes Teschen im Kronlande Schlesien. 
Teschen, K. K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaska 1887. 

Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege, Verlag von Emil 

Strauss, Bonn 1888. 

6. Prof. Dr. M. v. Pettenkofer und Prof. Dr. H. v. Ziemssen. Hand¬ 
buch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten. Leipzig, 1882—1888. 
Verlag von F. C. W. Vogel. Bis jetzt erschienen: 1. Theil, Abth. I, II, 
Heft 1, 2 und 3. H. Theil Abth. I, Heft 1 und 2. II. III. und IV. Theil. 

7. Dr. Grandhomme, Kreisphysikus in Höchst a./M. Der Kreis Höchsta./M. 
in gesundheitlicher und gesundheitspolizeilicher Beziehung. Frank¬ 
furt a./M. 1887. Verlag bei J. Alt. 

8. Beiträge zur Beurtheilung des Nutzens der Schutzpockenimpfung, 
bearbeitet im Kaiserlichen Gesundheitsamte. Mit 6 Tafeln. Berlin 1888. 
Verlag bei J. Springer. 

9. Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege. Braun¬ 
schweig, Verlag von Fr. Vieweg und Sohn. 1. Heft 1888. 

10. Lebensgefahr im eigenen Hause von F. Pridgin Teale zu Leeds. Nach 
der vierten Auflage des Orginals übersetzt von J. K. H. Prinzessin 
Christine von Schleswig-Holstein und für deutsche Verhältnisse bearbeitet 
von H. Wansleben, Stadtingenieur zu Kiel. Leipzig 1888, Verlag von 
Lipsius und Fischer. 



128 


Personalien. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen wurden der Charakter als Sanitätsrath: dem Kreisphysikus 
Dr. Wolff zu Loebau, dem Kreiswundarzt Dr. Fuckel in Schmalkalden, den 

S raktischen Aerzten Dr. Aufrecht in Frankfurt a./0., Dr. Hoidersheim in 
Tünster, Dr. Lübbecke in Brome, Dr. Baum in Köln, Dr. Niemann in 
Magdeburg, Dr. v. Gluszczewski in Bukowitz, Dr. Schmidt-Metzler in 
Frankfurt a./M. und Dr. Will in Homburg v. d. H. — Der Kronenorden 
III. CI.: dem Kreisphysikus Geh. San.-Ratk Dr. Gross in Ohlau und dem 
Kreiswundarzt Sanitätsrath Dr. Heiland in Uslar. — Der Kronenorden 
IV. CI. dem Kreiswundarzt Dr. Büttner zu Wünscheiburg. — Das Kreuz 
der Komthure des Hausordens der Hohenzollern: dem ersten Assistenz¬ 
arzt an der Universitätsklinik in Berlin, Dr. Bramann. 

Ernennungen: 

Der praktische Arzt Dr. Elten in Freienwalde a. 0. zum Kreisphysikus 
des Kreises Liebenwerda; der praktische Arzt Dr. Schneider in Schleusingen 
zum Kreisphysikus des Kreises Schleusingen; der praktische Arzt Dr. Rieger 
in Brieg zum Kreiswundarzt des Kreises Brieg. 

Verstorben sind: 

Kreiswundarzt Dr. Bruns zu Melle; Kreisphysikus Sanitätsrath Dr. Boss 
in Falkenberg in Ob.-Schl., Kreisphysikus Dr. Hellmann in Görlitz; San.-Rath 
Dr. Köhler in Soden. 

Vakante Stellen. 

Kreisphysikate: Darkehmen, Neidenburg, Dirschau, Putzig, Briesen, 
Znin, Filehne, Witkowo, Gostyn, Jarotechin, Koschmin, Lissa, Neutomischel, 
Schildberg, Schmiegel, Falkenberg in Ob.-Schl., Goerlitz (Meldungen bis 6./IV.) 
Mansfeldt (Gebirgskxeis), Johannisberg und Putzig, Oberamt Gammertingen, 
Gramm, Neustadt a. R. f Adenau und Daun, Oehlau. 

Kreiswundarztstellen: Fischhausen, Mohrungen, Darkehmen, Heyde- 
krug, Ragnit, Sensburg, Tilsit, Karthaus, Loebau, Stuhm, Angermünde, Templin, 
Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West-Sternberg, Regenwalde, Bütow, Dram- 
burg, Schievelbein, Schroda, Wreschen, Strehlen, Reichenbach, Jerichow I, 
Wanzleben, Saalkreis, Naumburg a. S., Koesfeldt, Steinfurt, Warendorf, Höxter, 
Warburg, Lippstadt, Meschede, Untertaunus, Zell, Kleve, Solingen, Bergheim, 
Rheinbach, Wipperfürth und St. Wendel. 


Berichtigung: 

In No. 3 dieser Zeitschrift, Seite 84, Zeile 9 von unten, „Zur Untersuchung 
und Beurtheilung der Trinkwässer“ von Dr. H. Weigmann, lies: „der An¬ 
nahme“ statt „der nicht zu verschliessenden Thatsache.“ 


Um Einsendung von Zeitschriften, Broschüren und Büchern aus dem 
Gebiete der gerichtlichen Medicin und Psychiatrie, der Hygiene und 
Sanitätspollzei, wird mit dem ergebensten Bemerken gebeten, dass die 
Besprechung derselben nach der Reihenfolge des Eingangs erfolgt. 

Wegen Raummangel werden die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses 
vom 17. März über den Medicinaletat, erst in der nächsten Nummer zum 
Abdruck gelangen. 

Die Redactlon. 


Diesem Hefte liegen zwei Prospecte ..Heilanstalt 1’’iir Nerven* 
leidende“ von Dr. med. Oskar Eysolein, Blankenburg am Harz, und 
„Prager med. Woohensohrlft“, bei. 

Fürstl. priv. Hofbuchdruckerei (F. Mltzlaff), Rudolstadt. 



Jahrg. 1, 


1888 , 


Zeitschrift 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Heraasgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.* und Medicinalrath in Aurich. 

and 

Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6- 



Ertfhelat mm 1. Je4«a MomIi. 

1 Mai 

iiO. 0. 

Preis jährliolx 6 Mark. 

JCTattcfl* 


INHALT: 


Beite 


Oriffinal-Mittheilangen: 

Zur Casulstlk des plötzlichen Todes. 

Von Dr. Mittenzweig.129 

Ueber postepileptische Bewusstseins¬ 
trübung und epileptische Aequlvalente. 

Von Dr. «. Rosen bannt.142 

Die diesjähr. Verhandlung des preussl- 


schen Abgeordnetenhauses über den 
Mediclnaletat. Von Dr. Rapmtuid . . 145 

Referate: 

Dr. Sehmklt-Mllhelm , Die technische 
Grundlage für den Handelsverkehr mit 
Fleisoh von tuberkulösen Thleren . 150 


Seite 

Dr. H. Martin, Wie kann unsere Frauen¬ 
welt bei der nothwendlgen Reform des 
Hebammenwesens helfend elngrelfen? 150 
Dr. med. Zaleskl, Vorschlag einer neuen 
Methode der gerichtlich-chemischen 
Bestimmung des Gelebthabens des 


Neugeborenen.151 

Dr. Fr. Renk, Die Luft.152 

Wiener klinlsebe Wochenschrift ... 154 
Verordnungen und Verfügungen . 164 

Literatur. 168 

Personalien. 169 

Preuss. Medioinalbeamtenverein * i«o 


Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 

Ein Fall von Thrombose beider Lungenarterien durch 
embolische Thromben des rechten Herzens. 

Von Dr. Mittenzwelg. 

I. Einleitung. 

Die Kenntniss von den Ursachen des plötzlichen Todes ist 
neuerdings durch die Arbeiten von Key-A*berg, Strecker und 
Lesser, welche das Material der Wiener und Berliner Leichen- 
häuser nach dieser Richtung hin bearbeitet haben, um ein Er¬ 
hebliches gefordert worden. Gleichwohl erscheint es wiinschens- 
werth, dass dieses wichtige Gebiet der gerichtlichen Medicin, 
welches bisher recht wenig zumal von den Gerichtsärzten selbst 
bebaut worden ist, in Zukunft sorgfältiger cultivirt und erweitert 
werde. Denn wenn es immerhin als eine erfreuliche Thatsache 
begrüsst werden darf, dass Autoritäten wie Liman und von Hof¬ 
mann schon längst den Weg betreten haben, welcher die ge¬ 
richtsärztlichen Lehren auf den Fundamenten der pathologischen 
Anatomie aufbauen soll, so ist doch heute noch hei Weitem das 
Ziel nicht erreicht, welches die Gerichtsärzte sich stecken sollten. 

3 















130 


Dr. Mittenzweig. 


Schon in seinem Vorworte zu dem Lesser’schen Atlas betonte 
Li man den Umstand, dass die pathologisch-anatomische Seite der 
gerichtlichen Medicin nicht selten gering geschätzt worden sei. 
Die gerichtliche Medicin sei zwar nicht pathologische Anatomie, 
sowenig als Chirurgie, Geburtshülfe oder Psychiatrie, sie verwende 
nur diese Disciplinen zu ihren specitischen Zwecken, aber sie 
solle das, was von den einzelnen Disciplinen der Medicin sie 
interessirt, voll und ganz besitzen. Und von Hofmann hat 
bereits in seinen ersten Veröffentlichungen dargethan, dass es 
sein Streben sei, die gerichtliche Medicin auf der sicheren Basis 
der pathologischen Anatomie und der pathologischen Physiologie 
aufzubauen. Ihm sind die Ergebnisse des Obductionstisches und 
des Thierexperimentes die Pfeiler gewesen, auf welche er sein 
Lehrbuch gegründet hat. Allein viele Steine und viele Arbeiter 
gehören zur Vollendung eines Baues, wie ihn unsere Wissenschaft 
darstellt, und wir Jünger unserer gerichtsärztlichen Wissenschaft 
müssen alle ohne Ausnahme dazu beitragen, wenn wir das Werk 
gekrönt sehen wollen. 

Auch die Erforschung der Ursachen des plötzlichen Todes 
bildet einen solchen nennenswerthen Baustein, der bisher noch 
wenig behauen worden ist, und jeder einigermassen beachtens- 
werthe frische Fall, der diese Todesart zu beleuchten verspricht, 
verdient die Veröffentlichung. 

Unter den verschiedenen Arten dieses Todes macht sich die 
Thrombose oder Embolie der Lungenarterien bemerklich, einmal 
durch die grosse Wichtigkeit, welche ihr durch ihr nicht seltenes 
Vorkommen gebührt, ein andermal aber wegen der geringen Be¬ 
achtung, welche derselben bisher namentlich von den Gerichts¬ 
ärzten geschenkt worden ist. Scheint es doch fast wunderbar, 
dass Strecker keinen einzigen derartigen Fall zu verzeichnen 
hat und dass Key-A # berg so wenig Notiz davon nimmt, dass 
Lesser unter 171 Fällen von plötzlichem Tode nur fünf Fälle 
von Verstopfung der Lungenarterien aufführt, während Virchow 
doch schon vor fast einem halben Jalirhundert die Aufmerksam¬ 
keit der Pathologen auf das häufige Vorkommen dieser Todesart 
gelenkt hat. Schon damals befürwortete Virchow, dass die ge¬ 
ringe Anzahl der Beobachtungen von Lungenthrombose nur von 
einer Mangelhaftigkeit der Untersuchungen herrühren könnte, 
denn nachdem er über ein Jahr lang bei den Sectionen der 
Berliner Charite genau darauf geachtet habe, könne er versichern, 
dass die Verstopfung der Lungenarterie wenigstens zu den 
häufigsten Krankheitszuständen zu rechnen sei. So fand Virchow 
unter 76 Sectionen, welche er in einen Monate machte, allein 
11 mal Pfropfe in den Lungenarterien vor und er erwähnt einzelne 
Fälle, welche eventuell das höchste gerichtsärztliche Interesse 
hätten beanspruchen können, so z. B. die Lungenthrombose nach 
Operation eines eingeklemmten Bruches, welche ihre Ursache nicht 
an dieser, sondern an einer ganz anderen Stelle des Körpers 
fand, und manches mehr. 



Zur Casuistik dos plötzlichen Todes. 


131 


Diese Erwägungen sind es gewesen, welche mich veranlasst 
haben, nachstehenden Fall bekannt zu geben, nicht etwa weil er 
ein directes gerichtsärztliches Interesse mit sich verknüpft hätte. 
Im Gegentheil, das gerichtliche Interesse erlosch sehr bald, 
nachdem die Obduction gemacht und zweifellos den spontanen 
Eintritt des Todes und den Ausschluss der Schuld eines Dritten 
ergeben hatte. Das Motiv, welches mich zu der Veröffentlichung 
leitet, liegt vielmehr auf anderem Gebiete. Einmal gehört, wie bereits 
erwähnt, der plötzliche Tod durch Lungenthrombose nicht zu den 
Todesarten, welche einer feineren Bereicherung der Kasuistik 
entbehren könnten); sodann aber zeichnete sich dieser Fall durch 
besondere Schönheit des Lungenpräparates aus; ferner bietet er 
in seiner ursächlichen Beziehung von Lungenembolie zu Herz¬ 
thromben und peripherischen kachektischen Abscessen und Zu¬ 
ständen so manche interessante Gesichtspunkte, und schliesslich 
bewog mich die gerade im Augenblick so vielfach discutirte Frage 
der Thrombose dazu, diese Frage auch in dieser Zeitschrift ein¬ 
mal eingehender zu besprechen. 

Die soeben im Druck erschienene Arbeit von Eberth und 
Schimmelbusch hat mich allerdings mitten in meiner Durchsicht 
der einschlägigen Literatur überrascht und mich fast schwankend 
gemacht, ob nach ihrem Erscheinen der zuletzt angeführte Grund 
noch stichhaltig sei. Indess hoffe ich, dass trotz dieser über¬ 
sichtlichen und äusserst klaren Abhandlung der genannten Autoren 
manchem unserer Leser die nachstehende Uebersicht nicht unwill¬ 
kommen sein wird. 

Ich werde deshalb nach der Darlegung des Falles selbst 
das Wesentliche aus der Lehre von der allgemeinen Throm¬ 
bose und Embolie und von der Lungenthrombose im Besonderen 
folgen lassen und am Schlüsse eine Epikrise des vorliegenden 
concreten Falles anschliessen. 

II. Obductions-Protokoll der Marianne W . . . ka vom 20. I. 88. 

Diagnose: Allgemeine Kachexie, Decubitalabscess, maran¬ 
tische Thrombose des rechten Herzens, Obstruirende 
Embolie beider Lungenarterien. 

Am 18. Januar 1888 bescheinigte der Dr. V., dass die Auf¬ 
nahme des Dienstmädchens Marianne W. in das Krankenhaus 
wegen Lungenbeklemmung und Anschwellung der Beine noth- 
wendig wäre. Im Krankenhause kam die Patientin bereits ' 
sterbend an, sie war sehr verwahrlost und bereits aufgelegen und 
starb, ohne die Besinnung wieder zu erlangen am 19. Januar' 
Vormittags. 

Die am 20. Januar ausgeführte gerichtliche Obduction hatte 
folgendes Ergebniss: 

A. Aeussere Besichtigung. 

1) Die 131 cm lange Leiche ist die einer ungefähr 45 Jahre 
alten Frau. Der Körperbau ist unregelmässig, insofern als eine 



132 


Dr. Mitten zweig. 


sehr erhebliche Kypho-Scoliose besteht. Die Entwicklung der 
Muskulatur und des Fettpolsters ist eine sehr dürftige. 

2) Sämmtliche Gelenke sind etwas leichenstarr. 

3) Die Farbe der Haut, im Allgemeinen grauweiss, ist am 
Rücken livide, um die Gegend des Afters röthlich, doch findet 
sich in diesen verfärbten Stellen das eingeschnittene Gewebe 
ohne Bluterguss. 

4) Der Kopf ist bedeckt mit 20 cm langem, dunkelblondem, 
grau untermischtem Haar. Verletzungen sind an ihm nicht zu 
bemerken. Das Haar wimmelt von Ungeziefer. 

5) In den natürlichen Oeffnungen des Kopfes liegen keine 
Fremdkörper. 

6) Das linke Ohr ist bleich, das rechte leicht bläulich, doch 
liegt nur innerhalb der durchschnittenen Venen flüssiges Blut. 

7) Im Gesicht keine Verletzungen. 

8) Die Augenschleimhaut ist blass grauweiss, die Hornhäute 
sind glänzend und durchsichtig, die Regenbogenhäute blaugrau, 
die Pupillen je 5 mm weit. 

9) Die kleine Nase hat eine auffallend bläuliche Spitze. 

10) Die intacten Zahnreihen stellen fest aufeinander, die 
Lippenschleimhaut ist trocken und livide, die Zunge nicht sichtbar. 

11) Der Hals ist sehr mager und frei beweglich. 

12) Die Brust sehr breit, aber sehr kurz. 

13) Der Bauch gleicht einem zusammengesunkenem Sacke, 
die Haut ist trocken und braungrau. 

14) An den Innenflächen beider Oberschenkel ist die Haut 
röthlich, an den röthlichen Stellen von Oberhaut entblösst und 
die freigelegte Lederhaut röthlich punktirt. Einschnitte ergeben 
das Gewebe frei von ausgetretenem Blute, aber stark wässrig 
geschwollen. 

15) Die Schleimhaut des Vorhofes mit eiteriger Schmiere 
bedeckt 

16) Das rechte Bein ist stark geschwollen, wie Einschnitte 
ergeben, durch wässrige Infiltration, die rechte Vene femoralis 
enthält ein langes rothes Blutgerinnsel, welches feucht, 
nicht geschichtet und der Wand nicht adhärent ist. 

17) Das linke Bein ist dünn, doch etwas wässrig im einge¬ 
schnittenen Gewebe, ohne Gerinnsel in den Stamm- oder Muskel- 
venen. 

18) Beide Arme sind dünn, ohne bemerkenswerthe Ver¬ 
änderung. 

19) Am Rücken, in der Höhe des 12. Brustwirbels, liegt 
eine 10 cm grosse, blaurothe, von Oberhaut entblösste Stelle, bei 
deren Einschnitt eine 6 cm grosse Höhle zu Tage tritt. In 
dieser liegt eitrige, dünnflüssige, gelbgrünliche Masse. Ihre 
Wandungen sind etwas fetzig und graugrünlich. Deren Schnitt¬ 
flächen sind grünlichgrau, die benachbarten Venen stark gefüllt, 
zum Theil mit rothen Blutgerinnseln. 

20) Der After steht offen und ist nicht mit Koth beschmutzt. 



Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 133 

B. Innere Besichtigung. 

I. Eröffnung der Kopfhöhle. 

21) Die weiche Kopfdecke ist blass und trocken, ohne aus¬ 
getretenes Blut im durchschnittenen Gewebe und mit leeren 
venösen Gefässen. 

22) Die Knochenhaut und die Aussenfläche des Schädel¬ 
daches sind unverletzt, die Schädelhöhle 16 cm lang und 137* cm 
breit, der Knochen selbst 4—10 cm dick und sehr schwer, dabei 
wenig durchscheinend, mit glatter Innenfläche und nur geringer 
Tiefe der Gefässfurchen. 

23) Der obere Längsblutleiter enthält wenig flüssiges Blut, 
seine Innenwand ist glatt bis auf die natürlichen Buchten. 

24) Die Aussenfläche der harten Hirnhaut ist grauweiss, 
ihre Arterien sind wenig gefüllt, ihre Innenfläche sehnigweiss. 

25) Die weiche Hirnhaut ist durchscheinend, jedoch sind die 
Maschen des spinnegewebigen Theiles weit und mit wässriger 
Flüssigkeit erfüllt. Sie lässt sich leicht vom Gehirn abziehen. 
Ihre Venen enthalten wenig dunkelrothes, flüssiges Blut. 

26) Die Hirnfurchen sind breit, die Windungen rundlich. 

27) Die Rinde ist blassgrau, das Mark weiss, etwas trocken, 
mit wenig Blutpunkten. 

28) In beiden Seitenkammern liegt je ein Theelöffel wässriger 
Flüssigkeit. Die Wandungen sind glatt und feucht. 

,29) Die obere Gefässplatte und die Adergeflechte sind blass- 
roth, ihre Venen sind leer, ihr Gewebe etwas derb. 

30) Sehhügel, geschwänzter Kern, Linsenkem, innere Kapsel 
und Vierhügel sind auf dem Durchschnitt blassgrau, resp. blass- 
weiss mit spärlichen Blutpunkten. 

31) Die vierte Kammer ist feucht, das kleine Gehirn blass 
und feucht auf dem Durchschnitt. 

32) Die weiche Hirnhaut an der Basis ist wässrig durch¬ 
tränkt, von spärlichem Blutgehalt ihrer Venen. 

33) Die Arterien daselbst haben glatte Wandungen, sind 
etwas bläulich von Blutgehalt und in ihrem Kaliber nicht ver- 
grössert. 

34) Der Querschnitt der Himschenkel, der Brücke und des 
verlängerten Markes ist blass und nur wenig roth punktirt. 

35) Die Blutleiter an der Basis enthalten wenig flüssiges Blut. 

36) Die harte Hirnhaut und die Knochen an der Basis sind 
unverletzt. 


II. Brust- und Bauchhöhle. 

37) Die obere Hälfte der Bauchhöhle nimmt der aufge¬ 
triebene graue Magen ein, das Netz ist dick und besitzt spärlich 
röthlich-gelbes Fett sowie wenig gefüllte Gefässe. Es bedeckt 
zum Theil die grauen Dick- und Dünndärme. Ein ungehöriger 
Inhalt ist nicht vorhanden, das Zwerchfell steht hinter der fünften 
Rippe. Auch das Fett der Bauchdecken ist spärlich und röthlich, 



134 


Dr. Mittenzweig. 


die Muskulatur blass grauroth, das Bauchfell selbst sehnig uud 
etwas trübe, doch ohne Belag. 

a) Organe der Brusthöhle. 

38) Die Organe der Brusthöhle liegen normal, das Brustbein 
ist unverletzt, der Herzbeutel liegt zum grössten Theile frei, 
beide Lungen sind schiefrig, blass und zurückgelagert, ein unge¬ 
höriger Inhalt in den Brustfellsäcken nicht vorhanden, nur in dem 
rechten etwas blassröthliche Flüssigkeit. 

39) Der Herzbeutel enthält 10 Gramm blassröthlicher Flüssig¬ 
keit, seine Innenfläche ist grauweiss und glatt. 

40) Das Herz entspricht der Grösse der Faust der Leiche, 
ist 8 cm lang und ebenso breit, fest, bläulich und mit röthlichem 
Fett bedeckt. Seine Kranzgefässe enthalten wenig Blut, ihre 
Wandungen sind glatt 

Sämmtliche Herzräume sind fast blutleer. Nur im rechten 
Vorhofe liegt etwas geronnenes Blut; beide Kammereingänge für 
3 resp. 2 zusammengelegte Finger durchgängig. 

Auch beim Herausnehmen des Herzens tritt nur wenig ge¬ 
ronnenes Blut von rother Farbe aus. 

Die arterieUen Klappen schliessen wasserdicht. 

Die Muskulatur ist dünn und etwas bräunlich, der innere 
Herzüberzug zart, die arteriellen, wie die zipfligen Klappen sind 
schwach verdickt, ohne Auflagerungen und glatt. 

Im rechten Herzen finden sich 4 grössere der Wand 
fest anhaftende Thromben, welche von grauweisser 
Farbe, etwas körniger Oberfläche, fester, aber bröck- 
licher Consistenz und mit röthlichen Blutgerinnseln 
bedeckt sind. Letztere lösen sich von der Oberfläche 
der Thromben leicht ab. Die Thromben selbst sitzen 
mit ihren Wurzeln in den Recessus der Herzmuskulatur 
und in dem Maschenwerk der Trabekel und lassen sich 
von der Herzwand nicht glatt abziehen. Sie sind mit 
dieser wie verwachsen. Ihr Querschnitt bietet ein 
buntes Bild, stellenweis die Gestalt eines Ohres. Eine 
solche Schnittfläche ist trocken, gelblich und grauweiss 
mit eingeschichteten braunrothen Zügen. Sie besteht 
aus einzelnen Schichten, deren Zusammenhang nicht 
überall gleich fest ist. Ein Schnitt, der durch den 
Thrombus, den Thrombuskern und die Herzwand gelegt 
ist, lässt den Uebergang von Kern und Wand nicht er¬ 
kennen. An anderen Stellen finden sich thrombale 
Stümpfe, welche eine unregelmässig gestaltete, treppen¬ 
förmige Endfläche besitzen. Diese sind ebenfalls mit 
rothen Blutgerinnseln überzogen. 

41) Die linke Lunge ist klein, glatt, trocken, blass 
schiefrig-grau und fühlt sich teigig an (ähnlich wie bei 
Verblutung). Auch ihre Schnittfläche ist trocken, blass¬ 
grau, glatt und schwammig. Nur aus den grossen Venen 
tritt bei Druck wenig dunkelrothes, flüssiges Blut. Die 



Zur Casuistik clcs plötzlichen Todes. 


135 


Luftröhre enthält wenig grauen Schleim, ihre Schleim¬ 
haut ist nicht verdickt und grauweiss. 

Schon beim Durchschneiden des Lungenhilus fühlt 
das Messer einen fast knorpelharten Widerstand, und in 
der Schnittfläche der beiden Lungenarterien finden sich 
als Ursachen dieser Resistenz durchschnittene grosse 
Thromben, deren Schnittfläche derjenigen im Herzen 
völlig gleicht. Sie sind in die Lichtung der Lungen¬ 
arterien eingekeilt und verstopfen dieselben fast völlig. 
An den Thrombus der linken Lunge setzen sich weiss- 
liche runde Bänder an, welche in den Zweigen für oberen 
und unteren Lappen liegen und in deren Verästelungen 
eindringen. Weiterhin werden sie braunroth, trocken, 
etwas mürbe, noch weiterhin roth uud feucht. Nirgends 
sitzen diese Thromben fest an der Gefässwand. Das 
ganze Arteriensystem der linken Lunge erscheint aus¬ 
gestopft und undurchgängig. 

42) Die rechte Lunge gleicht der linken und enthält 
ebenfalls einen obturirenden Pfropf von derselben Be¬ 
schaffenheit, wie die Herzthromben sie zeigen. Auch 
an sie setzen sich Gerinnungen an, welche die Gefäss- 
kanäle gleichsam ausgiessen. Aber diese Gerinnsel sind 
weniger trocken, gleich von Anfang an mehr roth und 
nicht ganz so derb wie links. Sie erscheinen jünger als 
diejenigen der rechten Seite. 

Die Bronchialdrüsen sind schiefrig und wenig vergrössert. 

43) Die grossen Gefässe am Halse sind unverletzt, die Venen 
enthalten locker geronnenes, rothes Blut. Auch die grossen 
Nervenstämme zeigen keine Verletzung. 

44) Mund- und Rachenhöhle enthalten keine fremden Körper. 
Der Zungenrücken ist glatt, die Schleimhaut der Mandeln, des 
Schlundes und der Speiseröhre sind blass, livide, die Speiseröhre 
ist leer. 

45) Kehlkopf und Luftröhre sind leer, ihre Schleimhaut ist 
blassgelblich. 

46) Die grossen Gefasse der Brusthöhle enthalten wenig 
flüssiges Blut, die Innenfläche der Aorta ist glatt, 

b) Bauchhöhle. 

47) Die Milz ist 24 cm lang, 7 cm breit und 3 l /u cm dick, 
fest, blauroth mit gelbweissen Verdickungen der Kapsel. Auf 
ihre Schnittfläche tritt mässig viel dunkelrothes Blut, dieselbe 
ist dunkelroth, mit wenig grauen Milzbläschen durchsetzt. 

48) Die linke Nebenniere ist fest, derb, aussen gelb, innen 
braungrau. 

49) Die linke Niere ist derb, 11 cm lang, 6 cm breit, 5 cm 
dick, mit narbiger Oberfläche, etwas gelb punktirt, dazwischen 
mit graurothen eingezogenen Flecken versehen. Auf den Durch¬ 
schnitt tritt wenig Blut. Die Schnittfläche ist glänzend glatt, 
die Rinde und die Bertini’schen Säulen sind graugelb, stellen- 



136 


Dr. Mittenzweig. 


weise roth, nicht geschwollen oder verbreitert, die Markkegel 
sind dunkelroth, die Schleimhaut der Kelche und des Beckens 
grauglänzend. 

50) Rechte Nebenniere und Niere von derselben Beschaffen¬ 
heit. 

51) Die Harnblase enthält 15 Gramm trüben Urins, ihre 
Schleimhaut ist trüb-grau, am Trigonum schmutzigroth gestrichelt. 

52) Der Mastdarm enthält braunen, dünnbreiigen Koth, 
seine Schleimhaut ist blassgrau, ohne Veränderung der Drüsen. 

53) Die inneren Geschlechtsorgane sind nicht verwachsen, 
von gewöhnlicher Grösse, der Gebärmutterkanal enthält etwas 
Schleim, die Muskulatur ist derb röthlichgrau, ohne Verdickung 
oder Schlängelung der Arterien. Am Muttermunde keine nar¬ 
bigen Einrisse, die Scheide glatt und ohne Narben, die Seiten¬ 
bänder nicht verdickt, ihre Venen nicht vergrössert oder throm- 
bosirt. 

54) Der Zwölffingerdarm enthält wenig graue, schleimige 
Masse, die Papille ist durchlässig, die Schleimhaut des Darmes 
schwarzroth gefleckt, wie geticgert. Einschnitte ergeben eine 
gleichmässige schwarze Färbung der oberen Schleimhautschichten 
an den gefleckten Stellen, ohne Röthung oder sonstige Verfärbung 
der tieferen Schichten, namentlich ohne Injection oder freien Blut¬ 
austritt ins Unterhautgewebe. 

55) Im Magen 50 Gramm grauer Flüssigkeit. Die Schleim¬ 
haut ist bedeckt mit grauem zähen Schleime, sie ist etwas ge¬ 
schwollen und derb, von gelblich grauer Farbe. Auch hier ist 
die Gegend der grossen Curvatur schwarzroth gefleckt, wie ge- 
tiegert und bietet dadurch ein auffallendes Aussehn. 

56) Der Dünndarm ist eng, enthält wenig grauen Brei, seine 
Schleimhaut ist blassgrau, seine Drüsen sind unverändert. 

57) Der Dickdarm enthält wenig breiigen, grauen Koth, seine 
Schleimhaut ist blassgrau, ohne Veränderung der Drüsen. 

58) Die Leber ist 16 cm breit, 14 cm hoch und 9 cm dick, 
fest, von etwas fetziger Oberfläche und dunkelroth. Auf den 
Durchschnitt tritt wenig Blut, derselbe ist braunroth, die Leber¬ 
läppchen sind roth, mit grossem braunrothen Centrum und 
schmaler grauer Peripherie. 

59) Die Gallenblase enthält dünnflüssige Galle, ihre Schleim¬ 
haut ist fast glatt. 

60) Die Bauchspeicheldrüse und die Gekrösdrüsen sind fest, 
sonst unverändert und nicht vergrössert. 

61) Die grossen Gefässe vor der Wirbelsäule enthalten 
wenig flüssiges Blut, die Innenwand der Schlagader ist glatt 

62) Die Wirbelsäule zeigt in ihrem unteren Brust- und im 
Lendentheil eine starke Verkrümmung nach links und hinten, 
welche auf der Höhe in eine völlige Knickung übergeht. Die 
Knochen und Bandscheiben sind fest, derb, in der Farbe 
nicht verändert. Eine abnorme Beweglichkeit ist nirgends vor¬ 
handen. 

63) Verletzungen am Skelett werden nicht gefunden. 



Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 


137 


Gutachten. 

I. Die Obducirte ist in Folge einer Verstopfung beider Lungen¬ 
arterien durch vom Herzen eingewanderte Pfröpfe ge¬ 
storben. 

II. Die Schuld eines Dritten am Tode derselben kann ausge¬ 
schlossen werden. 

Was die Untersuchung des vorstehenden Falles anlangt, so 
habe ich eine weitere, als die oben angegebene Anamnese nicht 
ermitteln können. Dagegen habe ich den einen der bei der Ob- 
duction abgebröckelten Thromben sowohl frisch, wie in Alkohol 
gehärtet mit und ohne Tinction mikroskopisch durchforscht und 
werde ich das Resultat dieser Untersuchung im fünften Abschnitte 
unter Berücksichtigung der nachstehend dargelegten Gesichtspunkte 
mittheilen. 

Wir wenden uns jetzt zur Besprechung des Wesens, der Ur¬ 
sachen, der Folgen und der Formen der Thrombose. 

m. Die Thrombose der Gefässe. 

Mit dem Namen Thrombose bezeichnet man seit Virchow’s 
bahnbrechenden Arbeiten die Gefässverstopfungen, welche bei 
Lebzeiten durch Gerinnungen innerhalb der Gefasslichtungen ein- 
treten, während man die Gerinnungen, welche im Todeskampfe 
und nach dem Tode selbst zu Stande kommen Leichen-, cadaveröse 
oder postmortale Gerinnsel nennt. Beide Arten von Blutgerinnseln 
haben die gemeinsame Eigenschaft, dass sie aus den Bestandtei¬ 
len des Blutes zusammengesetzt sind, dass wir in ihnen alle 
Bestandteile des fliessenden Blutes- wiederfinden können, sie 
unterscheiden sich aber dadurch, dass die Menge der einzelnen 
Blutbestandtheile und ihre Verteilung im Gerinnsel meistens eine 
recht verschiedene ist. Im fliessenden Blute kennen wir das flüs¬ 
sige Blutplasma, welches in seinem Blutserum den Faserstoff resp. 
die faserstoffliefernde Substanz gelöst enthält, und die körperlichen 
Gebilde des Blutes, die rothen Blutscheiben, die weissen Blut¬ 
körperchen und drittens ein kleines Körperchen, in welchem die 
Neuzeit einen dritten präformirten und constanten Formbestand- 
theil, die Blutplättchen, kennen gelernt hat. 

Wie wir unten erfahren werden, enthält nur das Blut der 
Säugethiere diese scheibenförmigen Blutplättchen, während wir 
im Blute der Kaltblüter spindelförmige Zellen finden, welche den 
Blutplättchen analoge Gebilde darstellen. 

Natürlich finden wir alle diese Bestandteile des lebenden 
Blutes nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt im Thrombus wieder, 
sondern sie begegnen uns in demselben formell wie materiell 
mannichfaltig umgestaltet und verändert, selten in ihrer natür¬ 
lichen Form. 

Pfröpfe, die an Ort und Stelle ihres Fundortes gebildet sind, 
nennen wir autochthone Thromben, solche, welche von einem 
anderen Orte her eingewandert sind, heissen Emboli. Letztere 
sind sonach Abkömmlinge der ersteren und ist ihre Bildungsweise 



138 


Dr. Mittenzweig. 


nicht unterschieden von deijenigen ihrer Erzeuger. Nur ihr 
Fundort ist in den überwiegenden Fällen ein anderer, abhängig 1 
von der Richtung des Blutstromes, welcher die vom Thrombus 
losgelösten Theile mit sich führt, und damit verschieden werden 
auch die Folgen, welche zum grossen Theile abhängig sind von 
der Beschaffenheit des verstopften Gefässes und seiner physiologi¬ 
schen Function. Im Allgemeinen können wir sagen, dass wir 
autochthone Thromben in den Venen, dagegen Emboli in den 
Arterien und, wenn auch seltener, in den Capillaren antreffen 
werden. 

Ausser dieser Verschiedenheit von Thrombose und Embolie 
haben wir des Ferneren noch der Thrombose im weiteren Sinne 
zu gedenken. In diesem Sinne verstehen wir den ganzen Com- 
plex der anatomischen Veränderung, welchen uns der Thrombus 
mit seiner Umgebung bietet. Auch dieser Complex zeigt grosse 
Mannichfaltigkeit, je nach der Beschaffenheit des Thrombus, der 
Oertlichkeit, an der wir ihn finden und der Entstehungsursache, 
die ihn hervorgerufen hat. Diese Verschiedenheit ist eine so 
wichtige, dass ein Durchgehen der wichtigsten und häufigsten 
Formen der Thrombose unerlässlich sein wird, wenn wir leben¬ 
diges Fleisch und Blut in unsere Betrachtungen hineinbringen 
und einen reellen Nutzen für die gerichtsärztliche Beobachtung 
von unserer Abhandlung erzielen wollen. 

A. Die Bildnngsweise der Thromben. 

Die Bildungsweise der Thromben ist eine so dunkle, dass 
unter den Forschem bis auf den heutigen Tag eine Einigung 
noch nicht hat erzielt werden können. Während die ersten 
Ursachen der Thrombenbildung bald allseitig eine gemeinsame 
Würdigung fanden, erstanden über das erste Festwerden und die 
erste Klümpchenbildung im Blute die verschiedensten Ansichten. 
Die anscheinend so einfache Untersuchung über die einzelnen Be¬ 
standteile der Thromben, über die Veränderung der einzelnen 
Blutbestandtheile und über die zeitige Entstehung derselben, 
führte zu mannichfachen Differenzen, welche umsomehr wuchsen, 
als zur Unterauchung der pathologischen und experimentell er¬ 
zeugten Thromben noch die directe Beobachtung der Thromben¬ 
bildung im strömenden Blute hinzukam. 

Im Laufe der Zeiten haben sich wesentlich drei verschiedene 
Anschauungen über die Bildungsweise der Thromben Geltung 
verschafft. 

Virchow liess sie durch Gestehung und Coagulation des 
Faserstoffes, resp. der fibrinogenen Substanz des Blutplasma ent¬ 
stehen, Zahn sah die weissen Blutkörper als die Bildner des 
Thrombus an und Eberth-Schimmelbusch bezeichneten die 
Blutplättchen als Elemente des Thrombuskemes. Von allen 
festen oder festwerdenden Bestandteilen des Blutes wurde nur 
der minderwertige Antheil der rothen Blutkörper an der Throm¬ 
benbildung zu allen Zeiten und von allen Seiten übereinstimmend 
festgehalten, das Fibrin, die Leucocyten und die Blutplättchen da- 



Zur Ca8ui8tik des plötzlichen Todes. 


139 


gegen spielten in der Theorie der verschiedenen Autoren eine 
weit verschiedene Rolle. 

Seit dem Jahre 1845 veröffentlichte Rudolf Virchow die 
später in den „Gesammelten Abhandlungen“ vereinigten Aufsätze, 
in welchen er seine pathologischen Erfahrungen und die Ergeb¬ 
nisse seiner Thierversuche über die Faserstoffgerinnung, über die 
Thrombose und Embolie veröffentlichte, um sowohl den aus dem 
17. Jahrhundert stammenden Anschauungen über die Dyskrasien 
des Blutes, als auch der von John Hunter wachgerufenen Lehre 
von der fibrinösen Exsudation der entzündeten Gefässwände, der 
Phlebitis, entgegenzutreten. Namentlich die Lehre von der Py- 
ämie be- und verurtheilte Virchow mit der ihm eigenen Schärfe, 
und er liess den Namen nur noch als Sammelnamen gelten für 
die unter einander verschiedenen und wohl charakterisirten Krank¬ 
heitsbilder der Leucocytose, Thrombose, Embolie und Ischorrhaemie. 
Und wenngleich im Laufe der Zeiten die von ihm selbst her¬ 
vorgehobene Bedeutung der weissen Blutkörper auch für die 
Aetiologie der Thrombenbildung die Bedeutung der Faserstoffgerin¬ 
nung zu überwuchern begann, so blieb doch Virchow seiner ur¬ 
sprünglichen Lehre treu, und die von ihm aufgestellten Grund¬ 
ideen bilden heute noch die Grundpfeiler der Thrombosen-Lehre. 
Die Untersuchungen mit neuen Instrumenten, neuen Farben und 
neuen Methoden haben die fast 50 Jahre alten Beobach¬ 
tungen nicht erschüttert. Einzelheiten haben zwar hin und wie¬ 
der eine andere Deutung erfahren, und neue Beobachtungen und 
Entdeckungen sind hinzugetreten und haben die älteren Beobach¬ 
tungen vollzähliger gemacht. 

So decken sich auch noch heute die Lehren der gesammel¬ 
ten Abhandlungen mit der neuesten Ausgabe der Cellular- 
Pathologie. 

Nachdem Virchow seine Untersuchungen über die Form des 
geronnenen Faserstoffas, über seine physikalischen und chemischen 
Eigenschaften, seinen Zerfall lind seinen Ursprung zu einem ge¬ 
wissen Abschluss gebracht, stellte er die Ansicht auf, dass die 
Verstopfung der Gefasse hauptsächlich auf dieser Gerinnung 
das Faserstoffes beruhte und dass die Gerinnung des Blutes im 
Wesentlichen aus gleicher Ursache und in gleicher Weise ge¬ 
schähe bei dem Aderlassblute, wie bei dem Blute der Leiche, 
bei dem Blute der lebenden Gefasse und dem Blute, welches in 
die Gewebe frei ergossen sich fände. Das eigentliche Substrat 
aller dieser Gerinnungen bilde die Speckhaut, und der Gehalt an 
weissen und rothen Blutkörperchen, welcher die Differenz für die 
einzelnen Gerinnselformen abgebe, hinge wesentlich ab von der 
Stärke der Bewegung des gerinnenden Blutes und von seinem 
jeweiligen Gehalte an Leucoeyten. Als wesentliche Ursache die¬ 
ser Gerinnung bezeiclmete Virchow das Hinzutreten des Sauer¬ 
stoffes zum Blute. Er bezeichnete das Plasma der Lymphe, das¬ 
jenige des Blutes und den geronnenen Faserstoff als verwandte 
chemische Verbindungen, welche besonders durch die Einwirkung 
des Sauerstoffs in einander übergeführt würden. Als mitwirkende 



140 


Dr. Mittenzweig. 


Ursachen für die Gerinnung des Fibrins bezeichnet Virchow 
die Stockung des Blutes, die Weite der Gefässe, den Verlust 
ihrer glatten Wandung, die Wärme des Körpers, den Einfluss 
lebender Nachbartheile und manches Andere. So erklärt er z. B. 
die Gerinnung im stillstehenden Blute durch Abgabe des Sauer¬ 
stoffs der rothen Blutkörper an den Faserstoff und spricht des¬ 
halb die Ansicht aus, dass aus diesem Gesichtspunkte die ge¬ 
ringere Gerinnbarkeit des Venenblutes gegenüber dem Arterien- 
blute zu erklären sei. 

Der frische Thrombus unterscheide sich von dem frischen 
Blutgerinnsel durch seinen deutlich geschichteten Bau, durch 
grösseren Faserstoffgehalt und durch den grösseren Reichthum 
an farblosen Blutkörperchen. Virchow führt dies in nachstehen¬ 
der Weise aus: 

Während ein einfaches Blutgerinnsel, namentlich ein Lei¬ 
chengerinnsel ähnlich dem Aderlassgerinnsel sich meist in gleich- 
mässigem Cruor und in einer Speckhaut abscheidet, findet sich 
dieser Zustand bei dem Thrombus höchstens im Anfänge. Um 
diesen Gerinnselkern setzen sich immer neue Schichten concen- 
trisch ab unter Abwechslung von Cruor und Speckhaut. In Höh¬ 
len entsteht so ein zwiebelartiger Bau, wie er an den globulösen 
Gerinnseln, zumal des rechten Herzens am meisten hervortritt. 
In engeren Gefässen dagegen bilden sich meist cylindrische, spä¬ 
ter kolbige und polypöse Formen, welche nur auf dem Quer¬ 
schnitt den zwiebelartigen Bau, auf dem Längsschnitt dagegen 
eine Uebereinanderlagerung ellipsoider Schichten darbieten. 
Aeusserlich markirt sich dies als geripptes Aussehen. 

Dass der Thrombus einen grösseren Faserstoffgehalt als 
das einfache Blutgerinnsel besitzt, spricht sich in seiner helleren 
Farbe, grösseren Derbheit und Trockenheit aus. 

Der grössere Reichthum an farblosen Blutkörpem hängt 
mit der Verlangsamung der Circulation zusammen, bei manchen 
Kranken ausserdem mit dem grösseren Gehalt des Blutes an 
weissen Blutkörpern. 

Das Wachsthum des Thrombus geschieht Anfangs mit dem 
Blutstrom, indem sich an den Kern neue Gerinnungen ansetzen, 
erst wenn der Pfropf das Gefass verstopft, setzt sich der Throm¬ 
bus auch gegen den Blutstrom fort. Im ersteren Falle wächst 
er durch Apposition, im zweiten durch Gerinnung des stockenden 
Blutes. 

An den Klappensinus und den partiellen Ausbuchtungen der 
Gefässwand bildet sich der Thrombuskem hinter der Venen¬ 
klappe, im Grunde des Sinus, wo das Blut in Stockung geräth. 

Dasselbe geschieht bei Unterbindungen. In den Venen tritt 
hier ein Stillstand ein, weil die vis a tergo fehlt, in den Arterien, 
weil die Vorwärtsbewegung unmöglich ist. 

Bei jeder Gerinnung tritt zuerst ein Gestehen des Blutes, 
danach erst eine eigentliche Coagulation (Contraction) ein. Der 
Faserstoff ist zuerst homogen, gallertig, in der Folge aber 
wird er meistens fibrillär durch organische Krystallisation, indem 



141 


Zur Casuistik dos plötzlichen Todes. 


sich die Fasern aneinander legen oder Netze bilden (Nadel¬ 
fibrin der Neueren). Die eingesehlossenen geformten Elemente 
werden durch die Fibrincontraction in ihrer Gestalt verändert 
und verzerrt. Auch der ganze Pfropf geht Veränderungen ein. 

Der Pfropf besteht ursprünglich aus den Bestandtheilen des 
Blutes, nämlich Faserstoff, rothen und weissen Blutkörpern nebst 
Serum, mit etwas öligen fettigen Partikeln, namentlich Chylus- 
kömchen. Zuerst in den ältesten Theilen, im Kerne, beginnt nun 
die puriforme Erweichimg, welche keinen Eiter, sondern nur einen 
eiterähnlichen Detritus bildet. Es entsteht dabei eine Zerklüf¬ 
tung zwischen den verschiedenen concentrischen Lagen. Die 
cruorreichen Theile werden zuerst weicher, schmieriger, während 
die speckhäutigen noch mehr zusammen halten (Cruveilhier’s 
Eiter-Imbibition). Wenn später auch die fibrinreichen Lagen zer¬ 
fallen, dann erst bildet sich eine innere Höhle. Das erweichte 
homogene Material enthält anfänglich noch grumöse, bröckliche 
oder breiige Partikel, später wird es ganz gleichartig. Seine 
Farbe ist sehr verschieden. Wo sehr viele rothe Blutkörperchen 
vorhanden waren, da wird er dunkelroth, rothbraun, schwarzroth 
oder rostfarben. Wo der Pfropf mehr Faserstoff enthielt, ist er 
heller, Anfangs weinfarben, später weisslich, grauweiss, gelblich. 
Die Schichten mit reichem Gehalt an farblosen Blutkörperchen 
werden sehr früh hell, markig und endlich ganz eiterartig. 

Die Consistenz der schmelzenden Masse ist fadenziehend und 
schleimig. Man unterscheidet in ihr ausser Zellen Fettkörnchen 
und blasse Körnchen, welche sich wie Eiweiss verhalten. 
Die Reaction kann sauer, alkalisch oder neutral sein. 

Die Veränderung der einzelnen Theile anlangend, so werden 
die rothen Blutscheiben zuerst verzerrt, höckerig und zackig. 
Dann werden sie allmählich durch Abgabe des Farbstoffes blas¬ 
ser, so dass schliesslich nur blasse Scheiben übrig bleiben, welche 
zu Körnchen zerfallen. Schliesslich lösen auch diese sich auf 
und jede Spur der früheren Blutkörper ist nunmehr verschwunden. 

Die farblosen Blutkörper gehen dreierlei Veränderungen ein. 
Meistens erleiden sie die bekannte Fettmetamorphose und bilden 
hierbei intercurrent die Gluge’schen Entzündungskugeln. Oder 
sie werden atrophisch. Dann wird der Inhalt allmählich heller, 
das Körperchen blasser und kleiner, die Membran zarter, der 
Kern kleiner. Es treten einzelne, jedoch gewöhnlich wenige Fett¬ 
körnchen im Zelleninhalt auf, endlich löst sich der Kern. Wahr¬ 
scheinlich löst auch er sich schliesslich ganz auf (Valentin’s 
Exsudatkörper, Lebert’s pyoide Kugeln). Oder die Zellen er¬ 
halten sich längere Zeit und gehen Kerntheilungen ein, so dass 
sie den Eiterkörpern sehr ähnlich werden. Es ist aber festzu¬ 
halten, dass diese eiterähnliche Masse kein Eiter ist. Der 
Faserstoff wird brüchig und mürbe imd verliert die fibrilläre Be¬ 
schaffenheit. Es bilden sich grössere Trümmer und Brockel, die 
zuletzt in kleine, weisse Körnchen zerfallen. Die etwas grösseren 
Fibrinkörner erscheinen öfters etwas platt, linsenförmig, so dass 
sie fast wie Kerne von Eiterkörperchen erscheinen. Man hat sie 



142 


Dr. Georg Rosenbaum. 


zu unterscheiden von Fettkömchen, von den Körnchen der rothen 
Blutkörper und den Körnchen der weissen Blutkörper. Sie wer¬ 
den blass in organischen Säuren, lösen sich durch kalte Alkalien, 
nicht aber in Alkohol und Aether. Sie sind blass und stets farb¬ 
los. Neben diesem Körnchenzerfall bildet das Fibrin eine an¬ 
fänglich cohärente schleimige Flüssigkeit, welche später dünner 
und eiweissartig wird. (Fortsetzung folgt.) 


Ueber postepilept. Bewusstseinstrübung u. epileptische 

Aequivalente. 

Von Dr. Georg Rosenbaum, Assistenz-Arzt der Eulenburg-Mendelschen Nor- 

venpoliklinik. 

Die in No. 8 d. Zeitschrift mitgetheilten Beobachtungen über 
Modificationen des epileptischen Anfalls sollen an dieser Stelle 
noch eine Ergänzung durch einige bemerkenswerthe Beispiele 
finden. 

0. R., 9 J. alt, Sohn gesunder Eltern, soll bis dahin von 
anderen Krankheiten nur die Masern und diese leicht überstan¬ 
den haben. Vor 4 Jahren zeigte er die ersten epileptischen 
Krampfanfälle und zwar in grösseren Pausen, die bis zu 1—2 
Jahren betragen haben sollen. Die Anfälle sollen sehr heftig 
aufgetreten sein und 3—4 Stunden gedauert haben. Beispiels¬ 
weise fand im verflossenen Jahre der letzte Anfall um Ostern 
statt; seitdem war kein Insult beobachtet. Seit Sonntag, den 
26. Febr., zu welcher Zeit der letzte sehr heftige Anfall auftrat, 
besteht die krankhafte Störung, um die es sich hier handelt. Nach 
dem Anfall von Sonntag Abend bis Montag früh tiefer, anscheinend 
normaler Schlaf; nach dem Erwachen bemerkt die Mutter, dass 
der Knabe irre redet; er hallucinirt und die Erscheinungen 
haben schreckhaften Character: Männer verfolgen ihn, um ihn zu 
schlagen, Feuer bringt ihn in Gefahr, Ungeziefer krabbelt an 
ihm in die Höhe, Hunde wollen ihn beissen, hinter dem Ofen 
kommt es hervor und bedroht ihn, Schornsteinfeger sitzen auf 
dem Ofen u. s. w. Es ist starke Neigung zum Weinen und zu 
thätlichen Ausschreitungen gegen die Geschwister vorhanden. 
Des Nachts ist die Aufregung stärker als bei Tage. Das dauert 
3 Tage; am Mittwoch Nachmittag wurde der Knabe unter¬ 
sucht und für seinen Zustand Bromkali in passender Dosis 
verordnet. Gegen Abend legte sich der Pat. nieder und er¬ 
wachte nach einem etwa 6 stündigen Schlaf, ohne noch ein Medi- 
cament bekommen zu haben, ruhig und normal. Es verdient 
noch hervorgehoben zu werden, dass seit einem Jahre Chorea als 
Complication besteht, doch darf man die Psychose wohl nur iu 
Zusammenhang mit dem vorhergegangenen epilept. Insult in Ver¬ 
bindung bringen. 

Frau J., 28 J. alt, hereditär nicht belastet, Mutter von 3 
lebenden Kindern; 2 sind in ganz jugendlichem Alter, das eine 



Ueber postepilept. Bewusstseinstrübung u. epileptische Aequivalente. 143 

an unbekannter Krankheit, das andre an Krämpfen gestorben. 
Sie ist als Mädchen ganz gesund gewesen, hat aber bald nach 
dem ersten Wochenbett an Erscheinungen von Petitmal gelitten, 
die in grösseren Pausen und nach grösseren Erregungen eintraten. 
Sie waren von kurzer Dauer, bestanden im Starrwerden des Blicks, 
Verdrehung der Augen, leichten klonischen Erschütterungen, Aus¬ 
löschung des Bewusstseins und nachfolgendem Gedächtnissdefect. 
Vor 3 Jahren trat zum ersten Mal, bald nach einem Wochenbett, 
eine psychische Veränderung ein. Pat. fing nach längerer Ver¬ 
stimmung an irre zu reden, was jedoch nur einige Minuten 
dauerte. Vor 4 Wochen wurde Pat zum 5. Male leicht entbun¬ 
den, fühlte sich wohl bis Mittwoch, den 7. HL, seit welchem Tage 
eine Unruhe mit Neigung zum Weinen und Schelten und Heftig¬ 
keitsausbrüchen sich derselben bemächtigte. Am Freitag psychi¬ 
sches Aequivalent von 5 Min. Dauer mit Irrereden und aufge¬ 
hobenem Bewusstsein, ebenso den 13. DI. Ausserdem wurden per¬ 
verse Handlungen während des Anfalls beobachtet. Frau J. 
befindet sich jetzt ganz wohl, weiss nichts davon, erhält aber zur 
Bekämpfung ihrer Zustände Bromkali. 

Paul P., 24 J. alt, seit dem 2. Lebensjahre angeblich nach 
starkem Schreck an epileptischen Anfällen leidend, die bei Tage 
und bei Nacht auftraten. Im ersteren Falle sehr deutliche Aura 
die in einem Gefühl von Ziehen von der Hand bis zum Kopf 
bestand und unter Seitwärtsdrehen des Kopfes die Bewusstseins¬ 
störung einleitete. Früher sind schon Zustände von Aphasie da¬ 
nach beobachtet, die aber meist nach V 2 ständiger Dauer vorüber 
gingen. Am Donnerstag, den 8./IH. kam Pat. zu uns, weil er seit 
Montag nach einem Anfall Anstossen der Zunge beim Sprechen, 
Fehlen einzelner Worte bemerkte. Seitdem kein Anfall. Objec- 
tiver Befund: r. PupiUe, auffallende Ohrbildung, 1. Arm im 
Anfall stärker empfindlich als r.; ebenso die linke Kopf hälfte. 
Der Sprachstörung muss als Dysarthrie und partielle Aphasie an¬ 
gesehen werden. Es besteht Bomb erg’sches Symptom massigen 
Grades. Patellarrefl. sind normale. Die Anfalle haben sich zu¬ 
weilen durch Aufwärtsbiegen der 1. Hand coupiren lassen. Wei¬ 
tere psychische Störungen fehlen. 

Von besonderem Interesse dürfte folgender Fall sein, den mir 
neulich Herr Professor Dr. Mendel, mein hochverehrter Lehrer, 
aus seiner Praxis mittheilte, da derselbe durch die interessanten 
Nebenumstände tiefere Bedeutung gewinnt. Ein Epileptiker steht 
mit einem grossen Volkshaufen vor dem kaiserlichen Palais in 
der bekannten Tageszeit, schreit Hurrah hoch beim Erscheinen 
der greisen Majestät, singt die Nationalhymne mit und weiss 
später von allen diesen Sachen nichts, zeigt einen vollkommenen 
Defect des Gedächtnisses. Alles dies hatte er in epileptischer 
Bewusstseinsstörung gethan, die statt der typischen Convulsionen 
zuweilen Epileptische zu befallen pflegt. Man begreift, welch 
eine tiefe Bedeutung diese Zustände für den Gerichtsarzt besitzen 
müssen, wenn man sich ausmalt, dass dieser Kranke durch ein 
linderes, weniger loyales Verhalten, die Aufmerksamkeit der Polizei 



144 


Dr. Rapmund. 


auf sich gelenkt hätte. Nicht leicht wird er Richter finden, die 
von einer krankhaften Geistesstörung bei scheinbar zweckmässigem 
Verhalten etwas werden wissen wollen. Einige weitere Beobach¬ 
tungen, die ich in der letzten Zeit zu machen Gelegenheit hatte, 
vervollständigen vielleicht das über diesen Punkt schon Ge¬ 
schriebene in nicht überflüssiger Weise. 

Theodor D., 16 J. alt, Schlosserlehrling, stammt aus einer 
psychopathisch disponirten Familie; mehrere Vorfahren mütter¬ 
licherseits sind geistig gestört gewesen, die Mutter selbst leidet 
an Hysterie und ist im Laufe der Zeit etwas dement geworden; 
der Vater ist am Delirium tremens gestorben. Bis zu seinem 12. J. 
war D. ganz gesund; seit einem Fall auf den Kopf (von einem 
Velociped herunter) sollen die Störungen, von denen er befreit zu 
werden wünschte, aufgetreten sein. Seitdem fing er zeitweise vom 
frühen Morgen an ziellos und unter Geschrei umherzulaufen, ver¬ 
übte dabei manche thörichte Handlungen, ohne jemals etwas 
davon zu wissen. Das dauerte zuweilen nur einen Tag, zuweilen 
wiederholte es sich aber auch 14 Tage lang. Dann trat eine 
PauBe von 3 Jahren auf, während welcher Zeit keine Symptome 
der Erkrankung beobachtet wurden. Im Nov. 1887, als er zum 
ersten Male in die Lehre eines Meisters gehen sollte, ging er 
6 Uhr früh weg und wurde 9 Uhr früh von einem Schutzmann 
nach der Wohnung seiner Mutter zurückgebracht, nachdem er 
ziellos umherirrend denselben nach dem Wege gefragt. An dem¬ 
selben Tage liest er sich kalte verdorbene Kartoffeln aus dem 
Kehricht und verspeist sie; zeitweise pfeift und singt er,' zu¬ 
weilen zeigte er ein ängstliches Wesen. Gehör und Gesicht sind 
während dieser Zustände stark herabgesetzt, Krämpfe sind nie 
beobachtet, ausser leichten Zuckungen im Gesicht. Gedächtniss 
ist schlecht, geistige Fähigkeiten wenig ausgebildet. Nach Brom¬ 
kaligebrauch sind diese Zustände eine ganze Zeit lang wegge¬ 
blieben. Er ist aber wenig brauchbar fur’s Handwerk und klagt 
über zeitweise am Tage ganz unmotivirt auftretende Schlafsucht. 
Es sind während der Bewusstseinstrübungen Hallucinationen be¬ 
obachtet: er sprach mehrfach in ängstlicher Weise von einem 
Hunde, obgleich keiner sichtbar war. 

Clara K., 11 J. alt, stammt von gesunden Eltern ab; 
ein Bruder ist von uns an typischer Epilepsie behandelt worden. 
Nachdem die Mutter schon einige Male leichtere Absenzen beobach¬ 
tet hatte, bekommt sie plötzlich eines Tages auf dem Wege zum 
Turnunterricht, von der Schule mit den übrigen Kindern aus¬ 
gehend, eine epilept. Bewusstseinstrübung, entfernt sich von den 
Kindern, kommt in eine ganz andere Stadtgegend, fällt vor einem 
Laden des Hausvogteiplatzes bewusstlos unter Krämpfen nieder 
und wird von da zur Charite gebracht, von wo sie am Spätnach¬ 
mittag der Mutter zugeführt wurde. Leichte Absenzen sind auch 
in der letzten Zeit wieder beobachtet; sie verschüttet z. B. plötz¬ 
lich etwas, lässt dies oder jenes fallen, stiert vor sich hin etc. 

Als Schluss dieser Beobachtungen möchte ich noch zwei Fälle 
erwähnen, die sich leider der weiteren Controlle entzogen haben 



Verhandlung des preuss. Abgeordnetenhauses über d. Medicinaletat. 145 

und daher nur cursorisch mitgetheilt werden können; es ist das 
besonders ein Alcoholiker, der in epileptoiden Zuständen als Folge 
leichter Alcoholintoxicationen von Zwangsvorstellungen ver¬ 
brecherischer Art beherrscht wird und eine Frau, die nach 2 An¬ 
fällen mit Convulsionen von dauernden Verfolgungsideen und 
Hallucinationen gequält wird. Der Zustand hat monatelang ge¬ 
dauert und hat wahrscheinlich zur Aufnahme in stationäre Be¬ 
handlung geführt. 

Es würde mich sehr freuen, wenn ich durch Mittheilung 
dieser Krankengeschichten in gerichtsärztlichen Kreisen die Auf¬ 
merksamkeit auf ein Gebiet gelenkt hätte, das die Beachtung 
aller Praktiker in weitestem Maasse verdient. 

Meinen geehrten Lehrern, Herrn Prof. Dr. Eulenburg und 
Prof. Dr. Mendel für gefällige Anregung und Ueberlassung des 
vorstehenden Materials an dieser Stelle meinen wärmsten Dank. 


Die diesjährige Verhandlung des preussischen Abge¬ 
ordnetenhauses über den Medicinaletat. 

In der am 17. März d. J. stattgehabten 37. Sitzung des Ab¬ 
geordnetenhauses gelangte der Medicinaletat zur Verhandlung 
und wenn die letztere auch augenscheinlich darunter litt, dass in 
derselben Sitzung noch ein erheblicher Rest des Cultusetats mit 
Rücksicht auf die rechtzeitige Fertigstellung des ganzen Etats 
erledigt werden musste und sich daher sämmtliche Redner mit 
ihren Bemerkungen auf das Nothwendigste beschränkten, so wur¬ 
den dabei doch einzelne auch für den Medicinalbeamten recht 
wichtige Fragen, wie Aerztekammern, Medicinalreform, 
Geheimmittelunfug und Apothekenconcessionen berührt. 
Wir lassen hierunter den stenographischen Bericht folgen, jedoch 
unter Wegfall des die Apothekenfrage betreffenden Theils, da die 
darauf bezüglichen Reden des Abgeordneten Trimborn und des 
Herrn Cultusministers von Gossler bereits in der vorhergehenden 
Nummer dieser Zeitschrift (Nr. 4 S. 119) ausführlich erwähnt sind*). 


*) In Folge der tiefgehenden Beunruhigung, welche angesichts der von 
Herrn Kultusminister von Gossler im Abgeordnetenhause bezw. von Herrn 
Geheimen Obermedicinalrath Dr. Kersandt in der Petitionskommission abge¬ 
gebenen Erklärungen den ganzen Apothekerstand ergriffen hatte, hat sich 
inzwischen der Vorstand des deutschen Apothekervereins veranlasst gesehen, 
seinen Vorsitzenden, Dr. Brunnengräber in Rostock, zu beauftragen, bei 
dem Herrn Kultusminister eine Audienz nachzusuchen, um den letzteren zu bitten, 
durch eine für die Oeff'entlichkeit bestimmte Erklärung die Gemüther nament¬ 
lich auch nach der Richtung zu beruhigen, dass irgend eine Vergewaltigung 
der bestehenden Verhältnisse, d. h. die Verleihung von rückwirkender Kraft 
für die etwaige Neuordnung des Konzessionswesens im Sinne der ausschliess¬ 
lichen Personalkonzession nicht in der Absicht der Königl. Staatsregierung 
liege. Ueber den Verlauf der in der zuvorkommendsten Weise sowohl von 
Herrn Kultusminister von Gossler als von Herrn Unterstaatssecretär Lucanus 



146 


Dr. Rapmund. 


Abg. Dr. Graf-Elberfeld: M. H., die Selbßtbeschränkung, welche heute 
alle Redner angesichts der Geschäftelage des Hauses geübt haben, veranlasst 
auch mich, auf die ausführlichen Darlegungen beim Medicinaletat, welche ich 
mir vorgenommen hatte**), zu verzichten und nur kurz diejenigen Punkte her¬ 


gewährten Audienz berichtet die Apothekerzeitung am 11. April d. J. (No. 29) 
wie folgt: 

„Der Herr Kultusminister, welcher ohne Zweifel der ganzen Angelegenheit 
ein warmes Interesse entgegenbringt, wies auf die auch von dem Deutschen 
Apothekerverein und dessen Vorstande so oft anerkannten Missstände des 
jetzigen Konzessionswesens hin und machte besonders darauf aufmerksam, dass 
durch das auf seine Veranlassung im Kultusministerium seit Jahren gesammelte 
statistische Material der Nachweis erbracht sei, dass diese Missstände einen 
Umfang angenommen hätten, welcher die zwingende Notlrwendigkeit darthäte, 
die Frage der Reform des Konzessionswesens wieder in Fluss zu bringen. Es 
sei ein Irrthum, zu glauben, dass in der allernächsten Zeit die Regelung des 
Konzessionswesens zum gesetzlichen Abschluss gebracht werden könnte. Die 
Angelegenheit werde allerdings zur Zeit eingehend erwogen und erörtert, es 
sei auch bereits ein diesbezüglicher Entwurf seitens des betreffenden Dezer¬ 
nenten ausgearbeitet; indess habe der Entwurf selbst innerhalb des Kultus¬ 
ministeriums noch nicht alle notliwendigen Stadien durchlaufen. Wenn dies 
geschehen sein wird, soll der Entwurf benutzt werden, um eine gesetzliche 
Regelung der Apothekenfrage für das Reich durch die Roichsbehörden anzu¬ 
regen. Eine rückwirkende Kraft dem zu erlassenden Gesetze bei¬ 
zulegen, liege nicht in der Absicht. Zu einer Beunruhigung, wie die¬ 
selbe weitere Kreise des Apothekerstandes ergriffen zu haben scheint, liege 
somit keinerlei Anlass vor. 


Auch in der Unterredung mit dem Herrn Unterstaatssekrotär Dr. Lucanus 
nahm Herr Dr. Brunnengräber, die Ueberzeugung mit, dass bei dem Be¬ 
streben, die Frage der Reform des Apothekenwesens im Sinne der Interessen 
der Allgemeinheit im Wege der Reichsgesetzgobung zum Abschluss zu 
bringen, doch auch die Absicht vorhanden sei, den Interessen des Apotheker¬ 
standes gerecht zu werden und die bestehenden Verhältnisse mit grösster 
Schonung zu behandeln. 

In Bezug auf die Frage, wie das Interesse des Apothekerstandes bei der 
reichsgesetzlichen Neuordnung des Apothekenwesons gewahrt worden könne, 
wurde schliesslich vom Vorstand des genannten Vereins beschlossen: Eingaben 
an den Herrn Reichskanzler sowohl wie an den Staatssekretär im Reichsamt 
des Innern, v. Boetticher, zu richten, in welchen unter Bezugnahme auf die 
jüngsten Vorgänge die vom Deutschen Apothekerverein befürworteten und 
schon bei früheren Gelegenheiten verfochtenen Grundsätze einer Reform ein¬ 
gehend dargelegt werden sollen.* 1 

**) Der Abg. Dr. Graf giebt in einem an die Redaktion des ärztlichen 
Vereinsblattes gerichteten Schreiben (s. No. 192, April 1888 S. 112 u. 113) 
gleichsam eine Ergänzung zu seiner Rede und spricht sich in demselben wie 
folgt aus: 

Was ich über die Frage des Curpfuschereiverbot« und speciell über 
die Chemnitzer Vorgänge zu sagen gehabt hätte, braucht an dieser Stelle 
nicht weiter ausgeführt zu werden; den Collegen sind diese Dingo zur Genüge 
bekannt. 

Dagegen scheint es mir nothwendig, auf die von mir nur kurz gestreifte 
Frage der Ausdehnung der Organisation des ärztlichen Standes auf 
die Kreise um deswillen etwas näher einzugehon, weil dieselbe nicht so 
häufig öffentlich erörtert worden ist. 

Schon in den Entwürfen, welche in den Jahren 1877/78 im preussischen 
Ministerium zur Berathung standen, war eine Gliederung dos Gesundheits¬ 
wesens im preuss. Staate etwa so in Aussicht genommen, dass ein Central¬ 
gesundheitsamt, Provinzialgesundheitsämter und locale Gesundheitsämter ge¬ 
bildet werden sollten. Namentlich die Organisation der letzteren und die 
Betheiligung der praktischen Aerzte an denselben verursachte die grössten 
Schwierigkeiten; doch ward neben der Provinzial-Aerztekammer (wie sie heute 



Verhandlung des preuss. Abgeordnetenhauses über d. Medicinaletat. 147 


vorzuheben, deren Erwähnung ich für unbedingt nothwendig erachten muss. 
Zunächst habe ich die grosse Genugthuung, im Medicinalwesen des preussischen 
Staats in diesem Jahre einen höchst erfreulichen Fortschritt constatiren zu 
können. Freilich ist derselbe in den Ziffern des Etats nicht zum Vorschein 
gekommen. Von den 41000 Mk., welche derselbe an Plus gegen das Voijahr 
bezeichnet, sind 23 000 laufende Budgetposten, 12000 kommen auf die Impfungen, 
und nur 5000 sind für diejenigen Institutionen ausgesetzt, welche ich glaube 
im Namen fast sämmtlicher preussischen Aerzte als einen ganz besonderen 
Fortschritt begrüssen zu dürfen, und für deren Verwirklichung wir dem Herrn 
Cultusmini,sters zu besonderem Danke verpflichtet sind. Es sind das die durch 
Kgl. Verordnung vom 25. Mai v. J. eingesetzten Aerztekammern, deren Ge- 
sehäftskreis nach § 2 derselben Verordnung die Erörterung aller Fragen und 
Angelegenheiten umfasst, welche den ärztlichen Beruf und das Interesse der 


besteht, mit ihren Vertretern bei der Wissenschaftl.-Deputation und bei den 
Provinzial-Medicinal-Collegien) noch die Bildung von Kreis-Aerztekammern, 
ebenfalls aus freier Wahl der Aerzte des Kreises hervorgehend, geplant. 

Auch der letzte Entwurf (1884) — dessen wesentlicher Inhalt damals 
durch verschiedene Mittheilungen in der Presse bekannt wurde, ohne dass sein 
Text veröffentlicht worden ist — enthielt meines Wissens Bestimmungen, 
welche der Vertretung der Aerzte eine Mitwirkung bei den Aufgaben der 
öffentl. Gesundheitspflege in den Kreisen (resp. Städten) sicherte. 

Eine solche Mitwirkung halte ich aber für ganz besonders wichtig und 
die Schwierigkeiten, welche sich ihrer Ausführung entgegen stellen, nicht für 
unüberwindlich. Wichtig ist sie, weil die nächst liegenden Bedürfnisse nur 
von den Nahestehenden ganz und voll erkannt und weil auch von diesen die 
Mittel zur Abhülfe am besten vorgeschlagen werden können; wichtig, weil nur 
das Zusammenwirken von Aerzten mit den Organen der Verwaltung zum Ziele 
fuhren kann; wichtig, weil die Aerzte für die ihnen zufallenden mit grossen 
Opfern verbundenen neuen Pflichten sich nur dann rasch und dauernd erwärmen 
werden, wenn sie in ihrem näheren Kreise die Früchte ihrer Thätigkeit sehen, 
während die Resultate der grösseren Organisationen (Aerztetag, Aerztekammern) 
naturgemäße erst spät und unmerklich zur Erscheinung kommen können. 

Das eine solche Betheiligung des ärztlichen Standes aber auch bei der 
jetzigen Verwaltungs-Organisation ausführbar ist, scheint mir unzweifelhaft. 

Durch ein Amendement Virchow’s ist seinerzeit den Kreisausschüssen die 
öffentliche Gesundheitspflege als Aufgabe überwiesen worden (Virchow, ge¬ 
sammelte Abhandlungen Band I, pag. 86). 

Für die Städte von 5000 und mehr Einwohnern sind durch das Regulativ 
von 1835 ständige Sanitäts-Commissionen eingesetzt (für das Land nur 
auf specielle Anordnung der betr. Regierung). Diese Commissionen, welche 
jetzt nur auf besonderes Verlangen der Ortspolizeibehörde zusammentreten und 
deren ärztliche Mitglieder von derselben Behörde ernannt werden, sind einer 
Reorganisation dringend bedürftig. Delegirung von Aerzten in dieselben aus 
freier Wahl der sämmtlichen Aerzte der Stadt, regelmässiges periodisches Zu¬ 
sammentreten, Berathung aller sanitär wichtigen Gegenstände in denselben, 
bevor solche zur Beschlussfassung durch die competenten staatlichen oder 
communalen Organe gelangen — sind die wichtigsten Desiderate. Ebenso 
dürfte es nicht schwer sein, solche Commissionen für die Kreise in gleicher 
Weise zu bilden. 

In diesen Kreis-Commissionen, so wie in den Sanitäts-Commissionen der 
Kreisstädte sei der Kreis-P by sicus stimmberechtigtes Mitglied. 

Hier findet er die naturgemässe Berührung mit der ärztlichen Vertretung 
seines Kreises; hier wird sich auch die beste Gelegenheit bieten, um die Be¬ 
fürchtungen zu vernichten, welche von den praktischen Aerzten vielfach gehegt 
werden, wenn es sich um weitergehende Befugnisse bei dem Physikus handelt. 

Es sind wesentlich die Klagen über unberechtigte Vorzüge in der Con- 
currenz (so lange der Kreis-Modicinalboamte, wie das ja in der Absicht liegt, 
praktischer Arzt bleiben soll) und die über amtliche Uebergriffe (bei localen 
Untersuchungen, Revisionen, Attesten etc.), welche hier in Betracht kommen, 
und welche durch ein geordnetes Zusammenwirken ihre beste Lösung finden 
werden.* 



148 


Dr. Rapmund. 


öffentlichen Gesundheitspflege betreffen oder auf die Wahrnehmung der Ver¬ 
tretung der ärztlichen Standesinteressen gerichtet sind. Mit Hülfe dieser 
Aerztekammern wird es hoffentlich gelingen, die so lange vertagte Frage der 
allgemeinen Medicinalreform in gedeihlichen Fortgang zu bringen. Ich denke 
mir das so, dass nach vorgängigem Einvernehmen der Regierung und der 
Kammern gewisse Grundsätze festgestellt werden, auf Grund deren dann Vor¬ 
lagen gemacht werden, auch für die Reichsgesetzgebung, welcher ja alle deut¬ 
schen Aerzte unterstellt sind, welche Vorlagen dann auch Aussicht haben, 
vom Reichstag zum Nutzen des Standes und des Staates angenommen zu 
werden. 

Ich hatte ursprünglich die Absicht, dieses an der Hand der jetzt in Fluss 
befindlichen Frage der Wiedereinführung des Curpfuschereiverbots näher aus¬ 
zuführen, beschränke mich aber heute darauf, es nur kurz anzudeuten. Ich 
möchte nur bemerken, dass bei Entscheidung dieser höchst wichtigen Frage 
in erster Linie die Rücksicht auf das öffentliche Wohl entscheidend sein soll. 
Die mannigfachen wichtigen Aufgaben, welche diesen Kammern nach ihrer 
ferneren Bestimmung durch die Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege 
erwachsen, brauche ich nicht erst weiter auszuführen, die Pflege der Gesund¬ 
heit in Schule und Haus, die Reinhaltung der Genuss- und Nahrungsmittel, 
Wasserversorgung und Canalisation, Abwehr der Infectionskrankheiten, Heb¬ 
ammenwesen etc. etc. Hieran wird sich dann auch die nachhaltige Be¬ 
kämpfung des Geheimmittelunwesens, eines der grössesten Misststände, an- 
schliessen. Die reichsgesetzliche Regelung dieser Materie ist unbedingt nöthig. 
Bis dieselbe aber da ist, hoffe ich, dass in energischer Woise Verwaltungs- 
massregeln getroffen werden, wie ja schon mit vorzüglichem Erfolge das 
Polizeipräsidium in Berlin und die Regierung in Magdeburg vorgegangen sind. 

Ich möchte ferner die Hoffnung aussprechen, dass die Ausdehnung der 
gegenwärtigen Organisation, wie sie in den Aerztekammern gegeben ist, welche 
in der ursprünglichen Vorlage beabsichtigt war, auch auf die kleinen Ver¬ 
waltungskörper, auf Kreis und Stadt erfolgen möge. Ich glaube, hier wird 
sich ein besonders wichtiger Zweig des Einflusses der Aerzte geltend machen 
können. Das Zusammenwirken der verschiedenen Berufskreise, der Beamten, 
der Laien und der Aerzte wird hier sehr günstig wirken; die Aerzte werden 
versuchen müssen, ihre Forderungen damit in Einklang zu bringen, was Staat, 
Kreis und Gemeinde leisten können; die Laien werden sich davon überzeugen, 
dass die Erfüllung der nothwendigsten Forderungen der Gesundheitspflege nicht 
ungestraft aufgeschoben werden kann. In diesen Commissionen, wie man sie 
auch nennen mag, Kreisausschüsse, Sanitätscommissionen oder anders, wird 
dann auch der Kreisphysikus ein ganz besonders gedeihliches Feld seiner Thä- 
tigkeit finden. 

Damit komme ich zu dem anderen Theil der preussischen Medicinalreform, 
dessen Erfüllung leider noch aussteht, die Verbesserung der Stellung und des 
Gehalts der Medicinalbeamten. 

Vor 2 Jahren ist die Frage in sehr dankenswerther Weise vom Herrn 
Abg. v. Schwarzkopf hier im Hause angeregt worden. Ich bin Herrn 
v. Schwarzkopf ganz besonders dankbar, dass gerade er — er ist nicht Arzt 
— in sachverständigen Zügen ein Bild davon gegeben hat, was hier gefordert 
werden muss, und was auch im wesentlichen vom Herrn Minister anerkannt 
worden ist. 

Die weitere Vertagung dieser Forderungen, für welche ich nicht den 
Herrn Cultusminister f sondern in erster Linie den Herrn Finanzminister ver¬ 
antwortlich machen möchte, wird hoffentlich nicht fortdauern. Der 'Wider¬ 
stand nach der finanziellen Seite würde heute keine Berechtigung mehr haben. 

Der Medicinaletat, der uns vorliegt, ist noch immer geringer, als der des 
Jahres 1870 es war. Ich habe die feste Ueberzeugung, dass das Haus den 
Herrn Cultusminister in seinen Bestrebungen unterstützen wird, welche darauf 
hinzielen, die Lage der Medicinalbeamten zu verbessern, damit auch diese 
Herrn freudig und erfolgreich ihr wichtiges Amt verwalten können. Ich halte 
cs nicht für möglich, dass der preussische Staat auf diesem Gebiete hinter 
andern Völkern und andern deutschen Bundesstaaten Zurückbleiben darf. 
(Bravo!) 



Verhandlung des preuss. Abgeordnetenhauses über d. Modicinaletat. 149 

Abg. Olzem: M. H., ich wollte auf die Geheimmittelfrage näher ein- 
gehen; ich verzichte aber bei der Stimmung des Hauses darauf und richte an 
den Herrn Cultusminister die Bitte, dafür zu sorgen, dass diejenigen Polizei¬ 
verordnungen, welche im vorigen Jahre hier in Berlin ergangen sind und von 
dem Polizeipräsidenten in Magdeburg erlassen sind, welche das Ajikündigen 
von Geheimmitteln in den Zeitungen untersagen, durch reichsgesetzliche Be¬ 
stimmungen ersetzt werden. Ich will auf alle die Gründe, die dafür sprechen, 
nicht eingehen, nur ein Moment will ich hervorheben. Während in Berlin es 
den Zeitungen untersagt ist, Geheimmittel anzukündigen, ist es den Vorstadt¬ 
zeitungen und den auswärtigen Zeitungen, welche doch ungehindert in Berlin 
gehalten und nicht verboten werden können, gestattet, solche Ankündigungen 
zu veröffentlichen. 

Ich möchte also die Bitte aussprechen, dafür zu sorgen, dass reichsgesetz¬ 
liche Bestimmungen an Stelle dieser Verordnungen treten; denn ist der Ge¬ 
heimmittelunfug so stark geworden, dass er bekämpft werden muss, dann muss 
er nach meiner Ansicht durch Gesetz bekämpft werden; aber ist er nicht so 
schädlich, dann brauchen wir überhaupt keine Verordnung, auch keine Polizei¬ 
verordnung. 

Cultusminister Dr. v. Gossler: Auch nur ein Wort in Beziehung auf die 
Geheimmittelfrage. Es schweben darüber seit längerer Zeit Verhandlungen 
zwischen den Einzelregierungen und dem Reich; von Preussen ist dem Reich 
ein sehr ausgiebiges Material geliefert worden, sowohl nach der rechtlichen, 
als nach der thatsächlichen Seite, und die Schlusserklärung der preussischen 
Regierung ist die, dass sie eine reichsgesetzliche Regelung tür durchaus noth- 
wendig erachtet. Ich habe, anknüpfend an die Massregeln, welche der hiesige 
Polizeipräsident in dankenswerther Weise getroffen hat, den betreffenden Lan¬ 
despolizeibehörden ausserhalb Berlins auf das dringendste empfohlen, auf ähn¬ 
lichem Wege vorzugehen; aber Sie haben aus der Zeitungslectüre wohl ent¬ 
nommen, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass eine Reihe von Gerichten 
sich einer anderen rechtlichen Auffassung hingiebt als die Landespolizeibe¬ 
hörden; das wird mich aber nicht abhalten, dem Unfug, der jetzt auf dem 
Gebiete der Ankündigungen namentlich der Goheimmittel allermassen Platz 
greift, entgegenzutreten, und ich bin gerne bereit, die heutige Discussion zu 
erneutem Anlass zu nehmen, um der Keichsregierung die Bitte vorzutragen, 
ihre Mithülfe bei der Regelung dieser Angelegenheit nicht zu versagen. (Bravo!) 

Es folgte hierauf die schon erwähnte Besprechung der Apo¬ 
thekerfrage. Schliesslich brachte der Abg. Tannen (Aurich) 
eine ihm eingereichte Beschwerde hannoverscher Aerzte zur 
Sprache, wonach sich die letzteren dadurch geschädigt glaubten, 
dass die erledigten Kreisphysikatsstellen in der Provinz Hannover 
vorzugsweise aus der Reihe der in den alten Provinzen ange- 
stellten Kreiswundärzte unter Uebergehung der einheimischen 
Aerzte besetzt würden. Als Ursache hierfür wurde die Besei¬ 
tigung der Kreiswundarztstellen in der Provinz Hannover ange¬ 
sehen, da dadurch den dortigen Aerzten die Möglichkeit genom¬ 
men wäre, früher in eine beamtete Stellung einzutreten und sich 
auf diese Weise gleichsam ein Vorzugsrecht bei der Besetzung 
von Physikaten zu erwerben. 

Wohl selten ist eine so ungerechtfertigte und nach Kirch- 
thumspolitik schmeckende Beschwerde im Abgeordnetenhause vor¬ 
gebracht worden und die Grundlosigkeit derselben konnte nicht 
schärfer, als durch ihre vollständige Ignorirung seitens der in der 
betreffenden Sitzung anwesenden Vertreter der Staatsregierung 
gekennzeichnet worden. Hätte sich der betreffende Abgeordnete 
vorher an massgebender Stelle erkundigt, so würde er sehr bald 
erfahren haben, dass, wenn in den letzten Jahren einzelne er¬ 
ledigte Kreisphysikate in der Provinz Hannover mit praktischen 



150 


Referate. 


Aerzten und keineswegs immer mit Kreiswundärzten aus den alten 
Provinzen besetzt wordeu sind, dies nur dadurch veranlasst worden 
ist, dass sich einheimische Aerzte überhaupt nicht gemeldet haben, 
weil ihnen aller Wahrscheinlichkeit die zu besetzenden Stellen 
nicht gut genug gewesen sind und sie lieber auf diejenigen in 
den grösseren Städten speculiren. Thatsächlich sind noch jetzt 
einige hannoversche Physikate trotz mehrfacher Ausschreibung 
wegen Mangels an qualificirten Bewerbern unbesetzt geblieben 
bezw. interimistisch besetzt, und was die zur Zeit in der Provinz 
angestellten Medicinalbeamten (Physiker, Regierungs- und Medi- 
cinalräthe, sowie Mitglieder des Medicinalcollegiums) anbetrifft, 
so sind mindestens 75% derselben eingeborene Hannoveraner, 
ein so günstiges Verhältniss, wie es vielleicht in keiner anderen 
Provinz Vorkommen dürfte. Rapmund. 


Referate. 

Dr. Schmidt-Mülheim, Berlin 1887: Die technischen Grundlagen 
für den Handelsverkehr mit Fleisch von tuberkulösen Thieren. 

Verfasser, ein eifriger und fördernder Arbeiter auf dem Gebiete der Lehre 
von den animalen Nahrungsmitteln, vertritt in der kleinen Broschüre eine An¬ 
sicht, welche wir nicht völlig theilen können. 

In dem interessant und packend geschriebenen Aufsatze heisst es nämlich; 
„Generelle Tuberkulose setzt den Eintritt von Tuberkelvirus in die Blutbahn 
voraus. 

Bei unseren gegenwärtigen Kenntnissen von der Mechanik des Thierkörpers 
wird das nur durch den Einbruch eines erweichten Tuberkelherdes in die 
Blutbahn erfolgen können, sei es, dass ein' solcher Herd sich direkt in eine 
angefressene Körpervene ergiesst, sei es, dass er sich in die Abzugsbahnen 
von solchen Lymphdrüsen entleert, welche direkt mit dem Ductus thoracicus 
eomniuniciren.“ 

Schmidt übersieht hierbei den Umstand, dass das Tuberkelgift, welches 
auf dem von ihm angegebenen Wege in die Blutbahn dringt, für gewöhn¬ 
lich nur in den venösen Abschnitt derselben gelangt und in den Kapillaren 
der Lungen festgehalten wird, dass es hierdurch verhindert wird, in den arte¬ 
riellen Abschnitt zu dringen und damit die Gelegenheit verliert, sämmtlichen 
Körperorganen und somit auch dem Muskelfleisch vom Centrum des linken 
Herzens aus zugeführt zu werden, dass es also in solchen Fällen nicht zur 
allgemeinen Infection, zur generellen Tuberkulose kommt. 

Im Gegentheil, finden wir eine Complioation verschiedener tuberkulös 
erkrankter Organe, welche den Schluss zulässt, dass das Gift zwar durch die 
Blutbahn verbreitet ist, aber nur innerhalb des venösen Abschnittes sich bewegt 
hat, so sind wir, sofern nicht andere Momente dagegen sprechen, zu der An¬ 
nahme berechtigt, dass wir es in solchem Falle mit localisirter Tuberkulose 
zu thun haben. 

Berlin. Mittenzweig. 


Dr. H. Martin, prakt. Arzt in Magdeburg: Wie kann unsere 
Frauenwelt bei der nothwendigen Reform des Hebam- 
menwesens helfend eingreifen? Berlin 1888. Verlag von 
Th. Chr. Fr. Enslin (Richard Schötz). 

Wer die Brennecke’schen Arbeiten und Vorschläge zur Verbesserung des 
Hebammenwesens kennt, wird in dem vorliegenden Sehriftchen wenig Neues 
finden. Ebenso wie jener legt auch der Verfasser den Schwerpunkt der nach 
seiner Ansicht so nothwendigen Hebammenrefonn auf die vereinsgenossen¬ 
schaftliche Organisation dos Hebammenstandcs und auf die Gründung von 
Wöchnerinnen-Asylen, die nicht nur bedürftigen Ehefrauen zur Zeit der Nieder- 



Referate. 


151 


kunft Aufnahme und Pflege, sondern auch den aus besseren Ständen dem 
Hebammenbemfe sich widmenden Jungfrauen und Frauen den Schutz und dier 
Liebe eines stets offnen Mutterhauses gewähren sollen. Der Oedanke, unsere 
Frauenwelt, insonderheit die Frauenvereine bei Durchführung dieser Be¬ 
strebungen helfend heranzuziehen, mag für die grösseren Städte eine gewisse 
Berechtigung und vielleicht auch Aussicht auf Erfolg haben, für das platte 
Land dürfte er sich dagegen kaum verwirklichen lassen. 

Uebrigens schildert der Verfasser die Gefahren des Wochenbetts, des 
„Schlachtfeldes und Opferaltars der Frau“, in viel zu grellen Farben und geht 
im Eifer für seine Bestrebungen entschieden zu weit, wenn er die jetzigen 
Hebammen mit wenigen Ausnahmen als vollständig unfähig für ihren ebenso 
schweren, wie verantwortlichen Beruf bezeichnet. Seitdem in Folge des Ministe¬ 
rialerlasses vom 6. August 1883 eine sorgfältigere Auswahl unter den Hebammen¬ 
schülerinnen getroffen wird, die Hebammen allseitiger und gründlicher aus- 
gebildet, sowie strenger geprüft werden und eine schärfere Controle und regel- 
massigere Nachprüfung derselben seitens der Physiker stattfindet, hat sich der 
Hebammenstand in Preussen gegen früher erheblich gebessert, wenn auch noch 
manches in dieser Hinsicht zu wünschen übrig bleibt. 

Rapmund. 


Dr. med. Zaleski, St. Szcz. Vorschlag einer neuen Methode 
der gerichtlich-chemischen Bestimmung des Gelebt¬ 
habens des Neugeborenen („Eisenlungenprobe“). Eulen¬ 
bergs Vierteljahrsschr. f. ger. Med. u. öff. Sanit.-Wesen, W. F. 
Bd. 48, Heft I, pag. 68 u. ff. 

Ausgehend von dem Umstande, dass die in forensischer Beziehung gegen¬ 
wärtig übliche Lungenschwimmprobe es oft zweifelhaft erscheinen lässt, ob 
ein Gelebthaben des Neugeborenen anzunehmen sei oder nicht, weist Verf. 
auf eine physiologische, bisher unberücksichtigt gebliebene Thatsache hin, die 
möglicherweise zu einer neuen Methode jener Prüfung führen könnte. 

Es gilt als allgemeine Annahme, dass die nichtathmende Lunge während 
des Intrauterinlebens nur das zu ihrer Ernährung erforderliche Quantum Blut 
und zwar durch die Art. bronch. erhält. Mit dem Momente des Athmens 
jedoch strömt ihr sofort ein grösseres Quantum durch den kleinen Kreislauf 
zu. Das Blut enthält als constanten chemischen Bestandtheil Eisen. Die 
fötalen Lungen müssten demnach weniger Eisen enthalten, als die geathmet 
habenden. 

Verf. nahm nun Gelegenheit, diese aprioristische Voraussetzung an 
7 Kindern, von denen 4 todt und 3 lebend geboren waren, experimentell zu 
erhärten und gelangte zu dem Hauptresultat, dass „sowohl der procenti¬ 
sche Trockensubstanzgehalt, wie der Eisengehalt in den Lungen 
der Kinder, die nicht geathmet haben, viel niedriger ist, als in 
den Lungen der Kinder, die geathmet haben“. 

Somit hält Verf. die Annahme, dass vermöge des Eisengehaltes der Lungen 
ein Urtheil über das Gelebt haben des Kindes zu erlangen sei, für berechtigt; 
verkennt jedoch auch die Einwürfe nicht, die von vornherein theoretisch und 
praktisch gegen die etwaige Einführung dieser Untersuchungsmethode erhoben 
werden dürften. 

Obenan steht die Umständlichkeit der Untersuchung. Eine solche 
„Eisenlungenprobe“ würde etwa folgendermassen auszuführen sein: Unter¬ 
bindung des Hilus pulmonum beiderseits en masse, Herausschneiden der Lungen, 
äussere Untersuchung auf Marmorirung, Resistenz, Schwimmfähigkeit (letzteres 
natürlich in destillirtem Wasser), Abtrocknen mit Fliesspapier, Hineinthun in 
eine Platinschale und Abwiegen auf einer chemischen Wage, alsdann Zer¬ 
legung der Lungen, ohne dieselben aus der Platinschale herauszunehmen, 
behufs Besichtigung der Schnittflächen, und nun erst die ganze chemische 
Prozedur der Trockensubstanz- und Eisengehaltsbestimmung, wobei selbstver¬ 
ständlich jeder zufällige Contakt mit Eisen aufs peinlichste zu vermeiden ist. 

Diese letztere Arbeit dürfte nach Verf. einem vereideten Chemiker über¬ 
lassen werden, wenngleich Verf. ihre Ausführung auch für den Gerichtsarzt, 
als für einen Nichtchemiker, nicht gerade für besonders schwierig hält. 



152 


Referate. 


Von den für etwaige Einführung dieser Methode geltend gemachten 
Gründen sei neben der Thatsacbe, dass die Methode bei faulen Lungen, bei 
denen ja der Eisengehalt durch den Fäulnissprocess unberührt bleibt, zur 
augenscheinlichsten Geltung kommen müsste, nur noch der Schultzeschen 
Schwingungen Erwähnung gothan, die ebenfalls die Lungenschwimmprobe 
im gegebenen Falle in Frage zu stellen geeignet sein könnten. Allein bei 
ihnen sei erst noch der Nachweis zu führen, ob nicht durch ihre Ausführung 
gleichzeitig auch Blut aus dem kleinen Kreislauf in die Lungen hinein¬ 
getrieben würde. Dies würde, etwa analog den Untersuchungen von Kraske 
über künstliche Athmung, durch ausgedehnte Prüfungen erst noch festzu¬ 
stellen sein. 

Immerhin ist nicht zu verkennen, dass der Hinweis des Verfassers auf 
dieses physiologische Hilfsmittel zum eventuellen weiteren Ausbau unserer 
wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden speziell in einer Frage von so 
eminenter Wichtigkeit, wie es die nach dem Gelebt haben des Neugeborenen 
' ist, unser gerechtes Interesse uns abzunöthigen durchaus geeignet ist. 

Stettin. Freyer. 


Dl*. Fr. Renk, Privatdocent der Hygiene in München. Die Luft. 
Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten, heraus¬ 
gegeben von Prof. Dr. M. von Pettenkofer und Prof. Dr. H. 
von Ziemssen. I. Theil, 2. Abth., 2. Heft. Mit 27 Abbil¬ 
dungen. Leipzig 1886. Verlag von F. C. W. Vogel. 

Um Wiederholungen mit anderen Abschnitten dos obengenannten Hand¬ 
buches zu vermeiden, behandelt der inzwischen als Regierungsrath an das 
Reichsgesundheitsamt berufene Verfasser in seinem Buche nur die Luft im 
Freien und berührt diejenige in geschlossenen Räumen nur insoweit, als es 
zur Abrundung des Ganzen erforderlich ist. Den Stoff selbst zerlegt er im 
Interesse der Uebersichtlichkeit in zwei grössere Theile, deren ersterer der 
naturwissenschaftlichen Beschreibung der Luft, der zweite dagegen ihrer 
physiologischen und pathologischen Bedeutung für die menschliche Gesund¬ 
heit gewidmet ist. Das reichhaltige Material ist unter sorgfältiger Benutzung 
der einschlägigen, im Text überall angegebenen Litteratur ebenso sachgemäss, 
wie kritisch bearbeitet; vielfach werden auch eigne exacte Untersuchungen 
und Beobachtungen, sowie darauf begründete zum Theil ganz neue Anschau¬ 
ungen gebracht, die den Ruf des Verfassers als scharfsinnigen, zuverlässigen 
und tüchtigen Forschers auf dem Gebiete der Hygiene von Neuem bestätigen 
und den Inhalt seines Werkes um so werthvoller machen. 

Im ersten Abschnitt wird zunächst die chemische Zusammensetzung 
der Luft nach ihren einzelnen constanten Bestandtheilen, Sauerstoff' und Stick¬ 
stoff, Wasserdampf, Kohlensäure, Ammoniak, Salpetersäure und salpetrige 
Säure, Ozon und Wasserstoffhyperoxyd, sowie deren regelmässige und unregel¬ 
mässige durch Ort, Tages- und Jahreszeit, Temperatur, Windströmungen u. s. w. 
bedingte Schwankungen einer eingehenden Erörterung unterzogen. Höchst 
interessant sind die hierbei entwickelten Ansichten über die Ursachen der 
Regulirung des Kohlensäuregehalts der Luft, der darnach bei weitem nicht 
solchen Schwankungen als der Ammoniakgehalt derselben unterworfen ist. 
Diese Thatsache erklärt Verfasser durch die Annahme, dass das Ammoniak in 
der Atmosphäre nicht gasförmig, sondern in fester Form vorhanden ist und 
sich deshalb auch in den unteren Luftschichten viel reichlicher, als in den 
höheren vorfindet. 

Bei Besprechung der gasförmigen Verunreinigungen der Luft, sei es durch 
abnorme Mengeverhältnisse ihrer vorher erwähnten regelmässigen Bestandtheile 
oder durch andere Gasarten wie Schwefelsäure, Chlor, Arsenik, Phosplior- 
säure, Sumpfgas, Schwefelwasserstoffgas u. s. w. wird besonders hervorgehoben, 
dass dieselben in der ungeheuren Masse der atmosphärischen Luft vollständig 
verschwinden und sich nur ganz local in der Nähe der Entwicklungsstätten der 
betreffenden Gase nachweisen lassen, aber auch dann nur durch den Geruch¬ 
sinn und nicht durch chemische Hültsmittel. Eine gedrängte Uebersicht der¬ 
jenigen Factoren, welche gasförmige Verunreinigungen der Luft im geschlos¬ 
senen Raume verursachen können, bildet den Schluss dieses Capitols. 



Referate. 


153 


Die Darstellung der physikalischen Eigenschaften der Luft (Wärme, 
Luftdruck, Luftbewegung, Niederschläge, Staubgehalt, Witterung und Klima) 
ist mit grosser Sachkenntnis geschrieben und durch die beigedruckten Tabel¬ 
len und Abbildungen sehr anschaulich und leicht verständlich gemacht. Wenn 
jedoch der Verfasser den Bewohnern der Hochmoore Ostfrieslands die Haupt¬ 
schuld an der Entstehung des Moorrauches zuschreibt, so befindet er sich im 
Irrthuine, denn in den grossen holländischen (Bourtanger Moor) und 
oldenburgi sehen Hochmooren wird das verwerfliche Culturverfahren des 
Moorbrennes in viel grösserer Ausdehnung, als in den ostfriesischen be¬ 
trieben. 

Betreffs der für die Hygiene so wichtigen Frage, ob aus Flüssigkeiten 
oder von feuchten Oberflächen feste Körperchen, z. B. Spaltpilze, in die Luft 
gelangen können, wird als feststehend angenommen, dass ein solcher 
Uebergang durch Verdunstung allein nicht bewirkt werden kann und über¬ 
haupt nicht möglich ist, so lange sich jene Substrate in Ruhe befinden. 

Im zweiten, der hygienischen Bedeutung der Luft gewidmeten Ab¬ 
schnitte lernen wir diejenigen physiologischen und pathologischen Einflüsse 
kennen, welche die einzelnen Factoren, aus denen sich die Luft zusammensetzt, 
auf den menschlichen Organismus ausüben. Manchen bisher allgemein als 
gültig angesehenen Anschauungen wird hier an der Hand unwiderlegbarer 
Thatsachen und wissenschaftlicher Beobachtungen entgegengetreten und z. B. 
die bei weitem überschätzte Bedeutung des Ozons als eines der menschlichen 
Gesundheit forderlichen Agens auf das richtige Maass zurückgeführt: 

„Die in der ärztlichen Welt noch immer so weit verbreitete Phrase von 
dem heilenden oder gesundheitsstärkenden Einflüsse ozonreicher Luft erweist 
sich eben nur als eine Täuschung, welche nur auf Grund mangelnder quan¬ 
titativer Beleuchtung des Gegenstandes so lange Zeit überliefert werden konnte. 
Wohl lehrt die Erfahrung, dass die Luft auf freiem Felde, in Wäldern, an den 
Seen, auf Bergen ozonhaltig ist, während sie im Innern der Städte und be¬ 
sonders in Wohnräumen frei davon gefunden wird; ein Trugschluss jedoch ist 
es, anzunehmen, dass die Luft im ersteren Falle ihre wohlthätige Eigenschaft 
dem Ozon verdanke und kann dieser der Ausdruck „ozonreiche Luft“ höchstens 
synonym mit dem Worte „gute Luft“ gebraucht werden. — So kann man 
heutzutage wohl der Ueberzeugung Ausdruck geben, dass dem Ozon ein 
sanitärer Werth nicht zukomme, umsomehr, da auch die epidemiologischen 
Beobachtungen, soweit sie den Einfluss des Ozons auf die Verbreitung von 
Infectionskrankheiten betreffen, ein vollkommen negatives Resultat ergaben/ 

Wie der Verfasser ferner die der Vegetation entstammenden „Riechstoffe“ 
bezw. die Balsame, deren Geruch der Waldluft beigemengt ist, als diejenigen 
Bestandteile der Luft betrachtet, welche den Athmungsprozess zu einem an¬ 
genehmeren machen und den Städter erfreuen, wenn er die freie Landluft auf¬ 
sucht, so führt er andererseits den gesundheitsschädlichen Einfluss der soge¬ 
nannten schlechten, verdorbenen und mit allerhand übelriechenden Gasen ver¬ 
unreinigten Luft darauf zurück, dass dieselbe durch ihre unangenehme 
Wirkung auf den Geruchssinn Unlust und Ekel erregt, eine Depression der 
Athmung bedingt und das Allgemeinbefinden schliesslich herabsetzt. 

Auch die folgenden Capitel über die hygienische Bedeutung niederer und 
höherer Temperaturen (Erfrieren, Erkältung, Hitzschlag, Sonnenstich), erhöhten 
und verminderten Luftdrucks, der Luftbewegungen, Niederschläge und des 
Staubgehaltes der Luft zeichnen sich durch eine fesselnde, klare und 
streng wissenschaftliche Darstellungsweise aus. Dabei wird der Einfluss dieser 
Factoren auf die Entwicklung und Verbreitung der Mikroorganismen, insonder¬ 
heit der pathogenen Pilze, und die Möglichkeit der Uebertragung contagiöser 
Krankheiten durch die Luft eingehend berücksichtigt und an der Hand eign^ 
Versuche kritisch beleuchtet. So giebt z. B. Verfasser die Möglichkeit zu, 
dass durch die Expirationsluft Tuberkulöser in Folge von Räuspern oder 
Husten die specifischen Krankheitserreger weiter verbreitet werden können, 
behauptet dagegen, dass bei ruhigem Athmen eine solche Gefahr ausgeschlos¬ 
sen ist. 

Die Ausstattung des Buches ist eine recht gute; dasselbe reiht sich den 
schon früher erschienenen vortrefflichen Abschnitten des jetzt seiner Vollen- 



154 


Referate. — Verordnungen und Verfügungen. 


dang entgegengehenden Handbuches in durchaus würdiger Weise an und ver¬ 
dient ebenso wie diese die wärmste Empfehlung und weiteste Verbreitung in 
allen betheiligten Kreisen. Rapmund* 


Wiener klinische Wochenschrift. 

Am 5. April d. J. ist die erste Nummer der Wiener klinischen Wochen¬ 
schrift erschienen. 

Dieselbe wird als Organ der K. K. Gesellschaft der Aorzte fungiren und 
die amtlichen Mittheilungen publiciren. 

Die Wochenschrift soll dem wissenschaftlichen Interesse des praktischen 
Arztes dienen und Angelegenheiten der Universität, des Unterrichts, des ärzt¬ 
lichen Standes und einzelner Personen desselben in objectiver und würdiger 
Weise besprechen. 

Die Namen der Herausgeber, der ständigen Mitarbeiter und derer, welche 
dem Unternehmen ihre Mitwirkung zugesagt haben, verbürgen demselben ein 
allseitiges Entgegenkommen der medicinischen Lesewelt und eine freundliche 
Aufnahme Seitens der schon bestehenden medicinischen Zeitschriften. 

Der Umstand, dass E. von Hofmann bereits in der ersten Nummer mit 
einem umfangreichen Artikel: „Angebliche Nothzucht mit nachfolgender 
Blennorrhoe und hystero-epileptischen Anfällen. Fraglicher Geisteszustand“ 
vertreten ist, wird die Wochenschrift unter den denkbar günstigsten 
Auspicieü auch in die Kreise der Medicinalbeamten einführen. 

Auch wir wünschen schon deshalb mit derselben in collegialische Fühlung 
zu treten und hoffen, dass die neue Wochenschrift einen günstigen Erfolg 
erzielen wird. Mittenzweig. 


Verordnungen und Verfügungen*). 

Gesundheitspolizeillche Massregeln In den überschwemmten Gebieten. 
Verfügung des Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten (gezeichnet 
v. Gossler) vom 9. April 1888 M. N. 2880, an die Königl. Oberpräsidenten 
der Provinzen Ostpreusson, Westpreussen, Pommern, Posen, Brandenburg, 

Schlesien und Hannover. 

Die Ueberschwemmungen, welche die östlichen Provinzen des preussischen 
Staates in einem Umfange und mit einer Schwere heimgesucht haben, wie 
seit vielen Jahrzehnten nicht geschehen ist, haben zunächst die Sorge der 
Staatsrogierung dafür in Anspruch genommen, das unmittelbar bedrohte Leben 
der Bewohner der überschwemmten Landstriche, soweit möglich zu schützen 
und die ihres Obdachs Beraubten, der nothwendigsten Lebensbedürfnisse ent¬ 
behrenden Unglücklichen unterzubringen und zu erhalten. Schon jetzt aber, 
während das Zerstörungswerk noch fortzuschreiten scheint, richtet sich die 
Erwägung darauf, wie den später zu erwartenden nicht minder schweren 
Nachwirkungen desselben entgegenzutreten sein wird. 

Die Besorgniss, dass die Ueberschwemmung nachthoilige Folgen für den 
Gesundheitszustand der Bevölkerung der von ihr betroffenen Gegenden zur 
Folge habe, ist eine nur zu wohl begründete und erheischt vorbeugende Mass¬ 
regeln auch in dieser Richtung. 

Die nachstehende Verfügung giebt hierfür Directiven, welche selbstver¬ 
ständlich die in Betracht kommenden Momente nicht erschöpfen, aber sich 
bereits praktisch bewährt haben, da sie auf den bei der Rheinüberschwem¬ 
mung im Winter 1882/83 gesammelten Erfahrungen beruhen. 

Da die Sorge für die Ernährung und Bekleidung der Bedürftigen, so wich¬ 
tig dieselbe für die Erhaltung eines guten Gesundheitszustandes ist, in erster 
Reihe nicht Aufgabe der Sanitätspolizei ist, hat letztere zunächst und haupt¬ 
sächlich Vorkehrungen zu treffen, um diejenigen Nachtheile thunlichst zu ver- 


*) Bezüglich der in der vorhergehenden Nummer 4 S. 125—127 veröffent- 
richten Ministorial-Verfügung, betreffend die Einführung bezw. Erweite- 
lung der ärztlichen Schulrevisionen sei noch nachzutragen, dass die¬ 
selbe unter dem 25. Februar d. J. M. N. 10004 erlassen ist. 



Verordnungen und Verfügungen. 155 

hüten, welche sich aus der Ueberschwemmung der Wohnstätten pnd der 
Verunreinigung der Brunnen ergeben. 

Ob und in welchem Umfange die Zerstörung und bauliche Beschädigung 
der Wohngebäude und die Unmöglichkeit, den Insassen derselben in anderweit 
vorhandenen Räumen ein zeitweiliges Unterkommen zu schaffen, dazu zwingen 
wird, durch Errichtung von Baracken und Hütten einen Nothbehelf herzu¬ 
stellen, wird erst die Folge lehren. Wo dieser Fall aber eintritt, wird darauf 
zu achten sein, dass an der für diesen Zweck gewählten Stelle der Boden vor¬ 
her von aufgelagertem Schlamm und Schmutz gehörig gereinigt und durch 
Anlegung eines die Nothhütten umgebenden Abzuggrabens für thunlichste 
Trockenhaltung desselben gesorgt wird. 

Wohnräume, welche zwar mehr oder weniger unter Wasser gestanden 
haben, im Uebrigen aber erhalten geblieben sind, dürfen, wo sich dies irgend 
vermeiden lässt, nicht eher wieder in Gebrauch genommen und namentlich als 
Schlafräume benutzt werden, bis sie genügend gereinigt, ausgetrocknet und 
nach Bedarf desinficirt sind. 

Brunnen, welche überfluthet worden sind, müssen, bevor ihr Wasser wie¬ 
der zum Trinken und Kochen oder sonstigem Hausbedarf verwendet werden 
kann, entleert, gereinigt und gleichfalls desinficirt werden. 

Zur Durchführung dieser Massregeln wird die Thätigkeit der Sanitäts¬ 
commissionen in Anspruch zu nehmen sein, und wo solche zur Zeit noch 
nicht vorhanden sein sollten, sind sie sofort zu bilden. In grösseren Städten 
sind gemäss § 4 des Regulativs vom 8. August 1835 auch den Sanitätscom¬ 
missionen untergeordnete Special- (Revier-) Commissionen einzurichten, welche 
die ersteren zu unterstützen, insbesondere über thatsächliche Verhältnisse der 
Stadtbezirke, für welche sie gebildet sind, Bericht zu erstatten, die Ausfüh¬ 
rung der Anordnungen der Sanitätscommission zu veranlassen und zu über¬ 
wachen und sofort Anzeige über alle Vorkommnisse, die für die Thätigkeit 
der Sanitätscommission von Interesse sind, zu erstatten, namentlich unverzüg¬ 
lich Mittheilung zu machen haben, wenn der Ausführung der getroffenen An¬ 
ordnungen Widerstand entgegengesetzt werden sollte. Die Thätigkeit dieser 
Commissionen hat sich bei der Ueberschwemmung der Rheinufer als sehr nutz¬ 
bringend erwiesen. 

Was das zur Wiederherstellung eines gesundheitsgemässen Zustandes der 
Wohnungen einzuschlagende Verfahren betrifft, so ist vor Allem nach Rück¬ 
gang des Wassers eine gründliche Reinigung der Wohngebäude in allen 
ihren Abtheilungen nothwendig, dieselbe genügt aber in der Regel nicht. Es 
kommt nämlich in Betracht, dass meistens nicht nur Wasser, eventuell mit 
Lehm oder anderen ähnlichen, in sanitärer Hinsicht wenig bedeutsamen Stoffen 
verunreinigt, in die Wohnungen eingedrungen ist, sondern dass das Wasser je 
nach den örtlichen Verhältnissen mehr oder weniger den Schmutz der Strassen, 
den Unrath der überflutheten Abtritte und Dungstätten, nach Umständen den 
Inhalt von Schmutzwasserleitungen mit sich führt, und dass mit solchen Stof¬ 
fen Wände und Fussböden der Zimmer und der Nebenräume der Wohnungen 
verunreinigt werden. In solchen Fällen ist häufig die vollständige Beseitigung 
der verunreinigenden Massen nicht möglich und es wird alsdann die Desin- 
fection nothwendig. 

Besondere Berücksichtigung erfordert in gedielten Zimmern die Füllung 
unter den Dielen des Fussbodens in den Erdgeschossen, welche entweder 
nur durchnässt oder zugleich verunreinigt sein kann. Auch im ersteren Falle 
wird dieselbe, wenn sie, wie sehr häufig, von vornherein aus unreinem Material 
bestanden hat, der Sitz sich lang hinziehender Fäulnissprozesse werden können, 
bietet auch für etwa vorhandene Krankheitskeime unter Umständen einen sehr 
geeigneten Boden und muss daher beseitigt und durch ein passendes, trockenes 
Material ersetzt werden, da eine gründliche Desinfection kaum ausführbar ist. 
In allen Fällen, wo die Dielen bereits schadhaft waren, ist die Beseitigung der 
Füllung sehr rathsam, auch wenn eine besondere Verunreinigung sie nicht gerade¬ 
zu nothwendig machen sollte, weil die Dielen, wenn sie auf der durchnässten 
Unterlage liegen bleiben, bald völlig verfaulen oder durch Schwamm zerstört 
werden würden. 

Erweist sich bei einer probeweisen Aufnahme einer oder der anderen Diele 
die Fussbodenfüllung nicht besonders feucht und unrein, so genügt die Desin- 



156 


Verordnungen und Verfügungen. 


fection der Dielen. Was die Wände betrifft, so ist die Entfernung des Ab- 
putze8 von denselben sowohl deshalb dienlich, weil damit unreine Stoffe, 
welche sich mit dem Wasser in die Wände eingezogen haben, noch sicherer 
unschädlich gemacht werden, als es durch Anwendung von Desinfectionsmitteln 
allein gesehen könnte, sowie auch deshalb von Nutzen, weil dadurch die Aus¬ 
trocknung der Wände erheblich beschleunigt wird. 

Am besten ist es, zunächst den Abputz zu entfernen, dann aaszutrocknen 
und zum Schluss die Wände zu desinficiren. 

Ist Wasser in Keller gedrungen, welche sich unter Wohnungen befin¬ 
den, so ist dasselbe möglichst bald und vollständig durch Auspumpen und Aus¬ 
schöpfen zu entfernen, wenn es von aussen in die Keller geströmt war, weil 
ein solches Wasser leicht erheblich verunreinigt sein und in Fäulniss übergehen 
kann. Sind solche Koller im Wesentlichen wasserfrei gemacht, so ist der Rest 
des Wassers zu desinficiren und der schliesslich zurückbleibende Schlamm 
gleichfalls zu desinficiren und wegzuschaffen. 

Sind Keller ausschliesslich durch Grundwasser angefüllt, so sind die Be¬ 
mühungen, sie auszupumpen, vergeblich, so lange der hohe Grundwasserstand 
andauert. 

Zur Desinfection sind lediglich zwei Mittel anzuwenden, nämlich die 
Karbolsäure und der gebrannte Kalk. 

Die früher zu den in Rede stehenden Desinfectionen meist angewandte 
rohe Karbolsäure ist in ihrer Mischung mit Wasser nach neueren Unter¬ 
suchungen des hiesigen hygienischen Universitätsinstituts wenig wirksam, da¬ 
gegen übertrifft eine Mischung von roher Karbolsäure mit roher Schwefelsäure 
selbst entsprechende Lösungen von reiner Karbolsäure an desinficirender Kraft. 
Die Mischung ist derart herzustellen, dass zu derselben auf je 10 Liter roher 
Karbolsäure 5 1 /* Liter roher Schwefelsäure genommen werden. Die beiden 
Flüssigkeiten müssen gut gemischt und das Ganze dann 2 bis 3 Tage ruhig 
stehen gelassen werden. Dieses Desinfectionsmittel ist somit im Voraus zuzu¬ 
bereiten, und es empfiehlt sich, dasselbe in grösseren Mengen für den Bedarf 
bereit zu halten. Die Zubereitung dürfte am besten durch Apotheker erfolgen. 
Die Materialien sind sehr billig und selbst in kleinen Städten fast überall vor¬ 
handen oder doch leicht zu beschaffen. 

Der gebrannte Kalk wird als Kalkmilch oder als Pulver angewandt. 
Erstere wird in der Art hergestellt, wie die Marner es zum Tünchen der 
Wände zu thun pflegen, jedoch ist diese Tünche etwas concentrirter zu 
machen, als es zu letzterem Zwecke nothwendig ist. Das Kalkpulver wird 
durch Zerkleinern von gebranntem Kalk bereitet. Zur Desinfection der Wände 
und des Fussbodens wird am besten die Karbolsäuremischung benutzt, ebenso 
zum Desinficiren des in den Kellern nach dem Auspumpen und Ausschöpfen 
etwa übrig bleibenden Wassers. Im letzteren Falle wird auf 20 Theile des 
vorhandenen Wassers etwa ein Theil der Karbolsäuremischung zu nehmen sein. 

Die Wände werden mit der Mischung reichlich (mittelst Pinseln, Lappen 
oder dergleichen) angefeuchtet, die Dielen mit derselben gescheuert. 

Ist von den Wänden vorher der Abputz entfernt worden, so ist die Kalk¬ 
tünche zu benutzen, wodurch der Geruch der Karbolsäure (der übrigens bei 
der Mischung kein sonderlich starker ist) vermieden wird. Auch zur Desin¬ 
fection der Kellerwände ist die Karbolsäuremischung, wenn die Keller jedoch 
zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln, namentlich von Milch, benutzt wer¬ 
den sollen, die Kalktünche anzuwenden. Zur Desinfection des in den Kellern 
nach Beseitigung dos Wassers zurückbleibenden Schlammes ist das Kalkpulver 
besonders geeignet, welches zu einem Theile auf zwanzig Theile Schlamm auf 
letzteren zu streuen ist. 

Die Austrocknung der Wände ist in der jetzigen Jahreszeit am Tage 
(wenn es nicht gerade, regnet) durch energische Lüftung mittelst Oftenhalten 
der Fenster und Thüren zu bewirken. Zur Beschleunigung derselben sind 
Nachts die heizbaren Räume stark zu heizen, wobei ein oberer Fensterflügel 
und die Thür offen zu halten ist. Letztere sind zu schliessen, um eine stärkere 
Erwärmung des Raumes zu erzielen, wenn derselbe mittelst einer im oberen 
• Theil der entsprechenden Wand herzustellenden Oeffnung sich mit einem ge¬ 
heizten Schornstein in Verbindung setzen lässt, wodurch die erforderliche 
Ventilation bewirkt wird. 



Verordnungen und Verfügungen. 


157 


Sehr zu empfehlen ist statt der Heizung der Oefen auch die Anwendung 
grosser eiserner Körbe, in denen Coaks verbrannt werden, ein Verfahren, 
welches am Rhein seinerzeit ganz allgemein und mit gutem Erfolge angewandt 
worden ist. Hierbei sind die Dielen des Fussbodens mehrere Centimeter hoch 
mit reinem Sande zu überdecken, und der Coakskorb ist die Wände entlang 
allmählich von einer Stelle zur andern zu rücken. Der Sand, welcher die 
Dielen vor dem Anbrennen bewahrt, erwärmt sich stark und befördert zugleich 
das Austrocknen des Fussbodens. In niedrigen Räumen kann es nothwendig 
werden, die Decke durch ein über dem Coakskorbe anzubringendes Eisenblech 
vor zu starker Erhitzung zu schützen. Die Anwendung der Coakskörbe wird 
in der Regel polizeilich überwacht werden müssen. 

Zu bemerken ist noch, dass nicht nur der Raum, in welchem die Körbe 
in Anwendung stehen, sich mit Kohlendunst füllt, sondern der letztere auch 
unter Umständen durch die Decke in darüber gelegene Räume eindringen und 
hier, falls sich Menschen in denselben befinden würden, Kohlenoxyd-Ver¬ 
giftungen veranlassen könnte, wie dies am Rhein beobachtet worden ist. 

Wenn das in Beziehung auf die sanitären Verhältnisse der Wohnungen 
Erforderliche in der unmittelbar nach der Ueberschwemmung herrschenden 
Nothlage nicht überall wird ausgeführt werden können, so kommt in Betracht, 
dass die Schädigung der Gesundheit infolge der zu frühen Wiederbenutzung 
der Häuser zum grossen Theil allmählich, im Laufe von Wochen und Monaten 
erfolgt und sich zunächst mit der Dauer der Zeit steigern kann. Es ist daher 
nothwendig, nach einiger Zeit, wenn die erste Noth abgewandt ist und die 
Verhältnisse sich im Ganzen wieder einigermassen geordnet haben, unter Heran¬ 
ziehung der Sanitätscommissionen sanitätspolizeiliche Revisionen der 
Wohnungen, welche überschwemmt gewesen sind, und namentlich derjenigen, 
welche darauf vorzeitig in Gebrauch genommen werden mussten, ausführen zu 
lassen, damit dann noch nachträglich die sich als nothwendig ergebenden 
Massnahmen zur Verbesserung der Vorgefundenen Missstände getroffen werden. 
Die etwa erforderliche Räumung von Wohnungen wird alsdann voraussichtlich 
leichter zu bewerkstelligen sein. 

Was die Brunnen betrifft-, so ist nach den bisherigen Erfahrungen anzu¬ 
nehmen, dass die sogenannten abessynischen Brunnen unter dem Einflüsse der 
Ueberschwemmung in der Regel nicht leiden und fortgesetzt zu benutzen sein 
werden. Die Wiederherstellung der Pumpbrunnen erfolgt durch möglichst 
vollständiges Auspumpen und Reinigen der Kessel, welche hierauf mit dem 
Kalkpulver zu desinficiren sind. Die Schöpfbrunnen werden thunlichst ausge¬ 
schöpft, und alsdann wird in dieselben eine mässige Portion Kalkpulver oder 
auch gebrannter Kalk in gröberen Stücken geschüttet. Zeigt sich nach wieder 
erfolgter Ansammlung des Wassers dasselbe (von Kalk) erheblicher getrübt, 
so ist das Auspumpen bezw. Ausschöpfen noch einmal zu wiederholen. 

Auch nach erfolgter Verbesserung der Brunnen empfiehlt es sich, das 
Wasser derselben zum Trinken, Kochen und zum sonstigen häuslichen Gebrauch 
eine Zeit hindurch nur zu benutzen, nachdem es vorher aufgekocht worden. 
Das Auf kochen ist unbedingt nothwendig, wenn zu den gedachten Zwecken 
das Wasser verunreinigter Brunnen infolge obwaltender Nothlage vor erfolgter 
Reinigung derselben benutzt werden muss. 

Dem Zustande der Abtrittsgruben ist, nachdem dieselben entleert sind, 
die erforderliche Beachtung zu schenken, da sie in ihrem baulichen Zustande 
infolge der Ueberschwemmung leicht Schaden gelitten haben können, welcher 
aasgebessert werden muss, um sich daraus für die Folge leicht ergebende 
sanitäre Missstände zu verhüten und namentlich benachbarte Brunnen vor 
Verunreinigung durch aussickernde Kothflüssigkeit zu schützen. Liegt ein 
Brunnen sehr nahe an einer Kothgrube, so ist letztere zu entleeren, bevor 
das etwa nothwendige Auspumpen oder Ausschöpfen des Brunnens vorge¬ 
nommen wird. 

Oeffentliche Anstalten, wie Schulen, Waisenhäuser, Gefängnisse, 
Hospitäler, Krankenhäuser und ähnliche erheischen, falls sie der Ueber¬ 
schwemmung ausgesetzt gewesen waren, eine besonders sorgfältige Behandlung, 
Wenn sie wegen ihrer Ueberschwemmung ausser Benutzung gesetzt, bezw. 
geräumt werden mussten, müssen sie geschlossen bleiben, bis der Zustand der¬ 
selben nach sachverständigem Gutachten keine Bedenken mehr bietet. Eine 



158 


Verordnungen und Verfügungen- — Literatur. 


nachträgliche sanitätspolizeiliche Untersuchung derselben Art, wie sie in Vor¬ 
stehendem für die Wohnungen als zweckmässig bezeichnet worden ist, ist für 
die überschwemmt gewesenen öffentlichen Anstalten unumgänglich nothwendig, 
sofern an denselben nicht besondere Aerzte angestellt sind, denen es obliegt, 
die gesundheitlichen Verhältnisse zu überwachen. 

Damit die Behörden für die auf die Ueberschwemmung folgende Zeit über 
den Gesundheitszustand der Bevölkerung in den überschwemmten Districten 
genügend unterrichtet erhalten werden, um namentlich beim Auftreten an¬ 
steckender Krankheiten oder sonstiger Epidemien rechtzeitig eingreifen zu 
können, werden die wegen Anmeldung derartiger Krankheiten be¬ 
stehenden Vorschriften erneut eirizuschärfen und besonders streng zu hand¬ 
haben sein. Von besonderer Wichtigkeit sind in dieser Beziehung der Typhus, 
die Ruhr und die Diphtheritis. 

Indem ich Ew. Excellenz ganz ergebenst ersuche, sofort vorstehende Ver¬ 
fügung zur Kenntnissnahme der betheiligten Behörden und Personen zu 
bringen, auch das sonst Erforderliche in der Sache gefälligst zu veranlassen, 
bemerke ich zugleich, dass von denjenigen Geldern, welche voraussichtlich zur 
Verfügung gestellt werden, ein entsprechender Antheil wird verwendet werden 
können, um die Gemeinden der von der Ueberschwemmung heimgesuchten 
Districte bei der Ausführung der nothwendigen sanitären Massnahmen, deren 
Umfang sich auf alle angeregten Punkto zu erstrecken hat, in angemessener 
Weise zu unterstützen. 


Literatur. 

(Der Redaction zur Recension eingegangen.) 

1. M artin, Aloys, Dr. med., König!. Medicinalrath, Universitätsprofessor 
und Landgerichtsarzt in München. Das Civil-Medieinalwesen im König¬ 
reich Bayern 1883—87, 14 Lieferungen. München, Theodor Ackermann, 
Königl. Hofbuchhändler. 

2. Flascher, C., Dr. med., Königl. Stabs- und Bataillons-Arzt. Die Ver¬ 
waltung des Garnison-Lazareths. Berlin, Verlag von Julius Springer. 
Preis 1,60 Mk. 

3. Cohn, Hermann, Dr. med. Die Schularztdebatte auf dem inter¬ 
nationalen Kongresse zu Wien. Hamburg und Leipzig, Verlag von 
Leopold Voss. 1888. 

4. v. Hof mann, E., Prof, in Wien. Uobor die akute Meningitis im an¬ 
geblichen ursächlichen Zusammenhänge mit Misshandlungen oder 
leichteren Verletzungen. Separatabdruck aus Dr. Wittelhüfer’s „Wiener 
med. Wochenschrift“ No. 6, 7, 8, 9. 1888. 

5. Müller, Franz Carl, Dr. med. in München. Bewusstsein und Bewusst¬ 
seinsstörungen. 1888. 

6. Raimondi, ü., Professore nolla R. Universitä di Siena. Rassegna Di 
Medicina Legale per Panno 1887. Milano, Fratelli Reehiedei Kditori. 
— 1888. 

7. Raimondi, C., Rottura dell' esofago da trauma all 1 epigastrio. (Autop- 
sia giudiziaria). 

8. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege zu Berlin im Jahre 1887. Sonder-Abdruck aus der Deutschen 
Medicinal-Zeitung. Berlin 1888. Verlag von Eugen Grosser. 

Um Einsendung von Zeitschriften, Broschüren und Büchern ans dem 
Gebiete der gerichtlichen Medicin und Psychiatrie, der Hygiene und 
Sanitätspolizei, wird mit dem ergebensten Bemerken gebeten, dass die 
Besprechung derselben nach der Reihenfolge des Eingangs erfolgt# 


Um den Herren Collegen Gelegenheit zu geben, auch kürzere Mit- 
thellungen über interessante Vorkommnisse in Ihrer Amtsthätigkeit zu 
machen, bitte ieh mir solche freundlichst zusenden zu wollen, da die¬ 
selben von nun an unter der Rubrik „Kleinere Mittheilungen“ 
regelmässig erscheinen werden. Mittenzweig. 



Personalien. 


159 


Als Einführender der Sektion für gerichtl. Medicin und Med.-Polizei der 
vom 18. bis 23. September dieses Jahres in Köln tagenden Versammlung 
Deutscher Naturforscher und Aerzte, erlaube ich mir, zur Theilnahme an den 
Berathungen unserer Sektion freundlichst einzuladen und hiermit die ergebenste 
Bitte zu verbinden, für die Sektion geeignete Vorträge bei mir anzumelden. 

I>r# Hchwartz , Geheimer Medieinal - und Regierungsrath. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Das Prädikat als Professor: dem Privatdocenten in der 
medicinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Dr. H. Krause und 
dem dirigirenden Arzt des Lazaruskrankenhauses Sanitätsrath Dr. K. Langen¬ 
buch in Berlin. — Der Character als Geheimer Sanitätsrath: dem 
dirigirenden Arzt der inneren Station des Central-Diakonissenhauses Bethanien, 
Sanitätsrath Dr. Ed. Goltdammer zu Berlin. — Der rothe Adlerorden 2. Kl. 
mit Eichenlaub: dem ordentlichen Professor der Chirurgie an der Universität zu 
Marburg Geheimen Medicinalrath Dr. Roser; der rothe Adlerorden 3. Kl.: 
dem Geh. Sanitätsrath Dr. Hahn in Berlin; der rothe Adlerorden 4. Kl.: 
dem prakt. Arzt und Sanitätsrath Dr. Moll zu Neumarkt. — Der Kronen¬ 
orden 2. Klasse: dem Geheimen Medicinalrath und Professor Dr. Schwartz 
in Göttingen; der Stern zum Kronenorden 2. Klasse: dem Geheimen Me¬ 
dicinalrath und ordentlichen Professor Dr. Kussmaul in Heidelberg; der 
Kronenorden 3. Klasse: dem Oberstabsarzt I. Klasse a. D. Dr. Juzi, bisher 
Regimentsarzt des Inf.-Reg. No. 137; der Kronenorden 4. Klasse: dem Ober¬ 
amtswundarzt Fa il er in Langenenslingen.— Das Kreuz der Grosskomthure 
des Kgl. Hausordens der Hohenzollern: dem Generalstabsarzt der Armee, 
Wirklichen Geheimen Obermedicinalrath und Professor Dr. von Lauer; das 
Kreuz derKomthure desselben Ordens: dem Generalarzt H. Klasse und Re¬ 
gimentsarzt Dr. Leuthold; das Kreuz der Ritter desselben Ordens: dem 
Stabs- und Bataillonsarzt Dr. Tim an n in Berlin. — Die Genehmigung er- 
theilt zur Anlegung: des Kommandeur-Kreuzes des Kgl. Schwedischen 
Wasa-Ordens: dem Oberstabsarzt I. Klasse und Chefarzt des 2. Garnisonla- 
zareths Dr. Michel in Berlin; des Ehrenritterkreuzes 2. Klasse des 
Grossherzogi. Oldenburg’schen Haus- und Verdienstordens: dem Ober¬ 
stabsarzt Dr. Lindemann in Münster; der goldenen Ehrenmedaille des 
Fürstlich Hohenzollernschen Hausordens: dem Oberamtswundarzt Fai- 
ler in Langenenslingen. — Erhoben in den persönlichen Adelstand: der 
Geheime Regierungsrath, ordentlicher Professor der Chemie und Mitglied der wis¬ 
senschaftlichen Deputation für das Medieinal wesen Dr. Hofmann in Berlin. 

Ernennungen: 

Der seitherige Kreiswundarzt Dr. Gottschalk zu Bomst zum Kreis¬ 
physikus des Kreises Rosenberg Ob.-Schl.; der seitherige Kreiswundarzt 
Dr. Farne in Danzig zum Kreisphysikus des Kreises Danzig-Niederung; der 
seitherige Kreiswundarzt des Kreises Marienburg Dr. Wodtke in Neuteich 
zum Kreisphysikus des Kreises Dirschau; der bisherige Kreiswuridarzt Dr. A. 
Sikorski in Adelnau zum Kreisphysikus des Kreises Adelnau; der bisherige 
Kxeiswundarzt Dr. Ne mann in Schwerin a. W. zum Kreisphysikus des 
Kreises Schwerin; der bisherige Kreiswundarzt des Kreises Kottbus, Sanitätsrath 
Dr. Liersch zu Kottbus zum Kreisphysikus des Landkreises Kottbus; der Ober¬ 
stabsarzt a. D. Dr. Düsterhoff zum Kreisphysikus des Kreises Lissa. 

Uebertragen s 

Die kommissarische Verwaltung der Kreiswundarztstelle des Kreises Sens- 
burg: dem praktischen Arzt Franz in Nikolaicken und diejenige des Kreises 
Jericho I: dem praktischen Arzt Dr. Dietrich in Moeckem. 

Verstorben sind: 

Die Kreiswundärzte Himmelreich in Lennep, Dr. Plien in Süchteln 
und Dr. Raesfeld in Dorsten. 

FShigkeitszengniss mm Physikat 

haben im 1. Quartal 1888 erhalten: Die DDr. Bernhard Holzhausen in Als- 
leben, Fritz Kalkoff in Cölleda und Otto Schmiedecke in Kassel, 



160 


Personalien. — Preussischer Medicinalbeamtenverein. 


Vakante Stellen. 

Kreisphysikate: Darkehmen, Neidenburg, Johannisburg, Putzig, Briesen, 
Znin, Filehne, Witkowo, Gostyn, Jarotschin, Koschmin, Neutoinischel, Schild¬ 
berg, Schmiegel, Falkenberg in Ob.-Schl., Goerlitz, Ohlau, Mansfeldt (Gebirgs- 
kreis), Gramm, Neustadt a. R., Adenau, Daun und Oberamt Gammertingen. 

Kreiswundarztstellen: Fischhausen, Mohrungen, Darkehmen, Heyde- 
krug, Ragnit, Tilsit, Karthaus, Loebau, Stulmi, Marienburg, Angermünde, 
Templin, Friedeberg, Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West-Sternberg, 
Regenwalde, Bütow, Dramburg, Scliievelbein, Bomst, Schroda, Wreschen, 
Strehlen, Reichenbach, Wanzleben, Saalkreis, Merseburg, Naumburg a. S., 
Koesfeldt, Borken, Recklinghausen, Steinfurt, Warendorf, Höxter, Warburg, 
Lippstadt, Meschede, Untertaunus, Kempe, Zell, Kleve, Solingen, Bergheiin, 
Lennep, Rheinbach, Wipperfürth, St. Wendel und Haigerloch. 


Preussischer Medicinalbeamtenverein. 


Der Unterzeichnete Vorstand hat in seiner Sitzung am 9. April <1. J. 
beschlossen, dass die 

Sechste Hauptversammlung des Vereins 

am 26. und 27. September d. J. in Berlin 

stattfinden soll. 

An Vorträgen sind bis jetzt angemeldet und für die diesjährige Tages¬ 
ordnung angenommen: 

1. Die Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf die jetzige Unfallgesetz- 

gebung. Herr Bezirksphysikus Dr. Becker in Berlin. 

2. Der Entwicklungsgang im pretissischen Medicinalwesen.—L Apotheken- 

wesen und Apothekengesetzgebung. Herr Rogierungs und Medicinal- 

rath Dr. Wern ich in Köslin. 

3. Die Konstatirung ansteckender Krankheiten mit Bezug auf die §§ 9 

und 10 des Regulativs vom 8. August 1835. Herr Regierungs- und 

Medicinalrath Dr. Peters in Bromberg. 

4. Ceber einige den Medicinalbeamten abzunehmende Geschäfte. Herr 

Kreisphysikus Prof. Dr. Falk in Berlin. 

5. Bemerkungen über die Lage der fremden Ernte-Arbeiter (Schnitter) 

in einzelnen Theilen der Provinzen Brandenburg und Schlesien. 

Herr Kreisphysikus Dr. Schmidt in Steinau a./0. 

6. Ueber einzelne Bestimmungen des Gesetzes vom 9. März 1872 

betreffend die Gebühren der Medicinalbeamten. Herr KreLs- 

physikus Sanitätsrath Dr. Wal 1 ichs in Altona. 

Zur Besichtigung sind in Aussicht genommen: Die Königl. Strafanstalt 
in Plötzensee und das medico-technische Institut in Berlin. 

Anderweitige Vorträge oder Discussionsgegenstände , sowie etwaige die 
diesjährige Versammlung betreffende Wünsche bittet der Vorstand bei dem 
Unterzeichneten Schriftführer des Vereins bis spätestens zum 15. Juni anzu¬ 
melden, damit die definitive Tagesordnung sobald als möglich festgestellt und 
den Vereinsmitgliedern rechtzeitig mitgetheilt werden kann. 

Desgleichen werden diejenigen Mitglieder, welche mit dem jährlichen 
Vereinsbeitrag noch rückständig sind, freundlichst ersucht, den letzteren 
innerhalb der nächsten 14 Tage an den Schriftführer einsenden zu wollen. 

Der Vorstand des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

Im Auftr. 

Dr. Otto Rapmund, 

Reg.- u. Medicinalrath in Aurich, Schriftführer des Vereins. 


Fürstl. prlv. Hofbuchdruckerei (i\ Mitzlaff), Rudolstadt. 




Jahrg. L 


1888. 


Zeitschrift 

für 

MEDICINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

Gericht]. Stadtphysikus in Berlin. . Reg.* und Medicinalrath in Aurich. 

and 

Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 


* No. 6. 


Erscheint mmm 1. Jedes Honats. 

Preis jährlich 6 Mark. 


1. Juni. 


Orlginal-Mittheilungen 

Zar Casulstlk des plötzlichen Todes. 
Yon Dr» Mittenzweig. 

Zar sexuellen Psychopathie. Von M. M. 
Hina. 

Antwort auf meine ln No. 4 gebrachte 
Entgegnung von Wala und Wlndsoheld. 


Dr« Mittenzweig.171 

Kleinere Mittheilnngren ..... 174 


Seite 


Referate: 

T« Pridgln Teale M« A«, Lebensgefahr 

lm eigenen Hanse.175 

Dr. 6randhomme. Der Kreis Höchst a./M. 
in gesundheitlicher und gesnndhelts- 

pollzellleher Hinsicht.176 

Beitrüge zur Benrtheilang des Nutzens 

der Schuf zpockenlmpfting.177 

Dr. Aloys Martin, Clvil-Medicinalwesen 

im Königreich Bayern.179 

Verordnungen und Verfügungen . 180 
Personalien.191 


INHALT 

Seite 

161 
169 


Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 

Ein Fall von Thrombose beider Lungenarterien durch 
embolische Thromben des rechten Herzens. 

Von Dr. Mittenrweig. 

(Fortsetzung.) 

Bei dieser einfachen malacischen Veränderung kann die 
spätere Zersetzung der Erweichungsmassen bei längerer Lagerung 
in abgeschlossenen Höhlen als einfaches Verwesungsphänomen 
eintreten. Hier kommt es vor, dass das Fett in grösseren Tropfen 
frei wird, und dass sich endlich Fettkrystalle ausscheiden, welche 
nicht aus Cholestearin-Tafeln, sondern aus Magarin- oder Stearin- 
Nadeln bestehen. 

Zu verwechseln ist diese gutartige Erweichung nicht mit 
der malignen fauligen Schmelzung, welche faulige Zersetznngs- 
producte, insbesondere Gas- und KryStallbildungen hervorbringt. 

Als eine gutartige Veränderung ist ferner zu nennen die 
Organisation des Thrombus und die Verkalkung, auf deren Einzel¬ 
heiten ich hier nicht weiter eingehen kann. 


u 
















162 


Dr. Mittenzweig. 


In der Folge hat die von Virchow gegebene Lehre von der 
Bildungsweise des Thrombus mannigfache Nebenbuhler gefunden, 
ohne indess von ihnen verdrängt zu werden. 

Alexander Schmidt vindicirte den weissen Blutkörpem eine 
höhere Stellung, als Virchow sie ihnen anfänglich eingeräumt 
hatte. Sie bilden nach ihm bei ihrem Zerfall die fibrinoplastisclie 
Substanz und das Fibrinferment, welches die fibrinogene Substanz 
des flüssigen Blutplasma zur Gerinnung bringe. 

Armin Köhler brachte durch Injection von Fibrinfennenten 
direct Gerinnungen des Faserstoffs im Blute zuwege. 

Zahn dagegen machte dem Fibrin überhaupt seine thrombo- 
genetische Stellung streitig und lehrte auf Grund seiner Beobach¬ 
tungen am circulirenden Blute, dass der Bildner der Pfröpfe in 
den weissen Blutkörpern zu suchen sei. Diese Lehre fand 
grossen Anklang und erhielt eine mächtige Stütze durch Weigert, 
welcher die Umwandlung der Leucocyten bei der Thrombenbil¬ 
dung für eine Theilerscheinung der allgemeinen Coagulations- 
Nekrose erklärte. 

Zahn knüpft an die Beobachtungen von Wharton Jones 
an, welcher das Anhaften der weissen Blutkörper und ihre An¬ 
häufung an der Gefässwand des Frosches gesehen hatte. Auch 
Samuel hatte am Kaninchenohr durch Einreiben von Krontonöl 
diese Erscheinung zu Wege gebracht. Zahn selbst setzte diese 
Beobachtungen methodisch fort und stellte unter andern folgende 
Sätze auf: „Locale Verletzungen haben locale Thrombosirung zur 
Folge, und evidente Zellenhaufen können schon nach kurzer Zeit 
den Charakter des feinkörnigen Fibrins annehmen. 

Der traumatische Thrombus der Warmblüter unterscheidet 
sich in nichts von demjenigen der Kaltblüter. Die hämorrhagische 
Thrombose steht in keiner Beziehung zur Gerinnung des ausge¬ 
flossenen Blutes, sondern entsteht in der genannten Weise sowohl 
in der Oeffnung der Gefässwand, wie innerhalb des Gefässes 
selbst (durch Ansammlung von Leucocyten). Das ausgetretene 
Blut bildet zwar ein lockeres Gerinnsel, steht aber mit dem 
eigentlichen Pfropfe nur in losem Zusammenhänge. 

Nur bei in den Gefässen abgesperrtem Blute der Warmblüter 
erfolgt eine eigentliche Gerinnung. Diese Gerinnsel sind auf der 
zuführenden Stromseite abgerundet und roth. Indess werden hier 
mehr weisse Blutkörper hineingewirbelt. Auf der abfliessenden 
Seite findet man das Gefass mehr leer.“ 

Zahn unterscheidet hiernach weisse und rothe Thromben. 
Auf dem Querschnitt der weissen Thromben liegen Netzwerk, fein¬ 
körniges Material, farblose Blutkürper, zerstreute oder zusammen¬ 
gehäufte rothe Blutkörper, aber kein Fibrin. Die Schichten 
sind unregelmässig, aber nicht zwiebelartig, die Gefässwand stets 
verändert. Der weisse Thrombus ist das Product einer Ab¬ 
scheidung, für ihn sei die Virchow’sche Lehre nicht beizube¬ 
halten. Letztere bleibe nur bestehen für den rothen Thrombus, 
der allerdings durch Gerinnung des Blutes entstehe. 



Zur Casuiatife des plötzlichen Todes. 


163 


Die Zahn’sche Lehre hat sich viele Anhänger erworben, 
namentlich wurde sie von Cohnheim in vollem Umfange acceptirt 
und sie herrschte so lange, bis mit der allmählichen Anerkennung 
des dritten Formelementes im Blute die Lehre von dem Blutplätt¬ 
chenthrombus Eingang fand. In wie weit diese Lehre, welche 
namentlich von Eberth und Schimmelbusch vertreten wird, sich 
Geltung verschaffen und die Virchow’sche und Zahn’sche Lehre 
überdauern wird, das bleibt noch dahingestellt. Noch im vorigen 
Jahre fand sie besonders in Weigert einen mächtigen Gegner. 

Weigert hat die Experimente von Schimmelbusch und 
Eberth nicht selbst nachgemacht und stellt deshalb diese 
Beobachtungen nicht in Frage. Er hält es aber durchaus nicht 
für erwiesen, dass der Thrombus, welchen Eberth auf dem Wege 
des Experimentes gewonnen hat, identisch sei mit dem bekannten 
weissen Thrombus der pathologischen Anatomie. Denn der ana¬ 
tomische Thrombus habe ganz bestimmte Eigenschaften, welche 
Yirchow und Zahn übereinstimmend beschrieben haben. Aller¬ 
dings lasse sich besonders in dem frischen Thrombus noch ein Be- 
standtheil nachweisen, den man jetzt als zerfallenes Blutplättchen¬ 
material ansprechen muss. Es sind dies körnige, meist recht 
scharf begrenzte Massen, die ganz besonders gern die von der 
Gefässwand fernliegenden Theile des Thrombus einnehmen und 
öfters eine eigenthümliche Gruppirung zeigen. Diese Gebilde hielt 
man früher für zerfallene Leucocyten oder auch für körniges 
Fibrin. Sie stellen aber nicht den bedeutendsten Theil des 
Pfropfes dar. Dies wird vielmehr von dem füdigen Fibrin ge- 
than, welches in weit höherem Masse in den Pfröpfen vorhanden 
sei, als man bisher geglaubt hat. Weigert hat dies durch seine 
Fibrinfärbung dargethan. Er weist auch nach, dass das Fibrin 
nicht etwa postmortal in die Pfropfe gedrungen sein kann. Es 
sei sonach anzunehmen, dass die experimentellen Producte und 
der anatomische weisse Thrombus zwei ganz verschiedene Dinge 
sind. Vielleicht bilden die Plättchenhaufen den Kern des Throm¬ 
bus, an den sich die anderen Elemente, Fibrin, weisse und auch 
rothe Blutkörper, ablagern. Doch sei dies erst noch zu beweisen. 

Um dem Leser Gelegenheit zur Orientirung über die neue 
Lehre von dem Plättchenthrombus zu bieten, will ich die wich¬ 
tigsten Punkte aus der neuesten Abhandlung von Eberth und 
Schimmelbusch: „Die Thrombose nach Versuchen und Leichen¬ 
befunden, geschildert von Prof. C. J. Eberth und Dr. C. Schiramel¬ 
busch in Halle, Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke, 1888“ 
folgen lassen. 

Nach einem im ersten Capitel gegebenen Ueberblick über 
die Geschichte der Thrombose besprechen Eberth-Schimmel- 
busch zuerst die Blutplättchen der Säugethiere. 

Die erste Beobachtung farbloser kleinster Gebilde im Blute 
stammt aus den vierziger Jahren. Es blieb aber lange Zeit 
unentschieden, ob die neu entdeckten Körperchen welche von 
Donne als globulins du chyle, von Zimmermann als Elementar¬ 
bläschen, von Beale alB germinal matters bezeichnet wurden, 



ir,4 


Dr. Mittenzweig. 


präformirte Bestandteile des lebenden Blutes oder Abkömmlinge 
der weissen Blutkörper waren. 

Die neueren Untersuchungen stimmen nun darin überein, dass 
die Plättchen im extravasculären Blute nach dem Aderlass unter 
normalen Verhältnissen stets zu finden sind. Man sieht im Deckglas¬ 
präparate bei sofortiger Beobachtung jedesmal kleine zackige, 
stark lichtbrechende Elemente gewöhnlich an den Stellen, an 
denen die rothen Blutkörper spärlich vorhanden sind. 

Als fast runde Scheiben dagegen erhält man die Plättchen, 
wenn man zu ihrer Gewinnung die Ehrl ich’ sehe Trockenmethode oder 
die Konservirung in einprocentiger Osmiumsäure anwendet. Hayem 
und Bizzozero fanden dieselben stets im Blute der Säugethiere. 
Im strömenden Blute bilden sie dünne, glatte, farblose Scheiben, 
die zwar homogen erscheinen, aber nicht oder doch nur wenig 
glänzen. Ihre Grösse ist sehr verschieden. Meist dreimal kleiner 
als die rothen Blutkörper, sind sie mitunter ebenso gross und 
haben zuweilen nur l l 5 ihres Durchmessers. Ihre normale Gestalt 
verändern sie indess bei dem geringsten Insult. Sie werden 
höckrig, zackig, schrumpfen und nehmen eine sternähnliche Form 
an in gleicher Weise wie die rothen Blutkörper. Gleichzeitig 
aber werden sie glänzend und klebrig. Aus letzterem Grunde 
findet man sie meist zu kleineren oder grösseren Haufen zusammen¬ 
geklebt und dem Deckglase fest anhaftend. Diese viscöse Meta¬ 
morphose ist eine äusserst charakteristische Eigenschaft der 
Plättchen. Weder die rothen noch die weissen Blutkörper be¬ 
sitzen diese Klebrigkeit; wenigstens ist dies nur scheinbar. 
Denn das Kleben der Leucocyten ist ein vitaler Process. 
Sie klammern sich an feste Körper und auch unter einander 
an. Bei hinreichender Wärme bleiben sie auch ausserhalb des 
Körpers eine geraume Zeit lang am Leben und wandern unter 
dem Deckglase selbständig umher, während die rothen Blut¬ 
körperchen im Strome flottiren, bis sie sich geldrollenförmig 
zusammengelegt haben. Zum Nachweise dieser Verschiedenheit 
halte man einen Glasfaden in fliessendes Blut. Derselbe bedeckt 
sich nur mit Blutplättchen, nicht aber mit weissen oder rothen 
Blutkörperchen. 

Die fernere Veränderung der Plättchen anlangend, so werden 
dieselben später an der Peripherie matter, ihr Centrum dagegen 
bleibt glänzend, und an die Peripherie schiessen mikroskopische 
Faserstofinadeln an, wodurch es kommt, dass die Plättchenhaufen 
aus körniger und homogener Substanz zusammengesetzt erscheinen. 
Die körnige Substanz färbt sich mit den gewöhnlichen Kernfarb- 
stoffen, doch bleibt die Farbe matter als diejenige der Leucocyten- 
Kerne. Einen wirklichen Kern scheinen die Plättchen der 
Säugethiere nicht zu besitzen. 

Anders verhält es sich mit den Plättchen der Vögel und 
Kaltblüter. Diese werden gebildet von kernhaltigen Spindelzellen, 
welche in ihrer Function den Blutplättchen gleichstehen und 
namentlich auch darin mit ihnen tibereinstimmen, dass sie, wie 
wir von diesen erfahren werden, die Thrombenbildung beherrschen. 



Zur Casui8tik des plötzlichen Todes, 


165 


Sie sind vermuthlich schon von Zahn beobachtet, jedoch verkannt 
worden. Zahn deutete sie als abgelöste Endothelien der Gefäss- 
wand und schenkte ihnen weiter keine Berücksichtigung. Dass 
die Plättchen nicht etwa Zerfallsproducte der Leucocyten sind, 
wie man bisher annahm, dafür spricht ausser der directen Be¬ 
obachtung die bekannte und immer mehr anerkannte Dauerhaftig¬ 
keit der weissen'Blutkörper. 

Fragen wir nun, in welcher Beziehung die Blutplättchen zur 
Blutgerinnung stehen, so erhalten wir von Eberth und Schim¬ 
melbusch nachstehende Antwort. 

Die mikroskopische Untersuchung der Blutgerinnung im 
Blutstropfen ergiebt, dass die Veränderung der Plättchen und 
die Gerinnung des Fibrins zeitlich neben einander hergeht. Neben 
der Metamorphose der Plättchenscheiben bemerkt man die Bildung 
von Fibrinnadeln, so dass ihr beiderseitiges Erscheinen in ursäch¬ 
licher Beziehung mit einander zu stehen scheint. Dem ist aber nicht 
so. Allerdings hielt Bizzozero die Plättchen für die Ursache der 
Fibringerinnung, und auch Hayem pflichtete dem insoweit bei, 
als er die Ansicht aussprach, dass die Plättchen die Fibringe- 
rinnung in Folge ihrer functionellen Thätigkeit bewirkten, dass 
sie im Sinne der Lehre von Alexander Schmidt eine chemische 
Fermentwirkung entfalteten, wie sie nach Löwit der Kaninchen¬ 
lymphe beiwohnt, welche doch gar keine Plättchen enthält. 

Diesen Theorien gegenüber nehmen Eberth und Schimmel¬ 
busch an, dass die Blutplättchen in keiner Weise die Blut¬ 
gerinnung bedingen und dass die formale Vereinigung von Blut¬ 
plättchen und Fibrinnadeln, welche auf der klebrigen Eigenschaft 
beider Elemente beruht, in dem Netzwerk der Blutstropfen 
nur einen mechanischen Zusammenhang darstelle. Die Entdeckung 
der Weigert’schen Fibrinfärbung ermögliche es, diesen Nachweis 
direct zu führen, indem nur die Fibrinkrystalle sich dabei färbten, 
nicht aber die Plättchen. Diese Färbemethode ist bekanntlich 
eine Modification der Gram’schen Färbung, welche darin gipfelt, 
dass nach der Jod-Anwendung zur Entfärbung nicht Alkohol, 
sondern Xylol-Anilinöl gebraucht wird. Indirect spräche der 
Umstand dagegen, dass in dem plättchenreichen Lebervenenblut 
die Gerinnung so verzögert werde. 

Von grösster Bedeutung für die Bildungsweise der Thromben 
ist die directe Beobachtung von Thrombenbildung im cireulirenden 
Blute der Säugethiere, der Vögel und Kaltblüter. 

Im strömenden Blute beobachten wir verschiedene Vorgänge, 
je nachdem der Strom die normale Schnelligkeit besitzt oder 
diese vermindert wird, ev. bis zur völligen Stagnation. Eine 
ähnliche Veränderung finden wir auch bei localer Wirbelbildung des 
Stromes, auch wenn seine Gesammtgeschwindigkeit keine Aenderung 
erfahren hat. Wie wir sehen werden, bedingt die Stromänderung 
an und für sich noch keine Veränderung der Blutplättchen, 
sondern diese kommt erst zu Stande, sobald die Plättchen mit 
einer veränderten Wand oder einem Fremdkörper in Berührung 
treten, ein Umstand, der uns die Cohnheim’sche Lehre von der 



166 


Dr. Mittenzweig. 


Thrombose in Erinnerung bringt Die Form des normalen Blut- 
ßtromes ist die axiale, d. h. die Formelemente strömen nicht bunt 
durch einander, sondern halten in ihrem Laufe eine gewisse con- 
stante Ordnung ein. In der Axe des Gefasses flieset ein breiter 
rother Strom, während an den Seiten eine hellere schmalere Zone 
von Plasma erscheint. Am deutlichsten ist dieser Stromcharakter 
an den Venen ausgesprochen, während in den Arterien die Rand¬ 
zone sehr schmal und weniger auffallend, in den Capillaren der 
Unterschied zwischen Axen- und Randzone verwischt ist In der 
hellen Randzone erkennt man hier und da ein weisses Blut¬ 
körperchen, welches an dem Rande entlang rollt 

Wir haben somit folgende Vertheilung der Formbestandtheile 
im Blutkana]. 

Im normalen Blustrome fliessen die Blutplättchen und die rothen 
Blutkörper als die schwersten Elemente in der Axe des Gefasses, 
wo die grösste Geschwindigkeit herrscht und bei der mikros¬ 
kopischen Beobachtung der Circulation kein einziges Element 
unterschieden werden kann. 

Diese normale Stromanordnung verändert sich, sobald der 
Strom sich etwas verlangsamt. Dann tritt die Randstellung 
der Leucocyten ein. Letztere treten dann massenhafter in der 
Plasmazone auf und bilden förmliche Reihen, indem sie in geringen 
Zwischenräumen von einander am Rande sichtbar werden. 
Bei höheren Graden der Randstellung haften einzelne Leucocyten 
der Gefässwand an und beginnen zu emigriren. Die Randstellung 
bedarf zu ihrer Erscheinung einer gewissen Dauer der Stromver¬ 
langsamung und verschwindet wieder mit dem Eintritt normaler 
Strömung. 

Wird die Stromverlangsamung dagegen so stark, dass man 
im axialen Strome einzelne rothe Blutkörper erkennen kann, so 
fliegen bereits ab und zu einige Blutplättchen in die Plasmazone 
hinein. Und bleibt die Stromenergie gering, so kommt es zur 
Randstellung der Blutplättchen, während die Leucocyten 
wieder aus derselben verschwinden. 

Stagnirt schliesslich das Blut, so kommt es zu einer bunten 
Vertheilung aller Blutelemente im Gefässlumen, und das Bild 
der axialen und der Randzone wird vollständig verwischt. 

Auch die locale Wirbelbildung bringt bei sonst normaler 
Stromstärke diese Wirkung hervor. 

Stets aber bemerken wir, dass trotz der Randstellung der Leuco¬ 
cyten oder der Blutplättchen eine Gefässverstopfung weder durch 
Leucocyten noch durch Blutplättchen zu Stande kommt. Wohl 
schieben sich die weissen Blutkörper an einzelnen Stellen zu 
Schichten zusammen, und ebenso bilden sich auch Gruppen von 
Blutplättchen, aber beide werden immer wieder vom Strome aus¬ 
einander und weiter geschoben. 

Eine einfache, uncomplicirte Stromverlangsamung oder Wirbel¬ 
bildung macht noch keine Thrombose. 

Denn auch die sogenannte hyaline rothe Thrombose darf 
nicht als eigentliche Thrombose aufgefasst werden. Sie bildet sich 



Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 


167 


dann, wenn eine Blutsäule in einem Gefässe stagnirt, mit dem 
strömenden Blute frei communicirt und hierdurch einem gewissen 
Drucke ausgesetzt wird, und sie besteht darin, dass die rotlien Blut¬ 
körper sich an einander legen, ohne sich miteinander zu ver¬ 
einigen. Dieselben trennen sich wieder von einander und fliessen 
fcrt, sobald die Stase des Blutes beseitigt ist. 

Ist aber durch den Insult, welcher die Stase hervorbringt, 
gleichzeitig die Gefässwand verletzt, so kleben die aus dem 
axialen Strom herausgewirbelten Plättchen an dieser Stelle fest 
und bilden einen Plättchenhaufen, einen Blutplättchen-Thrombus. 
In diesen Blutplättchenthrombus können nun weisse und rothe 
Blutkörper hineingewirbelt werden, so dass er schliesslich alle 
drei Formelemente des Blutes enthält; den integrirenden Factor 
aber bilden stets die Blutplättchen, während die weissen und 
rothen Blutkörper nur accidentelle Einschlüsse repräsentiren. 

Aus dem Inhalte der letzten fünf Kapitel der Eberth- 
Schimmelbusch’schen Abhandlung interessiren uns an dieser 
Stelle vornehmlich die Beschreibung der frischen und älteren 
experimentellen und pathologischen Thromben und die Schluss¬ 
folgerungen, welche die Verfasser über den Antheil der ver¬ 
schiedenen Blutbestandtheile an der Thrombenbildung ziehen. 

Die in den Text eingezeichneten Figuren, namentlich Figur 
39. geben ein anschauliches Bild über die Zusammensetzung eines 
frischen experimentellen Thrombus, in welchem die Blutplättchen 
noch in Scheibenform erhalten sind. Dieselben füllen die Schnitt¬ 
wunde der Gefässwandung und die nächste Nachbarschaft völlig 
aus, während ihre Umgebung von Haufen rother Blutkörper ge¬ 
bildet wird. Nur zerstreut in dem Plättchenthrombus machen 
sich hier und da die Kerne der Leucocyten mit dem blassen 
Zellenleibe bemerkbar. In dieser Weise sollen sich freilich die 
Plättchen nur selten und in nur ganz frischem Zustande präsen- 
tiren, während sie für gewöhnlich eine körnige oder wolkige 
Fläche darbieten. Fibrinfaden finden sich in den experimentellen 
Thromben seltener, sie schliessen dann rothe und weisse Blut¬ 
körper und auch wohl Häufchen von Plättchen in ihr feines 
Netzwerk ein. 

Dagegen tritt in allen älteren Thromben, selbst in jenen, 
die Anfangs ausschliesslich aus Blutplättchen bestehen, Faserstoff 
in reichlicher Menge auf. Der Faserstoff ist immer fädig. 
Niemals geben schollige oder körnige Massen die Reaction des 
Fibrins. In Thromben, die mehrere Tage alt sind, findet sich 
ausserdem hyalines Fibrin und erscheint von Kanälen durchfurcht 
(kanalisirtes Fibrin), aber auch dieses Fibrin besteht, wie die 
Weigert’sche Färbung erkennen lässt, stets aus feinen Fäden, 
die nur sehr eng zusammen liegen und dann noch durch Blut¬ 
plättchenmasse verkittet sind. 

Ueber den Zerfall des experimentellen Thrombus ist bisher 
nichts ermittelt, so wenig wie über seine Organisation, Verfettung 
oder Verkalkung. 



168 


M. M. Härsu. 


Noch wichtiger als die vorstehenden Ergebnisse erscheinen 
mir die Beobachtungen, welche neuerdings an Leichenthromben 
gemacht sind. Denn von der Uebereinstimmung dieser mit den 
Ergebnissen über die Experimentalthromben hängt doch in erster 
Linie die Tragweite der Eberth’schen Untersuchungen ab. 

Die pathologischen Leichenthromben gehen nach den Beobach* 
tungen der Verfasser in der überwiegenden Mehrzahl nachweislich 
von krankhaft veränderten Gefässen aus. Auch sie sind, wie Eb erth- 
Schimmelbusch fanden, zusammengesetzt aus Blutplättchen, 
Fibrin, Hyalin, Leucocyten und rothen Blutkörperchen. Nirgends 
haben indess, und dieser Umstand scheint sehr bemerkenswerth, 
in den Leichenthromben Fibringerinnungen gänzlich gefehlt, 
jedoch bilden auch in ihnen die Blutplättchen den Hauptbe¬ 
standteil, namentlich in dem weissen Thrombus. 

Die untersuchten Thromben waren weiss, grauweiss bis roth- 
lich, manchmal in ganzer Ausdehnung oder nur zum Theil. Die 
gemischten Pfropfe zeigten zwischen den weissen Partien dunkel- 
rothe SteUen gewöhnlicher Kruormassen. Die weissen Massen 
haben genau dieselbe Zusammensetzung, wie die experimentellen 
Thromben, sie bestehen aus Blutplättchen, Leucocyten und Fibrin. 
In Bezug auf die Verteilung der Elemente lässt sich ebenfalls 
ein gleiches Verhalten constatiren wie dort. Zu betonen ist vor 
Allem, dass der Hauptbestandteil des weissen Thrombus Plättchen 
sind, die mit ihren körnigen, wolkigen Massen bei der Reaction 
mit Eosinhämatoxylin besonders deutlich hervortreten. In den 
meisten der untersuchten Thromben, besonders in den exquisit 
marantischen, bilden die Blutplättchen feinkörnige Haufen und 
lassen regressive Metamorphosen nicht wahniehmen. In den 
jugendlichen Thromben überwiegen die Plättchen den Faserstoff, 
während in den älteren sich sehr viel und dichter Faserstoff 
findet. Ganz reine Plättchenthromben haben sich in Leichen nicht 
gefunden. 

Es ist jedoch fraglich, ob Fibrin, welches man in älteren 
Pfropfen findet, vital oder cadaverös entstanden ist. Diese 
Frage lässt sich schwer entscheiden, da man eine Differenz 
zwischen vitalem und cadaverösem Faserstoff bisher nicht kennt. 
Nur wo man die Entstehung durch die Thätigkeit des Blutstroms 
erkennt, kann man das Fibrin als präformirt erachten. 

Die Schlusssätze von Eberth und Schimmelbuch gipfeln 
dahin, dass die Blutplättchen und das Fibrin sich in wesent¬ 
licher Weise an dem Aufbau eines Pfropfes betheiligen, während 
die Leucocyten und die rothen Blutkörper, obwohl meist sehr 
zahlreich im Thrombus, dies mehr in accidenteller Weise thun, 
d. h. mehr Einschlüsse sind. 

Das Auffinden der Blutplättchen erkläre so manche Irrungen 
früherer Autoren, welche die grobkörnigen, feinkörnigen und 
homogenen Massen der Thromben nicht in der richtigen Weise 
gedeutet hätten und dadurch zu unrichtigen Annahmen veranlasst 
wären. Erst, die Weigert’sehe Fibrinfärbung habe Licht in 
diese Verhältnisse gebracht. Denn während sich mit dieser der 



Zur sexuellen Psychopathie. 


169 


Nachweis führen liesse, dass die körnigen Massen nicht mit dem 
fibrillären Faserstoff identisch wären, liesse sich auf der anderen 
Seite aus der Dauerhaftigkeit der Leucocyten der Schluss ziehen, 
dass die so früh und so zahlreich auftretenden Kömermassen 
nicht Zerfallsproducte der weissen Blutkörper sein könnten. Die 
directe Entstehung der künstlichen Thromben aus den Blut¬ 
plättchen gäbe schliesslich das positive Beweismittel ab. 

Die zuletzt ausgesprochene Ansicht, dass die Plättchen den 
Kern bildeten, an den die anderen Blutelemente, weisse und rothe 
Blutkörper, sich anlagerten und durch dessen Berührung die 
fibrinogene Substanz des Blutes zum Gerinnen käme, hat auch die 
Ansicht Weigert’s für sich, der sich schon in Nr. 7 der Fort¬ 
schritte der Medicin vom Jahre 1887 in ähnlicher Weise ausge¬ 
sprochen hat. 

Diesen drei Theorien der Thrombenbildung gegenüber dürfen 
wir so lange eine abwartende Stellung einnehmen, bis die patho¬ 
logische Anatomie ihr letztes Wort gesprochen haben wird. 

Wir wenden uns nunmehr zur Betrachtung der Folgen, welche 
die Verstopfung der Gefässe verursacht und der Formen, unter 
denen uns diese Folgen vor Augen treten. 

(Fortsetzung folgt.) 


Zur sexuellen Psychopathie. 

Von M. M. Härsu aas Bucarest. 

Der Dr. X. ist zu der Wittwe G. geholt worden, die seit 
einigen Tagen an unstillbarem Erbrechen litt. Nach der Ursache 
des Erbrechens gefragt, theilt Frau G. Folgendes mit: 

»Mein Mann, den ich während der ganzen vierjährigen Ehe 
nicht gut leiden konnte, ist bereits seit fünf Jahren todt. Wir, 
ich und mein Kind, waren unbemittelt, weder seine noch meine 
Verwandten wollten mich unterstützen, weshalb ich mich ge¬ 
zwungen sah, durch Arbeit das Nöthige zu verdienen. Ich 
arbeitete für ein Weisswaarengeschäft, und war der Ertrag auch 
kein bedeutender, so konnte ich doch kümmerlich mein Leben 
fristen — natürlich bei ununterbrochener Tages- und fünf bis 
sechsstündiger Nachtarbeit. Da eines Tages besuchte mich der 
Buchhalter des Geschäftes, für das ich die Arbeit lieferte. Er 
sprach mir von. ruhigem, zufriedenem Leben, versprach, mich 
glücklich zu machen, — ich willigte ein und nach einigen Tagen 
bezog ich eine Wohnung in einem besseren Viertel und lebte 
glücklich ... als Maitresse jenes Herrn. Das Kind schickten 
wir in eine Erziehungsanstalt. 

Eines Tages fand mein Freund einen Offizier in meiner 
Wohnung — und löste das Verhältniss. Seit jener Zeit knüpfte 
ich jedesmal Bekanntschaften an, die aber höchstens zwei bis 
drei Monate dauerten. Kleine Zeitungsanzeigen oder bevölkerte 
Promenaden waren die Vermittler. 



170 


Dr. Mittenzweig. 


Vorigen Monat liess ich eine Annonce einrücken, die mir 
zur Bekanntschaft eines „älteren, gut situirten Herrn“ verhelfen 
sollte. Es kamen mehrere Offerten, darunter auch folgender Brief: 

Berlin, den 12. Januar 1888. 

Liebe Frau! 

Ich habe Ihre Annonce gelesen und brenne vor Verlangen, 
Sie kennen zu lernen. Sie sind blond, korpulent, jung — alles 
das lässt mein Blut schneller circuliren. Ich bin höherer Offizier 
und habe eine Frau, die aber seit Jahren getrennt von mir 
in einer Provinzstadt lebt. Meine Wohnung ist schön und ge¬ 
räumig, und meine Mittel gestatten es mir, Ihnen ein in aller 
Hinsicht angenehmes Leben zu bieten. Bei mir wohnt mein Sohn, 
ein junger Secondelieutenant, der uns aber durchaus nicht im 
Wege stehen wird — er geht Morgens weg und kommt erst 
Abends wieder. Kommen Sie, liebe Frau, morgen um 11 Uhr 
Vormittags, ich bin dann allein zu Hause und werde Ihnen auch 
selbst die Thlire öffnen. Kommen Sie, liebe Frau! 

Mit freundlichsten Gruss 
H. v. Y. 

Ich ging hin. Pochenden Herzens stieg ich die Stufen 
empor — kurz vorher sah ich im Adressbuch nach, ob auch die 
Angaben des Briefes mit denjenigen der Einwohnerliste tiberein- 
stimmten — es sollte meine zweite Militairbekanntschaft werden. 

Nun war ich oben. Einige Augenblicke stand ich vor dem 
Schilde und wagte nicht, die Klingel zu ziehen. Da plötzlich 
öffnete sich die Thüre, und fast mit Gewalt zog mich die Hand 
eines in Uniform gekleideten Mannes in den Korridor hinein. 
Es war Herr v. Y., der, wie er mir sagte, sehr erregt war und 
schon seit längerer Zeit am Thürgucker stand. Sein Gesicht war 
blass, die Züge verlebt; trotz seines festen Schrittes und der 
stark gewölbten Brust erkannte ich, dass ich es mit einem ge¬ 
alterten Manne zu thun hatte. Aber mir war es ganz gleich¬ 
gültig, sympathische Menschen habe ich durch die Zeitung nie 
kennen gelernt. Herr v. Y. führte mich in seine Gemächer herum, 
dabei umarmte er mich sehr häufig, ohne mich zu küssen. Dann 
bat er mich, ihn auf sein Arbeitszimmer zu begleiten. Dort zwang 
er mich, am Tische Platz zu nehmen, auf dem ein Fruchtbehälter 
und einige Flaschen Wein standen. Früchte bot mir Herr v. Y. 
nicht an, aber er gab mir Wein zu trinken, ein Glas nach dem 
anderen. Die matten Augen des Herrn v. Y. glänzten, seine 
Hände zitterten und immer von neuem füllte er mein Glas. Ich 
trank; auch sonst mache ich ja Dinge, die mir nicht immer Zu¬ 
sagen. Als ich dann auf sein Drängen abermals ein Glas an die 
Lippen führte, hatte die Erregung des Herrn v. Y. ihren Höhe¬ 
punkt erreicht. Er öffnete seine Beinkleider und als seine Ge- 
schlechtstheile entblösst waren, hat eine Ejaculation stattgefunden. 
Zum Coitus hatte er mich nicht aufgefordert. 

Mir schauderte. Es ist mir noch nie passirt, dass irgend 
ein schmutziges Ding einen Ekel in mir hervorgerufen hätte, an 



Antwort a. m. i. No. 4 gebrachte Entgegnung v. Walz & Windacheid. 171 

jenem Tage war es zum ersten Male geschehen — und so alt 
ist auch mein Erbrechen. 

Herr v. Y. der sich nach einigen Minuten erholt hatte, bat 
mich um Entschuldigung und theilte mir dann mit, dass es ihm 
unmöglich sei, den Coitus regelrecht zu vollziehen. Diese Er¬ 
regungen wären die einzigen, die ihm einen Genuss bieten könnten. 
Es tritt Erectio penis ein, wenn er die Lippen der Frau 
das Glas Wein berühren sieht.“ 

Soweit die Bacchantin, der dann Tinct Jodi. u. Kal. jod. 
verordnet wurde. 

Durch einen Herrn, der mit dem jungen v. Y. befreundet ist, 
erfuhr ich den Namen des Anwalts der in der Provinz lebenden 
Frau v. Y. Seiner Güte und der Freundlichkeit des Herr Dr. J., 
dem früheren Hausarzt des v. Y., habe ich die folgenden Notizen 
zu verdanken. 

Der Vater des alten v. Y. war Epileptiker; in epileptoidem 
Zustande versuchte er einmal (68 Jahre alt) bei einer bei ihm 
zu Besuch weilenden 14jährigen Schwägerin Immissio penis in 
anum. Er starb, an Tobsucht leidend, im 70. Lebensjahre. Die 
Mutter stammte aus einer angeblich ganz gesunden Familie, nur 
hatte sie eine blöde Schwester, die weder Schreiben noch Rechnen 
konnte. Ueber die Jugend des Herrn v. Y. wäre nichts näheres 
bekannt. Jung an Jahren hatte er sich den Geschlechtsgenüssen 
ergeben. Im 33. Lebensjahre heirathete er die aus gesundem 
Hause stammende v. Z. Nach fünfzehnjährigem Zusammenleben 
verliess ihn seine Frau: die feinfühlige Frau wollte sich nicht 
paediciren lassen. Die Frau vermuthet, dass v. Y. mit seinem, 
nun 22 jährigen Sohne Paederastie treibe. Der Sohn selbst soll 
ein sehr flottes Leben führen und selbst gestanden haben, dass 
Paedicatio mulierum ihm lieber sei als normaler Coitus. 

Der alte v. Y. litt eine zeitlang — vor 18 Jahren — an 
Gonorrhoe. 


Als Antwort auf meine in No. 4 gebrachte Entgegnung senden die 
Herren Walz & Windscheid nachstehendes Schriftstück, welches 
auf Grund des Pressgesetzes § II Aufnahme findet. 

I. 

Der Desinfections-Apparat der Stadt Düssel¬ 
dorf von Walz & Windscheid. 

Herr Stadtphysikus ,Dr. Mittenzweig in Berlin hat in der 
Zeitschrift für Medicinalbeamte Jahrg. I, Heft 4 Seite 115—116 
auf unsere Brochiire „Die Desinfections-Apparate für Städte und 
Krankenhäuser, eine wissenschaftliche Erwiderung auf die persön¬ 
lichen Angriffe der Herren DDr. Mittenzweig und Petri in der 
Versammlung der beamteten Aerzte in Berlin“ eine Entgegnung 
veröffentlicht. 



172 


Dr. Mittenzweig. 


Dieselbe geht auf unsere wissenschaftlichen Erörterungen in 
keiner Weise ein; Herr Mittenzweig benutzt aber zur Aufrecht¬ 
haltung seiner Angriffe aus den ihm genau bekannten amtlichen, 
diese Frage berührenden Schriftstücken, einzelne Sätze, welche 
in dieser Anwendung den Sinn derselben vollständig entstellen. 

Wir haben nicht Grund die Angriffe des Herrn Dr. Mitten¬ 
zweig hier noch ferner zu widerlegen, beschränken uns vielmehr 
darauf die fraglichen amtlichen Schriftstücke der Städte Düssel¬ 
dorf und Duisburg nachstehend wörtlich mitzutheilen. 

Dem geehrten Leser werden dieselben vollständig genügen. 

Düsseldorf, den 19. April 1888. 

Walz & Windscheid, 

Fabrik für Central-Heizung und Ventilation. 

n. 

Düsseldorf, den 11. Januar 1888. 

An die Firma Walz & Windscheid, Hier. 

Der Firma übersende ich beifolgend eine beglaubigte Ab¬ 
schrift der von der Sanitäts-Commission in der Sitzung vom 
6. d. Mts. abgegebenen Erklärung über die Bewährung des von 
Wohlderselben für die diesseitige Verwaltung gelieferten Des- 
infections-Apparates zur gefälligen Kenntnissnahme und dienlich 
scheinender Verwendung ergebenst. 

Für den Oberbürgermeister. 

Der Beigeordnete: 
gez. Feistei. 

HI. 

Auszug aus dem Protocoll-Buch der Sanitäts-Commission- 
Sitzung vom 6. Januar 1888. 

Anwesend: 

1. Herr Beigeordneter Feistei. 

2. „ Beigeordneter Dr. Bausch. 

3. „ Stadtverordneter Justizrath Bloem. 

4. „ Stadtverordneter Adams. 

5. „ Geh. Sanitäts-Bath Dr. Zimmermann. 

6. „ Dr. med. Fleischhauer. 

7. „ Polizei-Inspector Abel. 

V erhandelt: 

Düsseldorf, den 6. Januar 1888. 

Die Sanitäts-Commission erklärt nach Vorlesung des Antrages 
der Firma Walz & Windscheid, hier, vom 16. v. Mts., und des 
Referates des Herrn Dr. Mittenzweig, in Berlin, über den hiesigen 
Desinfectionsapparat — Separat-Abdruck aus Eulenberg’s Viertel¬ 
jahresschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitäts¬ 
wesen X L VIII 1 Seite 99 — dass die Herren DDr. Fleisch¬ 
hauer und Mittenzweig in der Sitzung der Sanitätscommission vom 




Antwort a. m. i. No. 4 gobrachto Entgegnung v. Walz & Windacheid. 173 


17. September 1885 nach voraufgegangener ausführlicher Be¬ 
gründung den Apparat „als den an ihn gestellten Anforderungen 
entsprechend“ und in ihrem gemeinschaftlichen Berichte „Prüfung 
des Desinfectionsapparates der Stadt Düsseldorf“ Separat-Abdruck 
aus Eulenbergs Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und 
öffentliches Sanitätswesen, N. F X L IV 1 — als „vollständig 
leistungsfähig und sehr handlich“ bezeichnet haben, dass die 
Sanitätscommission sich damals dieser Ansicht einstimmig anschloss 
und die von der Bewährung des Apparates abhängig gemachte 
Zahlung des Lieferungspreises empfahl, sowie dass ihr von den 
mancherlei Mängeln des Apparates, welche Herr Dr. Mittenzweig 
gefunden haben, und denen er dessen geringe Inanspruchnahme 
zuschreiben will, nichts bekannt geworden ist. 

Bald nach der Inbetriebsetzung des Desinfectionsapparates 
seien allerdings einmal einige Gegenstände, aber nur 
durch Verschulden des Wärters, beschädigt, sonst aber 
keinerlei Klagen vorgekommen, oder Ausstellungen zu machen 
gewesen. 

Der Apparat bestehe, abgesehen von der nachträglich her¬ 
gestellten Holzbekleidung der Eisentheile, noch ganz unverändert, 
wie er eingerichtet worden sei und befriedige in jeder Hinsicht 
v. g. u. 

gez. Feistei. Abel. 

Für die Richtigkeit der Abschrift, 
gez. Dürholt, 

Secretair und Büreau-Vorsteher. 


IV. 

Duisburg, den 12. April 1888. 

An die Herren Walz & Windscheid zu Düsseldorf. 

Unter Bezugnahme auf das gefl. Schreiben vom 6. d. Mts. 
beehre ich mich Ihnen anliegend Absclirift der. s. Zt. von dem 
dortigen Oberbürgermeister-Amte ertheilten Auskunft ergebenst 
zu übersenden. Der Oberbürgermeister. 

gez. Lehr. 


V. 

Duisburg, den 14. Mai 1886. 

An das Oberbürgermeisteramt zu Düsseldorf. 

Dem Vernehmen nach soll dort in der Nähe des alten Kirch¬ 
hofes ein grosser Desinfectionsapparat aufgestellt sein, welcher 
von Jedermann und zu jeglicher Art der Desinfection benutzt 
werden kann. 

Das Oberbürgermeister-Amt bitte ich ganz ergebenst, mir 
gefl. darüber Auskunft ertheilen zu wollen, ob der betr. 



174 


Kleinere Mitthoilungen. 


Apparat sich bewährt hat und ob derselbe viel benutzt 
worden ist. 

Zu Gegendiensten bin ich stets gerne bereit. 

Der Oberbürgermeister, 
gez. Lehr. 

Düsseldorf, den 17. Mai 18&6. 

Urschriftlich dem Oberbürgermeister-Amte zu Duisburg mit 
der Mittheilung ergebenst zu remittiren, dass der betr. Apparat 
in der Leichenhalle des alten Kirchhofes seine Aufstellung ge¬ 
funden hat. Derselbe hat sich durchaus bewährt, wird aller¬ 
dings noch nicht in dem wünschenswerthen Masse vom grossen 
Publikum benutzt, was sich aber voraussichtlich bald geben 
wird, da derselbe einem wirklichen Bedürfnisse entspricht. Der 
Apparat ist von der Firma Walz & Windscheid hierselbst her¬ 
gestellt. Für den Oberbürgermeister. 

Der Beigeordnete, 
gez. Dr. Bausch. 


Dem habe ich Folgendes hinzuzufügen. 

Die vorstehenden amtlichen Schriftstücke bestätigen die That- 
sachen, welche ich sowohl in der Versammlung der Medicinal- 
beamten wie auch in meiner Entgegnung auf die Angriffe der 
Herren Walz & Windscheid angeführt habe. Warum die 
Herren Walz & Windscheid keinen Grund haben, meine sog. 
Angriffe zu widerlegen, ist mir verständlich. Denn es dürfte 
ihnen schwer fallen, die Gründe, welche ich für die mangelhafte 
Benutzung des Desinfectionsofens genannnt habe, aus der Welt 
zu schaffen. 

Der Beweis aber darüber, dass der Apparat, den ich bei 
der Prüfung als vollständig leistungsfähig und sehr handlich 
bezeichnen durfte, sich auch im praktischen Gebrauche bewährt 
hat, kann nur durch einen speciellen Bericht über die Thätig- 
keit und Brauchbarkeit desselben erbracht werden. 

Bis dahin, wo ein solcher Bericht das von mir ausgesprochene 
Urtheil widerlegt, muss ich es in seinem vollen Umfange aufrecht 
erhalten. Mittenzweig. 


Kleinere Mittheilungen. 

Atteste und Register der Fleisehbeschaaer als Urkunden« 

1. Atteste, welche in Preussen ein angestellter Fleischbeschauer ausserhalb 
seines amtlichen Geschäftskreise« ausstellt, wie diejenigen, durch welche 
als Nachweis stattgehabter sachverständiger Untersuchung die Einführung 
von Fleisch in Gemeinden; welche ein öffentliches Schlachthaus errichtet 
haben, bedingt sein kann, sind zwar keine öffentlichen, wohl aber beweis¬ 
erhebliche Privaturkunden (§ 267 R.-Str.-G.-B.). Erkenntnis des Reichs- 

ß erichts II. Strafsenat vom 27. Januar 1888. 

ie auf Grund der von der Regierung erlassenen landespolizeilichen oder 
der von der Ortspolizeibehörde erlassenen polizeilichen Vorschriften ge¬ 
führten Fleischbeschauer-Register sind öffentliche Urkunden (§ 348 R.-Str.- 
G.-B.), Erkenntnis» des Reichsgerichts I. »Strafsenat vom 26. Januar 1888, 



Referate. 


175 


Verkauf und öffentliche Anpreisung der Brandtschen Schweizerpillen durch 

die Apotheker« 

1. Die Strafkammer zu Elberfeld hat in einer gegen einen Apotheker wegen 
Geheimmittelverkaufs erhobenen Anklagesache, als erwiesen angenommen, 
dass die Stoffe, aus denen die Brandtschen Schweizerpillen bestehen, jedem 
Apotheker, der sich mit ihrem Betriebe befasst, bekannt sind und dass die 
einzelnen von dem Verfertiger auf der Schachtel angegebenen Bestandteile 
zu den dem Hand verkaufe der Apotheker freigelassenen Arzneimittel ge¬ 
hören. Auch werde die gesetzliche Arzneitaxe nicht überschritten, da der 
Preis der 1,00 Mark kostenden Pillen sich auf 1,35 Mark stellen würde, 
wenn die letzteren nach Recept angefertigt würden. 

2. Ein Ähnliches Urtheil hat die Strafkammer Via. des Landgerichts 
Berlin I am 23. März d. J. in der Strafsache wider den verantwortlichen 
Redacteur der Vossischen Zeitung gefällt, welcher von dem Schöffengericht 
auf Grund der Berliner Polizeiverordnung vom 30. Juni 1887 zu 5 Mark 
Geldstrafe verurteilt war, weil die genannte Zeitung eine die Brandtschen 
Schweizerpillen angreifende Annonce aufgenommen hatte. Der Gerichtshof 
hat es als erwiesen erachtet, dass die Schweizerpillen ein Geheimmittel 
nicht sind, sondern ein in das Verzeichniss A der Kaiserlichen Ver¬ 
ordnung vom 4. Januar 1875 fallendes Heilmittel, welches nur in den 
Apotheken verkauft werden darf. Sei aber den Apothekern dieser Verkauf 
gestattet, so haben sie nach der Gewerbeordnung auch ein gutes Recht, 
ihre Waare anzukündigen und ein dahingehendes Verbot der Polizeibehörden 
könne als rechtmässig nicht anerkannt werden. Dasselbe verstosse auch 

f egen § 6 des Polizeigesetzes vom 11. März 1850, denn unter die dem 
ölizeipräsidium zustehende Sorge für Gesundheit und Leben der Einwohner 
können unmöglich solche Mittel fallen, deren Verkauf in den Apotheken 
ein ganz loyaler und gestatteter ist. Der Gerichtshof erkannte deshalb auf 
Aufhebung des 1. Erkenntnisses und Freisprechung des Angeklagten. 


Referate. 

T. Pridgin Teale M. A. zu Leeds. Lebensgefahr im eignen 
Hause. Ein illustrirter Führer zur Erkennung gesundheit¬ 
licher Mängel im Wohnhause. Nach der 4. Auflage des 
Originals übersetzt von J. K. H. Prinzessin Christian von 
Schleswig-Holstein, Prinzessin von Grossbritannien und 
Irland. Für deutsche Verhältnisse bearbeitet von H. Wans¬ 
leben, Stadtingenieur in Kiel. 70 Tafeln mit Abbildungen. 
Kiel und Leipzig 1888. Verlag von Lipsius und Fischer. 

Das auf Veranlassung des Prof. Dr. von Esmarch in Kiel von Hoher 
Hand ins Deutsche übersetzte, sehr elegant ausgestattete englische Werk ist 
in der durchaus richtigen Voraussetzung verfasst, dass gute Abbildungen mit 
kurzem Text oft viel rascher belehren, als langathmige Beschreibungen ohne 
Bilder. Uns Deutschen ist diese, den Engländern geläufigere, eigenthümlich 
naive Art der Darstellung noch fremd, dieselbe hat aber zweifellos besonders 
für den Laien recht grosse Vorzüge und kann man daher nur wünschen, dass 
sie sich auch bei uns mehr als bisher einbürgem möge. 

Der Verfasser giebt in seinem Buche eine nahezu erschöpfende Sammlung 
von denjenigen sanitären Fehlern, welche am häufigsten bei den häuslichen 
Einrichtungen, insonderheit bei den Hausleitungen vorzukommen pflegen und 
für Leben und Gesundheit der Hausbewohner von grosser Bedeutung sind, wie 
z. B. fehlende oder mangelhafte Wasserabschlüsse der verschiedenen Abfluss¬ 
rohre, undichte Beschaffenheit, fehlerhafte Anlage, ungenügendes oder ver¬ 
kehrtes Gefall der Rohrleitungen, vergessene Wasserbehälter, Senkgruben oder 
Schlammkästen unter dem Keller, Verstopfung oder fehlerhafte Vent ilation der 
Abzugscanäle, schlechte Closeteinrichtungen, Verunreinigung der Brunnen durch 
benachbarte Senkgruben, Düngerstätten oder Strassenkanäle, Neubauten auf 



176 


Referate. 


Schuttablagerungen u. s. w. Alle diese Mangel, ihre gesundheitlichen Nach¬ 
theile wie ihre Verhütung und zweckmässige Beseitigung sind durch klare 
leicht verständliche und mit kurzem erklärenden Texte versehene Abbildungen 
dargestellt und wenn der Verfasser hierbei bezweckt hat, den Hausbewohner 
nicht nur darüber zu belehren, ob die Hausleitungen u. s. w. seines Hauses 
sämmtlich gesundlieitsgemäss angelegt sind, sondern ihn auch in den Stand 
zu setzen, alle wesentlichen Punkte selbst zu prüfen und sich über die richtige 
Ausführung und Qualität der von den Bauunternehmern geleisteten Arbeit ein 
klares Urtneil zu bilden, so hat er seine Absicht vollständig erreicht. 

Obwohl für englische Verhältnisse geschrieben, wo die Hauscanalisation 
in weit grösserer Ausdehnung als bei uns im Gebrauch ist, passen die Rath¬ 
schläge des Verfassers doch auch für deutsche Verhältnisse, namentlich in den 
grösseren Städten und hat es sich der Bearbeiter ausserdem angelegen sein 
lassen, überall da, wo dies nicht der Fall ist, durch kurze Bemerkungen darauf 
aufmerksam zu machen. 

Das Buch kann besonders allen Hausbesitzern aufs Wärmste empijphlen 
werden, aber auch Aerzten, Medicinalbeamten und Architekten; denn dass von 
den letzteren bei öffentlichen wie privaten Neubauten keineswegs immer allen 
gesundheitlichen Anforderungen Rechnung getragen wird und leider noch 
häufig die vom Verfasser geschilderten sanitären Fehler begangen werden, 
davon wird Jeder, ebenso wie Referent, oft genug Gelegenheit gehabt haben, 
sich zu überzeugen. Rpd. 


Dl*. Grandhomme, Kreisphysicus in Höchst. Der Kreis Höchst 
am Main in gesundheitlicher und gesundheitspolizei¬ 
licher Hinsicht einschliesslich einer geschichtlichen 
und geologischen Beschreibung desselben. Frankfurt a./M. 
1887. Verlag von Joh. Alt. 

Um Gesundheitspflege zu treiben und eine Besserung in den sanitären 
Verhältnissen sowohl der einzelnen Menschen, als auch der Staaten erzielen zu 
können, ist in erster Linie ein thatsäcliliches Bild der gegebenen Verhältnisse 
nothwendig, um dadurch diejenigen Stellen kennen zu lernen, an welchen die 
Hebel zum Bessern anzusetzen sind. Ein solches Bild von den gesundheit¬ 
lichen Verhältnissen seines Kreises auf Grund statistischer Erhebungen, sowie 
eigner Erfahrungen und Beobachtungen zu geben, das ist die Aufgabe, welche 
sich Verfasser gestellt und die er durch seine fleissige und verdienstvolle 
Arbeit in ebenso vortrefflicher, wie vollständiger Weisse gelöst hat. 

An der Hand des in der Miuisterialverfügung vom 8. Juli 1884 gegebenen 
Schema für die Sanitätsberichte der Kreisphysiker behandelt er im ersten, 
allgemeinen Thoil seines Werkes ohne Rücksicht auf die lokalen Verhältnisse 
das öffentliche Gesundheitswesen des ganzen Kreises unter Beifügung der ein¬ 
schlägigen gesetzlichen Bestimmungen, um dann im zweiten speciellen Theile 
die gegebenen Verhältnisse der einzelnen Ortschaften (21) in gleicher Weise 
eingehend zu besprechen und dadurch die betreffenden Gemeinden in den Stand 
zu setzen, ihre gesundheitlichen Verhältnisse mit denen der Nachbargemeinden 
zu vergleichen und dieselben nach dem Muster bewährter Einrichtungen zu 
verbessern. 

Auf alle Einzelheiten des Buches einzugehen, würde zu weit führen; ist 
dasselbe auch in erster Linie für das lokale Interesse geschrieben, so können 
doch andererseits auch weiterstehende Kreise manche Anregung und Belehrung 
aus seinem reichhaltigen Inhalte schöpfen. 

Mit ausserordentlichem Fleiss und grosser Sachkenntnis ist z. B. der 
Abschnitt „Wasserversorgung 4 * behandelt. Vorfasser schliesst sich hier 
dem von der 10. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Ge¬ 
sundheitspflege zu Berlin 1883 angenommenen Standpunkt an, dass die 
Beurtheilung eines Trinkwassers nicht nach allgemeinen Grenzwerthen zu 
geschehen habe, sondern dass für jede einzelne Gegend bestimmte An¬ 
forderungen an die Zusammensetzung der Wässer zu stellen seien. „Dem¬ 
entsprechend sei es nothwendig, alle Brunnen einer Gegend bezw. eines Ortes 



Referate, 


177 


des örteren und zwar zu verschiedenen Jahreszeiten und bei verschiedenen 
Witterungsverhältnissen zu untersuchen und über die Beschaffenheit der 
Wasser gleichsam ein Lagerbuch zu führen. Wenigstens sei es nur auf diese 
Art möglich, einmal prophylaktisch beim Auffinden dem Wasser sonst 
fremder Bestandtheile deren Quellen, ehe dieselben zu Gesundheitsstörungen 
führten, abzustellen und andererseits beim Auftreten ansteckender Krankheiten 
durch den Nachweis solcher fremder Bestandtheile deren Zusammenhang mit 
der Bildung oder der Verbreitung des Ansteckungsstoffes zu studieren.“ Ein 
solches Lagerbuch hat Verfasser für seinen Kreis angelegt und das Wasser 
sämmtlicher öffentlicher sowie mehrerer Privatbrunnen des Kreises, im Ganzen 
von ungefähr 160 Brunnen, nicht nur physikalisch und chemisch, sondern auch 
bakteriologisch nach der im Roichsgesundheitsamte geübten Methode mittelst 
Plattenculturen untersucht. Das Ergebniss dieser Untersuchungen findet sich 
in einer übersichtlichen Tabelle. 

Ebenso ausführlich und übersichtlich ist auch der Abschnitt „Schulen* 
behandelt. Sämmtliche 72 Schulen seines Kreises hat Verfasser hinsichtlich 
ihrer gesundheitlichen Verhältnisse besichtigt und das Resultat dieser Be¬ 
sichtigungen tabellarisch zusammengestellt. 

Wenn in der 4. Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamten- 
vereins es als wünschenswerth erachtet wurde, dass für jedes Kreisphysikat 
bezw. für jeden einzelnen Ort desselben eine Art Grundacte vorhanden sein 
müsse, in der alles Wissens- und Bemerkenswerthe in sanitärer Hinsicht ent¬ 
halten sei und durch welche sich ein etwaiger Nachfolger im Amte sehr 
schnell mit den einschlägigen Verhältnissen bekannt machen könne, so hat 
Verfasser durch seine Arbeit in dieser Hinsicht ein Beispiel gegeben, was zur 
Nachahmung nur empfohlen werden kann. Rpd. 


Beiträge zur Beurtheilung des Nutzens der Schutzpockenimpfung 

nebst Mittheilungen über Massregeln zur Beschaffung un¬ 
tadeliger Thierlymphe. Bearbeitet im Kaiserlichen Ge¬ 
sundheitsamt. Mit 6 Tafeln. Berlin, Verlag von Julius 
Springer 1888. 

Die Petitionskommission des Reichstages hatte in ihrer Sitzung vom 
28. März 1886 gelegentlich der Berathungen über die Petitionen zum Haupt¬ 
gesetz den Beschluss gefasst: „über die letzteren zur Tagesordnung überzu¬ 
gehen , jedoch mit Rücksicht auf die Erklärung des Herrn Rogierungs- 
kommissars, daß im Anschluss an die Verhandlungen der Sachverständigen- 
Kommission im Reichsgesundheitsamt statistische Ermittelungen über den 
Nutzen der Schutzpockenimpfung stattfänden, den Herrn Reichskanzler zu 
ersuchen, von dem Ergebniss dieser Ermittelungen, insbesondere der Bear¬ 
beitung von Urpockenlisten, ebenso über die Massregeln, welche zur Be¬ 
schaffung untadeliger animaler Lymphe ergriffen sind, dem Reichstag bis zur 
nächsten Session Mittheilung zu machen.“ Diesem Beschluss verdankt die vor¬ 
stehende im Kaiserlichen Gesundheitsamt ausgearbeitete Denkschrift ihre 
Entstehung und werden in derselben die wichtigsten, von den Impfzwangs¬ 
gegnern immer wieder von Neuem vorgebrachten Einwände in höchst objec- 
tiver und sachgemäßer Weise beleuchtet, sowie ihre vollständige Haltlosigkeit 
in überzeugender Weise dargethan. 

Die Denkschrift zerfällt in sieben mehr oder weniger zusammenhängende 
Abschnitte. Davon ausgehend, dass die Zahlen der PockentodestUlle den 
sichersten Massstab für die Beurtheilung der Schädigung eines Volkes durch 
Pocken gewähren, werden im ersten Abschnitt die bereits 1883 den Mit¬ 
gliedern des Reichstages vorgelegten Tafeln zur Veranschaulichung des Impf¬ 
gesetzes nochmals mitgetheilt und erörtert. Dieselben sind jedoch bis zum 
Jahre 1886 ergänzt und mehrfach berichtigt, sowie durch zwei neue Tafeln 
vervollständigt und betreffen: 

a) die Pockensterblichkeit in Preussen und Oesterreich in den Jahren 1816 
bis 1886; 

b) die Pockensterblichkeit in einer Anzahl grösserer Städte des ln- und 
Auslandes (Berlin, Hamburg, Breslau, München und Dresden gegenüber 



178 


Referate. 


London, Paris, Wien, Petersburg und Prag) während der Jahre 1861 
bis 1886; 

c) die Pockensterblichkeit in Bayern und Belgien während der Jahre 1846 
bis 1886; 

d) die Erkrankungen und Todesfälle an Pocken in der deutschen, öster¬ 
reichischen und französischen Armee während der Jahre 1867—1886 und 

e) die Pockensterblichkeit der Civil- und Militairbevölkerung in Preussen 
während der Jahre 1825—1886. 

Aus diesen vergleichenden Zusammenstellungen ersieht man, dass die 
jährliche Pockensterblichkeit in Preussen und Oesterreich während des 
25jährigen Zeitraumes von 1850—1875 49 bezw. 58 auf 100000 Einwohner 
betrug, dagegen in dem zehnjährigen Zeitraum von 1875—1884, also nach 
Inkrafttreten des deutschen Impfgesetzes, in Preussen nur 2, in Oesterreich da¬ 
gegen 62. Eine gleich günstige, ja noch weit geringere Pockensterblichkeit 
während des zuletzt genannten Zeitraumes zeigt sich in den grösseren Städten 
des Inlandes, im Vergleich zu denen des Auslandes, sowie in Bayern und in 
der deutschen Armee gegenüber Belgien und der österreichischen bezw. fran¬ 
zösischen Armee. Die statistischen Zusammenstellungen berechtigen somit 
jetzt noch in viel höherem Maasse zu dem bereits im Jahre 1888 ausge¬ 
sprochenen Urtheile: 

„Das die Pocken seit dem Inkrafttreten des Impfgesetzas in Deutschland 
in einer früher nie gekannten Weise abgenommen haben, während sie in den 
benachbarten Staaten und Armeen, wo die Zwangsimpfung bisher noch 
nicht eingeführt ist, nach wie vor in sehr erheblichem Maasse herrschen und 
dass das Impfgesetz in Folge dessen als eine ausserordentlich nützliche und 
segensreiche Institution angesehen werden muss.“ 

Im zweiten Abschnitt wird das Ergebniss der zufolge Bundesraths- 
beschluss vom 18. Juni 1885 für das deutsche Reich eingeführten Statistik der 
Pockentodesfälle während des Jahres 1886 mitgetheilt und sind darnach, wenn 
man die durch einen regen Schiffsverkehr mit dem Auslande in naher Be¬ 
ziehung stehenden Stadtbezirke von Bremen, Hamburg, Königsberg und Danzig 
den Grenzbezirken des deutschen Reiches zuzählt, etwa zwei Dritttheile sämmt- 
licher Pockentodesfälle in den Grenzbezirken des letzteren vorgekommen, so 
dass man den Eindruck erhält, als ob die Pocken zur Zeit überhaupt kaum 
noch zu den in Deutschland einheimischen Krankheiten gehören. 

Wenngleich von einer gesetzlichen Statistik der Pockenerkrankungsfälle 
vorläufig Abstand genommen ist, so konnte doch für einen nicht unbeträcht¬ 
lichen Theil des deutschen Reiches eine solche für das Jahr 1886 aufgestellt 
werden und ist derselben der dritte Abschnitt gewidmet, dem noch ein 
Anhang, die Pockenerkrankungen im Jahre 1885 betreffend, beigefügt ist. 

Im vierten Abschnitt werden die von den Impfzwanggegnem unter 
Bezugnahme auf die schwedische Impfstatistik erhobenen Angriffe auf Grund 
des von der Königl. Schwedischen Regierung bereitwilligst gewährten amt¬ 
lichen Materials entkräftet und überzeugend nachgewiesen, dass die bedeutende 
Abnahme der Pockensterblichkeit in Schweden seit Anfang dieses Jahrhunderts 
nur durch die Einführung der Schutzpockenimpfung erklärt werden kann. 
Eine Tafel über die Pockensterblichkeit daselbst in den Jahren 1774—1883 
ist diesem Abschnitt beigegeben. 

Die in impfgegnerischen Veröffentlichungen öfter wiederkehrende Be¬ 
hauptung, dass in Preussen schon lange vor dem Inkrafttreten des Reichs¬ 
impfgesetzes die Zwangsimpfung bestanden habe und dass durch das genannte 
Gesetz in dem Impfzustande der Bevölkerung nichts Wesentliches geändert 
worden sei, wird im fünften Abschnitt durch eine eingehende Besprechung 
der gesetzlichen Regelung des Impfwesens in den neun älteren Provinzen 
Preussens bis zum Jahre 1874 vollständig widerlegt. Interessant ist hierbei, 
dass schon im Anfang dieses Jahrhunderts (1801) seitens der Medicinalbehörden 
die sorgfältigsten Impfungsversuche mit Kuhpocken gemacht wurden und die 
Impfung in Folge der gewonnenen günstigen Erfahrungen eine immer grössere 
Verbreitung gewann. Ein am 1. Mai 1825 erlassenes Ministerialrescript lief 
sogar thatsächlicli auf die Herbeiführung der allgemeinen Impfung mittels 
Zwangsmassregeln hinaus, wurde aber durch Allerhöchsten Befehl vom 
29. Januar 1829 wieder beseitigt. Erst durch das Regulativ vom 8. August 



Referate. 


179 


1835 wurde die Zwangsimpfüng beim Ausbruch der Pocken eingeföhrt (§ 55) 
und ausserdem Jedem dringend empfohlen, eich selbst, seine Kinder, Pflege¬ 
befohlenen und andere Angehörigen ohne unzureichende, von Sachverständigen 
anerkannte Hinderungsgründe der Schutzpockenimpfung nicht zu entziehen (§ 50). 

Der sechste Abschnitt bringt die äusserst mühevolle statistische Be¬ 
arbeitung der sogenannten Urpockenlisten und wird das Ergebniss derselben 
dahin zusammengefasst, „dass diese Listen nicht geeignet sind, die auf Er¬ 
fahrung und Wissenschaft begründete Ueberzeugung, dass die Impfung einen 
beträchtlichen Schutz gegen das Erkranken und Pocken gewährt, zu erschüttern, 
sondern vielmehr zur Bestärkung derselben dienen und den Erfahrungssatz 
bestätigen, dass das einmalige Ueberstehen der Pocken mit seltenen Ausnahmen 
gegen eine neue Erkrankung an denselben schützt. 

Im siebenten Abschnitt werden endlich diejenigen Massregeln, welche 
seitens der Reichsverwaltung sowie in den einzelnen Bundesstaaten zur Be¬ 
schaffung untadeliger Thierlymphe ergriffen worden sind, mitgetheilt und zu¬ 
gleich ein Ueberblick darüber gegeben, in welcher Ausdehnung die Thier¬ 
lymphe bei den öffentlichen Impfungen im deutschen Reiche in den Jahren 
1885 und 1886 Anwendung gefunden hat. Darnach hat die Impfung mit 
Thierlymphe in den deutschen Bundesstaaten im Jahre 1886 eine beträchtliche 
Verbreitung gewonnen: In 11 Bundesstaaten (Sachsen, Baden, Hessen, Sachsen- 
Weimar, Sachsen-Altenburg, Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen, Reuss ä. L. 
Lübeck, Bremen und Hamburg) wurden mehr als 90 % aller Impfungen mit 
Thierlymphe ausgeführt; in den Reichslanden etwa 86%. Auch im Königreich 
Preussen ist trotz der zur Zeit noch geringen Zahl staatlicher Anstalten zur Er¬ 
zeugung thierischen Impfstoffes im Jahre 1886 bei mehr als 38% aller 
Impfungen Thierlymphe verwendet worden. Dabei lauten die von den be¬ 
treffenden Bundesregierungen eingesandten Mittheilungen übereinstimmend da¬ 
hin, dass Impfbeschädigungen bei der Verwendung von Thierlymphe in 
geringerem Maasse als früher bei Verwendung von Menschenlymphe bervor- 
getreten sind. 

Das Studium der von der Verlagsbuchhandlung vortrefflich ausgestatteten 
Denkschrift kann allen Aerzten, insonderheit aber den Impfärzten und Medi- 
cinalbeamten aufs Wärmste empfohlen werden. Rpd. 


Dr. Aloys Martin, Medicinalrath, Professor für gerichtliche Medicin 
und Landgerichtsarzt in München: Das Civil-Medicinal- 
wesen im Königreich Bayern. Vollständige Sammlung aller 
hierauf bezüglichen und zur Zeit geltenden Reichs- und Landes¬ 
gesetze, Verordnungen, Entschliessungen sowie der dazu ge¬ 
hörigen Instructionen und oberstgerichtlichen Erkenntnisse. 
Zwei Bände in 14 Lieferungen, München 1883—1887. Verlag 
von Theodor Ackermann. 

Verfasser hat sich der ebenso mühevollen als schwierigen Arbeit unter¬ 
zogen, alle zur Zeit im Königreich Bayern geltenden Reichs- und Landes¬ 
gesetze, Verordnungen u. s. w. über das Civilmedicinal wesen nach amtlichen 
Quellen zu sammeln, systematisch zu ordnen und mit entsprechenden Er¬ 
läuterungen zu versehen. Mit vollem Recht darf er sein Werk eine „voll¬ 
ständige* Sammlung nennen; dasselbe ist in Folge dessen auch viel umfang¬ 
reicher als z. B. der betreffende Theil des Wienerischen Handbuchs, bei 
dessen Abfassung übrigens das Martin’sche Buch in der ausgiebigsten Weise 
benutzt ist und zwar ohne bei den zahlreichen aus dem letzteren abgedruckten 
Erläuterungen die sonst übliche Quellenangabe beizufügen. 

Im ersten Band werden die wichtigsten das Civilmedicinalwesen be¬ 
treffenden reichsgesetzlichen Bestimmungen der Gewerbeordnung, des Gerichts¬ 
verfassungsgesetzes, der Civilprocess-, Concurs- und Strafgesetz-Ordnung, des 
Strafgesetzbuches, Nahrungsmittel-, Personenstands- und Grossjährigkeits- 
Gesetzes, sowie die darauf bezüglichen Landesgesetze, Verordnungen, Erlasse, 
oberstgerichtliche Entscheidungen u. s. w. aufgeführt. Der zweite, der Organi¬ 
sation des Medicinalwesens in Bayern gewidmete Theil bringt sodann siinnnt- 



180 


Verordnungen und Verfügungen. 


liehe in dieser Hinsicht noch gilti^e durch Gesetz, Verordnung, Aus¬ 
schreiben u. s. w. erlassene landespolizeilichen Vorschriften und zwar geordnet 
nach den einzelnen Abschnitten: Aerzte, Zahnärzte, Hebammen, Apotheker, 
Thierärzte, Medicinalbeamte und Medicinalbehörden, Medicinalpolizei und 
öffentliche Gesundheitspflege. 

Der Werth des Buches wird durch die den einzelnen Gesetzen, Ver¬ 
ordnungen u. 8. w. von dem Verfasser beigegebenen höchst sachgemässen Er¬ 
läuterungen wesentlich erhöht und seine Benutzung ausserdem durch eine am 
Schluss befindliche chronologische Uebersicht aller aufgenommenen Ver¬ 
ordnungen, Verfügungen u. s. w., sowie durch ein sehr zweckmässig zusammen¬ 
gestelltes Sachregister in hohem Grade erleichtert. 

Wenn auch hauptsächlich für die Aerzte, Medicinalbeamten und Ver¬ 
waltungsbehörden im Königreich Bayern geschrieben, kann es doch auch allen 
denen warm empfohlen werden, welche sich über die dort geltenden ein¬ 
schlägigen gesunaheitspolizeilichen Gesetze und Verordnungen schnell, leicht 
und in zuverlässiger Weise orientiren wollen. Rpd. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Bekanntmachnng des deutschen Reichskanzlers, betreffend die Untersuchung 
von Farben, Gespinnsten und Geweben auf Arsen und Zinn, vom 10. April 1888. 
(gez. in Stellv, von Bötticher.) 

Auf Grund der Vorschriften im § 1 Absatz 3 und § 7 Absatz 2 des 
Gesetzes, betreffend die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der 
Herstellung von Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen, 
vom 5. Juli 1887 (R.-G.-Bl. S. 277) bestimme ich, dass bei der Feststellung des 
Vorhandenseins von Arsen und Zinn in den zur Herstellung von Nahrungs¬ 
und Genussmitteln verwendeten Farben und bei der Ermittelung des Arsen¬ 
gehaltes der unter Benutzung arsenhaltiger Beizen hergestellten Gespinnste 
und Gewebe nach Massgabe der beiliegenden Anleitung zu verfahren ist. 

Anleitung 

für die Untersuchung von Farben, Gespinnsten und Geweben auf Arsen und 
Zinn (§ 1 Abs. 3, § 7 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die Verwendung gesund¬ 
heitsschädlicher Farben bei der Herstellung von Nahrungsmitteln, öenuss- 
mitteln und Gebrauchsgegenständen, vom 5. Juli 1887). 

A. Verfahren zur Feststellung des Vorhandenseins von Arsen 
und Zinn in gefärbten Nahrungs- oder Genussmitteln (§ 1 des 

Gesetzes). 

I. Feste Körper. 

1. Bei festen Nahrungs- oder Genussmitteln, welche in der Masse gefärbt 
sind, werden 20 gr. in Arbeit genommen, bei oberflächlich gefärbten wird die 
Farbe abgeschabt und ist soviel des Abschabseis in Arbeit zu nehmen, als 
einer Menge von 20 gr. des Nahrungs- oder Genussmittels entspricht. Nur 
wenn solche Mengen nicht verfügbar gemacht werden können, darf die Prüfung 
auch an geringeren Mengen vorgenommen werden. 

2. Die Probe ist durch Reiben oder sonst in geeigneter Weise fein zu 
zertheilen und in einer Schale aus echtem Porzellan mit einer zu messenden 
Menge reiner Salzsäure von 1,10 bis 1,12 spez. Gewicht und soviel destillirtem 
Wasser zu versetzen, dass das Verhältnis« der Salzsäure zum Wasser etwa wie 
1 zu 3 ist. In der Regel werden 25 ccm Salzsäure und 75 ccm Wasser dem 
Zwecke entsprechen. 

Man setzt nun 0,5 gr. chlorsaures Kalium hinzu, bringt die Schale auf 
ein Wasserbad und fügt — sobald ihr Inhalt die Temperatur des Wasserbades 
angenommen hat — von 5 zu 5 Minuten weitere kleine Mengen von chlor¬ 
saurem Kalium zu, bis die Flüssigkeit hellgelb, gleichförmig und dünnflüssig 
geworden ist. In der Regel wird ein Zusatz von im Ganzen 2 gr. des Salzes 
dem Zwecke entsprechen. Das verdampfende Wasser ist dabei von Zeit zu 
Zeit zu ersetzen. Wenn man den genannten Punkt erreicht hat, so fugt man 
nochmals 0,5 gr. chlorsaures Kalium hinzu und nimmt die Schale alsdann von 



Verordnungen und Verfügungen. 


181 


dem Wasserbade. Nach völligem Erkalten bringt man ihren Inhalt auf ein 
Filter, lässt die Flüssigkeit in eine Kochflasche von etwa 400 ccm völlig ab¬ 
laufen und erhitzt sie auf dem Wasserbade, bis der Geruch nach Chlor nahezu 
verschwunden ist- Das Filter sammt dem Rückstände, welcher sich in der 
Regel zeigt, wäscht man mit heissem Wasser gut aus, verdampft das Wasch¬ 
wasser im Wasserbade bis auf etwa 50 ccm und vereinigt diese Flüssigkeit 
sammt einem etwa darin entstandenen Niederschlage mit dem Hauptfiltrate. 
Man beachte dass die Gesammtmenge der Flüssigkeit mindestens das Sechsfache 
der angewendeten Salzsäure betragen muss. Wenn z. B. 25 ccm Salzsäure 
verwendet wurden, so muss das mit dem Waschwasser vereinigte Filtrat 
mindestens 150, besser 200 bis 250 ccm betragen. 

3. Man leitet nun durch die auf 60 bis 80» C. erwärmte und auf dieser 
Temperatur erhaltene Flüssigkeit 3 Stunden lang einen langsamen Strom von 
reinem, gewaschenem Schwefelwasserstoffgas, lässt hierauf die Flüssigkeit unter 
fortwährendem Einleiten des Gases erkalten und stellt die dieselben enthaltende 
Kochflasche, mit Filtrirpapier leicht bedeckt, mindestens 12 Stunden an einen 
massig wannen Ort. 

4. Ist ein Niederschlag entstanden, so ist derselbe auf ein Filter zu 
bringen, mit Schwefelwasserstoff haltigem Wasser auszuwaschen und dann in 
noch feuchtem Zustande mit mässig gelbem Schwefelammonium zu behandeln, 
welches vorher mit etwas ammoniakalischem Wasser verdünnt worden ist. 
In der Regel werden 4 ccm Schwefelammonium, 2 ccm Ammoniakflüssigkeit 
von etwa 0,96 spez. Gewicht und 15 ccm Wasser dem Zwecke entsprechen. 
Den bei der Behandlung mit Schwefelammonium verbleibenden Rückstand 
wäscht man mit schwefelammoniumhaltigem Wasser aus und verdampft das 
Filtrat und das Waschwasser in einem tiefen Porzellanschälchen von etwa 
6 cm Durchmesser bei gelinder Wärme bis zur Trockne. Das nach der Ver¬ 
dampfung Zurückbleibende übergiesst man, unter Bedeckung der Schale mit 
einem Uhrglase, mit etwa 3 ccm rother, rauchender Salpetersäure und dampft 
dieselbe bei gelinder Wärme behutsam ab. Erhält man hierbei einen im 
feuchten Zustande gelb erscheinenden Rückstand, so schreitet man zu der so¬ 
gleich zu beschreibenden Behandlung. Ist der Rückstand dagegen dunkel, so 
muss er von neuem so lange der Einwirkung von rother, rauchender Salpeter¬ 
säure ausgesetzt werden, bis er in feuchtem Zustande gelb erscheint. 

5. Man versetzt den noch feuchten Rückstand mit fein zerriebenem kohlen¬ 
saurem Natrium, bis die Masse stark alkalisch reagirt, fügt 2 gr. eines 
Gemenges von 3 Theilen kohlensaurem mit 1 Theil salpetersaurem Natrium 
hinzu und mischt unter Zusatz von etwas Wasser, so dass eine gleichartige, 
breiige Masse entsteht. Die Masse wird in dem Schälchen getrocknet und 
vorsichtig bis zum Sintern oder beginnenden Schmelzen erhitzt. Eine weiter¬ 
gehende Steigerung der Temperatur ist zu vermeiden. Man erhält so eine 
farblose oder weisse Masse. Sollte dies ausnahmsweise nicht der Fall sein, so 
fügt man noch etwas salpetersaures Natrium hinzu, bis der Zweck erreicht ist. 1 ) 

6. Die Schmelze weicht man in gelinder Wärme mit Wasser auf und 
filtrirt durch ein nasses Filter. Ist Zinn zugegen, so befindet sich dieses nun 
im Rückstände auf dem Filter in Gestalt weissen Zinnoxyds, während das 
Arsen als arsensaures Natrium im Filtrat enthalten ist. Wenn ein Rückstand 
auf dem Filter verblieben ist, so muss berücksichtigt werden, dass auch in das 
Filtrat kleine Mengen Zinn übergegangen sein können. Man wäscht den 
Rückstand einmal mit kaltem Wasser, dann dreimal mit einer Mischung von 
gleichen Theilen Wasser und Alkohol aus, dampft die Waschflüssigkeit soweit 
ein, dass das mit dieser vereinigte Filtrat etwa 10 ccm beträgt, und fügt 
verdünnte Salpetersäure tropfenweise hinzu, bis die Flüssigkeit eben sauer 
reagirt. Sollte hierbei ein geringer Niederschlag von Zinnoxydhydrat ent¬ 
stehen, so filtrirt man denselben ab und wäscht ihn wie oben angegeben aus. 
Wegen der weiteren Behandlung zum Nachweise des Zinns vergl. No. 10. 

7. Zum Nachweise des Arsens wird dasselbe zunächst in arsenmolyb¬ 
dänsaures Ammonium übergeführt. Zu diesem Zwecke vermischt man die nach 


*) Sollte die Schmelze trotzdem schwarz bleiben, so rührt dies in der 
Regel von einer geringen Menge Kupfer her, da Schwefelkupfer in Schwefel- 
ammonium nicht ganz unlöslich ist. 



182 


Verordnungen und Verfügungen, 


obiger Vorschrift mit Salpetersäure angesäuerte, durch Erwärmen von Kohlen¬ 
säure und salpetriger Säure befreite, darauf wieder abgekühlte, klare (nötigen¬ 
falls filtrirte) Lösung, welche etwa 15 ccm betragen wird, in einem Koch¬ 
fläschchen mit etwa gleichem Raumtheile einer Auflösung von molybdänsaurem 
Ammonium in Salpetersäure 1 ) und lässt zunächst 3 Stunden ohne Erwärmen 
stehen. Enthielte nämlich die Flüssigkeit infolge mangelhaften Auswaschens 
des Schwefelwasserstott-Niederschlagea etwas Phosphorsäure, so würde sich 
diese als phosphormolybdänsaures Ammonium abscheiden, während bei richtiger 
Ausführung der Operationen ein Niederschlag nicht entsteht. 

8. Die klare bezw. filtrirte Flüssigkeit erwärmt man auf dem Wasserbade, 
bis sie etwa 5 Minuten lang die Temperatur des Wasserbades angenommen 
hat. 1 ) Ist Arsen vorhanden, so entsteht ein gelber Niederschlag von arsen¬ 
molybdänsaurem Ammonium, neben welchem sich meist auch weisse Molyb¬ 
dänsäure ausscheidet. Man giesst die Flüssigkeit nach einstündigem Stehen 
durch ein Filterchen von dem der Hauptsache nach in der kleinen Kochflasche 
verbleibenden Niederschlage ab, wäscht diesen zweimal mit kleinen Mengen 
einer Mischung von 100 Theilen Molybdänlösung, 20 Theüen Salpetersäure 
von 1,2 spez. Gewicht und 80 Theilen Wasser aus, löst ihn dann unter Er¬ 
wärmen in 2 bis 4 ccm wässeriger Ammonflüssigkeit von etwa 0,96 spez. 
Gewicht, fügt etwa 4 ccm Wasser hinzu, giesst, wenn erforderlich, nochmals 
durch das Filterchen, setzt V* Raumtheil Alkohol und dann 2 Tropfen Chlor- 
magnesium-Chlorammoniumlösung hinzu. Das Arsen scheidet sich sogleich 
ober beim Stehen in der Kälte als weisses, mehr oder weniger krystallimsches 
arsensaures Ammonium-Magnesium ab, welches abzufiltriren und mit einer 
möglichst geringen Menge einer Mischung von 1 Theil Ammoniak, 2 Theilen 
Wasser und 1 Theil Alkohol auszuwaschen ist. 

9. Man löst alsdann den Niederschlag in einer möglichst kleinen Menge 
verdünnter Salpetersäure, verdampft die Lösung bis auf einen ganz kleinen 
Rest und bringt einen Tropfen auf ein Porzellanschälchen, einen anderen auf 
ein Objektglas. Zu ersterem fügt man einen Tropfen einer Lösung von sal¬ 
petersaurem Silber, dann vom Rande aus einen Tropfen wässeriger Amnion¬ 
flüssigkeit von 0,96 spez. Gewicht; ist Arsen vorhanden, so muss sich in der 
Berührungszone ein rothbrauner Streifen von arsensaurem Silber bilden. Den 
Tropfen auf dem Objektglase macht man mit einer möglichst kleinen Menge 
wässeriger Amnionflüssigkeit alkalisch; ist Arsen vorhanden, so entsteht so¬ 
gleich oder sehr bald ein Niederschlag von arsensaurem Ammonmagnesium, 
der, unter dem Mikroskop betrachtet, sich als aus spiessigen KrystäUchen 
bestehend erweist. 

10. Zum Nachweise des Zinns ist das, oder sind die das Zinnoxyd 
enthaltenden Filterchen zu trocknen, in einem Porzellantiegelchen einzu¬ 
äschern und demnächst zu wägen. 4 ) Nur wenn der Rückstand (nach Abzug 
der Filterasche) mehr als 2 mg beträgt, ist eine weitere Untersuchung am 
Zinn vorzunehmen, ln diesem Falle bringt man den Rückstand in ein Porzellan¬ 
schiffchen, schiebt dieses in eine Röhre von schwer schmelzbarem Glase, welche 
vorn zu einer langen Spitze mit feiner Oeflnung ausgezogen ist, und erhitzt 
in einem Strom reinen, trockenen Wasserstoffgases bei allmählich gesteigerter 
Temperatur, bis kein Wasser mehr auf tritt, bis somit alles Zinnoxyd reduzirt 
ist. Man lässt im Wasserstortstrom erkalten, nimmt das Schiffchen aus der 
Röhre, neigt es ein wenig, bringt wenige Tropfen Salzsäure von 1,10 bis 1,12 
spez. Gewicht in den unteren Theil desselben, schiebt es wieder in die Röhre, 


*) Die oben bezeichnete Flüssigkeit wird erhalten, indem man 1 Theil 
Molybdänsäure in 4 Theilen Ammoniak von etwa 0,96 spez. Gewicht löst und 
die Lösung in 15 Theile Salpetersäure von 1,2 spez. Gewicht giesst. Man 
lässt die Flüssigkeit dann einige Tage in mässiger Wärme stehen und zieht 
sie, wenn nöthig, klar ab. 

•) Am sichersten ist es, das Erhitzen so lange fortzusetzen, bis sich 
Molybdänsäure auszuscheiden beginnt. 

A ) Sollte der Rückstand infolge eines Gehaltes an Kupferoxyd schwarz 
sein, so erwärmt man ihn mit Salpetersäure, verdampft im Wasserbad zur 
Trockne, setzt einen Tropfen Salpetersäure und etwas Wasser zu, filtrirt, 
wäscht aus, glüht und wägt erst dann. 



Verordnungen und Verfügungen. 


183 


leitet einen langsamen Strom Wasserstoff durch dieselbe, neigt sie so, dass die 
Salzsäure im Schiffchen mit dem rcduzirten Zinn in Berührung kommt, und 
erhitzt ein wenig. Es löst sich dann das Zinn unter Entbindung von etwas 
Wasserstoff in der Salzsäure zu Zinnchlorür. Man lässt im Wasserstoffstrom 
erkalten, nimmt das Schiffchen aus der Röhro, bringt nötigenfalls noch einige 
Tropfen einer Mischung von 3 Theilcn Wasser und 1 Thoil Salzsäure hinzu 
und prüft Tropfen der erhaltenen Lösung auf Zinn mit Quecksilberchlorid, 
Goldchlorid und Schwefelwasserstoff’, und zwar mit letzterem vor und nach 
Zusatz einer geringen Menge Bromsalzsäure oder Chlorwasser. 

Bleibt beim Behandeln des Schiftcheninhalts ein schwarzer Rückstand, 
der in Salzsäure unlöslich ist, so kann derselbe Antimon sein. 

II. Flüssigkeiten, Fruchtgelees u. dergl. 

11. Von Flüssigkeiten, Fruchtgelees und dergleichen ist eine solche Menge 
abzuw&gen, dass die darin enthaltene Trockensubstanz etwa 20 gr. beträgt, 
also z. B. von Himbeersyrup etwa 30 gr., von Johannisbeergelee etwa 35 gr. 
von Rothwein, Essig oder dergleichen etwa 800 bis 1000 gr. Nur wenn solche 
Mengen nicht verfügbar gemacht werden können, darf die Prüfung auch an 
einer geringeren Menge vorgenommen werden. 

12. Fruchtsäfte, Gelees und dergleichen werden genau nach Abschnitt I 
mit Salzsäure, chlorsaurem Kalium u. s. w. behandelt; dünne, nicht sauer 
reagirende Flüssigkeiten concentrirt man durch Abdampfen bis auf einen 
kleinen Rest und behandelt diesen nach Abschnitt I mit Salzsäure und chlor¬ 
saurem Kalium u. s. w.; dünne, sauer reagirende Flüssigkeiten aber destillirt 
man bis auf einen geringen Rückstand ab und behandelt diesem nach Abschnitt I 
mit Salzsäure, chlorsaurem Kalium u. s. w. — In das Destillat leitet man mich 
Zusatz von etwas Salzsäure ebenfalls Schwefelwasserstoff’ und vereinigt einen 
etwa entstehenden Niederschlag mit dem nach No. 3 zu erhaltenden. 

B. Verfahren zur Feststellung des Arsengehalts in Gespinnsten 
oder Geweben (§ 7 des Gesetzes). 

13. Ä ) Man zieht 30 gr. des zu untersuchenden Gespinnstes oder Gewebes, 
nachdem man dasselbe zerschnitten hat, drei bis vier Stunden lang mit 
destillirtem Wasser bei 70 bis 80 q C. aus, filtrirt die Flüssigkeit, wäscht den 
Rückstand aus, dampft Filtrat und Waschwasser bis auf etwa 25 ccm ein, 
lässt erkalten, fügt 5 ccm reine konzentrirte Schwefelsäure hinzu und prüft 
die Flüssigkeit im Marsh'schen Apparat unter Anwendung arsenfreien Zinks 
auf Arsen. 

Wird ein Arsenspiegel erhalten, so war Arsen in wasserlöslicher Form 
in dem Gespinnste oder Gewebe vorhanden. 

14. Ist der Versuch unter No. 13 negativ ausgefallen, so sind weitere 
10 gr. des Stoffes anzuwenden und dem Flächeninhalte nach zu bestimmen. 
Bei Gespinnsten ist der Flächeninhalt durch Vergleichung mit einem Gewebe 
zu ermitteln, welches aus einem gleichartigen Gespinnste derselben Faden¬ 
stärke hergestellt ist. 

15. Wenn die nach No. 13 und 14 erforderlichen Mengen des Gespinnstes 
oder Gewebes nicht verfügbar gemacht werden können, dürfen die Unter¬ 
suchungen an geringeren Mengen, sowie im Falle der No. 14 auch an einem 
Theile des nach No. 13 untersuchten, mit Wasser ausgezogenen, wieder ge¬ 
trockneten Stoffes vorgenommen werden. 

16. Das Gespinnst oder Gewebe ist in kleine Stücke zu zerschneiden 
welche in eine tubuliite Retorte aus Kaliglas von etwa 400 ccm Inhalt zu 
bringen und mit 100 ccm reiner Salzsäure von 1,19 spez. Gewicht zu über¬ 
giessen sind. Der Hals der Retorte sei ausgezogen und in stumpfem Winkel 
gebogen. Man stellt dieselbe so, dass der an den Bauch stossende Theil des 
Halses schief aufwärts, der andere Theil etwas schräg abwärts gerichtet ist. 

•) Es bleibt dem Untersuchenden unbenommen, vorweg mit dem Marsh- 
schen Apparate an einer genügend grossen Probe festzustellen, ob überhaupt 
Arsen in dem Gespinnste oder Gewebe vorhanden ist. Bei negativem Ausfälle 
eines solchen Versuchs bedarf es nicht der weiteren Prüfungen nach No. 13 etc., 

16 etc. 



184 


Verordnungen und Verfügungen. 


Letzteren schiebt man in die Kühlröhre eines Liebigschen Kühlapparates und 
schliesst die Berührungsstelle mit einem Stück Kautschukschlauch. Die Kühl¬ 
röhre führt man luftdicht in eine tubulirte Vorlage von etwa 500 ccm Inhalt. 
Die Vorlage wird mit etwa 200 ccm Wasser beschickt und, um sie abzukühlen, 
in eine mit kaltem Wasser gefüllte Schale eingetaucht. Den Tubus der Vor¬ 
lage verbindet man in geeigneter Weise mit einer mit Wasser beschickten 
P61igot’schen Röhre. 

17. Nach Ablauf von etwa einer Stunde bringt man 5 ccm einer aus 
Krystallen bereiteten kaligesättigten Lösung von arsenfreiem Eisenchlorür in 
die Retorte und erhitzt dören Inhalt. Nachdem der überschüssige Chlor¬ 
wasserstoff entwichen, steigert man die Temperatur, so dass die Flüssigkeit 
ins Kochen kommt und destillirt, bis der Inhalt stärker zu steigen beginnt. 
Man lässt jetzt erkalten, bringt nochmals 50 ccm der Salzsäure von 1,19 spez. 
Gewicht in die Retorte und destillirt in gleicher Weise ab. 

18. Die durch organische Substanzen braun gefärbte Flüssigkeit in der 
Vorlage vereinigt man mit dem Inhalt der Püligotschen Röhre, verdünnt mit 
destillirtem Wasser etwa auf 600 bis 700 ccm und leitet, anfangs unter Er¬ 
wärmen, dann in der Kälte, reines Schwefelwasserstoffgas ein. 

19. Nach 12 Stunden filtrirt man den braunen, zum Theil oder ganz aus 
organischen Substanzen bestehenden Niederschlag auf einem Asbestfilter ab, 
welches man durch entsprechendes Einlegen von Asbest in einen Trichter, 
dessen Röhre mit einem Glashahn versehen ist, hergestellt hat. Nach kurzem 
Auswaschen des Niederschlags schliesst man den Hahn und behandelt den 
Niederschlag in dem Trichter unter Bedecken mit einer Glasplatte oder einem 
Uhrglas mit wenigen Kubikeentimeter Bromsalzsäure, welche durch Auflösen 
von Brom in Salzsäure, von 1,19 spez. Gewicht hergestellt worden ist. Nach 
etwa halbstündiger Einwirkung lässt man die Lösung durch Oeffhen des 
Hahns in den Fällungskolben abfiiessen, an dessen Wänden häufig noch 
geringe Antheile des Schwefelwasserstoff-Niederschlags haften. Den Rück¬ 
stand auf dem Asbestfilter wäscht man mit Salzsäure von 1,19 spez. Ge¬ 
wicht aus. 

20. In dem Kolben versetzt man die Flüssigkeit wieder mit überschüssigem 
Eisenchlorür und bringt den Kolbeninhalt unter Nachspülen mit Salzsäure von 
1,19 spez. Gewicht in eine entsprechend kleinere Retorte eines zweiten, im 
übrigen den in No. 16 beschriebenen gleichen Destillirapparates, destillirt, wie 
in No. 17 angegeben, ziemlich weit ab, lässt erkalten, bringt nochmals 50 ccm 
Salzsäure von 1,19 spez. Gewicht in die Retorte und destillirt wieder ab. 

21. Das Destillat ist jetzt in der Regel wasserhell. Man verdünnt es mit 
destillirtem Wasser auf 700 ccm, leitet Schwefelwasserstoff, wie in No. 18 an¬ 
gegeben, ein, filtrirt nach 12 Stunden das etwa niedergefallene dreifache 
Schwefelarsen auf einem, nach einander mit verdünnter Salzsäure, Wasser und 
Alkohol ausgewaschenen, bei 110° C. getrockneten und gewogenen Filterchen 
ab, wäscht den Rückstand auf dem Filter erst mit Wasser, dann mit absolutem 
Alkohol, mit erwärmtem Schwefelkohlenstoff und schliesslich wieder mit abso¬ 
lutem Alkohol aus, trocknet bei 110° C. und wägt. 

22. Man berechnet aus dem erhaltenen dreifachen Schwefelarsen die 
Menge des Arsens und ermittelt, unter Berücksichtigung des nach Nr. 14 fest¬ 
gestellten Inhalts der Probe, die auf 100 qcm des Gespinnstes oder Gewebes 
entfallende Arsenmenge. 


Vorschriften über den Bezug thierischen Impfstoffs ans den staatlichen 
Impflnstitiiteiu Verfügung des Ministers der geistlichen etc. Ange¬ 
legenheiten (gez. von Gossler) vom 16. April 1888 M. N.: 3028, an sämmt- 

liche Königl. Oberpräsidenten. 

Bei der zunehmenden Inanspruchnahme der staatlichen Anstalten zur 
Gewinnung thierischen Impfstoffs werden die wegen des Bezugs des letzteren 
einzeln erlassenen Vorschriften häufig seitens der Aerzte nicht genügend be¬ 
obachtet und haben sich namentlich insofern Unzuträglichkeiten herausgestellt, 
als der Bedarf an Impfstoff für den einzelnen Tag der Verwendung oft in 
willkürlich zu gross bemessener Menge angegeben wird, die Lymphe daher 
unbenutzt bleibt oder doch erst später zur Verimpfung gelangt. Findet aber 



Verordnungen und Verfügungen. 


185 


letzteres statt, so kann sich inzwischen die Wirksamkeit des Impfstoffs, zumal 
dann, wenn derselbe nicht ununterbrochen kühl gehalten wird, mehr oder 
weniger abgeschwächt haben. Entgegen der, jeder Lymphelieferung beige¬ 
gebenen Gebrauchsanweisung wird ferner noch häufig der thierische Impfstoff 
anstatt durch Schnitte durch die bei dieser Lymphe-Art unzuverlässige Methode 
der Stiche verimpft und werden auch die Vorschriften über die Zahl der an¬ 
zulegenden Impfstellen nicht überall in der zur Erreichung des Impfschutzes 
und zur Beurtheilung der Wirkung erforderlichen Weise befolgt. 

Endlich liegt es im sachlichen Interesse, dass die Dirigenten der lmpf- 
anstalten von der Wirksamkeit des gelieferten Impfstoffs ungesäumt nach Fest¬ 
stellung derselben in Kenntniss gesetzt werden, um möglichst bald etwa her¬ 
vorgetretenen Mängeln in dem Betriebe der Anstalt bezw. in der Verwendung 
des Impfstoffs begegnen zu können. 

Um den vorstehend erwähnten Unvollkommenheiten möglichst abzuhelfen 
und zugleich den Bezug thierischen Impfstoffs aus den staatlichen Impfinstituten 
einheitlich zu regeln, bestimme ich hienach, was folgt: 

1. Die Anträge auf Lieferung von Impfstoff sind unter deutlicher Angabe 
des Namens und Wohnortes des Antragstellers, sowie der Zahl der Impfungen, 
zu denen, und des Tages, an welchem die Verwendung stattfinden soll, 
mindestens vierzehn Tage vor dem letzteren bei dem Anstalts-Dirigenten ein¬ 
zubringen. 

Die Zahl der an dem betreffenden Tage beabsichtigten öffentlichen 
Impfungen ist hierzu von dem Impfarzt, soweit angängig, auf Grund der Impf¬ 
listen annähernd festzustellen. 

2. Die Lieferung des Impfstoffs erfolgt für die Impfärzte kosten-, auch 
portofrei, im Uebrigen portopflichtig gegen eine im Voraus zu entrichtende 
Vergütung von 1 Mark für eine zu 1 bis 5 Impfungen ausreichende Menge 
Impfstoff nebst den Auslagen für die Verpackung. 

3. Die von den Impfanstalten den Lymphesendungen beigegebenen Ge¬ 
brauchsanweisungen sind genau zu befolgen. 

4. Die von den Impfanstalten jeder einzelnen Lymphesendung beige¬ 
gebenen Karten zur Angabe der mit dem gelieferten Impfstoff erzielten Impf¬ 
erfolge sind ungesäumt nach Feststellung der letzteren in Betreff jeder ein¬ 
zelnen Lymphesendung ausgefüllt den Anstalts-Dirigenten zuzustellen. 

5. Der Transport und die Aufbewahrug thierischen Impfstoffs bei hoher 
Wärme ist zu vermeiden; dem entsprechend sind öffentliche Impftermine in 
den Monaten Juli und August thunliclist zu beschränken. 

Behufs Durchführung dieser Bestimmungen ersuche ich Ew. Excellenz 
ganz ergebenst, gefälligst die erforderlichen Veranlassungen zu treffen. 


Zuziehung der Kreisphysiker behufs Feststellung des Gesundheitszustandes 
der Bevölkerung in den Ueberschwemmungsgebieten. Verfügung des 
Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten (gez von Gossler) vom 
20. April 1888 M. N. 3232, an die Königl. Oberpräsidenten der Provinzen 
Ostpreussen, Westpreussen, Pommern, Posen, Brandenburg, Schlesien und 

Hannover. 

Im Anschluss an meinen Erlass vom 9. April d. J.*) ersuche ich Ew. Ex- 
cellenz gefälligst anzuordnen, dass in dem dortigen Ueberschwemmungsgebiet 
für die nächsten Monate die Landräthe mit der Feststellung des Sachverhaltes 
durch die Kreisphysiker sofort vorzugehen haben, sobald in einer Ortschaft 
sich bezüglich des Gesundheitszustandes der Bevölkerung bedrohliche Anzeichen 
geltend machen, ohne dass vorher die durch § 10 des Regulativs vom 8. August 
1835 vorgeschriebene Feststellung durch die Ortspolizeibehörde erfolgt ist. 


*) Abgedruckt in No. 5. S. 154 — 158. 



186 


Verordnungen und Verfügungen. 


Vermeidung theurer Medikamente and Verbandstoffe bei der ärztlichen 
Behandlung der Gefangenen in den Königl. Strafanstalten. Verfügung 
des Ministers des Innern (gez. von Zastrow) vom 16. März 1888, II. M. J. 
N. 644, an sämmtliche Regierungspräsidenten bezw. Regierungen, in deren Be¬ 
zirken sich Straf- etc. Anstalten befinden. 

Zur Vermeidung des unnützen Gebrauches besonders theurer Medikamente 
in der Behandlung innerlicher Krankheiten von Gefangenen in den Straf- etc. 
Anstalten meines Ressorts nehme ich Veranlassung, den betheiligten Behörden 
die thunlichste Beachtung derjenigen Regeln zu empfehlen, welche in der so¬ 
genannten Pharmacopoea oeconomica des Hirschwald’sehen Medizinal- 
nalenders für den preussischen Staat enthalten sind. 

Hinsichtlich der Frage, ob in den vorbezeichneten Anstalten für die Be¬ 
handlung chirurgischer Fälle billigere und doch dem Heilzweck entsprechende 
Verbandmittel und . Arzneien an Stelle kostspieligerer verwendet werden 
könnten, hat sich die Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in 
einem von ihr abgegebenen Gutachten dahin geäussert, dass, soweit es sich 
um Verbandstoffe handele, Watte nicht bloss des hohen Preises wegen, sondern 
auch als ein wenig zur Aufsaugung von Wundflüssigkeiten geeigneter Stoff 
beim eigentlichen Wundverband so gut wie ganz auszuschliessen sei. Nur an 
besonders empfindlichen Körpertheilen würde sie als Poleterungsmaterial nicht 
zu entbehren sein, im Uebrigen aber durch billigere Stoffe ersetzt werden 
können. 

Unter diesen sei neben dem in der Schaffhausener Verbandstoff-Fabrik 
hergesteUten Verbandwerg besonders die „Moospappe* hervorzuheben, welche 
durch ihr Aufsaugungsvermögen, durch die Leichtigkeit ihrer Handhabung und 
durch die Ersparung an antiseptischen Medikamenten, welche sie gestattet, 
(da sie nur kurz vor der Anwendung für wenige Augenblicke in eine anti¬ 
septische Lösung getaucht zu werden braucht), vor allen anderen Verband¬ 
stoffen den Vorzug verdiene. 

Unter den antiseptischen Arzneimitteln sei die Salicylsäure so gut wie 
ganz entbehrlich und nur für Ausspülungen der Harnblase schwer zu ersetzen, 
un Uebrigen könne mit Lösungen von Carbolsäure und von Sublimat überall 
mindestens dasselbe erreicht werden. Entbehrlich sei ferner die essigBaure 
Thonerde und auch Jodoform könne unter den obwaltenden Verhältnissen ent¬ 
behrt werden, jedenfalls aber nur in sehr kleinen Mengen Anwendung finden. 

Ew. Hochwohlgeboren wollen gefälligst Sorge tragen, dass dem Vor¬ 
stehenden entsprechend, in den betreffenden Anstalten des dortigen Bezirkes 
verfahren werde. 


Bestimmungen Ober die Beförderung von Leichen auf Eisenbahnen. Ver¬ 
fügung des Ministers des Innern (gez. im Auftr. von Zastrow), des 
Justizministers (gez. in Vertr. Nebe-Pflugstädt) und des Ministers der 
geistlichen etc. Angelegenheiten (gez. in Vertr. Lucanus) vom 6. April 
1888. M. d. I. II 3182; J. M. I No. 1015 ; M. d. g. A. M. 2898, an die König¬ 
lichen Regierungspräsidenten. 

Unter Bezugnahme auf die in No. 296 dos Reichs- und Staats-Anzeigers 
vom 17. Dezember 1887 abgedruckte Bekanntmachung des Herrn Reichskanz¬ 
lers vom 14. d. M.*), betreffend die Abänderungen des Betriebs-Reglements für 

*) Dieselbe lautet: 

Der Bundesrath hat . in seiner Sitzung vom 1. d. M. auf Grund des 
Artikels 45 der ReichsVerfassung Folgendes beschlossen: 

I. Der § 34 des Betriebs-Reglements für die Eisenbahnen Deutschlands 
vom 11. Mai 1874 (Centralblatt für das Deutsche Reich S 179) enthält nach¬ 
stehende Fassung: 

§ 34. 

1. Der Transport einer Leiche muss, wenn er von der Ausgangsstation 
des Zuges erfolgen soll, wenigstens 6 Stunden, wenn derselbe von einer 
Zwischenstation ausgehen soll, wenigstens 12 Stunden vorher angemeldet 
werden. 



Verordnungen und Verfügungen. 


187 


die Eisenbahnen Deutschlands, lassen wir Ew. Hochwohlgeboren in der Anlage 
weitere Bestimmungen über die Beförderung von Leichen auf Eisenbahnen mit 
dem ergebenen Ersuchen zugehen, die hiernach in Betracht kommenden Be¬ 
hörden umgehend mit der erforderlichen Anweisung zu versehen und die Be- 


2. Die Leiche muss in einem hinlänglich widerstandsfähigen Metallsarge 
luftdicht ein^eschlossen und letzterer von einer hölzernen Umhüllung dergestalt 
umgeben sein, dass jede Verschiebung des Sarges innerhalb der Umhüllung 
verhindert wird. 

3. Die Leiche muss von einer Person begleitet sein, welche ein Fahr- 
billet zu lösen und denselben Zug zu benutzen hat, in dem die Leiche beför¬ 
dert wird. 

4. Bei der Aufgabe muss der vorschriftsmässige Leichenpass beigebracht 
werden, welchen die Eisenbahn übernimmt und bei Ablieferung der Leiche 
zurückstellt. Die Behörden und Dienststellen, welche zur Ausstellung von 
Leichenpässen befugt sind, werden besonders bekannt gemacht. Der von der 
zuständigen Behörde oder Dienststelle ausgefertigte Leichenpass hat für die 
ganze Länge des darin bezeichneten Transportweges Geltung. Die tarif- 
mässigen Transportgebühren müssen bei der Aufgabe entrichtet werden. 

Bei Leichentransporten, welche aus ausländischen Staaten kommen, mit 
welchen vom Reich eine Vereinbarung wegen wechselseitiger Anerkennung der 
Leichenpässe abgeschlossen ist, genügt die Beibringung eines der Vereinbarung 
entsprechenden Leichenpasses, der nach dieser Vereinbarung zuständigen aus¬ 
ländischen Behörde. 

5. Die Beförderung der Leiche hat in einem besonderen, bedeckt gebau¬ 
ten Güterwagen zu erfolgen. Mehrere Leichen, welche gleichzeitig von dem 
nämlichen Abgangsort nach dem nämlichen Bestimmungsort aufgegeben wer¬ 
den, können in einem und demselben Güterwagen verladen werden. Wird die 
Leiche in einem ringsumschlossenen Leichenwagen befördert, so darf zum 
Eisenbahntransport ein offener Güterwagen benutzt werden. 

6. Die Leiche darf auf der Fahrt nicht ohne Noth umgeladen werden. 
Die Beförderung muss möglichst schnell und ununterbrochen bewirkt werden. 
Lässt sich ein längerer Aufenthalt auf einer Station nicht vermeiden, so ist 
der Güterwagen mit der Leiche thunlichst auf ein abseits im Freien belegenes 
Geleise zu schieben. Innerhalb sechs Stunden nach Ankunft des Zuges auf der 
Bestimmungsstation muss die Leiche abgeholt werden, widrigenfalls sie nach 
der Verfügung der Ortsobrigkeit beigesetzt wird. Kommt die Leiche nach 
6 Uhr Abends an, so wird die Abholungsfrist vom nächsten Morgen 6 Uhr ab 
gerechnet. Bei Ueberschreitung der Abholungsfrist ist die Eisenbahn berech¬ 
tigt, Wagenstandgeld zu erheben. 

7. Wer unter falscher Deklaration Leichen zur Beförderung bringt, hat 
ausser der Nachzahlung der verkürzten Fracht vom Abgangs- bis zum Bestim¬ 
mungsort das Vierfache dieser Frachtgebühr als Konventionalstrafe zu ent¬ 
richten. • 

8. Bei dem Transport von Leichen, welche von Polizeibehörden, Kran¬ 
kenhäusern, Strafanstalten u. s. w. an öffentliche höhere Lehranstalten über¬ 
sandt werden, bedarf es einer Begleitung nicht. Auch genügt es, wenn solche 
Leichen in dichtverschlossenen Kisten aufgegeben werden. Die Beförderung 
kann in einem offenen Güterwagen erfolgen. Es ist zulässig, solche Güter in 
den Wagen mitzuverladen, welche von fester Beschaffenheit (Holz, Metall und 
dergleichen) oder doch von festen Umhüllungen (Kisten, Fässern und der¬ 
gleichen) dicht umschlossen sind. Bei der Verladung ist mit besonderer Vor¬ 
sicht zu verfahren, damit jede Beschädigung der Leichenkiste vermieden wird. 
Von der Zusammenladung sind ausgeschlossen: Nahrungs- und Genussmittel 
einschliesslich der Rohstoffe, aus welchen Nahrungs- oder Genussmittel herge¬ 
stellt werden, sowie die in Anlage D zu § 48 des Betriebs - Reglements unter 
I bis III aufgeführten Gegenstände. Ob von der Beibringung eines Leichen¬ 
passes abgesehen werden kann, richtet sich nach den von den Landesregie¬ 
rungen dieserhalb ergehenden Bestimmungen. 

9. Auf die Regelung der Beförderung von Leichen nach dem Bestattungs¬ 
platz des Sterbeorts finden die vorstehenden Bestimmungen nicht Anwendung. 

II. Vorstehende Bestimmungen treten am 1. April 1888 in Kraft. 



188 


Verordnungen und Verfügungen. 


Stimmungen mit dem Hinzufügen, dass dieselben sofort in Kraft treten, durch 
das dortige Amtsblatt zu veröffentlichen. 

Indem wir einer baldgefälligen Mittheilung der in dem dortigen Bezirke 
mit der Ausstellung von Leichenpässen betrauten Behörden und Dienststellen 
entgegensehen, bemerken wir, dass der § 34, No. 8 der obengedachten Be¬ 
kanntmachung, welcher für den Transport von Leichen nach Universitäts-An¬ 
stalten gewisse Erleichterungen gewährt-, durch die beiliegenden Bestimmungen 
nicht berührt wird. 

Bestimmungen über die Beförderung von Leichen auf Eisen¬ 
bahnen. 

1) Die Ausstellung der Leichenpässe hat durch diejenige hierzu befugte 
Behörde oder Dienststelle zu erfolgen, in deren Bezirk der Sterbeort oder — 
im Falle einer Wiederausgrabung — der seitherige Bestattungsort liegt. Für 
Leichentransporte, welche aus dem Auslande kommen, kann, soweit nicht 
Vereinbarungen über die Anerkennung der von ausländischen Behörden aus¬ 
gestellten Leichenpässe bestehen, die Ausstellung des Leichenpasses durch die¬ 
jenige zur Ausstellung von Leichenpässen befugte inländische Behörde oder 
Dienststelle erfolgen, in deren Bezirk der Transport im Reichsgebiete beginnt. 
Auch können die Konsuln und diplomatischen Vertreter des Reichs vom Reichs¬ 
kanzler zur Ausstellung der Leichenpässe ermächtigt werden. Die hiernach 
zur Ausstellung der Leichenpässe zuständigen Behörden etc. werden vom 
Reichskanzler öffentlich bekannt gemacht. 

2) Der Leichenpass darf nur für solche Leichen ertheilt werden, Über 
welche die*nachstehenden Ausweise geliefert worden sind: 

a) ein beglaubigter Auszug aus dem Sterberegister; 

b) eine von dem Kreispliysikus ausgestellte Bescheinigung über die Todes¬ 
ursache, sowie darüber, dass seiner Ueborzeugung nach der Beförderung 
der Leiche gesundheitliche Bedenken nicht entgegenstehen. 

Ist der Verstorbene in der tödtlich gewordenen Krankheit von 
einem Arzte behandelt worden, so hat letzteren der Kreisphysikus vor 
der Ausstellung der Bescheinigung, betreffs der Todesursache anzuhören; 

c) ein Ausweis über die Vorschriftsmässig erfolgte Einsargung der Leiche 
(§ 34, Absatz 2 des Eisenbahnbetriebsreglements in Verbindung mit 
No. 3, 4 dieser Bestimmung); 

d) in den Fällen des § 157 der Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877 
(Reichs-Gesetzbl. S. 253), die seitens der Staatsanwaltschaft oder des 
Amtsrichters ausgestellte schriftliche Genehmigung der Beerdigung. 

Die Nachweise zu a und b werden bezüglich der Leichen von Militär- 
personen, welche ihr Standquartier nach eingetretener Mobilmachung verlassen 
hatten (§§ 1, 2 der Verordnung vom 20. Januar 1879 — Reichs - Gesetzblatt 
S. 5 —), oder welche sich auf einem in Dienst gestellten Schiff oder anderen 
Fahrzeug der Marine befanden, durch eine Bescheinigung der zuständigen 
Militärbehörde oder Dienststelle über den Sterbefall unter Angabe der Todes¬ 
ursache und mit der Erklärung, dass nach ärztlichem Ermessen der Beförde¬ 
rung der Leiche gesundheitliche Bedenken nicht entgegenstehen, ersetzt. 

3) Der Boden des Sarges muss mit einer mindestens 5 cm. hohen Schicht 
von Sägemehl, Holzkohlonpulver, Torfmull oder dergleichen bedeckt, und es 
muss diese Schicht mit fünfprozentigqr Carboisäurelösung*) reichlich besprengt 
sein. 

4) In besonderen Fällen, z B. für einen Transport von längerer Dauer 
oder in warmer Jahreszeit, kann nach dem Gutachten des Kreisphysikus eine 
Behandlung der Leiche mit faulnisswidrigen Mitteln verlangt werden. 

Diese Behandlung besteht gewöhnlich in einer Einwickelung der Leiche 
in Tücher, die mit fünfprozentiger Carbolsäurelösung getränkt sind. In 
schwereren Fällen muss ausserdem durch Einbringen von gleicher Carbolsäure¬ 
lösung in die Brust- und Bauchhöhle (auf die Leiche eines Erwachsenen zu¬ 
sammen mindestens 1 Liter gerechnet) oder dergleichen für Unschädlichmachung 
der Leiche gesorgt werden. 


*) Ein Theil sogenannter verflüssigter Carbolsäure (Acidum carbolicum 
Jiquefactum) ist in 18 Theilen Wasser unter häufigem Umrühren zu lösen, 



Verordnungen und Verfügungen. 


189 


5) Als Begleiter sind von der den Leichenpass ausstollenden Behörde 
nur zuverlässige Personen zuzulassen. 

6) Ist der Tod im Verlauf einer der nachstehend benannten Krank¬ 
heiten: Pocken, Scharlach, Flecktyphus, Diphtherie, Cholera, Gelbfieber oder 
Pest erfolgt, so ist die Beförderung der Leiche mittelst der Eisenbahn nur 
dann zuzudassen, wenn mindestens ein Jahr nach dem Tode verstrichen ist. 

7) Die Regelung der Beförderung von Leichen nach dem Bestattungsplatz 
des Sterbeorts bleibt den Regierungsbehörden überlassen. 

8) Bei Ausstellung von Leichenpässen für Leichentransporte, welche 
nach dem Auslande gehen, sind ausser den vorstehenden Bestimmungen auch 
die von dem Reich mit ausländischen Regierungen hinsichtlich der Leichen¬ 
transporte abgeschlossenen Vereinbarungen zu beachten. 


Ausbruch der Cholera ln Singapore# Verfügung der Minister für Handel 
und Gewerbe (gez. in Vertr. Magdeburg) No. 2080 und für geistliche etc# 
Angelegenheiten (gez. in Vertr. v. Lucanus) No# 3918 vom 13# Mai 1888 an 
die Königh Oberpräsidenten der Provinzen Ost- und Westpreussen, Pommern, 
Schleswig-Holstein und Hannover. 

Nach den dem Reichskanzler zugegangenen amtlichen Nachrichten ist seit 
Kurzem in Singapore eine Cholera-Epidemie ausgebrochen. Die Zahl der Er¬ 
krankungsfälle beträgt bis jetzt etwa 35 täglich. 

Wenngleich zu einer Verseuchungs-Erklärung des inficirten Hafens ein 
genügender Anlass zur Zeit nicht vorzuliegen scheint, ist es doch erforderlich, 
dem Gesundheitszustände den aus dem bezeichneten Hafen hier einlaufenden 
Schiffen eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden und dieselben einor Ueber- 
wachung im Sinne unseres Erlasses vom 25. September 1886 No. 6997 II M. 
d. g. A. u. No. 12847 H. M. zu unterwerfen. 


Austrocknung feuchter Bauwerke durch das Verfahren des Architekten 
St# von Kosinski. Verfügung des Ministers der geistlichen etc. Angelegen¬ 
heiten (gez. in Vertr. v. Lucanus) vom 8# Mai 1888 M# No# 3880 an die 
Königl. Oberpräsidenten der Provinzen Ostpreussen, Westpreussen, Pommern, 
Posen, Brandenburg, Schlesien und Hannover. 

Der Architekt Stanislaus von Kosinski hat mit den zur Austrocknung 
feuchter Bauwerke vielfach in Gebrauch stehenden und auch durch meinen 
Erlass vom 9. April d. J. — M. 2880 — zu diesem Zweck empfohlenen Coaks- 
körben einfache Vorkehrungen verbunden, welche wie hier angestellte Ver¬ 
suche ergeben haben, die Wirkung der ersteren in beträchtlichem Masse zu 
steigern und die Austrocknung feuchter Gebäude in sehr vollständiger Weise 
und in kurzer Zeit zu bewirken im Stande sind. 

Das Nähere über das von dem p. von Kosinski angewandte Verfahren 
und über dessen Wirkungen ergiebt sich aus dem nachstehenden Bericht des 
Assistenten am hiesigen Königlichen Hygienischen Institut Dr. Petri, zu wel¬ 
chem jedoch zu bemerken ist, dass der Grad von Hitze, welchen der p. v. Ko¬ 
sinski bei dem angestellten Versuch hervorgebracht hat, um die mögliche 
Leistungsfähigkeit seines Apparates daxzuthun, für gewöhnlich nicht erforder¬ 
lich sein wird, so dass sich auch der Coaksverbrauch vermindern würde. 

Ew. Excellenz gebe ich ganz ergebenst anheim, falls sich im dortigen 
Verwaltungsbezirk eine möglichst vollständige und schleunige Austrocknung 
von Gebäuden, welche von der Ueberschwemmung betroffen sind, erforderlich 
erweisst, sich gefälligst wegen Ausführung derselben mit dem p. von Kosinski 
(Berlin, Lützowstr. No. 29) in Verbindung zu setzen, bezw. die nachgeordneten 
Behörden auf das gedachte Verfahren aufmerksam zu machen. 

Bericht über das Austrocknungsverfahren des Architekten 
' von Kosinski. 

Ew. p. p. erstatte ich nachstehenden ganz gehorsamsten Bericht über die 
Versuche und Beobachtungen, welche ich zufolge mündlich mir ertheilten 
Auftrages über das Austrocknungsverfahren von feuchten Neubauten und 
Wohnräumen des Ingenieurs S. von Kosinski angestellt habe. Ich schicke 
voraus, dass dieser Bericht als ein vorläufiger sich nur auf die wichtigsten 



190 


Verordnungen und Verfügungen. 


Resultate meiner Beobachtungen bezieht. Nach Abschluss der Untersuchungen 
werde ich eine ausführlichere Darlegung meiner auf das Verfahren bezüglichen 
Arbeiten Ew. p. p. ganz gehorsamst einsenden. 

Der Apparat des Herrn von Kosinski besteht im Wesentlichen aus soge¬ 
nannten Coakskörben von Eisenstäben, in welchen ein lebhaftes Coaksfeuer 
unterhalten wird. Auch andere Materialien zur Feuerung, sowie andere Vor¬ 
richtungen als Feuerstelle können benutzt werden. Diese auch sonst in Ge¬ 
brauch befindlichen Feuerungen sind von Herrn von Kosinski kombinirt worden. 

1) Mit besonderen eisernen Röhren, welche von Aussen her trockene Luft 
dem auszutrocknenden Raum zuführen und in welchem bei ihrem Durch¬ 
gang durch den brennenden Coaks diese Luft auf einen hohen Wärme¬ 
grad gebracht wird. 

2) Mit besonderen Abzugsröhren, welche sowohl die Verbrennungsgase wie 
die mit Wasserdämpfen aus dem zu trocknenden Raum beladene Luft 
in die Schornsteine abführen. Diese Abzugsröhren nehmen ihren Ur¬ 
sprung von einem weiten, eisernen Trichter, der unmittelbar über der 
Feuerstelle (dem Coakskorb) angebracht ist, und in welchen von allen 
Seiten her die Luft des auszutrocknenden Raumes* zugleich mit den Ver¬ 
brennungsgasen hineingerissen wird. 

Durch diese Einrichtung wird eine sehr hohe Temperatur und ein äusserst 
energischer Luftwechsel erzeugt. Beide Faktoren bringen in kurzer Zeit die Ab¬ 
führung beträchtlicher Wassermengen auf dem Wege der Verdampfung zu stände. 

Sechs derartige Apparate wurden in Funktion beobachtet in den Par¬ 
terre-Räumen des Neubaues verlängerte Metzstrasse No. 5 dahier, während der 
Zeit vom 16. bis zum 24. April. Vom 16. April Abends 6 Uhr bis zum 20. 
früh 6 Uhr waren die sechs Apparate in drei zusammenhängenden Räumen 
von zusammen 186,1 Kubikmeter Rauminhalt aufgestellt. Vom 20. bi9 zum 
24. brannten 4 Apparate in einem 74,3 Kubikmeter grossen Raum, 2 in einem 
solchen von 118,3 Kubikmeter Inhalt. In jeder dieser beiden je 84 Stunden 
währenden Feuerungsschicht wurden von den 6 Apparaten ungefähr 45 Hecto- 
liter Coaks verbrannt. Die dadurch erzielte Austrocknung war aber, wie die 
gleich zu erwähnenden Zahlen beweisen, eine so hochgradige, dass sie weit 
über das nöthige Hass hinausging. Für gewöhnlich wird man sich mit einer 
kürzeren und weniger energischen Heizung durchaus begnügen können. 

Im Keller des erwähnten Neubaues steht das Grundwasser seit mehreren 
Wochen über V* Meter hoch, so dass die Mauern des seit Februar eingedeck¬ 
ten Neubaues aussergewöhnlich feucht waren und für den Versuch sich be¬ 
sonders eigneten. 

Beim Versuch glaubte ich mich auf die Feststellung folgender Daten be¬ 
schränken zu können: 

1) Temperaturmessungen an geeigneten Stellen der Räume, des 
Mauerwerkes und der abziehenden Luft. 

2) Anemometrische Messungen, mm die Grösse des stattfindenden Luft¬ 
wechsels zu studiren. 

3) Bestimmung des Wassergehaltes im Mauerwerk vor und nach 
dem Austrocknen. 

Diese Messungen wurden in umfassendem Masse angestellt. Hier be¬ 
schränke ich mich auf Angabe des Wichtigsten. 

Die Luft in der Mitte der zu trocknenden Räume erreicht eine Temperatur 
von 113°, 122®, 114®, 159® Cels. 

Die Oberfläche der Wände wurde erhitzt auf: unter der Decke 109®, 
141®, in mittlerer Höhe 108®, 154®, über dem Fussboden 108®, 115®. In die 
Wand eingemauerte Thermometer zeigten einen Ziegelstein tief oben 82°, in 
der Mitte 79®, unten 67®. Eine 0,5 Meter dicke Wand wurde auf der 
anderen äusseren Seite 50® warm. Die aus den Räumen abziehende Luft hatte 
vor dem Mischen mit den Verbrennungsgasen eine Temperatur von 50—100®. 

Der Luftwechsel wurde durch anemometrische Messungen in den Luftzu- 
führungsrohren und den abziehenden Schornsteinen gemessen. Erstere Mes¬ 
sungen ergaben, dass ein beträchtlicher Theil der zum Trocknen verwendeten 
Aussenluft durch die Undichtigkeiten der schlecht provisorisch zugestellten 
Thüren und Fenster einströmte. Ein nicht unerheblicher Theil wurde aber 
thatsächlich durch die in den Coaksöfen zur Weissgluth gebrachten Zuleitungs- 



Personalien 


1Ö1 


röhren angesaugt. Die Messungen in den Schornsteinen ergaben, dass in der 
Stunde die Luft in den Räumen 6 bis 10 Mal erneuert wurde, ein Luftwechsel, 
der in Verbindung mit den hohen Temperaturen zur Erzielung der ausser¬ 
ordentlichen Austrocknung führte. 

Die Wasserbestimmungen ergaben: 

Wassergehalt vordem Austrocknen: Wassergehalt nach dem Austrocknen: 
Mörtel 6,8$ Mörtel 0,4J 

Stein 11,1$. Stein 0,1$. 

Das Resultat dieser Beobachtungen kann daher in Kürze dahin zusammen¬ 
gefasst werden: 

Durch das Verfahren des Herrn von Kosinski, ausgeführt auf einem Neu¬ 
bau dahier, ist der Wassergehalt der Mauern auf ein Minimum herabgedrückt 
worden, welches in alten, seit Jahren lufttrocknen Mauern kaum angetroifen 
werden dürfte. 

Ueber den Kostenaufwand geben nachstehende Angaben Anhaltspunkte: 

Sechs Apparate waren 84 Stunden in Thätigkeit um einen Raum von 
186,1 bez. 192,6 Kubikmeter auf diesen mehr als genügenden Grad der 
Trockenheit zu bringen. Dabei wurden verbraucht jedesmal für alle 6 Appa¬ 
rate 45 also im Ganzen 90 Hektoliter Coaks. Den Preis für Herleihung der 
Apparate berechnet sich Herr von Kosinski nach Uebereinkunft. Im vor¬ 
liegenden Falle betrug er für 6 Apparate pro Woche 200 Mark. Dazu wür¬ 
den noch die Arbeitslöhne für 2 Heizer kommen. 

Exakte Versuche, ob etwa durch Anwendung der einfachen, üblichen 
Coakskörbe ohne die von Kosinki'sche Verbesserung ein ähnliches Aus¬ 
trocknungsresultat zu erzielen ist, liegen meines Wissens nicht vor. Die all¬ 
gemeine Annahme verneint dies. Die Idee des Herrn von Kosinski durch hohe 
Temperatur und energische Ventilation die Austrocknung nasser Wände zu 
beschleunigen muss nach dem Ergebniss meiner Untersuchungen als eine 
gelungene bezeichnet werden. 

Berlin, den 2. Mai 1888. Dr. Petri. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Erhoben in den erblichen Adelstand: Der Wirkliche Geheime Rath 
und Unterstaatssecretär im Ministerium der geistlichen etc. Angelegenheiten 
Dr. Lucanus in Berlin, sowie der Generalarzt I. CI. und Corpsarzt des Garde- 
Corps Dr. Wegner in Berlin. 

Verliehen: Der Charakter als Geheimer Oberregierungsrath: 
dem Verwaltungsdirector der Charitö, Geh. Regierungsrath Spinola in Berlin; 
als Geheimer Regierungsrath: dem Mitglied des Kaiserlichen Gesundheits¬ 
amtes, Regierungsrath und Professor Dr. Seil in Berlin; als Geheimer Ober- 
medicinalrath mit dem Range der Räthe 2. Classe: dem Vortragenden 
Rath im Ministerium der geistlichen etc. Angelegenheiten, Geh. Medicinal- 
rath und Prof. Dr. Skrzeczka in Berlin; als Geheimer Medicinalrath: 
den ordentlichen Professoren Medicinalrath Dr. Hasse in Breslau und Dr. Hen- 
sen in Kiel, sowie dem Regierungs- und Medicinalrath Dr. Weiss in Düsseldorf; 
als Geheimer Sanitätsrath: dem Sanitätsrath Dr. Dettweiler, Dirigenten 
der Heilanstalt Falkenstein im Taunus; dem Sanitätsrath Dr. Graf, pract. Arzt 
in Elberfeld und dem Sanitätsrath Dr. Tietze, Kreisphysikus in Frankfurt a./O.; 
als Sanitätsrath: dem Bezirksphysikus und Privatdocenten Dr. Jacobi in 
Breslau, sowie den practischen Aerzten: Dr. Holzapfel in Oldendorf (Hessen- 
Nassau), Dr. Lax in Hildesheim, Dr. Ruegner in Breslau, Dr. Samelson in 
Köln, Dr. Schlichthorst in Lüchow, Dr. Ziegner in Neuteich (Kreis Marien¬ 
burg) und Dr. Zimmler in Sarstedt. — Der rothe Adlerorden IL CI. 
mit dem Stern und Eichenlaub: dem ordentlichen Professor Geh. 
Medicinalrath Dr. Virchow in Berlin. — Der rothe Adlerorden IL CI. 
mit Eichenlaub: dem Generalarzt I. CI. und Corpsarzt des UL Armeecorps 
Dr. von Stuckrad in Berlin und dem Generalarzt II. CI. und Regimentsarzt 
des Regiments der Gardes du Corps Dr. Kuhn in Potsdam. — Der rothe 
Adlerorden III. CL mit der Schleife: dem Oberstabsarzt I. CI. und 
Regimentsarzt des Thür. Feld-Artill.-Reg. No. 19 Dr. Becker in Erfurt; dem 



192 


Personalien. 


Geh. Sanitätsrath Dr. Friedberg in Berlin, dem Regierungs- und Geh. 
Medicinalrath Dr. Kanzow in Potsdam, dem Geh. Sanitätsrath und Kreis¬ 
physikus Dr. Leuschner in Kottbus, dem ordentlichen Professor Geh. Medi¬ 
cinalrath Dr. Mannkopf in Marburg und dem Oberstabsarzt I. CI. und Regi¬ 
mentsarzt dos 2. Brandenb. Drag.-Reg. No. 12 Dr. Neubaur in Frankfurt an 
der Oder. — Der rothe Adlerorden IV. CI.: den ordentlichen Professoren 
Geh. Medicinalrath Dr. Fritsch in Breslau und Geh. Medicinalrath Dr. Her¬ 
mann in Königsberg i./Pr.; dem Regierungs- und Medicinalrath Dr. Nath in 
Königsberg i./Pr., den Kreisphysikern und Sanitätsräthen Dr. Als eher in 
Leobschütz, Dr. Ritter in Kaukehmon und Dr. Wiehen in Hildesheim; den 
Oberstabsärzten I. CI. Dr. Groos, Regimentsarzt des Niederrh. Füs.-Reg. 
No. 39 in Düsseldorf, Dr. Jahn, Regimentsarzt des 2. Pomm. Feldartill.-Reg. 
No. 17 in Bromberg, Dr. Varenhorst, Regimentsarzt des 2. Hann. Inf.-Reg. 
No. 77 in Celle, Dr. Vater, Garnisonarzt in Spandau und Dr. Wilkens, 
Regimentsarzt des 1. Pomm. Ulan.-Reg. No. 4 in Thorn; den Oberstabsärzten 

II. CI.: Dr. Kley, Regimentsarzt des 2. Hannov. Drag.-Reg. No. 16 in Lüne¬ 
burg, Dr. Köhler, Regimentsarzt des 2. Garde-Reg. z. F. in Berlin und 
Dr. von Meyeren, Regimentsarzt des Thür. Ulan.-Reg. No. 6 in Mühlhausen 
in Thür., den Marineoberstabsärzten II. CI. Dr. Die hl und Dr. Globig in 
Kiel, sowie Dr. Kuntzen in Wilhelmshaven, den praktischen Aerzten: Sani¬ 
tätsrath Dr. Beuster, Sanitätsrath Dr. Jul. Blumenthal, Geh. Sanitätsrath 
Dr r Gumbimmer, Sanitätsrath und Hofarzt Dr. Nolte in Berlin sowie Sanitäts¬ 
rath Dr. Risch in Bromberg. — Der Kronenorden II. Classe: dem 
Direktor des Kaiserlichen Gesundheitsamtes Koehler in Berlin und dem 
Generalarzt II. Classe und Corpsarzt des XI. Armeecorps Dr. Loewer in 

„Kassel. — Der Kronenorden in. Classe: den Oberstabsärzten I. Classe 
Dr. Becker, Regimentsarzt des Thür. Inf.-Reg. No. 31 in Altona, Dr. Becker, 
Regimentsarzt des 5. Rhein. Inf.-Reg. No. 65 in Köln, Dr. Müller, Chefarzt 
des Garnisonlazareths I in Berlin, Dr. Steinhausen, Regimentsarzt des 
1. Hess. Husar.-Reg. No. 13 in Frankfurt a./M., Dr. Viedebandt, Regiments- 
arzt des 7. Pomm. Inf.-Reg. No. 54 in Kolberg und dem Marineoberstabsarzt 
I. CI. Dr. Gutschow in Kiel. — Die Genehmigung ertheilt zur An¬ 
legung: des Fürstlich Waldeckischen Militär-Verdienst kr euzes 

III. Classe: dem Stabs- und Bataillonsarzt im 7. Thür. InL-Reg. No. 96. 
Dr. Brodführer in Rudolstadt. 

Ernennungen: 

Der bisherige Kreis Wundarzt Dr. Herrmann zu Mehlauken zum Kreis¬ 
physikus des Kreises Neidenburg; der bisherige Kreiswundarzt Dr. Meyer in 
Hoyerswerda zum Kreisphysikus des Kreises Liebenwerda; der bisherige Kreis¬ 
wundarzt Dr. Meyhoefer in Görlitz zum Kreisphysikus des Kreises Görlitz; 
der bisherige Kreiswundarzt Dr. Roth er zu Falkenberg Ob./Schl, zum Kreis¬ 
physikus des Kreises Falkenberg und der bisherige commissarische Verwalter 
der Kreis wundarztstelle des Kreises Lauenburg in Pommern Dr. Seligmann 
in Leba definitiv zum Kreiswundarzt dieses Kreises. 

Verstorben sind: 

Dr. Goeden, Geh. Medicinalrath und Kreisphysikus a. D. zu Stettin; 
Dr. Rudolphi, Kreiswundarzt a. D. in Sprottau, sowie die praktischen Aerzte 
Dr. Trull in Arendsee, Dr. Rabitz in Stettin und Dr. Nebel in Gehrde. 

Vakante Stellen: 

Kreisphysikate: Darkohmen, Johannisburg, Putzig, Briesen, Znin, 
Filehne, Witkowo, Jarotschin, Koschmin, Neutomischel, Schildberg, Schmiegel, 
Ohlau, Mansfeldt (Gebirgskreis), Gramm, Neustadt a. R., Adenau, Daun und 
Oberamt Gammertingen. 

Kr eis wundarztstellen: Fischhausen, Labiau, Mohrungen, Darkehmen, 
Heydekrug, Oletzko, Ragnit, Tilsit, Karthaus, Loebau, Stuhm, Marienburg, 
Angermünde, Templin, Friedeberg, Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West- 
Sternberg, Regenwalde, Bütow, Dramburg, Schievelbein, Bomst, Schroda, 
Wreschen, Strehlen, Görlitz, Hoyerswerda, Reichenbach, Wanzleben, Saalkreis, 
Merseburg, Naumburg a. S., Koesfeldt, Borken, Recklinghausen, Steinfurt, Waren¬ 
dorf, Höxter, Warburg, Lippstadt, Meschede, Untertaunus, Kempe, Zell, Kleve, 
Bergheim, Lennep, Rheinbach, Wipperfürth, St. Wendel und Haigerloch. 


Fürstl. prlv. Hof buchdruckerei (F. Mltzlaff), Rudolstadt. 



Jahrg. 1. 


Zeitschrift 


1888. 


für 


MEDICINALBEAMTE 


Herausgegeben von 


Dr. H. MITTENZWEIG 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. 


Dr. OTTO RAPMÜND 

Reg.- und Medicinalrath in Aurich. 


und 


Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag yon Fischer 1 ? roedic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 


No. 7. 


Erscheint «um 1. Jedes Monat*. 

Preis jährlich 6 Mark. 


1. Juli. 


Kaiser Friedrich der Dritte 

i.st seinem grossen unsterblichen Vater gefolgt zu den lichten 
Höhen, in welche kein Leid und kein Schmerz zu dringen vermag. 
Ein weiser Held im blutigen Ringen des Krieges, 

Ein unermüdlicher Fürst auf dem Felde friedlicher Arbeit, 
Ein starker Dulder im schmerzlichen Kampfe gegen tückische 

Krankheit, 

ist Kaiser Friedrich jedem Einzelnen seiner Unterthanen ein leuch¬ 
tendes Vorbild edler Manneskraft, rastloser Arbeit und unbeug¬ 
samer Standhaftigkeit gewesen. 

Wie hat alle Welt auf die Früchte seiner Weisheit, Er¬ 
fahrung und Herzensgüte gehofft! 

In welch’ strahlendem Lichte sind diese seine Herrschertugenden 
in den kurzen Monden Seiner Erlauchten Regierung erglänzt! 
Wie bald sollten sie erbleichen! 

Unsere Herzen trauern. 

Nur ein freundlicher Sonnenblick erhellt das düstere Bild 
des Jahres 1888. 

Die Zuversicht, dass das geliebte Herrscherhaus auf starken, 
jugendfrischen, durch herbe Erfahrung frühzeitig gereiften 
Schultern ruht, und die Gewissheit, dass der Hohenzollern-Stamm 
dem Deutschen Vaterlande eine neue, kräftige, mächtig grünende 
Krone getrieben hat. 

Möge der Stern Wilhelms des Zweiten weit hinein in das 
20. Jahrhundert in Glück und Kraft leuchten zum Heile deB 
Kaiserlichen Hauses und zum Segen des Deutschen Vaterlandes. 

Das walte Gott! 





194 


Dr. Tacke 


Oriffin&l-Mittheilun? © A: 

Ueber die von der K. & T.’schen Fabrik 
ausgehenden Erschütterungen, Ge¬ 
räusche und den Hauch bezw. Kuss 

Von Dr. Taeke.194 

Die Hauptversammlung des preuss. 

Medioinalbeamtenvereins .... 306 
Kleinere Mittheilungen.206 


Seite 

Referate: 

Ortloff, Dr. Hermann, gerlohtllch-medl- 
ein Ische Fälle und Abhandlungen . . 212 

Dr. 4. Soyka. Der Boden ..... 216 
Verordnungen und Verfügungen . 217 

Literatur.. 223 

Personalien.224 


INHALT 

Seite , 


Ueber die von der K. & T.’schen Fabrik 
ausgehenden Erschütterungen, Geräusche und den Rauch 

bezw. Russ. 

Von Dr. Tacke, Königl. Kroisphysikus und Sanitätsrath. 

I. 

Hinsichtlich der Erschütterungen und Geräusche, welche in 
und an dem Hause des Maurermeisters B., sobald die Maschinen in 
der Fabrik des Herrn K. & T. in Thätigkeit gesetzt werden und 
die verschiedenen Arbeiten daselbst ihren Anfang nehmen, wahrge¬ 
nommen werden, hin ich nächst den Bewohnern des klägeri sehen 
Hauses selbst am meisten in den Stand gesetzt, wirkliche und 
Wahrheitsgemässe Angaben zu machen, indem ich seit Beginn des 
vorigen Jahres Arzt in der Familie des Maurermeisters B. bin, 
und dieselbe häufig von Krankheiten heimgesucht wird. 

Es ist hierbei ganz besonders hervorzuheben, dass ich bei 
meinen Wahrnehmungen wohl darauf Bedacht genommen habe, 
alle anders woher, als aus der K. & T.’schen Fabrik stammenden Ge- 
' räusche und Erschütterungen auszuschliessen, ferner auch darauf, 
dass ich meine Besuche zu jeder Tageszeit, innerhalb welcher 
gearbeitet wurde, machte, und auch endlich darauf, dass ich mich 
der in und an dem Hause des p. B. gemachten Wahrnehmungen 
bestimmt und deutlich erinnerte und zwar aus dem Grunde, weil 
dieselben wegen ihrer Stärke und Mannichfaltigkeit geradezu die 
Aufmerksamkeit herausfordern und wohl nur selten ähnliche Stö¬ 
rungen inmitten von dicht behauten Stadttheilen gefunden wer¬ 
den, welche so lange, wie hier, die Geduld der Nachbaren auf 
die Probe zu stellen verstanden haben. In der Fabrik selbst 
bin ich nicht gewesen und ich habe das auch nicht für nöthig ge¬ 
halten, um die in und an dem B.’sclien Hause wahrgenommenen 
Erscheinungen verstehen, beurtheilen und auf ihre Entstehungs¬ 
ursachen zurück führen zu können, zumal ich in einer Fabrik¬ 
stadt geboren und erzogen bin, wo ich täglich derartige zahl¬ 
reiche Beobachtungen zu machen Gelegenheit hatte; auch ist in 
No. 4 des Beweisbeschlusses vom 3. December 1887, Folio 249 
der Acten dieser Besuch von mir nicht gefordert worden. 

Das Haus des p. B. ist nicht unterkellert. Das Fundament 
ist vom Erdboden an 2,50 Meter tief, die Umfassungsmauern haben 







Ueber die v. d. K. & T.’schen Fabrik ausgehenden Erschütterungen etc. 195 


an der Stelle, wo sich das Fundament über den Erdboden erhebt, 
eine Dicke von l‘/a Steinlänge. Die Häuser der ganzen Nieder¬ 
strasse sollen dem Herrn Baurath B. zufolge über Fenn stehen 
und darum leichter Erschütterungen ausgesetzt sein, als Häuser 
auf Lehm-, Thon- oder Sandboden. W.’s Maurermeister behaupten 
aber, dass das nicht der Fall sei. Auch müssten dann die Er¬ 
schütterungen mehr in auf- und absteigender Richtung erfolgen, 
was nicht der Fall ist. Auf der Hohenstrasse dahier stehen die 
Häuser, z. B. auch mein eigenes Haus, über Fenn. Hier erfolgen 
stärkere Erschütterungen, wie man sie sich an einem langen 
dünnen mit dem einen Ende befestigten und mit dem übrigen 
längsten Theile frei und horizontal in der Luft schwebenden 
Rohrstock sichtbar machen kann, in auf- und abwärtssteigender 
Richtung, während sie in dem B.’schen Hause mehr in horizon¬ 
taler Richtung sich bemerkbar machen, meines Erachtens ein 
schlagender Beweis, dass eine Fennschicht in der Tiefe nicht 
vorhanden ist. Die Erschütterungen des B.’schen Hauses werden 
durch den Mangel eines Keller’s vermindert, indem die von innen 
drückende Erdscliicht sich den Erschütterungen widersetzt. 

Nach den Akten giebt es in der Fabrik zwei grosse Dampf¬ 
maschinen, zwei Dampfkessel, sechs Glühöfen und eine grosse 
Verzinkerei. Von diesen verschiedenen Gebrauchsgegenständen 
sind es wohl nur die beiden grossen Dampfmaschinen, welche die 
angeklagten Erschütterungen und Geräusche erzeugen. Wenn 
diese beiden Maschinen oder vielleicht nur eine in voller Thätig- 
keit begriffen sind und mit Aufwand der möglich stärksten Dampf¬ 
kraft arbeiten, dann erbebt und erzittert das ganze B.’sche Haus. 
Die Wände, die Fenster und deren Scheiben, wenn sie nicht mehr 
ganz fest im Kitte sitzen, Fussböden, Tliüren, Tische, Oefen, die 
metallenen Deckel auf den Töpfen erzittern und erklirren. Stellt 
man mit Wasser gefüllte flache Teller auf die Tische oder anders 
wohin, so bilden sich, während die Fabrik im Betriebe ist, auf 
dem Wasser Wellen und Kreise. 

Einige Male habe ich auch eine (wahrscheinlich gleichge¬ 
stimmte) Scheibe in dem nach der Strasse zu gelegenen einzigen 
Fenster der B.’schen Wohnstube des ersten Obergeschosses mit 
einem gewissen aus der Fabrik herüberkommenden scharfen Ge¬ 
räusch mittönen hören, eine ähnliche Erscheinung, wie man sie 
zuweilen in Häusern antrifft, wo viel musicirt wird. 

Um mir die Erschütterungen an den Tischen, Schränken, 
Betten, Fussböden, Stühlen, Fenstern deutlich und handgreiflich 
vor Augen zu führen, habe ich 40 bis 50 cm lange, 2 cm breite 
und 2 mm dicke und an ihrem einen Ende hakenförmig umge¬ 
bogene, ferner ebenso geformte, aber dünnere, an dem einen Ende 
spiralig aufgewundene und am anderen Ende mit einer kleinen 
Klingel versehene und endlich dicke runde 53 cm lange an einem 
Ende mit einer Oese versehene Stäbchen an die hölzernen Fenster¬ 
scheibeneinfassungen (Fensterkreuze), an Schränken, Betten, 
Mauern etc. aufhängen lassen. Das gab dann ein Getöse, An¬ 
schlägen an die Scheiben, Klirren, Klopfen, Klingeln und da- 



196 


Dr. Tacke. 


zwischen mischte sich zuweilen, wenn auch nicht oft — in den 
letzten 4 bis 5 Wochen habe ich es z. B. nur ausnahmsweise 
zu Gehör bekommen — ein pfeifender schrillernder und durch¬ 
dringender Ton von Seiten einer ähnlich gestimmten Fenster¬ 
scheibe, dass man meinen sollte, man befände sich an einem Jahr¬ 
markttage inmitten einer Menge von mit Trömmelchen, Pfeifchen 
und anderem spectaculösem Spielzeug beschenkter Kinder. Die 
Geräusche waren freilich. nur selten von ähnlicher Kraft und 
Stärke; aber die Menge und Mannichfaltigkeit der durch genannte 
Vorrichtung erzeugten Geräusche drängte mir unwillkürlich die¬ 
sen Vergleich auf. 

Obgleich es nun in einem von einer hohen Behörde gefor¬ 
derten Gutachten unpassend ist, auch subjective Gefühle mitreden 
zu lassen, so wird man es mir doch wohl erlauben, sie kurz und 
gut mit einigen Worten anzuführen. Ich besitze ein Haus auf 
der Hohenstrasse dahier, das auch nicht ohne Belästigungen von 
nicht ganz seltenen und auch nicht unbedeutenden Geräuschen 
und Erschütterungen ist. In der besseren Jahreszeit zieht näm¬ 
lich mehrere Monate lang fast täglich einige Male die Artillerie 
mit einem Dutzend und mehr schwerwiegender Kanonen an meiner 
Wohnung vorbei. Auch schwere Lastwagen passiren nicht selten 
die Hohestrasse W.’s, die ja auch überhaupt die frequenteste (und 
darum auch Staatsstrasse in W.) ist; neben und hinter meinem 
Hause arbeiten eine Dampfmaschine und ein Gasmotor von ganz 
bescheidener Kraft. Auch das giebt eine Belästigung, und meine 
aus Kalkmörtel gefertigten Zimmerdecken wissen darüber zu be¬ 
richten, sie reissen und spleissen, und nicht selten ist auch schon 
ein ganzer Quadratfuss bis Quadratmeter Mörtel auf den Fuss- 
boden gefallen, und man freut sich schon, wenn nur die Hausbe¬ 
wohner ohne Schaden durch Schreck und Kopfverletzung davon¬ 
gekommen sind. Diese Erschütterungen und Geräusche sind indess 
vorübergehend, sie dauern von Seiten der über die Strasse fah¬ 
renden schweren Geschütze und Lastw r agen kaum minutenlang, 
von Seiten der genannten Maschinen freilich länger, halten aber 
mit den oben beschriebenen Erschütterungen und Geräuschen, so¬ 
wohl "was Stärke als Mannichfaltigkeit anbetrifft, keinen Vergleich 
aus. Derartige häusliche Störungen können allerdings niemals 
ganz vermieden werden, man muss sie eben ertragen und kann 
sich einfach damit trösten, dass man dafür als Aequivalent die 
Vortheile und Bequemlichkeiten einer grösseren Stadt geniesst. 
Sollte mir aber das Unglück widerfahren, dass neben meinem 
Hause eine Fabrik ä la K. & T. entstände, dann würde ich mich, 
wie man zu sagen pflegt, mit Hals und Kragen zur Wehr setzen 
und keine Mühe und Kosten scheuen, um ein derartiges Uebel 
fern zu halten. 

II. 

W. ist keine Industriestadt 

In Folgendem werde ich diese Behauptung aus dem Grunde 
beweisen, weil der Wegebau-Inspector, Herr B., aus seinem ent- 



Ucber die v. d. K. & T.’schen Fabrik ausgehenden Erschütterungen etc. 197 

gegengesetzten Nachweise, dass nämlich W. eine Industriestadt 
sei, welchen Nachweis er mit völlig beweisender Kraft erbracht 
zu haben glaubt, die Verpflichtung der Einwohnerschaft W.’s 
herleitet, dass sie sich nun auch stärkere nachbarliche Störungen, 
wenn sie durch industrielle Betriebe veranlasst werden, gefallen 
lassen müsse, als wenn W. keine Industriestadt sei. Herr B. hat 
sich diesen Nachweis sehr leicht gemacht, indem er die Volks¬ 
zählung vom 1. Dec. 1885 zu Grunde legt, als wenn man durch ein¬ 
faches Zählen eine Industriestadt schaffe, als wenn der Name von 
Fabriken, Fabrikanten und Fabrikarbeitern hinreiche, um eine 
Stadt zu einer Industriestadt zu machen. Um diesen Irrthum 
durchzufühlen, braucht man von hier aus keine weite Reise zu 
machen. Man braucht nicht nach E., nicht nach D., die echte 
grossartige Industriestädte sind, zu reisen, man reise nur nach B. 
Hier wächst ein Schornstein nach dem andern aus dem Boden, 
hierher wandern Arbeiter aus Nah und Fern, hierher wandern 
Kapitalisten, um ihre Kapitalien nützlich anzulegen, sie zu ver¬ 
doppeln, zu verdreifachen, zu vervielfachen, hier sucht man nicht 
bloss neue gute und tüchtige Arbeiter heranzuziehen, sondern die 
Ansässigen auch zu fesseln, indem man ihnen gute billige Woh¬ 
nungen, etwas Ackerland und Garten zu billigem Miethzins für 
den eigenen Bedarf überlässt; es werden Massenwohnungen ge¬ 
baut, es werden neben den nur für die Nothdurft geschaffenen 
Staatskassen noch andere Lebens-, Krankheits- und Unfall-Ver¬ 
sicherungen ins Leben gerufen — und was sieht man dagegen 
hier in W? W. wächst nicht, nein es wird kleiner; es hat keinen 
Zuzug, nein es hat Abzug; 22 pro mille sterben hier und 36 pro 
mille werden geboren und doch geht W. an Einwohnerzahl nicht 
vor-, sondern rückwärts; industrielle Betriebe ziehen von hier 
weg, weil sich W., wie die Eigenthümer mir selbst sagten, zur 
Industrie nicht eignete; abgebrannte Fabriken werden aus dem¬ 
selben Grunde nicht wieder aufgebaut, hier ziehen keine Kapi¬ 
talisten her. und hier wird Niemand in kurzer Zeit zum Kapita¬ 
listen. Was berechtigt W. denn nun zur Industriestadt, und wie 
hat der Wegebau-Inspector Herr B. die Industriestadt herausge¬ 
rechnet? Ich habe das eben oben im Anfänge dieses zweiten Ab¬ 
schnittes meines Gutachtens angedeutet. Dem Wegebau-Inspector 
Herr B. kommt es nicht darauf an, ob eine Stadt einen schwung¬ 
haften Handel, eine massenhafte Production, ein weitverbreitetes 
Absatzgebiet etc. hat und wie nahe und fern und auf welchen 
Verkehrswegen sie die Rohstoffe bezieht; Concurrenzfähigkeit und 
Productionswerth sind ihm unbekannte Dinge. 

Da verkauft Jemand Cigarren, er hat einen Arbeiter, der 
ihm Cigarren dreht; das ist ein Industrieller; ein anderer treibt 
Ackerbau und fertigt Rübenkraut an, das ist ein Industrieller; 
der Senffabrikant, der mit einem Gasmotor arbeitet und einen 
Knecht hält, die Handelsreisenden, die Kaufmannsgehülfen und 
Lehrlinge sind Industrielle. Kann es da wunder nehmen, wenn 
die Industrie in W. blüht und mehr Personal hat, mehr Menschen 
ernährt, als das Handwerk, der Ackerbau oder irgend ein anderer 



198 


Dr. Tack«. 


Erwerbszweig? Das ist der Beweis, durch welchen W. zum 
Bange einer Industriestadt erhoben werden soll. 

in. 

Welche störende und nachtheilige Wirkungen übt die K. & T.’sche 
Fabrik auf die Nachbarschaft aus? 

Wie rücksichtslos und unempfindlich Gewerbetreibende und 
Fabrik-Besitzer sich oft und, ich möchte sagen, gewöhnlich den 
von ihren Anlagen und Gewerbe-Betrieben ausgehenden Störungen 
und Schädigungen der Nachbarschaft gegenüber zu verhalten 
pflegen, darüber könnte ich zahlreiche Beispiele anführen; hin¬ 
wiederum macht man auch nicht selten die Erfahrung, dass um¬ 
gekehrt viele Nachbaren nur darauf ausgehen, die Gewerbe¬ 
treibenden zu scliikaniren, zu prellen und Vortheil von ihnen zu 
erzielen, indem sie die Störungen und Schädigungen übertreiben, 
um eine eventuell zugesprochene Entschädigung in die Höhe zu 
schrauben. Darum werde ich in Nachfolgendem sorgfältig, ge¬ 
wissenhaft und sine ira et studio dieselben aufzählen und den 
Grad des Erträglichen auf Grund der in den beiliegenden Akten 
protokollirten Zeugen-Aussagen und meiner eigenen in dem ersten 
Theil dieses Gutachtens angeführten Wahrnehmungen und Be¬ 
obachtungen genau abzuwägen mir Mühe geben. Gewisse von der 
K. & T.’schen Fabrik ausgehende Störungen, Belästigungen und 
Schädigungen der Nachbarschaft sind von mir selbst nicht mehr 
in so hohem Grade beobachtet worden und sie beruhen darum 
nur auf den in den Akten protokollirten Zeugen-Aussagen. So 
ein von der Fabrik zeitweise ausgehender auf das B.’sche Haus 
gerichteter Spritzregen, so dass man selbst bei trockenem Wetter 
ohne einen Regenschirm nicht undurchnässt durch den Gang zum 
B.’schen Haus gelangen konnte, so der dichte schwarze (auf 
Schwefel- und Säure-Gehalt untersuchte?) Rauch-, Kohlenstaub 
und Salmiakdunst, so ferner auch die den am Hause des p. B. 
beobachteten ähnlichen Störungen und Schädigungen des S.’schen 
Hauses, die ich bei meinen eigenen Besuchen desselben nicht 
mehr wahrnehmen konnte, so endlich das Geräusch und Erzittern 
des L.’schen Hauses, eines Gasthofs, worüber sich die übernach¬ 
tenden Gäste beklagt haben sollen. Von allem diesem will ich 
absehen, weil es von anderen und nicht von mir selbst beobachtet 
worden ist und weil es zum Theil vielleicht nur noch in einem 
ganz erträglichen Masse existirt, ich will in diesem dritten Ab¬ 
schnitte meines Gutachtens nur die nachtheiligen Folgen, welche 
die im ersten Abschnitt aufgeführten und beschriebenen, von der 
K. & T.’schen Fabrik ausgehenden und am B.’schen Hause zur 
Erscheinung kommenden Wirkungen haben, bezw. haben können, 
in Nachfolgendem schildern: 

Diese Folgen sind vielfacher Art. 

1. Die geschilderten Erschütterungen und Geräusche, sowie auch 
der Rauch und der mit dem Rauch zuweilen verbundene Russ 
rufen direkt gewisse Gesundheitsstörungen imd sachliche 
Beschädigungen hervor; 



Ueber die v. d. K. & T.’sclien Falnik angehenden Erschütterungen etc. 199 

2. die beiden ersteren üben auf gewisse Krankheiten einen nach¬ 
theiligen und verschlimmernden Einfluss aus. 

3. Das Haus wird für gewisse Gewerbe und Beschäftigungen 
mehr oder weniger ungeeignet. 

4. Das Haus selbst wird durch die drei vorgenannten Folgen 
entwerthet. 

ad. 1. Die von mir im ersten Abschnitt geschilderten Ge¬ 
räusche, Erschütterungen und der von der Heizung mit Stein¬ 
kohlen herrührende Rauch bezw. Russ sind geeignet, der öffent¬ 
lichen Gesundheit in der nächsten Umgebung der beklagten 
Fabrik Schaden zuzufügen. 

Man kann im Allgemeinen die Beeinträchtigung, welche die 
Umgebung von Fabriken durch Rauch erfahrt, auf die Verun¬ 
reinigung der Luft, des Bodens und des Wassers zurückführen. 
Hier haben wir es nur mit der Verunreinigung der Luft zu thun. 

Bekanntlich besteht der Rauch aus Luft und den Produkten 
einer unvollkommenen Verbrennung, unter welchen namentlich 
Kohlenoxyd, Kohlenwasserstoff und Kohlensäure, dann sehr fein 
vertheilter Kohlenstaub und Russ hervorzuheben sind. 

Nach den Zeugen-Aussagen war das Brennmaterial zuweilen 
ammoniakhaltig, welcher Bestandteil sich wohl nicht aus der 
Steinkohle entwickelt hat, sondern sich wohl in fertigem Zustand, 
in welchem er in der Fabrik zu Reinigungszwecken häufig ge¬ 
braucht wird, mit dem Rauch vermischt hat. 

Wenn das Brennmaterial bisweilen schwefelhaltig ist, so 
enthält der Rauch dann auch schwefel ige Säure und wirkt nach 
Art dieser Säure zerstörend, fressend. 

Vom 4. auf den 5. März er. hatte es geschneit, und der 
Schnee hatte eine reine Decke über den früher gefallenen Russ 
gebreitet. Als ich Nachmittags um 5 Uhr zu B. ins Haus kam, 
fand ich bereits wieder eine so reichliche Menge Russ (die 
einzelnen Flocken waren vielfach von der Grösse eines 2 Groschen- 
Stücks) auf der Schneedecke des Hofplatzes und der dort be¬ 
findlichen niederen Dächer, dass der Schnee wie von einem 
schwarzen Schleier bedeckt schien. Die nächst gelegenen Schorn¬ 
steine des B.’schen und Pfarrer H.’schen Hauses waren mittler¬ 
weile und fast den ganzen Winter hindurch nicht gebraucht 
worden, soweit meine Beobachtungen und die Angaben des z. B. 
darüber massgebend sein können. Schon allein ein solcher Russ- 
niederfall muss Einem die Nachbarschaft ganz und gar uner¬ 
träglich machen. 

Um eine ähnliche resp. gleiche Beobachtung zu machen, 
hätte ich auch die Erd- oder Dachfläche rein fegen oder ab¬ 
kratzen, oder auch ein weisses Lein- resp. Bett-Tuch ausspannen 
lassen können, um darauf die Menge von Russ und anderen dem 
Schornstein der K. & T.’schen Fabrik in einer bestimmten Zeit 
entsteigenden Schmutztheilen abschätzen zu können. 

Was nun den Nachtheil anbetrifft, den eine permanente 
Rauchatmosphäre der Umgebung zufügt, so wird zwar Niemand 
leugnen, dass manche Geschäfte, sowie die Vegetation unter dem 



200 


Dr. Tacke. 


Rauche leiden, dass z. B. photographische Papiere darin weniger 
empfindlich sind, die Wäsche nicht weiss bleibt, das Getreide ein 
Mehl von geringer Weisse liefert u. s. w. aber schwierig ist es, 
einen direkten Schaden für die menschliche Gesundheit nachzu¬ 
weisen. 

Es ist wahr, dass der Rauch zum Husten reizt, aber ausser 
einem gewissen Dr. Farr hat noch Niemand davon die Tuberkulose 
abgeleitet; es ist auch wahr, dass er ein brennendes Gefühl in 
den Augen hervorruft, aber es ist nicht bekannt, dass deshalb 
Augenkrankheiten in Fabrikstädten häufiger beobachtet werden 
als an anderen Orten. 

Die gerade jetzt überall in den Schulen herrschenden folli¬ 
kulären Augenlid-Bindehaut-Catarrhe kommen auch in den 
Fabriken vor, und diese hängen meiner Beobachtung zufolge von 
dem Eindringen von Staub und namentlich von Rauch d. i. Russ 
und anderen unverbrannten Bestandtheilen der Steinkohlen her, 
wozu als besonders schädlicher Antheil bisweilen noch die 
schweflige Säure, wie oben bemerkt ist, gehört. Auch wirkt der 
Rauch noch dadurch schädlich auf die Gesundheit, dass er überall 
in die menschlichen Wohnungen eindringt und um dies in etwa 
zu verhindern, die Menschen zwingt, die Fenster verschlossen zu 
halten, was doch auch der menschlichen Gesundheit nicht förder¬ 
lich sein kann. 

Wollte man gegen diese Rauchbelästigung ins Feld führen, 
dass man diesen Uebelstand nicht hoch anschlagen könne, da man 
ja Mittel besitzt den Rauch zu verbrennen und so schadlos zu 
machen, so zeigt schon die ausserordentlich grosse Menge von 
Apparaten und Vorkehrungen, die zu diesem Zweck angegeben 
worden sind, wie schwer es ist, die gestellte Aufgabe zu lösen. 
Sind doch in England allein bereits vor einen Dezennium über 
300 Patente für Rauchverzehrung gezählt worden. 

ad. 1 und 2. Welchen direkten Schaden an der menschlichen 
Gesundheit rufen stärkere Geräusche und Erschütterungen hervor 
und auf welche Krankheiten und Schwächeznstände wirken die¬ 
selben nachtheilig und verschlimmernd? 

Um die Beantwortung dieser Fragen habe ich mir viele 
Mühe gegeben, Zeit und Geld habe ich es mich kosten lassen, in 
der Literatur habe ich nachgeforscht, Sachverständige habe ich 
brieflich befragt, Reisen deshalb in Industrie-Gegenden gemacht. 
Meine gesammte Ausbeute ist nur eine dürftige und ärmliche 
gewesen, und so bin ich denn auf meine eigenen vieljährigen Er¬ 
fahrungen und Beobachtungen angewiesen. Unter letzteren werde 
ich eine gewissenhafte Umschau halten und meine Ansichten be¬ 
gründen und unumwunden keinem zu Liebe und keinem zu Leide 
aussprechen. Wenn sich der Medicinal- Beamte dieser Aufgabe 
entziehen wollte, wer wollte, sollte und könnte sie denn anders 
lösen. Nichtbeamtete Privatärzte thun es nicht, sie fürchten die 
daraus entstehenden Gehässigkeiten und die Feindschaft der 
Fabrikanten, wohlhabender und einflussreicher Männer, die man 
ungestraft nicht angreifen darf. Der Staat hat deshalb in seinem 



lieber die y. d. K. & T.'sehen Fabrik ausgehenden Erschütterungen etc. 201 


technischen Vertreter, dem Medicinalbeamten, um so mehr die 
Pflicht, für die Nachbaren industrieller Anlagen aus eigenem An¬ 
triebe gegen Schädigung einzutreten, als die Anwohner, vielfach 
Arbeiter der betreffenden Fabrik und dann so abhängig von dem 
Besitzer sind, dass sie selbst ohne Schaden gegen denselben nicht 
Vorgehen dürfen und können. Auch die übrigen Anwohner sind 
vielfach arme Menschen, welche dem begüterten Fabrikanten 
gegenüber des staatlichen Schutzes bedürfen. 

Uebrigens steht der Medicinal-Beamte durch seinen Gehalt 
allein, wenn er nicht sonst Vermögen hat, auch nicht so unab¬ 
hängig da, dass ihm die Gunst und das Wohlwollen seiner Mit¬ 
menschen so ganz gleichgültig sein kann und darf, aber und 
nochmals aber er ist es sich doch auch schon selbst schuldig, 
hier nach Kräften mit seinem Können und Wissen einzugreifen. 
Denn angenommen: er selbst hätte heute ein wohnliches, trautes, 
lieb gewonnenes Heim; morgen pflanzt sich eine Fabrik in seiner 
unmittelbaren Nähe auf, und das Uebrige zu schildern, darf ich 
mir billiger Weise wohl ersparen. Ist es deshalb für mich und 
jeden anderen Menschen nicht auch geradezu als eine Selbsthttlfe 
zu betrachten, wenn man hier seine Kenntnisse, seinen Einfluss 
und seine Stellung als Hebel einsetzt, um seinem Mitmenschen 
eine derartige Störung, Beunruhigung, Belästigung, die den Ge¬ 
sunden das Leben nicht froh und den Kranken nicht 
gesund werden lässt, aus dem Wege zu räumen? Man sollte 
es überhaupt nicht oder nur unter ganz besonderen Umständen 
und Bedingungen erlauben, dass innerhalb dicht bebauter Städte 
oder gar in einer von Mauern umgebenen, abgeschlossenen Stadt, 
einer Festung, Fabriken, Geschäfts- oder Lagerhäuser erbaut und 
Gewerbe betrieben werden, welche derartig auf uns wirken. Hier 
in W. zähle ich zu dieser Klasse von Betrieben, die in einer 
Stadt nicht geduldet werden soUten: Schlächtereien, Gerbereien 
und aUe mit Geräusch, Erschütterung und schwarzem Bauch 
(Buss enthaltend) verbundenen Fabriken. Wie durch derartige 
Betriebe selbst der Prellerei Vorschub geleistet werden kann, 
darüber kann ich ein eklatentes Beispiel anführen. Ein Schlächter, 
der den grossen Abscheu einer reichen Dame vor einem Schlächter¬ 
gewerbe kannte, kaufte gerade deren Wohnung gegenüber einen 
Garten, um dort das Schlächtergewerbe zu betreiben. Als die 
Dame das hörte, übte schon die blosse Vorstellung einen derartig 
krank machenden Einfluss auf sie ans, dass ihr Gemahl sich ge- 
nöthigt sah, dem Schlächter so schnell wie möglich zur Beruhigung 
seiner krankhaft aufgeregten Frau mit einem Nutzen von 3000 
Thalem den Garten abzukaufen. 

Ein Schwager von mir in B., der selbst abgelegen von 
seinem Wohnhaus eine Spinnerei-Fabrik besitzt, hörte eines Tages, 
dass Jemand sich neben seiner Wohnung, die er mit allem Com¬ 
fort eingerichtet hat, einen Platz zur Errichtung einer Fabrik 
angekauft habe. Der Mann geriet darüber in eine solche Auf¬ 
regung, dass ich befürchtete, er würde gemüthskrank werden. 
Seine Angst war indess unbegründet. 



202 


Dr. Tacke. 


Die deutsche Reichs-Gewerbe-Ordnung giebt in den § 16 ff. 
für neue und durch § 120 für bestehende gewerbliche Anlagen 
den Behörden die Macht in die Hand, für das Gemeinwohl gegen¬ 
über der Industrie genügend zu sorgen. 

Von dieser kurzen Abschweifung, wozu mich einige ver¬ 
gebliche Einschüchterungs-Versuche veranlasst haben, kehre ich 
zu meinem eigentlichen Thema zurück. 

A. Krankheiten welche unter dem Einfluss von Ge¬ 
räuschen und Erschütterungen häufig Vorkommen und 
von letzteren direkt abgeleitet werden können, sind 

folgende: 

An erster Stelle sind alle diejenigen zu nennen, welche als 
Nervenschwäche oder als eine Herabsetzung der Erregbarkeit 
des Nervensystems gedeutet werden können. Von den Sinnes- 
nerven sind es am häufigsten die des Gehörs, welche geschwächt 
werden. Dass lange anhaltende Geräusche und Erschütterungen 
Schwerhörigkeit zur Folge haben, ist bekannt. Von den Schaffnern 
an den österreichischen und ungarischen Eisenbahnen wurde zur 
Zeit, als sie noch einen verhältnissmässig langen Tagesdienst 
hatten, berichtet, dass sie häufiger an der Rückenmarksschwind¬ 
sucht litten, als andere Berufsstände. Durch eine Abkürzung des 
Tagesdienstes wurde das Vorkommen der Krankheit seltener. 
Personen, welche unter dem Einfluss von Geräuschen und Er¬ 
schütterungen stehen, zeigen oft in ihrem ganzen äusseren Aus¬ 
sehen das leibhafte Bild der Nervenschwäche; die Stirn ist leicht 
gerunzelt, das Auge gross und feucht, die übrigen Gesichtszüge 
sind schlaff, Hände und Füsse kalt, die Haltung des ganzen 
Körpers ist matt und kraftlos, der Puls weich und klein, häufig 
findet man Migräne, nervöses Ohrensausen, Stuhlverstopfung, 
Neigung zu Nasenbluten, profuse Menses und Wochenbettblutungen. 
Ferner wirken Erschütterungen nachtheilig auf alle diejenigen 
Organe, welche mehr oder weniger, ausserdem dass sie die Be¬ 
wegungen und Erschütterungen des ganzen Körpers mitmachen, 
noch für sich allein beweglich sind und in Erschütterung ver¬ 
setzt werden können. 

Hierzu gehören: 

a) das Herz, 

Dr. Schott (Bad Nauheim) sprach auf dem Congress für 
innere Medicin zu Wiesbaden über Wanderherz. 

b) die Leber, 

c) Magen und Milz, 

d) der Darmkanal, namentlich der Dünndarm, 

e) die Gebärmutter, welche besonders im schwangeren Zustande 
für sich allein in Bewegung und Erschütterung versetzt 
werden kann. 

Dass diese Organe neben einer Erschütterung des ganzen 
Körpers noch gleichzeitig eigene selbstständige Erschütterungen 
und Mitschwingungen erleiden können und wirklich erleiden und 
dass durch derartige Bewegungen und Erscliüttenmgen auch 



lieber die v. d. K. & T.'sehen Fabrik ausgehenden Erschütterungen etc. 203 


eigene selbstständige noch wenig studirte und beschriebene krank¬ 
hafte Zustände entstehen können und wirklich entstehen, ist dem 
denkenden Theil der Aerzte über allen Zweifel erhaben. 

Eine derartige verursachte Erschütterung der Gebärmutter 
veranlasste durch die so entstandenen Stösse gegen die Harnblase 
unfreiwilliges Harnträufeln. Von den durch passive Bewegungen, 
Erschütterungen, Schaukeln, Fahren etc. erzeugten Krankheiten 
sind zu nennen die Seekrankheit, das Ohnmächtigwerden, die 
Uebelkeit und das Erbrechen beim Fahren, selbst Fallsucht (?) 
und Lähmung. Wenn man Meerschweinchen auf den Kopf oder 
auf den 3. Nackenwirbel klopft, treten der Fallsucht ähnliche 
Krämpfe resp. Convulsionen ein. 

Hängebauch. Derselbe erregt seinem Besitzer, wenn er ohne 
Unterstützung herabhängt, in der Gegend, wo sich das Aufhänge¬ 
band der Leber im hinteren oberen Bauchraum anheftet, im 
Stehen oder Gehen gewöhnlich mehr oder weniger grosse Schmer¬ 
zen, die er nnr durch sitzende oder horizontale Lage oder durch 
Unterstützung des Bauches mittels einer Tragbinde lindern kann. 
Ebenso werden diese auch durch Erschütterung des Bodens, wor¬ 
auf derselbe steht, verschlimmert. 

B. Krankheiten, welche durch Erschütterungen und 
Geräusche verschlimmert werden. 

Zu diesen Krankheiten gehören: 

1. Alle schweren mit nervösen Symptomen einhergehenden 
Krankheiten. Hier hilft sich das Publikum bisweilen durch 
Streuen von Sand auf der Strasse vor dem Hause des Kranken. 

2. Rheumatische Erkrankungen sowohl der Gelenke, als der 
Muskeln, der Wirbelsäule mit ihren 25 Gelenkverbindungen; hier 
ist schon die leiseste Bewegung sehr schmerzhaft, so dass der 
Arzt um den Kranken zu schonen, sogar bei seinen Besuchen zur 
Vermeidung jeder Erschütterung Filzschuhe anziehen muss. 

3. Erkrankungen der serösen Häute, als des Brust- und 
Bauchfells und auch noch der Gehirnhäute. 

4. Gehirn- und Rückenmarks-Entzündung. 

5. Chirurgische Krankheiten, bei welchen eine gute Lage¬ 
rung, eine genaue Adaptation und ein fester Verband nöthig ist, 
z. B. Knochenbrüche, entzündliche Anschwellung, Geschwülste etc. 

IV. 

Für welche Beschäftigungen und Arbeiten eignen sich Wohnungen 
von der beschriebenen Art nicht? 

Wohnungen, welche Geräusche und Erschütterungen von der 
beschriebenen Art ausgesetzt sind, eignen sich nicht: 

a) für alle diejenigen Beschäftigungen, welche eine sichere 
Führung der Hand erfordern, wie bei Uhrreparaturen, beim 
Rasiren, Photographiren, Malen, Zeichnen, Lithographiren; 



204 


Dr. Tacke. 


b) für solche Beschäftigungen, welche geistige Spannung und 
Aufmerksamkeit erfordern. In einem derartigen Hause wer¬ 
den zur Zeit, wo die genannten Störungen wirksam sind, 
nicht einmal Schulkinder ihre Schularbeiten machen können, 
geschweige denn dass, wie Vogt in den Acten sagt, ein 
Baumeister Baupläne oder ich z. B. ein etwas schwieriges 
Gutachten würde anfertigen können. 

V. 

Entwerthung der Häuser. 

Gegen die Methode, wie der Wegebau-Inspector Herr B. 
diese behandelt hat, muss ich mich durchaus erklären. Es kommt 
dabei nicht darauf an, ob der einzelne Werth gestiegen oder ge¬ 
fallen ist, sondern ob dieser Werth sich entsprechend dem Werth 
der übrigen Häuser in derselben Stadt verhalten hat. Wenn 
z. B. die Häuser in einem bestimmten Stadttheil um 15 % ge¬ 
stiegen sind und ein bestimmtes Haus wäre nur 5% im Wert he 
gestiegen, so wäre eben dieses im absoluten Werthe gestiegene 
Haus im relativen Werthe, der hier allein massgebend, gesunken. 

Mein Endgutachten geht also dahin, dass die von der 
K. & T.’schen Fabrik ausgehenden Geräusche, Erschütterungen 
und der Rauch und Niederfall von Russ das Mass des Erträg¬ 
lichen übersteigen. 


Nachtrag. 

Um mein Gutachten genau zu präcisiren, erlaube ich mir 
gehorsamst noch folgenden Nachtrag resp. Vervollständigung des¬ 
selben und zwar in folgenden Sätzen: 

1. Andauernde Geräusche und Erschütterungen sind eine 
grosse Belästigung und Störung; 

2. sie können Gesundheitsstörungen, die eine nervöse und auf 
Schwächezustände hinweisende Beimischung haben — ähnlich der 
Seekrankheit und dem Unwohlsein beim Fahren, ähnlich dem 
Auslösen einer Rindenepilepsie beim Klopfen < auf den Kopf der 
Meerschweinchen — entweder 

a) direct hervorrufen oder 

b) wirklich schon bestehende derartige Krankheiten verschlim¬ 
mern. 

Diejenigen Organe, auf welche Erschütterungen besonders 
nachtheilig ein wirken, sind solche, welche nicht allein in ihrer 
Verbindung mit dem Körper, sondern auch für sich allein, ohne 
dass gleichzeitig der Körper selbst daran theilnimmt, in Erschüt¬ 
terung versetzt werden können. Zu diesen Organen zählen die 
Wanderorgane, z. B. die nicht selten bei Frauen vorkommenden 
Wandernieren. So ist erst in diesem Jahre eine Dame gestorben, 
bei der ich vor 30 Jahren linksseitig eine solche Niere diagno- 
sicirte und deren Nierenbecken Bich in Folge einer unvorsichtigen 
mit einer Erschütterung verbundenen Bewegung (die wahrschein- 



Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 205 

lieh eine Unwegsamkeit des Harnleiters zur Folge hatte) der¬ 
artig mit Urin anfüllte und ausdehnte, dass es sich prall und 
fest anfühlte und die Grösse eines Manneskopfes erreichte. Ebenso 
beobachtete ich eine gesenkte und krankhaft bewegliche Gebär¬ 
mutter, die schon in Folge von leichten, gegen die Harnblase 
gerichteten Erschütterungen bei jedem Anstosse gegen letztere 
Harnträufeln bewirkte, ferner eine in Folge eines Sturzes vom 
Heuboden bis in’s grosse Becken herabgesunkene Leber bei einer 
Dienstmagd aus Ruhrort, welche deshalb die grössten Beschwer¬ 
den hatte und vollständig arbeitsunfähig war, und so viele andere 
ähnliche von Erschütterungen herrührende Körperbeschwerden, 
besonders des Darmkanals. 

In ähnlicher Weise müssen wir uns die schädigenden Ein¬ 
wirkungen auf alle übrigen Organe vorstellen, wenn sie leicht 
beweglich, dislocirt, vergrössert (hypertrophirt), nervös (neural¬ 
gisch), acut oder chronisch, entzündet, oder auf irgend eine 
andere Art und Weise krank und verändert sind und wie un¬ 
zählige Male kommt so etwas vor. Ich weise nur auf den Rheu¬ 
matismus, besonders auf den Gelenkrheumatismus hin, wie uner¬ 
träglich ist dabei jede leiseste Erschütterung. 

Ich schliesse diesen Nachtrag mit der Bemerkung, dass eine 
Erschütterung sehr oft das schädliche Agens in Krankheiten sein 
kann, ohne dass es bemerkt wird und letzteres ist der Fall, 
wenn nämlich die Aufmerksamkeit nicht darauf gerichtet ist. 


Die Hauptversammlungen des preussischen Medicinal¬ 
beamtenvereins. 

Von einem Vereinsmitglied ist der Redaction nachfolgendes 
Schreiben zur Veröffentlichung eingesandt: 

„Die 6. Hauptversammlung des Vereins der preussischen 
Medicinalbeamten ist laut Bekanntmachung des Vorstandes in 
No. 5 der Zeitschrift auf den 26. und 27. September in Berlin 
angesetzt worden. Für diejenigen Vereinsmitglieder, welche an 
den vorangehenden Congressen im Westen des Reichs (derjenige 
fnr öffentliche Gesundheitspflege ist am 13—16 September in 
Frankfurt a./M., der Aerztetag am 17. September in Bonn und 
die Naturforscherversammlung vom 18.—23. September in Köln) 
bezw. an einem derselben theilnehmen wollen, wird die Theil- 
nahme an der gedachten Hauptversammlung jedenfalls sehr er¬ 
schwert, wenn sie nicht etwa im Osten zu Hause sind. Auch 
hat das Zusammenhäufen dieser Vereinigungen noch andere 
Schattenseiten und möge daher hier die Frage aufgeworfen sein, 
ob es nicht zweckmässiger sei, die Jahresversammlung des Medi¬ 
cinalbeamtenvereins ein anderes Mal im Frühjahr statt im Herbst 
abzuhalten. Da Berlin einmal als Ort der Versammlung feststeht, 
so mag darauf hingewiesen sein, dass Ende April oder Anfang 
Mai eine günstige Jahreszeit für dieselbe sein würde. Auch 



206 


Kleinere Mittheil ungen. 


könnte der Anschluss an den um diese Zeit regelmässig dort 
tagenden Chirurgen-Congress erwogen werden.“ 

Der vorstehende Vorschlag verdient der ernsten Erwägung; 
er ist bekanntlich schon in der ersten Hauptversammlung des 
Vereins gemacht, damals jedoch abgelehnt worden. Vielleicht 
ist jetzt aber die Mehrzahl der Vereinsmitglieder anderer Ansicht 
geworden. Sollten daher noch mehr Stimmen dafür laut werden, 
so wird der Vorstand sicherlich bereit sein, diese Frage bei Ge¬ 
legenheit der diesjährigen Versammlung zur Verhandlung zu 
bringen. 


Kleinere Mittheilungen. 

In das Berliner Leichenschanhans eingelieferte Leiehen 

pro 

I. Quartal 1888 . 


Monat 

— 

1 Zur Morgue 

l-i 

e 

fl 

3 

Frauen 

Kinder 

Neugeborene 

CO 

fl 

■*-> 

iO 

pH 

Beerdigt 

bc 

c 

sfl 

-fl 

1h 

W 

Ertrunken 

Erschossen | 

H-» 

•r 

V 

> 

durch Kohlen¬ 
dunst gestorb. 

Erfroren 

Verletzt ohne 
Erschlossen 

Unbekannte 

Todesart 

0 

2 

2 « 

S3 
0 0 
M r* 

M 

Ö 

tß 

E 

W 

H- 

fl 

fl 

5* 

•O 

Ih 

<L 

> 

Summa 

Januar . 

63 

31 

21 

6 

5 

4 

20 

16 

6 

4 

7 

— 

— 

2 

8 

17 

1 

2 

63 

Februar . 

47 

31 

10 

4 

2 

3 

17 

8 

5 

5 

3 

1 

— 

7 

6 

11 

1 

— 

47 

März . . 

51 

25 

5 

15 

6 

1 

25 

7, 

2 

1 

1 

1 

— 

7 

8 

17 

« 

1 

51 

Summa . 

161 

|B7 

36|25 

13 

8| 

_ 

62 

3!j 

13 


2 

— 

16 

22 

45 

8 

3 

161 

Summa . 









161 







Ueber die ärztliche Beaufsichtigung der Schulen wurden in der zweiten 

Hauptversammlung des am 23. und 24. Mai d. J. zu Frankfurt a. M. tagenden 

Deutschen Lehrertages nachfolgende, von dem Lehrer Siegert-Berlin 

aufgestellten und durch einen längeren Vortrag begründeten Thesen unver¬ 
ändert angenommen: 

1. „Zur Schonung und Förderung der Gesundheit unserer Schuljugend ist die 
hygienische Ueberwachung der Schulen nothwendig. 

2. Eine vom Staate aus Aerzten, Architekten, Ingenieuren und Schulmännern 
gebildete Commission leitet Untersuchungen über den Gesundheitszustand 
der Schuljugend ein, giobt Anweisungen für die praktische Durchführung 
der Schulhygiene und stellt die Grundzüge für die Thätigkeit besonderer 
„Schulärzte“ fest, welche die Durchführung dieser Anweisungen zu über¬ 
wachen haben. 

3. Schularzt kann nur derjenige praktische Arzt werden, welcher die Schul¬ 
hygiene zum Gegenstände seines besonderen Studiums gemacht hat. 

4. Der Schularzt ist in der Regel vom Staate anzustellen. 

5. Dem Schulärzte ist ein grösserer Bezirk (otwa Regierungsbezirk) zuzuwei¬ 
sen. Schulärzte für kleinere Bezirke sind überflüssig und aus pädagogischen 
Gründen nicht wünschenswertlx. 

6. In gewissen Zeiträumen treten die Schulärzte eines Landes mit der unter 
2 geforderten Commission zu gemeinsamen Berathungen zusammen. 

7. Die Schulärzte werden nur dann eine gedeihliche Wirksamkeit zu entfalten 
vermögen, wenn die Schulhygiene bei den Prüfungen für Lehrer und Schul¬ 
leiter rrüfungsgegenstand wird und die Gesundheitslehre den ihr gebüh¬ 
renden Platz im Schulunterrichte findet.“ 







Kleinero Mittheilungon. 


207 


Eine wesentliche Gehaltsverbesserung der Medfoinal-Beamten im Gross- 

herxogthnm Baden ist durch das am 9. April d. J. den Kammern vorge¬ 
legte neue Beamtengesetz in Aussicht genommen. Darnach soll jeder etats- 
mässige Beamte bei befriedigender Dienstleistung und tadelfreiem Verhalten 
Aussicht auf regelmässiges VoiTücken bis zum Höchstbetrage soines Gehaltes 
erhalten und sind in der Gehaltsordnung (III. Abschnitt der Vorlage) besondere 
Fristen fiir die Erlangung der etatsmässigen Zulagen bis zum Höchßtbetrage 
festgesetzt, wobei wieder zwischen Anfangszulagen und ordentlicher Zulage 
unterschieden wird. Die Höhe der Gehälter und der Zulagen bestimmt 
ein besonderer Tarif. Demnach erhalten: 

1. Die technischen Referenten bei den Ministerien, die nicht voll beschäf¬ 
tigt sind, 2000 Mk. Anfangs- bis 3500 Mk. Höchstgehalt, 200 Mk. Anfangs¬ 
zulage nach 2 Jahren und 200 Mk. ordentliche Zulage alle 3 Jahre. 

2. Die Bezirksärzte I. Klasse 1200 Mk. Anfangs- bis 3500 Mk. Höchstgehalt, 
300 Mk. Anfangszulage nach 3 Jahren und 250 Mk. ordentliche Zulage 
gleichfalls in dreijährigen Fristen. 

3. Die Bozirksärzte 11. Klasse denselben Gehalt, jedoch 300 Mk. Anfangs¬ 
und 250 Mk. ordentliche Zulage erst in vierjährigen Fristen. 

4. Die Bezirksassistenzärzte 500 Mk. Anfangs- bis 1200 Mk. Höchstgehalt; 
nach 3 Jahren die erste Zulage von 150 Mk., nach je 5 Jahren 125 Mk. 

Ausser diesem Gehalte wird ein Wohnungsgeld gewährt, jedoch haben 
diejenigen Beamten, deren Amtsstellon nicht ihre ganze Zeit und Kraft erfor¬ 
dern (unter welche Kategorie die Medicinalboamten fallen) nur auf die Hälfte 
des tarifmässigen Wohnungsgeldes Anspruch. Die Höhe des letzteren richtet 
sich nach der Dienstklasse, welcher die Amtsstelle des Beamten angehört, so¬ 
wie nach der Ortsklasse, welcher die Gemeinde des dienstlichen Wohnsitzes 
zugewiesen ist und beträgt für die Bezirksärzte 140, bezw. 205 und 310 Mk.; 
für die Bezirksassistenzärzte 85, bezw. 125 und 210 Mk. 

Das Ruhegehalt, sowie die Hinterbliebenenversorgung richtet 
sich nach der Höhe des Einkommenanschlagos, der sich aus Gehalt, Wohnungs¬ 
geld und Werthanschlag der wandelbaren Dienstbezüge (bei den Bezirksärzten 
sind für die letzteren 500 Mk. angenommen) zusammensetzt. Das erstere be¬ 
trägt, wenn die Zuruhesetzung nach vollendetem zehnten, jedoch vor vollen¬ 
detem elften Dienstjahre eintritt, 30o/ 0 derjenigen Summe, welche unmittelbar 
vor der Zuruhesotzung den Einkommensanschlag des Beamten darstellte und 
steigt von da mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahro um l 1 /* 0 /# jener 
Summe bis zum Höchstbetrage von 75°/#. Das Wittwengeld beträgt 30 # /# des 
massgebenden Einkommenanschlages; das Waisengeld */it des Wittwengeides 
für jedes Kind, deren Mutter noch lebt und, wenn letztere nicht mehr lebt 
oder nicht zum Bezug des Wittwengeides berechtigt ist, */»• des Witwengel¬ 
des, falls nur ein Kind vorhanden ist, und je 8 /io mehr für jedes weitere Kind. 

Für den Fall, dass der Entwurf Gesetz wird, werden die badischen Medi- 
cinalbeamten hinsichtlich ihrer Gehaltsbezüge erheblich besser, hinsichtlich 
ihrer Pension allerdings etwas schlechter als bisher gestellt sein. 

(Aerztliche Mitteilungen aus Baden, No. 9 vom 15. Mai 1888.) 


Das Allpreisen von Hell- und Gehelmmitteln ist jetzt auch in der Provinz 
Hannover durch die Polizeiverordnung des Königl. Oberpräsidenten vom 
11. Mai d. J. sowie im Regierungsbezirk Düsseldorf durch die Polizeiverordnung 
der dortigen Regierung vom 9. Mai d. J. verboten worden. Die erstgenannte 
Polizeiverordnung stimmt fast wörtlich mit derjenigen des Königl. Polizei¬ 
präsidenten in Berlin vom 30. Juni 1887 überein; .während die Düsseldorfer 
in der Fassung erheblich abweicht und insonderheit eine Definition des Wortes 
„Geheimmittel* giebt. Dieselbe bestimmt: 

„das Stoffe und Zubereitungen jeder Art, gleichviel ob arzneilich wirk¬ 
sam oder nicht, a) deren Feilhalten und Verkauf nicht Jedermann frei¬ 
gegeben ist, b) deren Bestandteile durch ihre Benennung oder 
Ankündigung nicht für Jedermann deutlich und zweifellos erkennbar 
gemacht sind, (Geheimmittel) als Heilmittel gegen Krankheiten und 
Körperschäden von Menschen und Thieren weder öffentlich angekündigt 
noch angepriesen werden dürfen.“ 




208 


Kleinere Mittheilungen. 


Das öffentliche Anpreisen der Brandtsehen Schwellerpillen. Das in 

No. 6. der Zeitschrift S. 179 angeführte freisprechende Urtheil der Straf¬ 
kammer Via, des Landgerichtes Berlin I. vom 23. März d. J. wegen öffentlichen 
Anpreisens der Brandtschen Schweizerpillen ist in Folge der von der KönigL 
Ober-Staatsanwaltschaft eingelegten Revision von dem Strafsenat des Kammer¬ 
gerichts in seiner Sitzung am 28. Mai d. J. nach längerer Berathung wieder 
aufgehoben und der Angeklagte auf der Grundlage der Feststellung des Vorder¬ 
richters zu 1 Mark Strafe bezw. 1 Tag Haft verurtheilt. In der betreffenden 
Entscheidung wird ausgeführt, dass die fragliche Polizeiverordnung offenbar 
im sanitären Interesse erlassen sei und keineswegs die Grenzen des Polizei¬ 
verordnungsrechtes überschreite. Die Frage der Zweckmässigkeit derselben 
unterliege aber nicht der richterlichen Prüfung. 


Nahrnngsmittel-Yerfälschung. 

1. Butter, bei deren Herstellung eine das normale Mass übersteigende Masse 
Wasser in der Butter belassen oder derselben zugesetzt wurde, ist als ver¬ 
fälscht zu betrachten. Erkenntniss des Reichsgerichts, IV. Strafsenat vom 
24./31. Januar 1888. 

2. Als Vollendung des Feilhaltens oder Inverkehrbringens kann es zwar an¬ 
gesehen werden, wenn verdorbenes Fleisch oder Fische zubereitet auf Speise¬ 
karten gesetzt oder zum Genüsse vorgesetzt wurden; jedoch ist die Frage 
der Vollendung in jedem einzelnen Falle thatsächlich zu prüfen. Das Hin¬ 
schaffen solcher Waaren an die Verbrauchsstätte und die Aufbewahrung, 
um sie zuzubereiten und für Gäste zu verwenden, ist Anfang der Aus¬ 
führung. Erkenntniss des Reichsgerichtes II. Strafsenat vom 17. Februar 
1888. 


Fahrlässige Körperverletzung durch Kurpfuscher kann angenommen 

werden, wenn ein Kurpfuscher durch verkehrte Behandlung den Eintritt eines 
schädlichen Erfolges (so Erblinden auf einem Auge) befördert oder beschleunigt¬ 
hat, auch wenn der Erfolg durch die ärztliche Kunst nicht abzuwenden war. 
Entscheidung des Reichsgerichts 1. Strafsenats vom 26. März 1888. 


Abgabe von Morphium ohne ärztliche Anordnung. 

1. Ein Droguist, welcher einem Käufer ohne ärztliche Anordnung Morphium 
in grosser gesundheitsgefährdender Menge abgiebt mit dem Bewusstsein, 
dass der Käufer es zu Injektionen ohne ärztliche Kontrole benutzen will, 
macht sich dadurch einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig, falls 
der Käufer durch den übermässigen Gebrauch des Morphiums krank 
geworden ist. Entscheidung des Reichsgerichts, 3. Strafsenats vom 
23. Februar 1888. 

2. Durch amtsrichterlichen Strafbefehl war gegen den Besitzer der in Berlin 
Unter den Linden befindlichen Lucae-Apotheke Herrn Grieben wegen 
Ueberlassung grosser Mengen starker Gifte an eine Privatperson 
ohne ärztliche Verordnung eine Haftstrafe von sechs Wochen festgesetzt 
worden, gegen welche er Einspruch erhoben hatte. Die am 5. Juni d. J. 
vor der 94. Abtheilung des Berliner Schöffengerichts stattgehabte Ver¬ 
handlung ergab den nachfolgenden Thatbestand: In der Anstalt des Dr. 
Ebel in Charlottenburg hatte der frühere Journalist W. infolge von 
Morphium- und Cocainsucht Aufnahme gefunden. Am 27. Februar d. J. 
war derselbe zu einer Familienfestlichkeit eingeladen. Als er spät Abends 
zurückkehrte, nahm der ihn behandelnde Arzt Dr. Bauer sofort wahr, dass 
der ihm anvertraute Pflegebefohlene Cocain in grosser Menge genossen 
haben müsse, und es gelang ihm, den Kranken nicht nur zu einem Ge¬ 
ständnis, sondern auch zu der Angabe zu bewegen, dass er 4 gr. Cocain, 
sowie 20 7 /io gr. Morphium aus der Apotheke des Angeklagten ent¬ 
nommen habe. Der Wärter, welcher Herrn W. znr Beaufsichtigung 
mitgegeben war, theilte mit, dass sie nach dem Familienfest ins Cafe 
Bauer gegangen waren, von wo es Herrn W. unter einem Vorwände 



Kleinere Mitteilungen. 


209 


gelungen war, sich auf einige Zeit zu entfernen. Eine gleiche Ent- 
ziehung der Beaufsichtigung war einen Monat vorher einem anderen 
Wörter gegenüber erfolgt, was aber erst bei Aufdeckung des gegenwärtigen 
Falles zur Sprache kam. In der Apotheke des Angeklagten wurde nun 
ermittelt, dass am 27. Januar d. J. em fein gebildeter Herr, der sich für 
den praktischen Arzt Dr. v. Meyer, in der Alexanderstrasse wohnhaft, aus¬ 
gab, erschienen war und dort ein Recept angefertigt hatte, laut welchem 
ihm zum eigenen Gebrauche, nach seiner Angabe zu Thierzwecken, 10 gr. 
Morphium ausgehändigt werden sollten. Wegen Festsetzung des Preises 
war der Angeklagte selbst herbeigeholt worden, der aus der Unterhaltung 
mit dem betreffenden Herrn die Ueberzeugung gewann, es mit einem prak¬ 
tischen Arzte zu thun zu haben, und deshalb keinen Anstand nahm, ihm 
das Morphium trotz der grossen Dosis aushändigen zu lassen Am 
27. Februar d. J sandte der Pseudo-Doctor v. M. durch einen Dienstmann 
ein Recept in dieselbe Apotheke und erhielt darauf ohne jede Schwierigkeit 
4 gr. Cocain und 20 T /io gr. Morphium. Nach Aussage der Sachverständigen 
ist das Auftreten des Herrn W. derartig, dass er einen Niehtarzt wohl in 
den Glauben versetzen könne, Arzt zu sein Die Recepte seien auch offen¬ 
bar von dessen Hand geschrieben und durchaus ordnungsmäßig. Sie 
sprachen aber die Ansicht aus, dass nichtsdestoweniger dem Angeklagten 
die verlangten grossen Dosen hätten autfallen müssen, um so mehr, als 
bekannt sei, dass Morphiumsüchtigen jeder Weg recht, zu dem für sie so 
gefährlichen Genüsse zu gelangen. Mit den verabreichten Dosen hätten 
viele Menschen vergiftet werden können. — Der Amtsanwalt erachtete die 
Handlungsweise für grob fahrlässig, da ein Blick in den Medicinalkalender 
dem Angeklagten gezeigt hätte, dass es einen Dr. v. Meyer in der Alexander¬ 
strasse gar nicht giebt. Bei der Gemeingefahrlichkoit der Verabreichung 
dieser Gifte erachte er das höchste Strafmass von 6 Wochen Haft für 
durchaus geboten. Der Gerichtshof verurtheilte den Angeklagten zur zu¬ 
lässig höchsten Geldstrafe von 150 Mk. oder 80 Tagen Haft. 


Die amtliche Beglaubigung privatäntlicher Atteste (Eingesandt). 

Der nachstehende Fall dürfte wohl geeignet sein, das allgemeine Interesse 
der Amtekollegen zu erregen. 

Am 14. April c. sandte mir der praktische Arzt Dr. H. in J. mit Begleit¬ 
schreiben, worin er über die Erkrankung eines seinen Sohn vom Militär recla- 
mirenden Vaters noch nähere Aufschlüsse giebt, nachstehendes Attest zur 
Beglaubigung zu: 

„Hiermit bescheinige ich, dass der Besitzer . . . seit dem Anfang des 
Monats Januar 1888 bettlägerig krank und seit eben dieser Zeit arbeitsunfähig 
ist. Sein Leiden besteht in einer chronisch-entzündlichen Loberanschwellung. 
Dies Attest stelle ich auf Erfordern des pp. aus zum Zwecke der Unterstützung 
seines Gesuchs, betr. Reclamirung seines Sohnes vom Militärdienst. J. . . den 
14. April 1888, gez. Dr. H., praktischer Arzt.“ 

Ich habe das Attest wie folgt beglaubigt: „Gegen die Gewissenhaftigkeit 
des Arztes liegen Bedenken nicht vor und wird deshalb das vorstehende Attest 
beglaubigt.“ G. den 15. April 1888, gez. der Kreisphysikus. Weil der für die 
Beglaubigung geforderte Betrag dem Herrn Amtsvorsteher zu hoch erschien, 
wandte er sich unterm 18. April mit folgendem Schreiben an den Regierungs¬ 
präsidenten : 

„Behufs Reclamation vom Militär des pp. wegen Krankheit seiner Eltern 
war mir aufgegeben worden, die Krankheitsatteste derselben vom Kreisphysikus 
zu G. bescheinigt dem Landrathamte einzureichen. Nach beiliegendem Brief¬ 
umschlag und dem darin liegenden Atteste des den Besitzer . . . behandelnden 
Arztes Dr. H. in J. und der darunter stehenden Bescheinigung des Kreis- 
physikus Dr. W. ist das Attest von letzterem an den Besitzer . . . mit 10 Mk. 
Nachnahme zurückgesandt worden. Ich erlaube mir die Königliche Regierung 
zu . . ., als erste Vorgesetzte Behörde des Herrn Kreisphysikus anzufragen, ob 
diese Forderung berechtigt ist, widrigenfalls den Herrn Kreisphysikus zur 
Zurückerstattung des überhobenen Betrages zu veranlassen.“ 

Darauf ging mir d. d. 30. Aprü mittelst Einschreibebrief die nachstehende 
br. m. Verfügung des Regiemngs-Präsidenten zu: 



210 


Kleinere Mittheilungen. 


„Zur verantwortlichen Aeusserung darüber, wie Sie dazu kommen, ein 
Zeugnis» zu beglaubigen, ohne die Person, um welche es sich handelt, selbst 
gesehen zu haben. Es konnte hier doch höchstens die Unterschrift des be¬ 
treffenden Arztes beglaubigt werden, der überdies nicht einmal in Ihrem Amts¬ 
wohnsitz seinen Sitz hat. 

Auch darüber wollen Sie Ihre Aeusserung erstrecken, auf Grund welcher 
Bestimmung Sie geglaubt haben, für eine so unbedeutende Handlung, wie 
diese Beglaubigung, 10 Mk. liquidiren und diese mit Nachnahme erheben zu 
dürfen.“ Der Regierungs-Präsident .... 

Ich gab die geforderte Erklärung wie folgt ab: 

„Ich habe das Attest des Dr. H. beglaubigt, weil ich von der Richtigkeit 
des Gutachtens über die Arbeitsfähigkeit des Besitzers . . . vollständig über¬ 
zeugt war. Wenn ein mir als gewissenhaft und zuverlässig seit Jahren be¬ 
kannter Arzt, wie Dr. H. es ist, bescheinigt, dass pp. seit Anfang Januar bis 
Mitte April, also 8 1 /* Monat, an chronisch-entzündlicher Leberanschwellung 
andauernd zu Bett liegt, so ist wohl kein Zweifel, dass ein solcher Mann 
arbeitsunfähig ist, und für den Medicinalbeamten kein Bedenken, diesem ärzt¬ 
lichen Ausspruche beizutreten, um so mehr wenn, wie im speciellen Falle, der 
behandelnde Arzt in dem Begleitschreiben zu dem ein gesandten Atteste sich 
noch des Näheren über die Krankheit des Patienten ausgelassen hat. 

Eine Bestimmung, die den Medizinalbeamten verpflichtet, ärztliche Attest¬ 
beglaubigungen einzig und allein nur auf Grund vorgängiger persönlicher 
Untersuchung einer Person oder Sache zu vollziehen, kenne ich nicht, ln 
irgendwie zweifelhaft liegenden Fällen ergiebt sich solche Verpflichtung von 
selbst. Die blosse Bestätigung der Echtheit der Namensunterschrift, welcher 
in der Präsidialverfügung Erwähnung geschieht, genügt wohl zur etwa erforder¬ 
lichen Feststellung der Identität einer Person, nicht aber zu Militärreclamations- 
zweckcn. Ein Verbot endlich, Atteste von Aerzten zu beglaubigen, welche 
ausserhalb des Dienstkreisos des Physikus ihren Wohnsitz haben, ist mir nicht 
bekannt 

Bezüglich der liquidirten Gebühr von 10 Mk., erlaube ich mir vorher 
geliorsamst zu bemerken, dass eine Gebührentaxe für amtsärztliche Verrich¬ 
tungen im Privatinteresse — ausgenommen medicinal- und sanitätspolizeiliche 
Verrichtungen (vorgesehen in § 1 Abs. 2 des Ges. vom 9. März 1872) — über¬ 
haupt nicht existirt, und dass darum die Bezahlung, analog der der praktischen 
Aerzte, der Vereinbarung überlassen ist. Ich habe von dem mir als wohl¬ 
habend bezeichnoten Besitzer ... 10 Mk. durch Nachnahme gefordert, nicht 
für die Paar Zeilen, die ich geschrieben, sondern für die vorgängige Prüfung 
und Ueberlegung des Falles. Der Nachnahmebrief wurde eingelöst, und ist 
sonach eine Vereinbarung in Höhe dieses Betrages erfolgt. 

Meine Forderung normirte ich nach Analogie des Abs. 2 im § 1 des 
Ges. vom 9. März 1872, wonach für medizinal- und sanitätspolizeiliche Ver¬ 
richtungen, welche durch ein Privatinterosse veranlasst sind, eine Gebühr bis 
15 Mk. beansprucht werden darf, ohne Rücksicht darauf, welcher Art und von 
welcher Dauer die Verrichtung ist. (Werden ja auch 12 Mk. Tagegelder 
bewilligt, obwohl die Dienstreise oft nur einen ganz kleinen Bruchtheil des 
Tagos in Anspruch nimmt). 

Dass ich mich von Wohlhabenden dem Besitzstände entsprechend 
lionoriren lasse, kann wohl nicht gerügt werden. Dafür bringt */* aller amt¬ 
lichen Atteste, d. i. solcher, die für Zahlungsunfähige ausgestellt werden, 
nicht einen Pfennig ein. Um Erhebung der Gebühr durch Postnachnahme bin 
ich von Dr. H. im Aufträge des Besitzers . . . ausdrücklich ersucht 
worden. Ausserdem bestehen über die Art der Gebühreneinziehung von Privat¬ 
personen keinerlei beschränkende Bestimmungen. 

Schliesslich erlaube ich mir noch die Minister.-Verfügung vom 21. August 
1832 gehors. anzuführen, w r elche lautet: „Die ärztlichen Liquidationen eignen 
sich nur dann zur Revision und Festsetzung durch die Königlichen Regierungen, 
wenn es sich um eine Bezahlung aus Staatsfonds handelt, oder auf erfolgende 
Requisition der Gerichte. Privatpersonen sind zu dergleichen Anträgen nicht 
berechtigt.“ Hiernach steht meines Erachtens dem pp. nur der Wog der ge¬ 
richtlichen Entscheidung wiegen vermeintlicher Gebührenüberhebung offen. 

G. den 4. Mai 1888. Der Kreisphysikus.“ 




Kleinere Mittheilungen. 


211 


Der Fall bedarf bei der vorstehenden vollständigen Wiedergabe des 
Schriftenmaterials wohl keines weiteren Commentars. Da indess die Forderung, 
mich „verantwortlich 41 darüber zu äussem, wie ich dazu komme, ein Attest 
amtlich zu beglaubigen, ohne die Person, um welche es sich handelt, gesehen 
zu haben, die Yermuthung nahe legt, dass der Präsident glaube, ich hätte 
wider besseres Wissen und Gewissen ein Attest legalisirt, so möchte ich noch 
folgende aus der Präsidialauffassung sich konsequentermassen ergebende Fragen 
aufwerfen: 

1. Darf der Kreisphysikus die Servirzeugnisse der Apothekerlehrlinge und 
-Gehilfen, welche sich auch über die Führung auszusprechen haben, be¬ 
glaubigen, ohne sich persönlich von der Führung überzeugt zu haben? 
Wie wird es z. B. der Polizei-Stadtphysikus von Berlin anstellen, um sich 
bei seinen Hunderten von Apothekerlehrlingen und -Gehilfen diese persön¬ 
liche Ueberzeugung zu verschaffen? 

2. Darf der Kreisphysikus zum Gutachten auf Grund der Resultate chemischer, 
pharmakognostischer Analysen, von Nahrungsmitteluntersuchungen etc. 
aufgefordert, ein Gutachten abgeben, wenn er sich nicht persönlich von 
der Richtigkeit der Analysen überzeugt hat? 

3. Wenn die Fragen 1 und 2 verneint werden, wozu werden da, wo die 
Mitwirkung des Kreisphysikus vorgeschrieben und erforderlich ist, über¬ 
haupt noch Atteste von Privatärzten und anderen Experten zugelassen, 
wenn denselben doch kein Glauben beigemessen werden darf? 

4. Wird durch die Verifizirung der blossen Unterschrift zugleich auch der 
Inhalt eines Attesten oder Gutachtens, worauf es doch wonl meistentheils 
ankommt, amtlich beglaubigt? 

Hierauf erlaubt sich der Unterzeichnete zu erwidern: 

Die Ansicht des Königl. Regierungspräsidenten, dass der Physicus im 
vorliegenden Falle nur die Unterschrift des betreffenden Arztes beglaubigen 
durfte, ist durchaus zutreffend und richtig, denn ein „Attest“ selbst und 
damit den „Inhalt* desselben wie hier geschehen, zu bescheinigen ist ein 
beamteter Arzt nur dann berechtigt, wenn er sich zuvor durch eigene Unter¬ 
suchung der bezüglichen Person von der Richtigkeit der seitens des be¬ 
handelnden Arztes gemachten Angaben überzeugt hat. 

Was nun weiter die einzelnen aufgeworfenen Fragen anbetrifft, so wird 
ad. 1. jeder Physikus die Führungszeugnisse der Apothekerlehrlinge 
mit bestem Wissen bescheinigen können, da es zu seinem Amtsobliegenheiten 
gehört, alljährlich einmal die in seinem Bezirke befindlichen Apothekerlehrlinge 
hinsichtlich ihrer Kenntnisse und Fortschritte zu prüfen. Sollte er aber hier¬ 
zu keine Gelegenheit gehabt haben, so genügt auch eine Beglaubigung der 
Lehrzeit am Grund der vorgeschriebenen An- und Abmeldung; für die 
Gehülfenzeugnisse ist überhaupt nur eine Bescheinigung der Ser vir zeit 
erforderlich. In beiden Fällen kann also eine Legalisirung von Attesten wider 
besseres Wissen ebensowenig in Frage kommen, als wenn 

ad. 2. der Physikus auf Grund der Ergebnisse chemischer u. s. w. Unter¬ 
suchungen ein Gutachten abgiebt, ohne sich persönlich von der Richtigkeit 
derselben zu überzeugen, denn dadurch „bestätigt“ er die letztere doch 
keineswegs, sondern „setzt sie nur „voraus“ indem er mit Recht die Ver¬ 
antwortung dafür lediglich dem betreffenden Chemiker überlässt. 

ad. 3. Atteste von Privatärzten können dem Physikus bei Abgabe amt¬ 
licher Zeugnisse nur willkommen sein, besonders wenn er den Gesundheits¬ 
zustand von solchen Personen zu begutachten hat, die ihm vorher gänzlich 
unbekannt gewesen sind und über deren körperlichen Zustand u. s. w. er da¬ 
durch manchen schätzenswerthen Aufschluss erhalten wird. Nach dieser 
Richtung hin ist somit die Beibringung derartiger Atteste vollständig zulässig, 
ja sogar wünschenswerth; an Stelle amtlicher Zeugnisse können die letzteren 
dagegen nur treten, wenn sie in der durch Ministerial-Verfügung vom 
20 . Januar 1853 vorgeschriebenen Form abgefasst und von dem betreffenden 
Physikus ausdrücklich dahin beglaubigt sind, „dass er sich auf Grund eigener 
Untersuchung von der Richtigkeit der darin gemachten Angabe überzeugt 
habe und mit dem abgegebenen Gutachten übereinstimme.“ Selbstverständlich 
stehen dem Physikus dann auch dieselben Gebühren zu, als wenn er das Attest 



212 


Referate. 


selbst abgefasst hätte, da er abgesehen von etwas weniger Schreibwerk die¬ 
selbe Arbeit gehabt hat. 

ad. 4. Sobald der Physikus ein Attest ohne weiteren Zusatz nur mit 
seiner Namensunterschrift und dem Amtssiegel versieht, hat er damit auch den 
Inhalt desselben beglaubigt und zu welchen Folgerungen dies führen kann, 
geht aus dem vorher Gesagten hervor. Bei allen Beglaubigungen ist es daher 
unbedingt erforderlich, durch einen entsprechenden Zusatz stets genau anzu¬ 
geben, was beglaubigt wird, ob die Richtigkeit des ganzen Inhalts eines 
Attestes, oder die Unterschrift des betreffenden Arztes bezw. der im Attest ver- 
zeichneten Lehr- und Servirzeit u. s. w. Desgleichen ist es selbstverständlich, 
dass ein Medicinalbeamter ebenso wie jeder andere Beamte nur allein das¬ 
jenige beglaubigen darf, von dessen Richtigkeit er auf Grund 
eigener Kenntniss überzeugt ist, wenn er nicht mit dem (Disciplinar- 
gesetz) in Conflict gerathen will. 

Zum Schluss noch ein Wort über den im vorliegenden Falle liquidirten 
Betrag von 10 Mark. Zunächst kann der Unterzeichnete die Ansicht des Ein¬ 
senders nicht theilen, dass eine Taxe für amtsärztliche Verrichtungen im Privat¬ 
interesse nicht existirt und in Folge dessen die Bezahlung in solchen Fällen 
der freien Vereinbarung überlassen ist; denn aus den Motiven zu dem Gesetze 
vom 9. März 1872, wie aus dessen ganzer Fassung geht unzweifelhaft hervor, 
dass die hier festgesetzten Gebühren überall da Anwendung zu finden haben, 
wo es sich um amtliche Functionen der Medieinalbeamten handelt, ohne 
Rücksicht darauf, ob dieselben im staatlichen oder Privat-lnteresse erforderlich 
waren. Demnach war auch der Königl. Regierungspräsident auf Grund des 
§ 10 des genannten Gesetzes vollständig berechtigt, im vorliegenden Falle die 
Festsetzung des liquidirten Betrages nach der Schwierigkeit des Geschäftes und 
dem erforderlich gewesenen Zeitaufwande endgültig zu bewirken und würde 
diese Festsetzung wohl schwerlich die Höhe von 10 Mark erreicht haben. 
Die vom Einsender angezogene Ministerialverfügung vom 21. August 1832 be¬ 
zieht sich übrigens nur auf die Revision von »ärztlichen* Liquidationen, 
nicht aber von „amtsärztlichen“; die letzteren unterliegen, falls sich Be¬ 
denken gegen die Angemessenheit des liquidirten Betrages ergeben, stets der 
Festsetzung durch die zuständige Regierung bezw. Regierungspräsidenten. 

Was endlich die Ansicht anbetrifft, dass mit Einlösung eines Nachnahme¬ 
briefes eine freie Vereinbarung über die Höhe des geforderten Betrages statt¬ 
gefunden hat, so dürfte dieselbe auf dem Wege richterlicher Entscheidung 
kaum als zutreffend anerkannt werden. Rapmund. 


Referate. 

OrtlofT, Dr. Hermann, Landgerichtsrath in Weimar: Gerichtlich¬ 
medizinische Fälle und Abhandlungen. Unter Mit¬ 
wirkung von Aerzten und Juristen herausgegeben. Berlin, 1888. 
Siemenroth u. Worms. 

Heft 1. Kind oder Fötus? Vom Herausgeber. 

Heft II. 1. Versuch eines Mordes oder Selbstmordes? Erwürgen 
und Erdrosseln. Von Arno Siefert, erstem Staatsanwalt zu 
Weimar. 

2. Verbrechensverübung im Traumwandeln. Vom Heraus¬ 
geber. 

Heft III. Strafbare Fahrlässigkeit bei Ausübung der Heilkunst. 
Vom Herausgeber. 

In den vorliegenden Heften beabsichtigt der Herausgeber, wie er im 
Vorwort bemerkt, „kleine Monographieen über interessante und besonders 
praktische Fragen in Anknüpfung an Rechtsfälle* zu bringen, „um eine Nutz¬ 
anwendung in der Praxis davon machen zu können.“ Des Weiteren wird zur 
nothwendigen Ermittelung der Wahrheit das Zusammenwirken „der Sach¬ 
verständigen auf dem Gebiete der Physiologie und der gerichtlichen Medizin 
mit den Strafbehörden, namentlich den Gerichten,“ betont und der Wunsch 
ausgesprochen, die gerichtliche Medizin möge bemüht bleiben, der Strafrechts 



Referate. 


213 


pflege wohl dienstbar, aber nicht »dienstwillig“ zu sein, wie sie von einem 
Vertreter jener Wissenschaft einst bezeichnet worden sei. 

Diese Auffassung von der Nothwendigkelt des Zusammenwirkens 
beider Disciplinen steht, wie schon die Lektüre des ersten Heftes ergiebt, in 
auffallendem Contrast zu der Art und Weise, mit welcher der Herausgeber 
zugleich als Verfasser bemüht ist, jedes Hinüberschweifen „der ärztlichen Be¬ 
gutachtung in das Gebiet der Rechtsbeurtheilung“ (S. 23) zurückzuweisen. 
Wenn Ref. auch als selbstverständlich anerkennt, dass der gerichtlich-medizi¬ 
nische Begutachter die Rechtsbeurtheilung des Falles einzig und allein dem 
Richter zu überlassen hat, und es daher jedem Gutachter nur anempfehlen 
kann, sich stets möglichst streng sachlich zu halten, so sollte der Richter in 
jenem gelegentlichen Hinüberschweifen, zumal beim schriftlichen Gutachten, 
doch nichts anderes sehen, als das Bestreben, auf den fraglichen Rechtspunkt 
möglichst erschöpfend einzugehen. Der Gutachter beabsichtigt ja nicht, durch 
die oft nur zu klar liegende Rechtsfolgerung dem Richter etwa vorzugreifen, 
sondern demselben nur zu bekunden, dass er zu dem, worauf es ersichtlich 
ankommt, alles dasjenige Material, das er von seinem medizinischen Stand¬ 
punkte aus beizubringen vermochte, auch beigebracht hat. Dass dies dem 
Richter nicht immer so unerwünscht ist, wie es die Ablehnung seitens des 
Herausgebers bekundet, geht wohl aus der Thatsache hervor, dass oft genug 
seitens des Richters die direkte Frage gestellt wird: Ergiebt der objective 
Befund einen Grund zu der Annahme, dass in der betreffenden Handlung oder 
Unterlassung des Thäters eine Absicht oder eine Fahrlässigkeit liegt? 
Consequenter Weise müsste eine Antwort aut* eine solche Frage von dem Gut¬ 
achter stets verweigert werden. Und doch wird die Beantwortung, wenn sie 
gegeben wird, nicht selten „dem Richter das Rechte zu finden helfen.“ Vor 
den Geschworenen würde auch für solche Fragen immerhin Vorsicht zu 
empfehlen sein! 

Der Fall, welchen Verf. seinen gerichtlich-medizinischen Erörterungen des 
ersten Heftes zu Grunde gelegt hat, betrifft eine jener vielen heimlichen Ent¬ 
bindungen, bei denen die Kreissende das Kind direkt in ein irrespirables 
Medium, hier in einen Eimer mit Wasser, hineingeboren hat, dann vor Gericht 
angiebt, bei dem Gebärakt ohnmächtig geworden und daher nicht im Stande 
gewesen zu sein, das Kind zu retten. Die Lungen des letzteren wurden bei 
der Section in fötalem Zustande und selbst ohne Zeichen von stattgehabter 
Aspiration des Wassers gefunden. 

Es ist von den Anklagebehörden schon oft der Versuch gemacht worden, 
auch Fälle dieser Art trotz der mit der Beweisführung verbundenen Schwierig¬ 
keiten vor das Forum des Strafrichters zu ziehen, da die Annahme doch zu 
nahe liegt, dass das Kind noch lebend in das Wasser gelangt sei und erst in 
diesem seinen Tod gefunden habe; ferner, dass die Mutter mit Vorsätzlich¬ 
keit oder wenigstens mit Fahrlässigkeit dabei zu Werke gegangen sein 
könne. 

Verfi ist daher in der Lage, an diesen Fall die verschiedenen ein¬ 
schlägigen Erörterungen zu knüpfen: ob das Kind in diesem Stadium der 
Geburt und je nach den obwaltenden Umständen schon als »Kind“, oder noch 
als »Fötus“ anzusehen, ob „leben“ und „athmen“ nach Caspers Definition in 
foro identisch, ob die Angaben der Angeschuldigten über den Geburtsvorgang 
für glaubhaft zu halten seien und dergl. mehr. 

Der dieser Besprechung zur Verfügung gestellte Raum verbietet es selbst¬ 
verständlich, auf die einzelnen Punkte des Ausführlicheren einzugehen. Ich 
will daher unter Vielem nur Einzelnes hervorheben, was mir besonders aufge¬ 
fallen ist und einer kurzen Besprechung bedürftig erscheint. 

So interessant uns das Bemühen des Verfassers, den Begriff „Kind“ zu 
definiren, auch sein mag, so wenig können wir uns mit den Mitteln und 
Wegen einverstanden erklären, die derselbe vorschlägt, um zum Ziele zu ge¬ 
langen. Wir können z. B. nicht zugeben, dass die Erklärungen der 
Mutter über ihre Wahrnehmungen vor und bei der Geburt (S. 18j ein brauch¬ 
bares Moment zur Feststellung, ob das „Kind“ in der Geburt noch gelebt 
habe, bilden können; denn was die Kreissende als Kindsbewegungen empfunden 
zu haben vermeinte, könnten Wehen gewesen sein, und umgekehrt. Geradezu 
paradox klingen ferner Aussprüche, wie: „das Athmen (Luftschöpfen) ist nicht 



214 


Referate. 


nur das gewöhnlichste und untrüglichste Anzeichen des eingetretenen voll¬ 
endeten selbstständigen Lebens eines neugeborenen Kindes, sondern dieser 
Eintritt selbst“ (S. 18), und „weil eben Neugeborene, die nicht geathmet haben, 
keine Kinder, sondern geborene Leibesfrucht sind.“ Vollends unzulässig 
erscheint uns aber der Wunsch des Verf., dass die Sachverständigen hätten 
sagen sollen: „das Einathmen der Luft bedinge nicht bloss das Leben, sondern 
auch den Begriff des Kindes als der zur selbstständigen Fortexistenz 
ausserhalb der Mutter befähigten, von ihr getrennten Leibesfrucht.“ Vom 
medizinischen Standpunkte aus sind wir gewohnt und auf Grund unserer 
physiologischen Erfahrungen berechtigt, in der Frucht, sobald sie nachweislich 
Leben (Herzschlag, Bewegung) zeigt und sonst in allen Theilen vollkommen 
ausgebildet ist, bereits das menschliche Individuum, den Menschen in seinen 
frühesten Stadien, das „Kind“ zu sehen. Wir sprechen von „Kindsbewegungen“ 
im Mutterleibe und von frühzeitig geborenen „Kindern“, und jeder Sachver¬ 
ständige wird ein solches neugeborenes Wesen, zumal wenn es sogar schon 
zum Weiterleben ausserhalb des Mutterleibes befähigt war, dem Richter auf 
besonderes Befragen stets als „Kind“ bezeichnen dürfen. Diesen Begriff von 
einem einzigen bestimmten Merkmal abhängig zu machen, dürfte weder 
möglich, noch für die criminelle Rechtswissenschaft praktisch sein. 

Ueber die fragliche „Ohnmacht“ als etwa vorgeschütztes Moment, 
um den Beweis der Vorsätzlichkeit oder Fahrlässigkeit zu hintertreiben, 
werden die Anschauungen der Obducenten sowie die des Obergutachtens wieder¬ 
gegeben. In den ersteren finden wir alle jene unhaltbaren Folgerungen wieder, 
wie sie im Laufe der Zeit vielen, vielleicht den meisten Gutachtern geläufig 
geworden sind. Eine Gebärende sollte nach der ersten Wehe den Eimer, auf 
den sie sich gesetzt, haben verlassen müssen, schon ihr Sitzenbleiben auf dem¬ 
selben sei als ein zur Verheimlichung der Geburt absichtliches zu be¬ 
zeichnen, Ohnmächten würden gleich nach der Geburt in der Praxis selten 
beobachtet, die Gebärende hätte sich sofort nach der Geburt erheben und 
das Kind aus der Flüssigkeit herausnehmen können, ihre weitere Thätigkeit 
nach der Geburt lasse ihre „vorgeschützte Schwäche* bei der Geburt als voll¬ 
ständig unglaubhaft erscheinen u. s. w. — Das Obergutachten stimmt 
jenen Folgerungen nicht zu, und auch Ref. darf, indem er auf sein Buch: 
„Die Ohnmacht bei der Geburt vom gerichtBärztlichen Stand¬ 
punkt“ (Berlin 1887, Julius Springer) verweist, einer besonderen Erörterung der 
Unhaltbarkeit jener Folgerungen wohl überhoben sein. Die Anklage vermochte 
sich, wie der Verf. über das Schicksal des obigen Falles weiter berichtet, der 
Auffassung des Obergutachtens nicht anzuschliessen, folgte vielmehr den bezüg¬ 
lichen Ausführungen der Obducenten; sie dürfte aber künftighin in ähnlichen 
Fällen die sachlichen, in des Ref. Buch geltend gemachten Ausführungen nicht 
ganz unberücksichtigt lassen. 

Noch eins möchte ich hervorheben. Den ärztlichen Gutachten wird 
wiederholt die Behauptung oder das „Gutachten* der Hebamme gegenüber¬ 
gestellt. Der letzteren erschien es unglaubhaft, dass ein überreifes Kind, zumal 
ein bei der Geburt schon todtes, schon bei der zweiten Wehe so rasch 
und plötzlich sich von der Mutter getrennt habe. Es berührt zum mindesten 
eigenthümlich, wenn wissenschaftliche, speziell physiologische Erörterungen 
einer Hebamme über den Geburtsmechanismus solchen von Aerzten gepflogenen 
derartig gleichwerthig erachtet werden, dass sogar von einer Gegenüber¬ 
stellung beider (S. 21) die Rede sein kann. Es wird dabei vollständig ver¬ 
kannt, dass die Vorbildung einer Hebamme nichts weniger als geeignet ist, zu 
gestatten, dass wissenschaftliche Erörterungen derselben ohne Weiteres für 
wissenschaftliche Wahrheiten genommen werden dürfen. Wir Aerzte sind froh, 
wenn wir in praxi einer Hebamme begegnen, die mit dem, was ihr als wissen¬ 
schaftliche Grundlage mitgegeben worden, in ihrer praktischen Thätigkeit nur 
nothdürftig zurechtkommt. 

In dem hier erfolgten freisprechenden Urtheil schliesslich sieht der 
Verf. einen Beleg für die Unfähigkeit des Laienrichters in der Erfassung 
technisch-medizinischer Fragen, daher er consequenter Weise für die Be¬ 
schränkung der Geschworenengerichte plaidirt. Durchaus mit Unrecht, wie 
ich glaube! Wenigstens habe ich immer gefunden, dass die Laien die medi- 



Referate. 


215 


zinischen Auslassungen sehr gut erfassen, zumal wenn diese ihnen unter der 
heute üblichen Vermeidung von Technicismen klar vorgetragen werden. 

In dem ersten Falle des zweiten Heftes handelt es sich darum, dass einem 
schwangeren Mädchen das bekannte, zur Vertilgung von Ratten und Mäusen 
gebrauchte, unter dem Namen „Qlyricin“ gehende Pulver zur Vergiftung, viel¬ 
leicht auch nur zur Abtreibung der Leibesfrucht, von ihrem Liebhaber gegeben 
worden war. Als dies nicht wirkte, wurde die Betreffende zwei Nächte darauf 
in ihrer Wohnung mit einem von dem Rocke ihrer Schwester getrennten 
Bande um den Hals ohnmächtig an der Erde liegend vorgefunden. Das Band 
wurde sofort gelöst, hatte aber eine bedeutende Strangulationsmarke hinter¬ 
lassen. Die erst am nächsten Tage zu sich Gekommene erklärte, ihr Bräutigam 
sei Nachts zu ihr gekommen, habe sie plötzlich umfasst und (jeäussert: „Hier 
bringe ich noch etwas, das gehört dazu,“ worauf sie die Besinnung verloren 
habe und daher nicht wisse, was weiter mit ihr geschehen. 

Aus den erstatteten Gutachten sei hervorgehoben, dass die Frage auf¬ 
geworfen wird, ob das der Schwangeren gereichte Mittel zur Abtreibung 
angewandt worden sei oder nicht. Der Gutachter findet keinen Grund, diese 
Frage weiter zu behandeln, „so lange das Abtreibungsmittel nicht genügend 
bekannt“ sei (8. 7). Dieser Grund dürfte wohl eben so wenig zu rechtfertigen 
sein, wie die Aufwerfung der ganzen Frage überhaupt. 

Im Weiteren dreht sich die Erörterung des Falles wesentlich um die 
Frage, ob die Vorgefundene Strangulation einen Mord- oder Selbstmord¬ 
versuch bekundete, wobei die Frage, ob es denkbar sei, dass die Betreffende 
so frühzeitig ihre Besinnung verloren haben könne, dass sie von dem Er¬ 
drosselungsversuch nichts mehr gemerkt, eine besondere Rolle spielt. Nach des 
Referenten Meinung ist der Vorgang, wie ihn die Betreffende angiebt, durch¬ 
aus denkbar. 

Der zweite Fall desselben Heftes behandelt eine Brandstiftung, die im 
Traumwandeln verübt worden sein sollte. Eine Bauernfrau, die hochgradig 
harthörig war und in ihrem ganzen Benehmen gewisse Eigenthümlichkeiten 
zeigte, sollte in der Nacht Reisig im Vortiur zusammengetragen, dasselbe in 
traumartiger Sinnesverwirrung angezündet und hernach sich zu Bett gelegt 
haben, so dass sie, als das Feuer auskam, beinahe mit verbrannt wäre. Eigen- 
thümlicher Weise fusst das Gutachten des Sachverständigen, der bei der Be¬ 
schuldigten eine transitorische Bewusstseinsaufhebung annimmt, nur 
auf der Erzählung einer Zeugin, der Dienstmagd der Bezichtigten, während 
die Exploration der Angeklagten selbst mit Bezug auf ihren Geisteszustand 
kaum einen anderen Anhalt bietet, als dass man bei ihr etwas Hysterie an¬ 
nehmen konnte. Jedenfalls ist der Fall nicht geeignet, die spärliche Casuistik 
von wirklich stattgehabter Ausübung strafbarer Handlungen im Zustande des 
Traumwandeins zu vermehren. 

Der in Heft III behandelte Fall betrifft einen Kurpfuscher, der, zur Be¬ 
handlung einer durch Sturz zur Erde entstandenen Hautwunde über dem rechten 
Knie zugezogen, die Wunde nur oberflächlich abtupft und dann näht. Es 
tritt keine prima intentio ein, vielmehr bekommt die Patientin 14 Tage nach 
der Verletzung Kinnbackenkrampf und stirbt bald darauf. Bei der Obduktion 
werden in der Wunde eine Menge spitzer Kieselsteinchen und Schmutzpartikel 
sowie eine haselnussgrosse, bis auf die entblösste Kniescheibe reichende Eiter¬ 
höhle gefunden. Die Obducenten führen in ihrem Gutachten den Kinnbacken¬ 
krampf auf die mangelhafte Behandlung der Wunde zurück. Bei der Haupt¬ 
verhandlung wird dagegen von zwei seitens des Angeklagten gestellten 
Gegen-Sachverständigen ausgeführt, dass die mangelhafte Behandlung der 
Wunde nicht die alleinige Ursache des Trismus gewesen zu sein brauche, 
es könnten noch andere Faktoren hier mitgewirkt haben, vornehmlich die 
Jahreszeit (!) und die Art und Weise der Verletzung, da die heisse 
Sommerszeit zur Beförderung einer Entstehung des Trismus sehr geeignet sei, 
desgleichen die starke Quetschung der Wundgegend, zumal am Unter¬ 
schenkel. Nach ihrer Meinung hätten die Sandpartikel auch einheilen 
können; ferner sei zu berücksichtigen, dass der Trismus auch vorzugsweise aus 
atmosphärischen Einflüssen entstehen könne, man deshalb von einem 
pneumatischen oder chronischen Trismus Hpreche, der erst ca. 14 Tage 



216 


Referate. 


nach der Verletzung entstehe und ev. heilbar sei, während der acute Trismus 
schon nach 4 Tagen auftrete und meist zum Tode fahre. 

Ich habe absichtlich diese letzteren Auslassungen der Gutachter hier aus¬ 
führlicher aufgeführt, um zu zeigen, wie durch das Hereinziehen von Möglich¬ 
keiten die Beweisführung in einem gegebenen Falle entkräftet zu werden 
vermag. Abgesehen von den heute bereits anders gestalteten wissenschaft¬ 
lichen Anschauungen über die Entstehung des Trismus — im Jahre 1883, in 
welchem dieser Fall spielte, neigte man noch nicht dazu, den Trismus als auf 
Infection beruhend anzusehen — bedurfte es im Grunde doch nur einer 
Charakterisirung der ordnungswidrigen Behandlung der Wunde als einer, 
worauf der Verf. (S. 17) mit Recht hinweist, wesentlich mitwirkenden 
Ursache, derart, dass ohne dieselbe mit einer an Gewissheit grenzenden 
Wahrscheinlichkeit der üble Erfolg nicht eingetreten wäre. Und so 
charakterisirt sich die vorgenommene Wundbehandlung unzweifelhaft, trotz 
aller hervorgehobenen Möglichkeiten. Es dürfte nicht schwer fallen, in jedem 
beliebigen Falle von Verletzung oder Ordnungswidrigkeit in ähnlicher Weise 
Möglichkeiten aufzustellen, und dem Richter bliebe, da er ja nicht im Stande 
ist, den wissenschaftlichen Kernpunkt in der Differenz der ärztlichen Meinungen 
richtig abzuwägen, dann nichts anderes übrig, als, was auch in diesem Falle 
geschah, auf Freisprechung zu erkennen. — Uebrigens sei noch bemerkt, dass 
ein Einheilen der Sandpartikel doch nur zu erwarten war, wenn dieselben 
steril in die Wunde gelangt wären; das Ausbleiben der Wundheilung beweist 
aber, dass dies nicht der Fall war, folglich konnten diese Sandpartikel nicht 
einheilen. Ferner kommt es nach heutiger Anschauung weniger auf die Menge 
der in die Wunde eingebrachten Sandkörner, als vielmehr auf den mit den¬ 
selben eingeführten, den Trismus erzeugenden Infectionsstoff an, und zur 
Entfernung resp. Unschädlichmachung des letzteren war die ausgiebigste 
Desinfection der Wunde erforderlich. Aber auch damals, als man die Ent¬ 
stehung des Trismus noch auf die durch die Fremdkörper verübte Reizung 
der Nerven zurückführte, war es geboten, diese Körper zu entfernen. Bei 
ihrer Nichtentfernung war unbedingt ein regelwidriger Wund verlauf und die 
Entstehung von Trismus zu gewärtigen, und trat letzterer thatsächlich ein, 
so war er — mochte es noch so viele andere Wege für sein Entstehen geben 
— hier, in dem vorliegenden Falle auf die mangelhafte Behandlung der 
Wunde zurückzuführen. Der Gerichtsarzt hat unter Berücksichtigung aller 
Möglichkeiten und theoretischen Erwägungen in foro stets den concreten 
Fall im Auge zu behalten und diesen zu beurtheilen! 

Die im Anschluss an diesen sowie an die übrigen erörterten Fälle ge¬ 
brachte einschlägige Materie ist dem Studium der Gerichtsärzte wohl zu 
empfehlen. Bei ihrer gründlichen Bearbeitung unter Benutzung der bekannten 
gerichtlich-medizinischen Lehrbücher einer- und der Heranziehung der neuesten 
bezüglichen Reichsgerichtsentscheidungen andererseits wird der Leser über den 
ihn besonders interessirenden Gegenstand leicht orientirt werden. Ueber die 
medizinisch-technischen Fragen jedoch, die bei den einzelnen Fällen aufge¬ 
worfen werden, wird er von der Meinung der betreffenden Gutachter sowonl, 
als auch von der Auffassung des jeweiligen Verfassers vermuthlich in gleicher 
Weise hie und da abzuweichen sich veranlasst sehen, wie es seitens des Refe¬ 
renten geschehen ist. Gerade hierin aber liegt ein Grund mehr für die An¬ 
erkennung der Nützlichkeit des Unternehmens im Prinzip. Denn an 
der abweichenden wissenschaftlichen Anschauung des Andern wird man sein 
eigenes Urtheil mehr schärfen und bilden, und es kann der Allgemeinheit nur 
nützen, wenn auch wir als Gutachter uns mit unserem Urtheil einer wissen¬ 
schaftlichen Controle bewusst sind. 

Frey er, (Stettin.) 


Dr. J. Soyka, Professor in Prag: Der Boden. Handbnch der 
Hygiene und der Gewerbekrankheiten, herausgegeben von Prof. 
Dr. M. von Pettenkofer und Prof. Dr. H. von Ziemssen. 



Verordnungen und Verfügungen, 


217 


I Theil, 2. Abth., 3. Heft. Mit 37 Abbildungen. Leipzig, 1887. 
Verlag von F. C. W. Vogel. 

Verfasser giebt in seinem Werke eine ebenso vorzügliche als umfassende 
und dem jetzigen Stande der Wissenschaft entsprechende Darstellung der Bo¬ 
denverhältnisse vom hygienischen Standpunkte aus und fasst hierbei hauptsäch¬ 
lich diejenigen Bedingungen ins Auge, welche zu einer Wechselbeziehung 
zwischen Boden und Oberfläche, also auch zwischen Boden und Menschen füh¬ 
ren und durch welche der Boden oder einzelne Bestandtheile desselben direct 
zu krankmachenden Potenzen gemacht werden können. 

Im ersten Theil werden die verschiedenen Bodenbestandtheile, ihre mine¬ 
ralogischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften, ihre Beziehungen 
zur Luft, zum Wasser und zur Wärme, sowie ihr Verhalten zu den organischen 
Substanzen und ihr Einfluss auf die Lebensthätigkeit und Entwickelung der 
niederen Organismen eingehend erörtert. Manche bekannte Thatsaehe findet 
hier eine neue und interessante Erklärung und nimmt z. B. Verfasser an, dass 
die für die Selbstreinigung des mit organischen Stoffen verunreinigten Bodens 
so wichtige Nitrification der organischen stickstoffhaltigen Substanzen und 
Umwandlung des organischen Kohlenstoffs zu Kohlensäure, mit grosser Wahr¬ 
scheinlichkeit auf die Lebensthätigkeit niederer Organismen zurückgeführt 
werden kann. 

Der zweite Theil ist den Erscheinungsformen des Bodens: seinem geologi¬ 
schen Aufbau und der Vertheilung des Wassers im Boden gewidmet. Beson¬ 
ders hervorzuheben ist die sehr ausführliche Darstellung der Grundwasserver¬ 
hältnisse, die geradezu mustergültig genannt werden kann, wenn auch Ver¬ 
fasser als Anhänger der von Pettenkofer’schen Schule entschieden dazu 
hinneigt, den Einfluss des Grund wassere auf die Entwickelung und Ausbreitung 
der Krankheitskeime im Boden und damit auch auf den allgemeinen Gesundheitszu¬ 
stand, wie auf die Verbreitung gewisser Volkskrankheiten zu überschätzen. 
Die horizontale Ausbreitung, Stromrichtung, Strömungsintensität, Mächtigkeit 
und Herkunft des Grundwassers, seine Beziehungen zu oberflächlichen Gerinnen, 
Flüssen, atmosphärischen Niederschlägen und zur Verdunstung, sowie die Be¬ 
deutung der Grundwasserscliwankungen werden an der Hand eigener sorgfäl¬ 
tiger Beobachtungen und Untersuchungen mit grosser Sachkenntnis und 
Formgewandheit behandelt. Mit vollem Recht vertritt Verfasser hier die An¬ 
sicht, dass die periodischen Schwankungen des Grundwassers fast ausschliess¬ 
lich von den Niederschlägen und der durch die Temperatur bedingten Ver¬ 
dunstung beeinflusst werden; eine Ansicht, die er in seinem neuesten Werke: 
„Die Schwankungen des Grundwassers mit besonderer Berücksichtigung der 
mitteleuropäischen Verhältnisse (Wien 1888)“ in noch schärferer Weise zum 
Ausdruck bringt, indem er hier zu der Schlussfolgerung kommt, dass der je¬ 
weilige Stand des Grundwassers, soweit die klimatischen Faktoren ihn beein¬ 
flussen, nichts als der Ausdruck der Wechselbeziehungen zwischen Niederschlag 
und Verdunstung und lediglich von den Schwankungen derselben abhängig sei. 

Den Schluss dieses Theiles bildet eine Besprechung derjenigen Gesichts¬ 
punkte, welche für die Beurtheilung eines Bodens in hygienischer Hinsicht, 
sowie für dessen Assanirung massgebend sein müssen und werden als Beispiele 
hierfür die geologischen und Grundwasser-Verhältnisse einiger Hauptstädte 
Europa's (Berlin, München, Paris und Wien) geschildert. 

Die Ausstattung des Buches ist eine sehr gute und tragen die demselben 
beigegebenen Abbildungen (geologische Profile) und graphischen Darstellungen 
wesentlich zum leichteren Verständniss des Ganzen bei. lipd. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Vorschriften Ober die Einrichtung und den Betrieb der snr Anfertigung 
von Cigarren bestimmten Anlagen. Verfügung des Ministers für Han¬ 
del und Gewerbe (gez. in Vertr. Magdeburg), vom 26. Mai 1888 No. 2285, 
an sämmtliche Regierungspräsidenten bezw. Regierungen. 

Mit Rücksicht auf die grosse Zahl namentlich auch kleiner Gewerbeunter¬ 
nehmer, deren Betriebe von der in No. 23 des Reichsgesetzblattes erschienenen 



218 


Verordnungen und Verfügungen. 


(hierunter abgedruckten) Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den 
Betrieb der zur Anfertigung von Cigarren bestimmten Anlagen, berührt wer¬ 
den, wird es sich empfohlen, in der nächsten Nummer des Amtsblattes auf 
diese Bekanntmachung — am besten unter vollständigem Ausdruck derselben 
— aufmerksam zu machon und namentlich darauf hinzuweison, dass ein Theil 
der erlassenen Bestimmungen beroits mit dem 12. August d. J., andere da¬ 
gegen erst mit dem 12. Mai k. J. in Kraft treten. 

Anlangend die in § 10 der Bekanntmachung der höheren Verwaltungs¬ 
behörde eingeräumto Befugniss, so beschränke ich mich für jetzt darauf Fol¬ 
gendes hervorzuheben: 

1. Die vorgesehenen Abweichungen von den Bestimmungen der Bekannt¬ 
machung können zugelassen werden, ein Recht auf ihre Zulassung steht 
den Gewerbeunternohmern nicht zu. 

2. Die Voraussetzung, von welcher die Zulassung der in Absatz 1 bezeich- 
neten Abweichung abhängt, ist das Vorhandensein einer „ausreichenden 
Ventilationseinrichtung“, d. h. einer eigens zum Zwecke der Ven¬ 
tilation hergesteIlten und diesen Zweck in genügendem Masse er¬ 
reichenden Einrichtung. Der Ausdruck „künstliche'* Ventilationsein¬ 
richtung ist in der Bekanntmachung vermieden, um die Deutung auszu- 
schliessen, als ob eine durch elementare Kraft betriebene maschinelle 
Vorrichtung gefordert werden soll. 

3. Die Zulassung von Abweichungen hat nur auf Antrag dos Untornehmers 
und demnach für jede einzelne Anlage besonders stattzufindon. 

4. Der Umfang der zuzulassenden Abweichungen ist in jedem einzelnen 
Falle unter Berücksichtigung der vorher gonau fostzustellenden Beschaf¬ 
fenheit der Anlage zu bemessen. Bei den Verhandlungen ist — soweit 
es -sich nicht um ganz einfache Verhältnisse handelt — die Mitwirkung des 
Geworberaths in Anspruch zu nehmen. Auch in den Fällen, in welchen 
der Gewerberath bei den Vorverhandlungen nicht mitgewirkt hat, ist 
derselbe vor der Entscheidung über den gestellten Antrag zu hören. 

5. Die Zulassung von Abweichungen ist m allen Fällen nur „bis auf 
Weiteres“ und mit dem Vorbehalte auszusprechen, dass sie nur so lange 
in Kraft bleibe, als in der baulichen Beschaffenheit und der Benutzung 
der Räume der Anlage keine Veränderung vorgonommen werde. 

Anträge auf Zulassung von Abweichungen auf Grund des § 13 Abs. 3 der 
Bekanntmachung sind unter Beachtung der Vorschrift zu 3 zu instruiren und 
mit gutachtlichem Berichte mir vorzulegen. 

Zur Ausführung des § 12 der Bekanntmachung wollen Ew. Hochwohlge¬ 
boren die Ortspolizeibehörden mit Anweisung versehen und zur Erleichterung 
für diese und die Unternehmer thunlichst darauf hinwirken, dass sowohl For¬ 
mulare für die in Absatz 1 erwähnten Aushänge als auch Exemplare der in 
Absatz 2 erwähnten Tafeln in zweckmässiger Form von geeigneten Gewerbe¬ 
treibenden zum Verkauf feilgehalten werden. 

Für die Unterzeichnung des in § 12 Absatz 1 vorgeschriebenon Aushanges 
wollen Ew. Hochwohlgeboren die Ortspolizeibehörden anweisen, sich der nach¬ 
stehenden Formel zu oedienen: 

„Die Richtigkeit der vorstehenden Angaben wird auf Grund vorgenom¬ 
mener Prüfung bescheinigt.“ 

Bekanntmachung des deutschen Reichskanzlers (gez. in Vertretung 
von Bötticher) vom 9. Mai 1888, betreffend die Einrichtung und den 
Betrieb der zur Anfertigung von Cigarren bestimmten Anlagen. 

Auf Grund des § 120 Absatz 3 und des § 139 a Absatz 1 der Reichs- 
Gewerbeordnung hat der Bundesrath folgende Vorschriften über die Einrich¬ 
tung und den Betrieb der zur Anfertigung von Cigarren bestimmten Anlagen 
erlassen: 

§ 1. Die nachstehenden Vorschriften finden Anwendung auf alle Anlagen, 
in welchen zur Herstellung von Cigarren erforderliche Verrichtungen vorge¬ 
nommen werden, sofern in den Anlagen Personen beschäftigt werden, welche 
nicht zu den Familiengliedern des Unternehmers gehören. 



Verordnungen und Verfügungen. 


219 


§ 2. Pas Abrippen des Tabaks, die Anfertigung und das Sortiren der 
Cigarren darf in Räumen, deren Fussboden 0,5 m unter dem Strassenniveau 
liegt, überhaupt nicht, und in Räumen, welche unter dem Darbe liegen, nur 
dann vorgenommen worden, wenn das Dach mit Verschalung versehen ist. 

Die Arbeitsräume, in welchen die bezeichneten Verrichtungen vorgenommen 
werden, dürfen weder als Wohn-, Schlaf-, Koch- oder Vorratlisräume noch als 
Lager- oder Trockenräume benutzt werden. Die Zugänge zu benachbarten 
Räumen dieser Art müssen mit vorschliessbaren Tliüren versehen sein, welche 
während der Arbeitszeit geschlossen sein müssen. 

§ 3. Die Arbeitsräume (§2) müssen mindestens drei Meter hoch und mit 
Fenstern versehen sein, welche nach Zahl und Grösse ausreichen, um für alle 
Arbeitsstellen hinreichendes Licht zu gewähren. Die Fenster müssen so ein¬ 
gerichtet sein, dass sie wenigstens für die Hälfte ihres Flächenraumes geöffnet 
werden können. 

§ 4. Die Arbeitsräume müssen mit einem festen und dichten Fussboden 
versehen sein. 

§ 5. Die Zahl der in jedem Arboitsraume beschäftigten Personen muss 
so bemessen sein, dass auf jede derselben mindestens sieben Kubikmeter Luft¬ 
raum entfallen. 

§ 6. In den Arbeitsräumen dürfen Yorräthe von Tabak und Halbfabri¬ 
katen nur in der für eine Tagesarbeit erforderlichen Menge und nur die im 
Laufe des Tages angefertigten Cigarren vorhanden sein. Alles weitere Lagern 
von Tabak und Halbfabrikaten, sowie das Trocknen von Tabak, Abtallen 
und Wickeln in den Arbeitsrämnen auch ausserhalb der Arbeitszeit ist 
untersagt. 

§ 7. Die Arbeitsräume müssen täglich zweimal mindestens eine halbe 
Stunde lang, und zwar während der Mittagspause und nach Beendigung der 
Arbeitszeit, durch vollständiges Oeffnen der Fenster und der nicht in Wohn-, 
Schlaf-, Koch- oder Vorrathsräume führenden Thüren gelüftet- werden. Wäh¬ 
rend dieser Zeit darf den Arbeitern der Aufenthalt in den Arbeitsräumen nicht 
gestattet werden. 

§ 8. Die FussbÖden und Arbeitstische müssen täglich mindestens einmal 
durch Abwaschen oder feuchtes Abreiben vom Staube gereinigt werden. 

§ 9. Kleidungsstücke, welche von den Arbeitern für die Arbeitszeit abge¬ 
legt werden, sind ausserhalb der Arbeitsräume aufzubewahren. Innerhalb der 
Arbeitsräume ist die Aufbewahrung nur gestattet, wenn dieselbe in ausschliess¬ 
lich dazu bestimmten verschliessbaren Schränken erfolgt. Die letzteren müssen 
während der Arbeitszeit geschlossen sein. 

§ 10. Auf Antrag des Unternehmers können Abweichungen von den Vor¬ 
schriften der §§ 3, 5, 7 durch die höhere Verwaltungsbehörde zugelassen wer¬ 
den, wenn die Arbeitsräumo mit einer ausreichenden Ventilationseinrichtung 
versehen sind. 

Desgleichen kann auf Antrag des Unternehmers durch die höhere Ver¬ 
waltungsbehörde eine geringere als die im § 3 vorgeschriebene Höhe für solche 
Arbeitsräume zugelassen werden, in welchen den Arbeitern ein grösserer als 
der im § 5 vorgeschriebene Luftraum gewährt wird. 

§ n. Die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern 
ist nur gestattet, wenn die nachstehenden Vorschriften beobachtet werden: 

1. Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter müssen im unmittelbaren Arbeits- 
verhältniss zu dem Betriebsunternehmer stehen. Das Annehmen und Ab¬ 
lohnen derselben durch andere Arbeiter oder für deren Rechnung ist 
nicht gestattet. 

2. Für männliche und weibliche Arbeiter müssen getrennte Aborte mit be¬ 
sonderen Eingängen und, sofern vor Beginn und nach Beendigung der 
Arbeit ein Wechseln der Kleider stattfindet, getrennte Aus- und Ankleide- 
räume vorhanden sein. 

Die Vorschrift unter Ziffer 1 findet auf Arbeiter, welche zu einander 
in dem Verhältnis von Ehegatten, Geschwistern oder von Ascendenten 
und Descendenten stehen, die Vorschrift unter Ziffer 2 auf Betriebe, in 
welchen nicht über 10 Arbeiter beschäftigt werden, keine Anwendung. 



220 


Verordnungen und Verfügungen. 


§ 12. An der Eingangsthür jedes Arbeitsraumes muss ein von der Orts- 
Polizeibehörde zur Bestätigung der Richtigkeit seines Inhalts Unterzeichneter 
Aushang befestigt sein, aus welchem ersichtlich ist: 

1. die Länge, Breite und Höhe des Arbeitsraumes, 

2. der Inhalt des Luftraumes in Kubikmeter, 

8. die Zahl der Arbeiter, welche demnach in dem Arbeitsraum beschäftigt 
werden darf. 

In jedem Arbeitsraum muss eine Tafel ausgehängt sein, welche in deut¬ 
licher Schrift die Bestimmungen der §§ 2—11 wiedergiebt. 

§ 13. Die vorstehenden Bestimmungen treten für neu errichtete Anlagen 
sofort in Kraft. 

Für Anlagen, welche zur Zeit des Erlasses dieser Bestimmungen bereits 
im Betriebe stehen, treten die Vorschriften der §§ 2 — 6 und 11 mit Ablauf 
eines Jahres, aller übrigen Vorschriften mit Ablauf dreier Monate nach dem 
Erlasse derselben in Kraft. 

Für die ersten fünf Jahre nach dem Erlass dieser Bestimmungen können 
Abweichungen von den Vorschriften der §§ 2—6 für Anlagen, welche zur Zeit 
des Erlasses bereits im Betriebe waren, von den Landes-Centralbehörden ge¬ 
stattet werden. 


Zulassung rar Physikats-Prttfnng. Verfügung des Ministers der geist¬ 
lichen etc. Angelegenheiten (gez. in Vertr. v. Lucanus) vom 24. Mai 
1888, M. N. 4279, an sämmtliche Regierungspräsidenten bezw. Regierungen. 

Da noch immer hie und da eine irrthümliche Auslegung der Bestimmungen 
in § 1 Abs. 2 der Circular-Verfügung vom 4. März 1880, betreffend die Ab¬ 
änderung der §§ 1 und 2 des Reglements für die Prüfung behufs Erlangung 
der Befähigung zur Anstellung als Kreisphysikus vom 10. Mai 1875 zu Tage 
tritt, sehe ich mich veranlasst darauf ergebenst hinzuweisen, dass, nachdem 
durch die Bekanntmachung, betreffend die ärztliche Prüfung vom 2. Juni 1883 
§ 18, Abs. 1 für letztgenannte Prüfung die Censuren „sehr gut (1)“, „gut (2)*, 
und „genügend (3)“ an Stelle der früheren „vorzüglich gut (1) Ä , „sehr gut (2) a 
und „gut (3)“ getreten sind, auch die Zulassung zur Physikats- Prüfung zwei 
Jahre nach der Approbation als Arzt erfolgt, wenn die ärztliche Prüfung 
„sehr gut (1) Ä oder „gut (2)“ bestanden ist, in den übrigen Fällen nach drei 
Jahren. 


Mitwirkung der Medizinal-Kollegien bei den Entscheidungen des Reichs- 
Versichernngs-Amts. Erlass des Ministers der geistlichen, etc. An¬ 
gelegenheiten (gez. in Vertr. Lucanus) vom >0. April 1888 M. No. 2895, 
an sämmtliche Koni gl. Medizinal-Kollegien. 

Dem Königlichen Medizinal-Kollegium theilo ich hierneben Abschrift eines 
Schreibens zur Kenntnisnahme mit, welches der Herr Reichskanzler unterm 
1. April d. J. (gez. von Bötticher, R. A. d. J. No. 497 II.) bezüglich der Mit¬ 
wirkung der Medizinal-Kollegien pp. bei den Entscheidungen des Reiehs-Ver- 
sicherungs-Amts, an das Letztere gerichtet hat: 

ln der Rekurssache der Hinterbliebenen des Pressers Raab zu Branden¬ 
burg a. H. wider die Müllerei-Berufs-Genossonschaft zu Berlin hat das Reichs- 
Versicherungsamt durch Schreiben vom 27. Oetober v. J. das Königlich 
preussische Medizinal-Kollegium für die Provinz Brandenburg unmittelbar um 
die Abgabe eines Obergutachtens ersucht. Auf Veranlassung des Königlich 
preussisehen Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten hat zwar jene Behörde für diesmal dem Anträge entsprochen, 
es ist dabei jedoch lediglich der Wunsch bestimmend gewesen, die Ent¬ 
scheidung des vorliegenden Rechtsfalles nicht zu sehr zu verzögern. Der Herr 
Minister hat an mich das Ersuchen gerichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der¬ 
gleichen Requisitionen unterbleiben, und ich kann nicht umhin, in Anbetracht 
der Stellung und der Aufgaben der Königlich preussisehen Medizinal-Kollegien, 
diesem Ersuchen zu entsprechen. 

Die Medizinal-Kollegien, sowie die Königlich preussische wissenschaftliche 
Deputation für das Medizinalwesen sind nach den für diese Sachverständigen- 



Verordnungen und Verfügungen. 


221 


Kollegien massgebenden Bestimmungen im Allgemeinen nur für KriminalfiUle 
und Entmündungssachen zur Erstattung von Obergutachten berufen. In Zivil¬ 
prozessen wird die Thätigkeit dieser Behörden nur dann in Anspruch ge¬ 
nommen, wenn mit der Entscheidung des Prozesses ein öffentliches Interesse 
verbunden ist; in diesen letzteren Fällen bedarf es eines besonderen Auf¬ 
trages des Vorgesetzten Herrn Ministers. Hiermit hängt es zusammen, dass 
die Thätigkeit jener Sachverständigen-Kollegien eine unentgeltliche ist. 

Diese Grundsätze müssen auch bei den vor dem Reichversicherungsaint 
verhandelten Streitsachen der Unfallversicherung Beachtung linden. Hieran 
wird insbesondere durch die Vorschrift des § 101 des Unfall Versicherungs¬ 
gesetzes nichts geändert. Die durch diese Bestimmung des Reichsversicherungs¬ 
amt und den Organen der Berufsgenossenschaften zugesicherte Rechtshülfe 
von Seiten der öffentlichen Behörden kann nur innerhalb der ressortmässigen 
Zuständigkeit der von dort aus zu ersuchenden Behörden beansprucht werden. 
Dagegen erscheint es unzulässig, technische, tür besondere Zwecke errichtete 
Behörden über den Kreis ihrer bestimmungsmässigen Thätigkeit hinaus um die 
Erstattung von Gutachten anzugehen, welche durch die Heranziehung anderer 
Sachverständiger zu ersetzen sind. 

Sofern das Reichsversicherungsamt in einzelnen besonderen Fällen an¬ 
nehmen sollte, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse die Aufklärung 
des Sachverhalts durch wissenschaftliche oder technische Landesbehörden, ins¬ 
besondere durch die Königlich preussischen Medizinal - Kollegien oder die 
Königlich preussische wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen, 
unabweisbar erfordere, wolle dasselbe fortan hierüber unter eingehender Dar¬ 
legung des Sachverhalts an mich berichten. Nach Prüfung des besonderen 
Falles werde ich sodann erwägen, ob die zuständige Landes-Zentralbehörde 
um ihre Mitwirkung zur Erledigung des speziellen Falles ersucht werden kann, 
und eventuell das in dieser Beziehung Erforderliche veranlassen. 

Das von dem Medizinal-Kollegium der Provinz Brandenburg in dem Ein¬ 
gangs erwähnten Rechtsfalle erstattete Obergutachten lasse ich dem Reichs- 
Versicherungsamt unter Anschluss von drei Heften Akten zur weiteren Ver¬ 
anlassung beifolgend ergebenst zugehen. 


Konstruktion der Schulbänke» (Jirkular-Erlass des Ministers der 
geistlichen etc. Angelegenheiten (gez. in Vertretung Lucanus) vom 
11. April 1888. U. U. No. 8891, an sämmtliche Königl. Regierungen u. s. w. 

Im Anschluss an meinen (Jirkular-Erlass vom 80. Januar 1885 (G. III. 
6603 M. 7485,) betreffend die Konstruktion pp. der Schulbänke, lasse ich den 
betheiligten Behörden meines Rossorts ein auf Grund weiterer Versuche abge¬ 
gebenes Gutachten vom 21. März 1. J. hierneben in Abschrift zur Kenntmss- 
nahme und Erwägung bei Neuanschaffung von Schulbänken zu gehen, 
Votum, betreffend die Konstruktion der Schulbänke. 

In Folge des hohen Cirkular-Erlasses vom 30. Januar 1885 G. 111. 6G03 
M. 7485, betreffend die Konstruktion pp. der Schulbänke, sind von den be¬ 
theiligten Provinzialbehörden, obgleich der grössere Thcil derselben im Allge¬ 
meinen mit den Ausführungen des ersteren sich einverstanden erklärte, doch 
so manniehfache anderweite Vorschläge gemacht worden, dass es wünschens- 
werth erschien, noch weitergehende V ersuche über die Frage anzustellen. Zu 
diesem Zwecke ist das Königliche Provinzial-Schulkollegium zu Cassel durch 
Erlass vom 20 December 1886 — U. II. 8662 — beauftragt worden, über die 
Brauchbarkeit der für verschiedene Gymnasien seines Bezirks beschafften, den 
Angaben des obigen Erlasses entsprechenden, Schulbänke zu berichten. 

Die dort und auch noch anderweit gemachten Beobachtungen lassen 
folgende Anordnungen als zweckmässig erscheinen: 

1. Für jede Klasse sind die Schulbänke in 2 bis 3 Grössen, der Körper- 
grösse der Schüler entsprechend, zu fertigen. 

2. In Volksschulen, sowie in den Vorschulen und den beiden unteren 
Klassen der höheren Lehranstalten sind gewöhnlich 4 bis 6, höchstens 8 Schüler 
auf einem Subsellium unterzubringen. Die sämmtlichen Sitze eines Subselliuma 
dieser Schulanstalten resp. Klassen werden in einer durchgehenden Bank ver¬ 
einigt, welche mit einer einfachen sicheren und dauerhaften Einrichtung zum 



222 


Verordnungen und Verfügungen. 


Verändern der Distanz zwischen Tisch und Bank zu versehen ist (System 
Hipp auf, oder ein ähnliches). 

3. Für die übrigen Klassen der höheren Lehranstalten sind Subsellien für 
2 bis 6 Schüler zu beschallen, jeder der letzteren erhält einen besonderen 
beweglichen Sitz, wenn die Subsellien für mehr als 2 Schüler eingerichtet sind. 

Erlauben es die vorhandenen Mittel und der. verfügbare Raum der Schul¬ 
zimmer, so empfiehlt sich die Beschaffung von zweisitzigen Bänken mit 
Zwischengängen. Bei dieser Anordnung sind Bänke mit unveränderlicher 
Null- oder besser Minusdistanz anzuwenden, weil die Schüler alsdann beim 
Aufstehen in die Zwischengänge hinaustreten können. 

Bezüglich der Konstruktion der Bänke ist Folgendes anzuführen: 

a) Die Bänke ad. 2 werden bis auf die Vorrichtung zum Bewegen der 
Sitzbank aus Holz in einfacher Form, aber möglichst dauerhaft — wenn möglich 
ohne Fussbrett der leichteren Reinigung der Klassen wegen, — hergestellt. 
Die Bankstollen (d. h. die seitlichen, aufrechten Begrenzungsbretter) sind für 
eine Sitzbank und den nachfolgenden Tisch gemeinsam und fest verbunden 
zu fertigen. Die Bänke werden entweder einzeln auf dem Fussboden oder auf 
gemeinsamen durchgehenden, unter den Bankstellen liegenden Schwellen be¬ 
festigt. Erstere Art der Befestigung ist vorzuziehen. 

b) Für die drei- bis sechssitzigen Subsellien ad. 3 empfiehlt sich die An¬ 
wendung von eisernen Bankgestellen, welche ebenso wie ad. a bemerkt zu 
befestigen sind. Auch hier ist das Gestell des Sitzes mit dem des nachfolgenden 
Tisches fest zu verbinden; bestehen diese Gestelle aus Gusseisen, so sind beide 
Theile (für Sitz und Tisch) in einem Stück zu giessen. 

Der nach hinten bewegliche, verschiebbare oder pendelnde Sitz ist in 
seiner Konstruktion so einfach als möglich zu halten, aber in allen Theilen 
äusserst solide herzustellen, namentlich ist darauf Gewicht zu legen, dass der 
Bewegungsmechanismus eine lange Dauer verspricht und möglichst ohne Ge¬ 
räusch funktionirt. 

Behuft leichteren Reinigens der Klasse darf die Tischplatte zum Auf¬ 
oder Ueberkiappen eingerichtet werden. Dagegen sind Einrichtungen zur 
Veränderung der Distanz durch Aufklappen oder Verschieben der Tischplatte 
nicht empfehlenswerth. 

c) Die zweisitzigen Bänke ad. 3 können sowohl in Holz als auch in 
Eisen und Holz ausgeführt werden. Im Uebrigen ist bei ihnen das vorstehend 
Gesagte zu berücksichtigen. 

d) Die Tischplatten der Schulbänke sind nach dem Schüler hin mit 
geringer Neigung zu verlegen, nur ihr oberer Theil in etwa V» der Gesammt- 
breite der Platte ist behufs Unterbringung der Dintenfässer, Federn pp. hori¬ 
zontal zu gastalten. Die Tischplatten dürfen an der dem Schüler zugekehrten 
Kante nicht mit über die Oberfläche der Platte vortretenden Leisten versehen 
werden. 

Unter der Tischplatte ist ein genügend breites Bücherbrett anzubringen. 

Im Uebrigen kann es nicht in der Absicht liegen, unbedingt massgebende 
Vorschriften über alle Einzelheiten zu geben. Oertliche Verhältnisse und 
persönliche Anschauungen spielen in dieser, wie in allen ähnlichen Fragen eine 
zu wesentliche Rolle, als dass man hotten dürfte, mit derselben jemals zum 
unbedingten Abschluss zu kommen. Es kann sich nur darum handeln, über 
einige der wichtigsten Gesichtspunkte einen gewissen Grad von Ueberein- 
stimmung zu erzielen. 


Unnothlge Yertlieuerung der Arzneien durch Verwendung von theuren 
Gefässen. Verfügung des Ministers der geistlichen etc. Angelegen¬ 
heiten (gez. in Vertr. Lucanus) vom 23. Mai 1888 M. No. 3662, an sämmt- 
liche Königl. Regierungspräsidenten bezw. Regierungen. 

In Folge wiederholt bei der Prüfung der aus öffentlichen Kassen zu be¬ 
gleichenden Arzneirechnungen und anderweitig gemachten Wahrnehmung, dass 
Seitens mehrerer Apotheker ohne jeden triftigen Grund die im Preise höher 
stehenden weissen Gläser, Patentgläser mit Glasstöpseln, elegante Salben- 
gefässe pp. an unbemittelte Kranke, sowie für Gefangene, niedere Beamte pp. 
abgegeben worden sind, hat das Königliche Polizei-Präsidium zu Berlin durch 
die in Abschrift beigefügte Verfügung vom 7. März d. J. die hiesigen Apotheker 



Literatur. 


223 


veranlasst, dafür Sorge zu tragen, dass fortan in ihren Geschäften für Kranke, 
deren Arzneien aus öffentlichen Kassen bezahlt werden nur halbweisse Gläser 
und einfache Porzellankruken abgegeben werden, und dahin zu wirken, dass 
im gewöhnlichen anderweiten Rezepturverkehr die theuren Gefässe pp. für 
Unbemittelte und massig Situirte, soweit dies im Einzelfalle bekannt ist oder 
angenommen werden kann, nur auf ärztliche Verordnung verwendet werden. 

Da durch das erwähnte ungerechtfertigte Verfahren nicht nur die öffent¬ 
lichen Kassen und das weniger gut situirte Publikum benachtheiligt werden, 
sondern der höhere Preis der weissen Gläser und sonstigen Luxusgefässe auch 
zur Erhöhung des Jahresumsatzes und damit bei etwaigem Verkaufe der 
Apotheke zur Erhöhung des Kaufpreises beiträgt, so ersuche ich Ew. Hochwohl¬ 
geboren ergebenst, falls ähnliche Missstände in den Apotheken des dortigen 
Bezirkes obwalten, die Apotheker in vertraulicher Weise, um Aufregung des 
Publikums zu vermeiden, auf das Ungehörige eines derartigen Verfahrens auf¬ 
merksam zu machen und von dem Veranlassten seiner Zeit gefälligst zu berichten. 

Anlage. 

I. A. 4372. Berlin, den 7. März 1888. 

Gelegentlich der allseitig bekannten Erörterung der homöopathischen 
Scheinverordnungen hat sich auch herausgestellt, dass Seitens der hiesigen 
Apotheker weisse Gläser ohne ersichtlichen Grund statt der halbweissen oder 
grünen Gefässe verabfolgt werden. Nachdem ähnliche Wahrnehmungen hier 
wiederholt bei der Prüfung der aus öffentlichen Kassen zu begleichenden Arznei- 
Rechnuugen gemacht, auch mehrfach privatim abfällige Äusserungen über die 
Verwendung von Luxus-Gelassen, welche ohne jeden Nutzen die Arznei ver¬ 
teuern, laut geworden sind, ersuche ich die Herren Apotheker im eigenen 
Interesse gefälligst dafür Sorge zu tragon, dass für Kranke, deren Arzneien 
aus öffentlichen Kassen bezahlt werden, nur halbweisse Gläser und einfache 
Porzellankruken abgegeben werden; im gewöhnlichen anderweiten Rezeptur- 
Verkehr aber dahin zu wirken, dass dio teuereren Gefässe pp. für Unbe¬ 
mittelte und mässig Situirte, soweit dies im Einzelfall bekannt ist oder ange¬ 
nommen werden kann, nur auf ärztliche Verordnung verwendet werden. 

Der Polizei-Präsident (gez. Frhr. von Richthofen). 


Literatur. 

(Der Redaction zur Recension eingegangen.) 

1. Wiener Dr. D., Sanitätsrath. Commentar zu den Instructionen für das 
Verfahren der Aerzte bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher 
Leichen. Wien und Leipzig. Urban & Schwarzenberg. 1888. 

2. Reuss, Hermann, Königl.-Bayerischer Bezirksamts - Assessor. Der 
Rechtsschutz der Geisteskranken auf Grundlage der Irrengesetzgebung 
in Europa und Nord-Amerika. Leipzig, Druck und Verlag der Ross- 
berg’schen Buchhandlung. 1888. 

3. v. Krafft-Ebing, Dr. R. Psychopathie sexualis. Eine klinische Studie. 
Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke. 1887. 

4. Ziehen, Theodor, Dr., Hausarzt der Landes-Irren-Heilanstalt und 
erster Assistenzarzt der psychiatrischen Klinik in Jena. Sphygmo- 
graphische Untersuchungen an Geisteskranken. Jena, Verlag von Gustav 
Fischer. 1887. 

5. Dott. Carlo Borsari Proassistente. The Casi Di Paralisi Pseudo-Ipertropica 
in tre fratelli. Napoli, Enrico Detken, Editore Piazza Plebiscito 1888. 

6. Lange, C. Dr., Prof, der Medicin in Kopenhagen. Autorisirte Ueber- 
setzung von Dr. H. Kurella: Ueber Gemüthsbewegungen. Eine psycho¬ 
physiologische Studie. Leipzig, Verlag von Theodor Thomas 1887. 

7. Bericht über die Pommersche Provinzial-Irren-Anstalt bei Ueckermünde 
in den Jahren 1875—1887 von Director Dr. F. Siemens, Medicinal- 
rath. Stettin, Druck von F. Hessenland. 1887. 

8. Wernich, Dr. A., Reg.- und Medicinalrath in Coeslin. Medicinische 
Geographie und Statistik einschliesslich der endemischen Krankheiten. 
Separatabdruck der Schmidt’schen Jahrbücher. Leipzig 1888. O. Wiegand, 



224 


Personalien. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Der Charakter als Geheimer Sanitätsrath: Dem 
praktischen Arzt Sanitätsrath Dr. Bührig in Berlin; als Sanitätsrath: den 
Kreisphysikern Dr. Falkenbach zu Mayen, Dr. Friedländer in Lublinitz 
und Dr. Mencke zu Marienborg, sowie dem Kreiswundarzt Dr. Powidzki in 
Schrimm und den praktischen Aerzten Dr. Brock in Berlin, Dr. Adams in 
Koblenz, Dr. Jul. Hirschfeldt in Berlin, Dr. Kohlhardt in Weissenfels, 
Dr. Moennig in Kalkar, Dr. Schultz in Barmen und Dr. Wolff in Tarno- 
witz. — Der rothe Adlerorden IV. Classe: dem Geheimen Sanitäterath 
Dr. Mayl&nder in Berlin und dem praktischen Arzt Dr. König in Barmen. 
— Der Kronenorden III. Classe: dem Geheimen Sanitätsrath Dr. Küpper 
in Trier. — Der Kronenorden IV. Classe: dem Kreiswundarzt Noack 
in Trier. 


Ernennungen: 

Der Königl. Preussische Stabsarzt Dr. Rahts zum Regierungsrath und 
Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in Berlin; der mit der commis¬ 
sarischen Verwaltung des Physikats des Kreises Isenhagen beauftragte prak¬ 
tische Arzt Dr. Langerhans zu Hankensbüttel zum Kreisphysikus des Kreises 
Isenhagen; der praktische Arzt Dr. Veitkamp in Remscheid unter Belassung 
an seinem Wohnsitz zum Kreiswundarzt der Kreise Remscheid-Lennep; der 
bisherige Kreiswundarzt der Kreise Duisburg-Mülheim Dr. Marx zu Mülheim 
a. d. Ruhr zum Kreisphysikus des Kreises Mühlheim; der praktische Arzt 
Dr. Brinkmann zu Christburg zum Kreiswundarzt des Kreises Stuhm; der 
seither mit der commissarischen Verwaltung der Kreis wundarztstelle des Kreises 
Sorau beauftragte praktische Arzt Dr. Steinbach in Triebei zum Kreiswund- 
arzt des gedachten Kreises; der praktische Arzt, Privatdocent Dr. Beumer zu 
Greifswald zum Kreisphysikus des Kreises Greifswald. 

Kommissarisch übertragen: 

Die Stelle des chirurgischen Assessors im Medicinalkollegium für die 
Provinz Sachsen: dem Stabsarzt Dr. Schattenberg zu Magdeburg. 

Verstorben sind: 

Die praktischen Aerzte: Dr. Büsch in Esch; Dr. Caesar in Eisleben, 
Dr. Caesar in Hettstädt, Dr. Humpert in Crumbach, Dr. Lembeck in 
Burladingen, Dr. Meyerhoff in Berlin, Rohde in Barth, Dr. Schneider in 
Volmarstein, Dr. Schütte in Nordhausen, Dr. Maryolinski in Christburg, 
Dr. Guttmann in Vietz und Geh. Sanitätsrath Dr. Methner in Breslau. 

Vakante Stellen: 

Kreisphysikate: Darkehmen, Johannisburg, Putzig, Briesen, Znin, 
Filehne, Witkowo, Koschmin, Neutomischel, Schildberg, Schmiegel, Ohlau, 
Kalbe, Mansfeldt (Gebirgskreis), Gramm, Neustadt a. R., Adenau und Ober¬ 
amt Gammertingen. 

Kreiswundarztstellen: Fischhausen, Labiau, Mohrungen, Darkehmen, 
Heydekrug, Oletzko, Ragnit, Tilsit, Karthaus, Loebau, Marienburg, Anger¬ 
münde, Templin, Friedeberg, Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West-Stern¬ 
berg, Regenwalde, Bütow, Dramburg, Schievelbein, Bomst, Meseritz, Schroda, 
Wreschen, Strehlen, Görlitz, Hoyerswerda, Reichenbach, Falkenberg o./Schl., 
Grottkau, Wanzleben, Saalkreis, Merseburg, Naumburg a.S., Koesfeldt, Borken, 
Recklinghausen, Steinfurt, Warendorf, Höxter, Warburg, Lippstadt, Meschede, 
Fulda, Hünfeld, Kempen, Zell, Kleve, Bergheim, Rheinbach, Wipperfürth, 
St. Wendel und Haigerloch. 


Fiiistl. iJiiv. ITufbnclidnickcrel (F. Mllzlafli, n»nl..l.stailt. 



Jahrg. 1. 


1888 , 


Zeitschrift 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

Gerichtl. Sudtphysikus in Berlin.. IAeg.- und Medicinalrath in Aurich. 

und 

Dr. W1LH. SANDER 

Mediciiuilrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 


No. 8. 


Krtfhflni mm 1. Jede« 91 onmt». 

Preis jährlich 6 Mark. 


1. August. 


INHALT: 


Seite 


Original-Mittheiluneren: 

Obdnotlonsberlcht über die Todesur¬ 
sache der unverehelichten Bertha F. 

Von Dr. Mltt^nzwelg .225 

Ein Fall von akuter, tödtltch verlaufener 
Vergiftung mit Bleiwelss. Von Dr. M. 

Freyer .231 

Znr Casrnlstik des plötzlichen Todes. 

Von Dr. Mlttenzweijr .233 

Die Betheiligung der preussischen Modl- 
einalbeamten auf dem Gebiete der 
Schulhygiene. Von Dr. Blokusewski . 241 


Seite 


Kleinere Mitteilungen.246 

Referate: 

Dr. H. Cohn, Dlo Schular/.tdebatte auf 
dem Internationalen hygienischen Kon¬ 
gresse zu Wien.249 

Wiener. Dr. I). Comraentar zu den In¬ 
structionen für das Verfahren etc. . 249 
»tolitzky, Dr. Aug. Sunltätspollzelllche 

Gutachten etc. . . 250 

Verordnungen und Verfügungen . 252 

Personalien.263 

Die Hauptversammlung des preuss. 
Medicinalbeamtenvereins ... 265 


Obductionsbericht Uber die Todesursache der unver¬ 
ehelichten Bertha F. 

Von Dr. Mittenzweig. 

I. Gr e s c h i c h t s e r z ä h 1 u n g. 

» 

Die unvereheliclite Bertha F. von liier, geboren (len 25. Sep¬ 
tember 1859, fühlte sich im Anfänge d. J. schwanger und begab 
sich auf Anrathen der Pauline R. zu der in der Alexandrinen- 
strasse wohnenden unverehelichten Amanda J., um sicli die Frucht 
abtreiben zu lassen (Fol. 2 und 3 der Acten). 

Die Pauline R. hatte sich nämlich vor einiger Zeit in 
ähnlicher Lage befunden und Hilfe bei der J. erhalten. Sie 
äusserte sich (Fol. 41 der Acten) mir gegenüber über das bei 
ihr von der J. eingeschlagene Verfahren folgender Massen: „Frau 
J. stellte mich mit dem Rücken gegen die Wand und führte 
zuerst ihre linke Hand in meine Geschlechtstheile. Unter Leitung 
dieser führte sie mir dann eine grosse zinnerne Spritze in die 
Scheide ein. Die Spritze hatte ein circa 15 cm langes, etwas 
gebogenes Ansatzrohr, welches vorn eine eichelförmige durch¬ 
löcherte Spitze besass. Dann nahm sie die Hand heraus und 
entleerte durch Drücken am Stempel der Spritze eine Flüssigkeit 

15 











226 


Dr. Mittenzweig. 


in meine Scheide, deren Ablaufen ich fühlte. Diese Einspritzung 
nahm sie an drei auf einander folgenden Tagen täglich einmal 
mit mir vor, und zwar war die Flüssigkeit an den beiden ersten 
Tagen warm, an dem dritten Tage kalt. Am Abend des dritten 
Tages trat mein Blut ohne Schmerzen ein und dauerte, wie 
gewöhnlich 6—7 Tage. Seitdem trat die Regel wieder regel¬ 
mässig ein.“ 

. In ähnlicher Weise und höchst wahrscheinlich unter Benutzung 
derselben Spritze hat die J. am 27. Februar d. J. die Bertha F. 
behandelt. Denn wie die F. Fol. 2 und 51—52 dem Dr. M. be¬ 
richtet, hat die J. ihr mittelst einer grossen Spritze, deren Grösse 
die einer Klystierspritze zeigte, eine Flüssigkeit in die Scheide 
eingespritzt, nach welcher sie (FoL 3) heftige Schmerzen verspürte. 

Die J. bestreitet diese Angaben der R. und F. insoweit, als 
sie die Absicht des künstlichen Abortes leugnet. Sie habe in 
beiden Fällen nur ärztlichen Beistand leisten wollen, bei der 
R., um die durch Erkältung ausgebliebene Regel durch eine 
warme Kamilleneinspritzung wieder herbeizuführen, bei der F., 
um die entzündeten Geschlechtstheile zu curiren. Im ersteren 
Falle giebt sie zu, der R. einmal eine Ausspülung mit warmem 
Wasser und eine Ausspritzung mit schwarzem Kamillenthee ge¬ 
macht und dabei die später zu beschreibende Spritze benutzt zu 
haben. „Als ich der R. eine Ausspülung machte, ging ich mit 
der Spritze nur in die Scheide, als ich ihr dann eine Ausspritzung 
machte, ging ich tiefer, ob in die Gebärmutter, weiss ich nicht.“ 

Bezüglich der F. giebt sie dies nicht zu, sondern äussert sich: 
„Mit der Mutterspritze bin ich gar nicht in die Scheide gekommen, 
denn die F. liess es nicht zu, weil ihre Schmerzen zu gross 
waren. Die F. hatte solche Schmerzen, dass sie nicht allein zur 
Droschke gehen konnte,“ Sie will die Sache so auslegen, als ob 
bei der F. schon vorher anderweitig Manipulationen vorgenommen, 
und die F. bereits krank zu ihr, der J., gekommen wäre. 

Anfänglich leugnete die J. überhaupt, im Besitz einer solchen 
Spritze zu sein. Als die Spritze indess in der Folge aufgefunden 
wurde, gestand sie ein, bei der R. diese Spritze gebraucht zu 
haben. Diese Spritze besteht aus einem zinnernen Hohlcylinder 
von 20 cm Länge und 16 cm Umfang, welche einen hölzernen 
Stempel und ein zinnernes Ansatzrohr besitzt. Das Ansatzrohr 
ist wenig gebogen, 21 cm lang, hat 3 cm im Umfang und endet 
an der Spitze in Eichelform, an dieser befinden sich 7 kleine 
Oeffnungen zur Entleerung des Spritzeninhaltes. 

Ausserdem findet sich noch ein Reserverohr ohne Stempel 
und Ansatzrohr vor. 

Die F. fuhr nach der Behandlung am 27. Februar unter 
grossen Schmerzen nach Hause und kam am nächsten Tage nicht 
zur J., sondern erkrankte dermassen, dass sie am 4. März in die 
Charitä "aufgenommen werden musste. 

Hier stellte der Oberarzt Dr. M. am 5. März fest, dass die 
Patientin im 5. Monate schwanger sei und dass sie im Scheiden¬ 
gewölbe hinter der hinteren Muttermundslippe ein für einen Blei- 



Obductionsbericht über die Todesursache der unverehelichten Bertha F. 227 


stift durchgängiges Loch habe, aus welchem Eiter und Gasblasen 
hervorquollen. Auch will die Patientin in der Folge bemerkt 
haben, dass Flatus per vaginam abgingen. 

In den nächsten Tagen erbrach sie Koth, und liess sich links 
in der seitlichen Bauchgegend eine schmerzhafte, handbreite 
Dämpfung nachweisen. Dieses Exsudat stieg bis zur Milzdämpfung. 
Und am 13. erschien ein solches auch rechts. Am 16. März 
erfolgte die Ausstossung einer Frucht, deren einer Arm eine 
schwärzliche Verfärbung zeigte. Am Nachmittage wurde die 
Placenta nebst Eihäuten in der Chloroformnarkose entfernt. 

Am 17. März erfolgte der Tod durch Bauchfellentzündung. 


II. Auszug aus dem Obductionsprotokoll vom 21. März. 

1. Die Leiche der weiblichen, 27 Jahre alten Person ist 
157 cm lang, von gracilem Körperbau, guter Muskulatur und 
guter Ernährung. 

2. Die Farbe der Haut ist grauweiss mit einem Stich ins 
Gelbliche. 

15. Die äusseren Geschlechtstheile sind nicht Verletzt. 

39. Die Bauchdecken sind mässig fetthaltig, ihr Bauchfell¬ 
überzug ist getrübt, mit flockigen gelben Auflagerungen versehen 
und mit der Leber, dem Netz und einem Theile der Därme locker, 
mit den im Becken gelegenen Theilen fester verwachsen. 

Die vorliegenden Därme sind blassgrau, von Luft aufge¬ 
trieben, stellenweise mit rothen Strichen versehen. Netz, Leber 
und Darm sind mit einander verklebt. Das Zwerchfell steht 
links hinter der dritten, rechts hinter der vierten Rippe. Im 
unteren Theile der Bauchhöhle liegt flüssiger, gelber Eiter, von 
welchem 400 Gramm aufgefangen werden. 

51. Die Darmparthien sind vielfach mit einander verwachsen, 
und Jiegen vom Becken bis zum Zwerchfell mehrfach dadurch 
gebildete Eiterhöhlen, welche mit dickflüssigem Eiter gefüllt sind. 
Es werden im Ganzen 700 Gramm Eiter aus der Bauchhöhle 
herausgeschöpft. 

56. Die Scheide ist wenig gefaltet, von schmutziggrüner 
Farbe, und liegt im Scheidengewölbe eine fetzige graugrüne 
übelriechende Masse, welche auf dem Durchschnitt ebenfalls grau¬ 
grün aussieht. Diese stinkende Masse verdeckt eine Oefihung im 
Scheidengewölbe, welche hinter der hinteren Muttermundslippe 
liegt, 3 cm lang ist und ungefähr 1 cm klafft. Diese Oeffnung 
ist quergestellt, glänzend glatt und führt in einen Kanal zwischen 
Mastdarm und hinterer Wand der Gebärmutter. Der Kanal er¬ 
weitert sich zu einer Höhle, die einen Durchmesser von 5 cm hat, 
von fetzigen schwarzgrünen Wandungen umgeben ist und nach 
dem Douglas’schen Raum hin nur durch dünnes Gewebe be¬ 
grenzt wird. 

58. Der Mastdarm enthält dünnflüssigen gelben Koth, seine 
Schleimhaut ist grünlich-grau. 


15 * 



228 


Dr. Mittenzweig. 


59. Die Gebärmutter ist 12 cm lang, 10 cm breit, die 
Muttermundslippen sind glatt, die innere Gebärmutter ist mit 
schwarzrothen Fetzen bedeckt. Ein grösserer graurother Fetzen 
liegt im Fundus und ist auf dem Durchschnitt rothgrau, sodass 
er unmerklich in das graue Gewebe der Gebärmutter übergeht. 
Die seitlichen Anhänge sind unverändert. 

60. Der Wurmfortsatz ist dünn und unverletzt. 

m. Motivirtes Gutachten. 

In dem vorläufigen Gutachten hatten wir gesagt: 

1) Die Obducirte ist an eitriger Bauchfellentzündung gestorben. 

2) Die Bauchfellentzündung ist die Folge der unter No. 56 
beschriebenen Verletzung der Scheide gewesen. 

3) Es ist höchst wahrscheinlich, dass diese Verletzung ent¬ 
standen ist bei Versuchen der Abtreibung. 

Nach Kenntnissnahme von den Vorgängen vor der Er¬ 
krankung der F. lässt sich dies Gutachten in allen 3 Punkten 
aufrecht erhalten und bezüglich des dritten Punktes statt der 
hohen Wahrscheinlichkeit die Gewissheit der Entstehung der 
Verletzung bei Versuchen der Abtreibung behaupten. 

1) Dass Bertha F. an eitriger Bauchfellentzündung gestorben, 
hat bereits die Krankengeschichte ergeben, und dieses Ergebniss 
ist durch die Obduction bestätigt worden. 

Der Tag, an welchem die Bauclifellentzündung begonnen 
hat, ist zwar mit Sicherheit nicht festzustellen. Denn als die 
F. Koth erbrach, über rechtseitige Schmerzen klagte und die 
örtliche Untersuchung daselbst einen entzündlichen Tumor ergab, 
war die Entzündung örtlich bereits vorhanden. Wir erfahren 
aber, dass die Entzündung vom Tage ihrer Konstatirung an un¬ 
aufhörlich vorwärts schreitet. Am 5. März constatirt Herr 
Dr. M. nur das Vorhandensein einer Scheidenverletzung, aus 
welcher Eiter und Gasblasen hervorquollen. In den nächsten 
Tagen traten die Erscheinungen der Peritonitis, Kothbrechen, 
Schmerzen und rechtsseitiger Tumor auf, die Schmerzen steigerten 
sich, das Exsudat stieg links in die Höhe, und bildete sich unter 
Schmerzen ein solches auch in der rechten Seite. Am 16. März 
erfolgte die Entbindung und am 17. März der Tod. 

Man wird natürlich fragen: In welchem ursächlichen Zusam¬ 
menhang mit der Bauchfellentzündung und mit dem Tode stand 
die am 16. erfolgte Entbindung? Es ist wohl über jeden Zweifel 
erhaben, dass sie in Folge der Bauchfellentzündung eingetreten 
ist, und nicht minder zweifelhaft ist es, dass sie die durch die 
Krankheit herbeigeführte Entkräftung noch verstärkt und dadurch 
den Eintritt des Todes beschleunigt hat. Ein Mehreres indess 
lässt sich nicht zugeben. Im Gegentheil darf man mit Wahr¬ 
scheinlichkeit annehmen, dass ohne das Vorhandensein der Bauch¬ 
fellentzündung die Geburt nicht vorzeitig erfolgt, und selbst wenn 
sie unzeitig erfolgte, doch ohne wesentlichen Schaden für Leben 
und Gesundheit vor sich gegangen wäre. Die Frucht wurde leicht 
geboren, und die Nachgeburt in der Narcose ohne Schwierigkeit 



Obductionsbericht über die Todesursache der unverehelichten Bertha F. 229 


geholt. Die Obduction aber hat ergeben, dass die Gebärmutter 
selbst weder durch den Abortversuch, noch durch die Entbindung 
geschädigt worden ist, dass sie vielmehr, wie wir unten sehen 
werden, nicht beschädigt und auch nicht entzündet war. 

Somit ist als alleinige Todesursache die eitrige Bauclifell- 
entzündung anzusehen, welche 700 gr. Eiter geliefert und 
durch Ausdehnung der Bauchhöhle das Rippenfell bis zur 3. und 
4. Rippe hinaufgedrängt, die Lungen also auf einen kleinen Raum 
beengt hatte. 

2) Als Ursache für die Entstehung dieser tödtlichen Bauch¬ 
fellentzündung ist allein der unter No. 56 beschriebene Becken- 
abscess, welcher durch die Scheidenverletzung entstanden ist, an¬ 
zusehen. Wir wissen, dass eitrige Bauchfellentzündungen nur da 
zu Stande kommen, wo Entzündungserregern die Möglichknit des 
Eindringens in die Bauchhöhle gestattet w r ar. Denn von der An¬ 
nahme sogenannter rheumatischer Bauchfellentzündungen kommt 
man täglich mehr zurück. 

Als einzige Eingangspforte für die Entzündungserreger haben 
wir im vorliegenden Falle die hintere Wand des Douglas’schen 
Raumes vorgefunden. Denn in ihrer unmittelbaren Nähe befand sich 
die bei der Section Vorgefundene grüngraue Abscesshöhle, aus welcher 
der im Leben constatirte Inhalt allerdings entleert war, wahrschein¬ 
lich durch reinigende Scheideneinspritzungen, welche nach der Ge¬ 
burt vorgenommen zu werden pflegen. Dieser Äbscess bestand bereits 
am Tage der Aufnahme der' Patientin in die CharitA Er ent¬ 
hielt, wie die klinische Beobachtung feststellte, schon zu Leb¬ 
zeiten gashaltigen, d. h. faulenden Eiter und hatte, wie die Ob¬ 
duction ergab, grünliche, faulige Wandungen. Eine directe Com- 
munication mit dem Douglas’schen Raum hat die Obduction 
nicht ergeben. Eine solche mag bei Lebzeiten indess bestanden 
haben oder nicht, auf jeden Fall bot der nur durch eine dünne 
Wand getrennte Eiter Gelegenheit zur Infection der Bauchhöhle, 
zum Eintritt von eitrigen Entzündungserregern in dieselbe. Und 
zwar ist dieser Abscess die einzige locale Noxe, welche die eitrige 
Bauchfellentzündung erklärt. Denn in den Organen der Bauch¬ 
höhle oder ihrer Nachbarschaft haben wir nirgends eine Eiterung 
oder Krankheit vorgefunden, namentlich nicht in dem wurmför¬ 
migen Fortsatz des Blinddarmes oder in der Gebärmutter selbst. 

Auch für die Entstehung der Bauchfellentzündung aus einer 
Allgemeinerkrankung hat weder die klinische Beobachtung, noch 
auch die Section irgend einen Anhalt geboten. 

3) Dieser Beckenabscess mündete nach unten in das Scheiden¬ 
gewölbe hinter der hinteren Muttermundslippe. Der Eingang in 
die Scheide war nicht mehr frisch wund, oder geschwiirig, sondern 
bereits glatt, während die Abscesswandungen selbst noch fetzig 
sich erwiesen. Es spricht dieser Umstand dafür, dass die Schleim¬ 
hauttrennung bereits Zeit gehabt hatte zu vernarben, so dass 
von der Abscesshöhle in die Scheide oder umgekehrt ein glatter, 
lippenförmiger Gang führte. 



230 


Dr. M. Freyer. 


Derartige Abseesse im Zellgewebe um den Mastdarm köuuen 
sich unter Umständen spontan bilden, sich dann in das Scheiden¬ 
gewölbe öffnen und ihren Eiter durch die Scheide entleeren. In 
unserem Falle hören wir aber nichts von einer solchen Ent¬ 
wickelung. Auch hat die Obduction am Mastdarra, im Zell¬ 
gewebe oder im Douglas’sehen Raum einen Anhalt für solche 
Vorgänge nicht ergeben. Wir erfahren vielmehr aus dem Munde 
der Verstorbenen Umstände, aus welchen die traumatische Ent¬ 
stehung des Abscesses von der Scheide aus erhellt. 

Die F. kam am 27. Februar schwanger, aber körperlich ge¬ 
sund zur J. Denn der gegentheiligen Aeusserung der J., dass 
die äusseren Geschlechtstheile entzündet gewesen, ist nicht der 
mindeste Glaube zu schenken, da die F. erst während des 
Aufenthaltes bei der J. die heftigen Schmerzen bekam, wie sie 
bestimmt versichert, nachdem die J. die Einspritzung gemacht 
hatte. Auch die behandelnden Aerzte haben eine Entzündung 
der äusseren oder inneren Geschlechtstheile selbst nicht vorge¬ 
funden und ebenso wenig hat die Obduction eine solche ergeben. 

Wir hören nun ferner von der F., dass die J. ihr mit einer 
grossen zinnernen Klystierspritze die Einspritzung gemacht habe 
und trotz des Leugnens der J. ist mit Sicherheit anzunehmen, 
dass dies mit der Vorgefundenen Spritze geschehen, und mit 
höchster Wahrscheinlichkeit, dass die J. dabei ebenso verfahren 
ist, wie bei der R. 

Die J. bedient sich nach Angabe der R. eines recht geeig¬ 
neten Verfahrens zur Einleitung des Abortes, aber eines Ver¬ 
fahrens, welches so gewaltsamer Art ist, dass es bei dem ge¬ 
ringsten Versehen die tödtlichsten Verletzungen an Gebärmutter 
oder ihrer Umgebung zu Stande bringen kann. Und so ist es 
auch bei der F. geschehen. 

Die J. hat augenscheinlich auch hier die eichelförmige Spitze 
der Klystierspritze in den Gebärmuttermund einführen wollen, ist 
nun aber nicht hineingekommen oder hat die Spitze wieder 
herausgleiten lassen. Dabei hat sich dieselbe in die Gewölbs- 
nische hinter die hintere Muttermundslippe verirrt. Um die 
Spitze recht tief in die Gebärmutterhöhle zu drängen, hat dann 
die J. die Spritze weiter hineingeschoben und mit der eichelför¬ 
migen Spitze die Scheidenschleimhaut durchbohrt, so dass sich 
bei der nunmehr folgenden Entleerung der Spritze ihr Inhalt in 
das Gewebe zwischen Douglas’sehen Raum und Mastdarm er¬ 
gossen hat. Diese Procedur war recht geeignet, um die Vorge¬ 
fundene Verletzung zu machen. Sie erklärt den heftig eintreten¬ 
den Schmerz, der die F. zwang, per Droschke nach Hause zu 
fahren. Sie erklärt die Verletzung der Scheide an dieser Stelle 
und den darüber sich entwickelnden Abscess. Bis zum 5. März 
hatten die Wündränder Zeit zu vernarben, während der Abscess 
sich entwickeln und nach dem Bauchfell zu die Entzündung 
tragen konnte. Und so erklärt denn die Zeit, der Ort und die 
Art des Eingriffes in jeder Weise die Entstehung der Scheiden- 
verletzung und der Beckeneiterung. 



Ein Fall von akuter, tödtlich verlaufener Vergiftung mit Bleiweiss. 231 

Wir geben deshalb unser definitives Gutachten dahin ab, dass 
die Bertha F. an den Folgen der von der Amanda J. am 
27. Februar d. J. an ihr vorgenommenen Einspritzungen ge¬ 
storben ist. 


Ein Fall von akuter, tödtlich verlaufener Vergiftung 

mit Bleiweiss. 

Von Dr. M. Freyer, Kreisphysikus in Stettin. 

So häufig chronische Bleivergiftungen beobachtet werden, 
so selten sind akute Vergiftungen mit Bleipräparaten und noch 
seltener solche mit Bleiweiss, so dass in Maschka’s Handbuch 
der ger. Medic. (Bd. II, S. 271, Seidel, Vergiftungen) nur über 
einen einzigen derartigen, tödtlich verlaufenen Vergiftungsfall 
berichtet werden kann. Eine Vermehrung der bezüglichen Ca- 
suistik wird daher für nothWendig gehalten, und ich verfehle 
nicht, nachstehenden Fall, so weit derselbe forensisch interessirt, 
bekannt zu geben. 

Eine verheirathete, im Anfänge der Dreissiger stehende Frau 
hatte sich in der Meinung schwanger zu sein, von einer Karten¬ 
legerfrau ein Mittel zur Abtreibung der Leibesfrucht geben las¬ 
sein, wie sie dies schon vier Monate vorher gethan hatte. Das 
Mittel bestand nach eigener Angabe dieser Frau aus Bleiweiss- 
puver und Blutreinigungstropfen; ersteres hatte sie für 5 Pf., 
letzteres für 10 Pf. in einer Droguenhandlung gekauft und bei¬ 
des in der Wohnung der Patientin in einem halben Glase Wasser 
zum Einnehmen zusammengemischt. 

Während die Frau am Abend noch ihre Wirthschaftsangele- 
genheiten besorgte und anscheinend gesund zu Bett ging, stand 
sie am nächsten Morgen nicht mehr auf, klagte über Schmerzen 
im Hinterkopfe und musste oft erbrechen. Je mehr sie in 
Folge des sie quälenden Durstes trank, desto mehr erbrach sie; 
wie das Erbrechen zu Anfang ausgesehen, konnte nicht mehr er¬ 
mittelt werden, später sah es intensiv grün aus. Neben den 
Kopfschmerzen bestanden Kreuzschmerzen; unter Zunahme der 
Krankheitserscheinungen und starkem Körperverfall traten in der 
Frühe des vierten Krankheitstages Krämpfe ein, die sich noch 
oft wiederholten und unter denen bereits am fünften Krankheits¬ 
tage Mittags der Tod erfolgte. Der Arzt war erst nach dem 
ersten Krampfanfalle herbeigeholt worden und hatte, da ihm die 
Kranke von dem Einnehmen des Abtreibungsmittels nichts ver- 
rieth, in ähnlicher Weise wie vor 4 Monaten, an das Vorhanden¬ 
sein einer Gallensteinkolik gedacht. Stuhlgang scheint erst nach 
dem jetzt verordneten Clystier zum ersten Male während der 
Krankheit erfolgt zu sein, während die Kranke seitdem bis zum 
Tode dünnen Stuhl unter sich liess. Der Arzt hatte die Kranke 
sehr verfallen aussehend, etwas apathisch und am nächsten Tage 



232 


Dr. Mittonzweig. 


kurz vor dem Tode bereits benommen gefunden. Uebelriechender 
Athem oder Verfärbung der Zähne bez. des Zahnfleisches ist 
nicht beobachtet worden; doch wurde bald nach dem Tode, als 
die Leiche an die Erde gelegt wurde, an den Oberschenkeln und 
später auch auf der Unterlage, auf der die Leiche gelegen,Blut 
bemerkt. 

Der Ehemann der Verstorbenen deponirte, dass die letztere 
schon einmal 4 Monate vorher unter ganz gleichen Erscheinungen 
erkrankt war, dass sie damals aber nur 3—4 Tage bettlägerig 
gewesen und dass keine Krämpfe aufgetreten seien. Nach Aus¬ 
sage der Hebamme sind damals bestimmte Zeichen des vor sich 
gegangenen Abortes vorhanden gewesen, und eine Nachbarin will 
selber damals den Abgang eines grösseren Blutklumpens bemerkt 
haben. 

Die Section der Verstorbenen ist leider erst sechs Tage 
nach dem Tode bei weit vorgeschrittener Fäulniss der Leiche 
gemacht worden. Es interessirt hier vorwiegend der Befund am 
Magen, dessen Wandungen beim Herausnehmen sich sehr weich 
erwiesen und leicht einrissen. Er enthielt etwa 50 Gramm einer 
dunkelrothen, trüben Flüssigkeit ohne besonderen Geruch und 
von schwach saurer Reaction. Die abgespülte Schleimhaut des 
Magens hatte in der Nähe des Zwölffingerdarmes eine röthliche, 
am Magengrunde eine mehr schwärzliche Farbe und sah hier 
wie mit Kohlenstaub bestreut aus. Einschnitte in die bei¬ 
den genannten Stellen der Magenschleimhaut ergaben nirgends 
freiergossenes Blut, ebenso wenig sind blutgefüllte GefässVer¬ 
zweigungen, noch oberflächliche Abschürfungen oder Anätzungen 
irgendwo zu bemerken gewesen. 

Der übrige Darmtraktus enthielt vorwiegend einen dünn¬ 
flüssigen Inhalt, die Zunge hatte einen grauen, körnig aussehen¬ 
den Belag, der, zwischen die Finger genommen, sich weich an¬ 
fühlte und sich leicht zerdrücken liess, während ein gleicher 
Belag sich im Rachen, auf dem Kehldeckel und im oberen Theile 
der Speiseröhre befand. 

Gravidität lag nicht vor; im linken Ovarium befand sich ein 
nahe 1 cm im Durchmesser grosses, braunrothes corpus luteum. 

Die chemische Untersuchung hat ergeben, dass in den 
Leichentheilen Spuren von Blei nachzuweisen waren, während 
anderweitige Gifte in denselben nicht zu finden gewesen sind. 

Um festzustellen, wie viel Bleiweiss und wie viel von den 
Blutreinigungstropfen von der Verstorbenen genommen worden 
war, kaufte ich für die oben angegebenen Beträge aus derselben 
Droguenhandlung die genannten Präparate und erhielt 45 Gramm 
Bleiweiss und 16 Gramm Tropfen. Die letzteren haben folgende 
Zusammensetzung: Turion. Pini 3, Lign. Guajaci 2,. Lign. Sassa¬ 
fras 1, Fruct. Junip. 1, Spirit, vini dilut. 36, durch Digeration zu 
bereiten. Es ist klar, dass diesen Tropfen ein Antheil an dem 
Tode hiernach nicht vindicirt werden kann. Eben so wenig sind 
in dieser Beziehung die vom Arzte am Tage vor dem Tode noch 



Zur Casnistik des plötzlichen Todes. 


233 


verordneten Opium-, Baldrian- bez. Biebergeiltropfen iu Betracht 
zu ziehen. 

Unter den anatomischen Befunden ist somit nur die schwärz¬ 
liche Verfärbung der Magenschleimhaut hervorzuheben, die als 
Einwirkung des aus den Speiseresten sich bildenden Schwefel¬ 
wasserstoffes auf das Blei aufzufassen ist, wobei sich eben 
Schwefelblei bildet. 

Das Quantum von 45 Gramm war vollauf ausreichend, eine 
tödtliche Vergiftung herbeizuführen. Nach Seidel (s. o.) haben 
Dosen von 20—25 Gramm schwere Vergiftungserscheinungen 
veranlasst, und der von ihm erwähnte Todesfall betraf ein 
5jährige8 Kind, das ein mit Oel verriebenes Stück Bleiweiss von 
der Grösse einer Marmorkugel (also etwa 5—10 Gramm) ver¬ 
schluckt hatte und erst nach 3 Tagen starb. Dass trotz Ein¬ 
führung so grosser Quantitäten von Blei hernach in den Leichen- 
theilen nur Spuren davon nachzuweisen waren, beruht theils auf 
der schon bei Lebzeiten durch Erbrechen bewirkten Ausscheidung 
des grössten Theiles des Präparates, theils darauf, dass das Blei 
im Magen Bleialbuminate bildet und, einmal in die Körperge¬ 
webe übergegaugen, schwer lösliche Verbindungen eingeht, aus 
denen es dem Chemiker nur schwer gelingt, das Blei freizu- 
legen. 

Die Wirkung beginnt, wie auch in dem vorliegenden Falle, 
meist erst nach einiger Zeit, da die Bleipräparate und besonders 
das Bleiweiss schwer lösliche Körper sind. 

Das nach dem Tode bemerkte Blut an den Beinen und auf 
der Unterlage endlich dürfte vielleicht von einer zum Schluss 
noch eingetretenen Uterinblutung hergerührt haben, da nach 
C. Paul (Buchheim, Lehrbuch der Arzneimittellehre, S. 240) 
bleikranke Frauen während der Anfälle an Uterinblutungen lei¬ 
den und fast, jede Schwangerschaft bei ihnen mit einem Abort zu 
enden pflegt. 


Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 

Ein Fall von Thrombose beider Lungenarterien durch 
embolische Thromben des rechten Herzens. 

Von Dr. Mittonzweig. 

(F ortsetzung.) 

B. Die Folgen der Gefflssrerstopfnng. 

Von den allgemeinen Folgen der GefässVerstopfung gilt noch 
heute das klassische Bild, welches Cohnheim in seiner allge¬ 
meinen Pathologie entworfen hat. (cf. auch Virchow’s gesammelte 
Abhandl. S. 455 ff. u. Handbuch der spec. Pathol. u. Therap. 
Bd. I, S. 156). 

Dieselben sind verschieden nach der Art des Verschlusses, 
nach der functioneilen Bedeutung des verstopften Gefässes, nach 




234 


Dr. Mittenzweig. 


der Beschaffenheit des verstopfenden Pfropfens, nach dem Gewebe 
des ergriffenen Organes und nach manchen anderen Umständen, 
deren Werth erst in zweiter Reihe zählt. Anders sind die Folgen 
bei einem total obstruirendem Pfropfe als bei einem solchen, der 
den Blutstrom nur einengt, anders bei Verstopfung einer Arterie 
als bei einer Vene, anders bei Verlegung einer Endarterie als 
bei einer Arterie mit collateralen Verbindungen, anders bei einem 
gutartigen als bei einem bösartigen Pfropfe, anders sind schliess¬ 
lich die Folgen einer Gefässverstopfung in der Lunge als 
einer solchen im Herzen, im Gehirn, in der Milz, in den Nieren, 
in der Leber, im Magen, im Darm u. s. w. 

Wird z. B. bei einer Arterienverstopfung die ganze Lichtung 
des Gefässes geschlossen, so sind die mechanischen Folgen der 
Stromunterbrechung verschiedene, je nachdem zwischen dem 
Thrombus und dem von der Arterie versorgten Kapillargebiet 
noch eine Kollaterale liegt, welche den Kapillaren von dem 
offenen Rohre oberhalb des Thrombus her arterielles Blut zufuhrt 
oder je nachdem ein solcher Weg nicht vorhanden, die verstopfte 
Arterie vielmehr eine Endarterie ist. Ist eine hinreichend grosse 
Kollaterale (Anastomose) vorhanden, so werden die Kapillaren 
des Territoriums der verstopften Arterie durch diese mit arte¬ 
riellem Blute gespeist. Ist dieses aber nicht der Fall, ist ent¬ 
weder gar keine Anastomose da oder nur eine solche mit so 
geringem Kaliber, dass sie einen hinreichenden Ersatzstrom nicht 
führen kann, so entleeren sich die Kapillaren des betroffenen 
Gebietes und der von ihnen ernährte Körpertheil wird anämisch. 
Denn auch der Druck in den benachbarten Kapillaren reicht nicht 
aus, um sie mit Blut zu füllen, und das geringe Ansteigen des 
Druckes in den benachbarten Arterien übt diesbezüglich keinen 
bemerkbaren Einfluss aus. Die Folge dieses Druckmangels ist, 
dass die Arterie und die Haargefässe im Hinterterrain der Ver¬ 
stopfung sich entleeren und sich auf ihr absolutes Lumen contra- 
hiren und dass dieser Zustand anfänglich die Regel bildet für 
das ganze Gebiet bis in die Nähe der dazu gehörigen Vene. 
In dieser wird der Strom bei der mangelnden vis a tergo ein 
rückgängiger und bleibt es so lange, bis durch die hierdurch ein¬ 
tretende Füllung des versperrten Gefässgebietes die neue Kapillar¬ 
füllung eine gleiche Spannung erreicht hat, wie diejenige ist, 
welche in der Vene herrscht. Letzteres Verhältnis kann natürlich 
nur in Gebieten mit klappenlosen Venen eintreten. 

Der anämische oder ischämische Körpertheil ist anfänglich 
blass, kühl und welk, seine Funktion und Ernährung leidet, er 
wird atrophisch und wenn die Zufuhr ganz fehlt, nekrotisch. 
Seine Gefässe erweitern sich, ihre Wandungen werden verändert, 
durchlässig, und wenn sie flüssiges Blut enthalten, tritt dieses in 
das benachbarte Gewebe resp. auf die freie Oberfläche, wie z. B. 
in den Lungen. Wir bekommen das Bild des hämorrhagischen 
Infarctes, welcher die Folge der corabinirten Wirkung der An¬ 
schoppung des Blutes in den Gefässen und der Durchlässigkeit 
der Wandungen der Kapillaren und Venen ist. 



Zur Canuistik des plötzlichen Todes. 


235 


Die weiteren Veränderungen dieser Infarcte finden wir 
detaillirt beschrieben von Weigert in Virchow’s Archiv Bd. 79, 
welcher dieselben vom Gesichtspunkte der allgemeinen Coagula- 
tionsnekrose beurtheilt. So interessant die Darstellung dieser 
einzelnen Vorgänge ist, so müssen wir doch au dieser Stelle auf 
ein näheres Eingehen auf diese Veränderungen verzichten. 

Auch bei versperrender Thrombose in den Venen staut sich 
das Blut vor dem Widerstande und verlangsamt seinen Lauf 
hinter demselben. Die Drucksteigerung erstreckt sich indess nur 
bis auf die Venenwurzeln, nicht in die Nachbargebiete hinein. 
Das gesammte Verhältniss aber gestaltet sich günstiger als bei 
einer Arterienverstopfung, denn die Venen sind reicher an Kolla- 
teralen, sie sind weniger elastisch und ihre Wandungen sind 
schwächer gebaut. Deshalb findet ein Ausgleich der Blutver¬ 
sorgung hier ungleich leichter statt als im obigen Falle. Aller¬ 
dings füllen sich Venen und Kapillaren auch hier in hohem Grade, 
aber es tritt nicht sobald eine krankhafte Durchlässigkeit ihrer 
Wandungen für alle Blutbestandtheile ein. Durch die gesunden 
Wandungen tritt nur das Blutserum, sein massenhafter Austritt 
füllt die Lymphspalten und Lymphgefässe in reichlicherem Masse, 
und in Folge dessen steigt der Druck auch in diesen. Die Lymph¬ 
gefässe führen ihren Inhalt schneller ab, und das Terrain wird 
entlastet. Erst wenn diese gesteigerte Ausfuhr nicht hinreicht, 
bleibt die Flüssigkeit im Gewebe, der Körpertheil schwillt an, 
und es tritt Oedem auf, welches bei vollem Venen Verschluss 
Fibrin und Blutkörper enthalten kann. Nunmehr wird der von 
Stauung befallene Körpertheil cyanotisch, geschwollen, teigig, 
ödematös, oder hydropisch und kühl. Bei langer Dauer tritt auch 
hier Nekrose ein. 

Von dem vorstehenden Schema der einfachen mechanischen 
Wirkung der Thrombose weicht natürlich die wirkliche Ver¬ 
änderung in den einzelnen Organen soweit ab, als die ahätomische 
Einrichtung ihres Gefasssystems, die functionelle Beschaffenheit 
ihres Blutstromes und die Einrichtung des Organgewebes es 
bedingt. 

Dieses einfache Schema ändert sich vollständig, sobald der 
obturirende Gefässpfropf ausser seiner mechanischen noch chemische 
oder gar bakterische Wirkungen entfaltet. Namentlich die 
Thromben von letzterer Beschaffenheit erregen das Interesse der 
Pathologie und der pathologischen Anatomie, da sich von solchen 
Pfropfen aus specifische Herde entzündlicher oder gangränöser 
Natur bilden, welche sich unabhängig von der mechanischen 
Wirkung, dagegen abhängig von der infectiösen Beschaffenheit 
des Pfropfes gestalten. Deshalb liegen diese meist embolischen, 
metastatischen Herde auch nicht hinter, sondern um die Ver¬ 
stopfung, sie sind nicht keilförmig wie jene, sondern kugelig, und 
in ihrer Mitte findet man nicht selten den infectiösen gelblichen 
Embolus. 

Dies gilt der anatomischen Veränderung. Dass auch die 
Function des betroffenen Organes durch die Thrombose erheblich 



236 


Dr. Mittenzweig. 


gestört wird, ergiebt sich ohne weiteres, und werden wir bei der 
Besprechung der wichtigen Thrombose der Lungenarterien auf 
diesen Punkt näher einzugehen Gelegenheit finden. 

Nur will ich folgendes anführen: Virchow hat nachstehende 
von ihm beobachtete Folgen der embolischen Thrombose für die 
verschiedenen Organe zusammengestellt: 

A. Funktionelle Störungen. 

1) Plötzlicher Tod, bedingt durch Asphyxie in Folge der 
Verstopfung der Lungenarterie, 

durch Apoplexie in Folge von Embolie der Hirnarterien, 

durch Herzruptur in Folge embolischer Erweichung des 
Muskelfleisches. 

2) Apoplexie. Die gewöhnlichsten Stellen der Verstopfung 
sind die A. fossae Sylvii, vertebralis, corporis callosi, Carotis 
cerebralis. 

3) Acute Manie. 

4) Amaurose. 

5) Angina cordis s. pectoris durch Embolie der Kranzarterien. 

C) Asphyxie und Dyspnoe durch Embolie der Lungenarterien. 

7) Acute Paraplegie, Hyperästhesie und rheumatoide Affec- 

tionen der Extremitäten durch Embolie der zuführenden Arterien. 

B. Anatomische Störungen. 

1) Nekrose (Brand, Mumifikation). 

2) Erweichung, namentlich im Gehirn, im Herzen und in 
der Milz. 

3) Ausgedehntere Entzündung, namentlich am Gekröse, der 
Lunge, dem Auge und dem Herzen. 

4) Hämorrhagische Herde im Gehirn, Auge, der Milz, den 
Nieren, wahrscheinlich der Lunge, vielleicht dem Magen. 

5) Brandige Herde in den Lungen, dem Gehirn, wahrschein¬ 
lich der Haut, der Milz u. s. w. 

6) Abscesse in der Leber, der Lunge, wahrscheinlich in allen 
möglichen Organen. 

Nach dieser Erörterung der Folgen wenden wir uns zu den 
verschiedenen Formen der Thrombose, wie sie Vir chow in seinen 
gesammelten Abhandlungen näher gekennzeichnet hat. 

C. Die Formen der Thrombose. 

Zu den wichtigsten und häufigsten Formen der Thrombose 
zählt Virchow die marantische, die Compressions-, die Dilatations-, 
die traumatische und die Amputations-Thrombose, ferner die 
Thrombose der Neugebornen, die puerperale und die secundäre 
Thrombose. 

1. Die marantische Thrombose. 

Die marantische Thrombose bezeichnete man früher als spon¬ 
tane, rheumatische oder metastatische Phlebitis, und sind ihre 
Folgen, namentlich die partiellen schmerzhaften Oedeme (Phleg¬ 
masia alba dolens) und die hämorrhagischen Ergüsse (Apoplexie) 



Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 


237 


von grosser praktischer Wichtigkeit. Sie findet sich im Gefolge 
des Siechthums, des Marasmus und trägt von diesem ihren Namen. 
Sie ist die häufige Begleiterin chronischer Kachexien und solcher 
Krankheiten, welche die Patienten lange Zeit an das Bett fesseln. 
Bei diesen bestellt entweder allgemeine Abmagerung oder nur 
Schwäche der Muskulatur, namentlich des Herzens. Bei alten 
Leuten finden wir fettige Metamorphosen des Herzens oft neben 
stärkerer allgemeiner Fettbildung — bei Kindern dagegen fettige 
Herzmetamorphose neben allgemeiner Abmagerung, so besonders 
bei der Paedatrophie, welche mit Dyspepsie, Durchfall und Brech¬ 
neigung beginnt. 

Die Herzkraft wird vermindert, der Blutstrora verlangsamt, 
und in den entfernteren Abschnitten der Blutbahn bildet sich 
Thrombose, namentlich in den Venen der unteren Extremitäten, 
des Beckens und in den Hirnsinus. Zu achten hat man besonders 
auf die venösen Muskeläste des Oberschenkels und der Gefäss- 
nmskeln, auf Blasen- und Uterinplexus, auf den Sinus longitudi- 
nalis und transversus. 

Aber nicht so gar selten finden sich die Thromben auch im 
Centrum der Circulation, im Herzen selbst. In den Venen sitzen 
sie an den Klappen und in den Ausbuchtungen der Sinus, im 
Herzen sind sie bekannt unter dem Namen der Eiterbälge, der 
globulösen Vegetationen, welche sich namentlich häufig im rechten 
Herzen präsentiren (siehe auch unseren Fall) und welche hier in 
den Recessus der Herzmuskulatur, zwischen dem Netzwerk der 
kammförmigen Muskeln und der Trabekel, ihre Wurzeln haben 
und knopfförmig in die Herzräume hineinwachsen. 

Im Allgemeinen entstehen diese Bildungen an Ort und Stelle, 
indem die erste Gerinnung innerhalb der kleinen Divertikel vor 
sich geht Je grösser letztere sind, je unvollständiger entleert 
sich aus ihnen das Blut bei der Systole, und um so leichter ge¬ 
schieht in ihnen die Bildung eines Coagulums von Faserstoff resp. 
eines Conglomerates weisser Blutkörper oder eines Conglutinates 
von Blutplättchen oder eines combinirten Gemisches dieser drei 
Elemente. Eine solche mangelhafte Entleerung wird an einzelnen 
Stellen noch befördert durch perikarditische oder myokarditische 
Schwielen. 

Diese marantischen Thromben des venösen Abschnittes der 
Blutbahn geben nicht selten Veranlassung zu Embolien der Lungen¬ 
arterien und zum Eintritt eines plötzlichen Todes, der unter 
Umständen acuten Vergiftungen sehr ähnlich sehen kann. 

2. Die Dilatations- und Compressions-Thrombose. 

Die Dilatations-Thrombose bildet sich in örtlich erweiterten, 
die Corapressions-Thrombosc in örtlich verengten Gelassen, jene 
in Aneurysmen und Varicen, diese in Gefässen, welche durch 
Geschwülste, Knochenstiicke, Ligaturen, bei Kapillardruck oder 
durch andere Veranlassung verengert oder geschlossen sind. Sie 
entstehen in Folge der Verlangsamung des Blutstroms in Canälen 
mit unebenen, rauhen Wandungen, gegen welche das Blut antreibt 



238 


Di. Mittenzweig. 


und welche Gelegenheit zum Niedersclilag von Fibrin oder zum 
Ansatz von weissen Blutkörpern oder viscös gewordenen Blut¬ 
plättchen bieten. 

Auch diese Form der Thrombose ist für die gerichtliche 
Medicin von grosser Wichtigkeit, namentlich wenn sie in der 
Gestalt der sogenannten suppurativen Phlebitis bei localen 
Eiterungen auftritt. Man darf sich in solchem Falle nicht ver¬ 
leiten lassen, die Ursache der Thrombose mit der puriformen oder 
jauchigen Schmelzung des Thrombus selbst zu verwechseln. Dies¬ 
bezüglich möchte ich auf den interessanten Fall No. 34 hindeuten, 
welchen Virchow 1. c. Seite 570—571 beschrieben hat: Caries 
des Fussgelenkes. Amputations-Resorptionsfieber. Tod. Geringe 
Thrombose einer Yene an der Wundfläche und lobuläre Pneu¬ 
monie mit secundärer Pleuritis. Frischer Milztumor und Nephritis 
parenchymatosa. Eiterige Infiltration am Rectus abdominis; und 
nicht minder auf Fall No. 35: Amputation des Unterschenkels. 
Jauchige Thromben in der Vene poplitea und profunda femoris. 
Alter Serotalbruch mit Verdickung und Retraction des Gekröses; 
Zeichen einer vorübergegaugenen Brucheinklemmung am Dünndarm; 
varicöse Erweiterung der V. mesenterica mit festen und erweichen¬ 
den Thromben. Metastatische Hepatitis. Frische croupös-häraor- 
rhagische Nephritis. Abgelaufene Lungen- und Darmtuberkulose. 

3. Die traumatische Thrombose. 

Als hauptsächlichste Formen der traumatischen Thrombose 
gelten die Aderlass- und die Amputations-Thrombose. Jene ist 
mit der verminderten Anwendung des Aderlasses, diese mit der 
Einführung der aseptischen Chirurgie mehr in den Hintergrund 
der thrombotischen Formen gedrängt, wenn auch nicht völlig aus 
der gerichtsärztlichen Praxis verschwunden. Gleichwohl bildet 
die Darstellung von der Entstehung dieser vielfach auch experi- 
menteU untersuchten Formen einen werthvollen Beitrag. Virchow 
beschreibt den Aderlassthrombus wie folgt: Bei jeder Venen- 
section ergiesst sich zum Theil während des Offenseins der Wunde, 
zum Theil nach dem Verschlüsse derselben etwas Blut in das 
Unterhautgewebe, und es bildet sich in dem Wundkanal ein Blut¬ 
gerinnsel. Bei fetten Personen, bei kleiner Oeffnung der Vene 
oder bei Verschiebung der Haut entsteht dieses Gerinnsel oft 
schon während der Zeit, wo das Blut fliessen sollte, und nicht 
selten setzt es dem Weitergange des Ausfliessens bedeutende 
Hindernisse entgegen. Dieses Gerinnsel des Wundkanals, zu¬ 
sammen mit dem in das Unterhautfettgewebe infiltrirten Blut 
(der Ekchymose), bezeichnen die Thierärzte seit langer Zeit als 
Thrombus, und Vidal gebraucht denselben Ausdruck auch für den¬ 
selben Zustand bei Menschen. Dieser Thrombus, d. h. nament¬ 
lich das den Wundkanal erfüllende Blutgerinnsel, ist für die 
Heilung der Venenwunde von der grössten Wichtigkeit, wie vor 
allen Travers gelehrt undRigot und Trousseau experimentell 
bestätigt haben. Dieser Thrombus erfüllt nämlich nicht blos den 



Zur Cusuistik ilos plötzlichen Todes. 


239 


Wundkanal im Unterhautgewebe; sondern er reicht auch in die 
Venenwunde, deren Ränder gewöhnlich klaffen, und er bildet liier 
einen gegen die Lichtung des Gefässes etwas vorspringenden, 
rundlich-platten Zapfen. Nach und nach entfärbt, verdichtet und 
verkleinert sich dieser Zapfen, seine Oberfläche wird platter und 
glatter, seine peripherischen Theile verschmelzen mit den Venen¬ 
häuten und es entsteht so der dauernde Verschluss der Venen- 
öffhung. Bezüglich der Amputations-Thrombose verweise ich auf 
Virchow 1. c. Seite 480—591, wo die eiuschlägigen anatomischen 
Verhältnisse des Näheren beschrieben und durch Beispiele er¬ 
läutert sind. 

4. Die Thrombose der Neugebornen. 

Bei dieser Form der Thrombose haben wir einmal die reine 
foetale Thrombose von der Thrombose solcher Kinder zu unter¬ 
scheiden, welche ausserhalb des Uterus ein, wenn auch nur 
geringes Lebensalter erreicht haben, sodann aber bei letzteren 
die Thrombose der verschiedenen foetalen Geiasse, der Nabelvene, 
der Nabelarterien und des Botalli’schen Ganges ins Auge zu fassen. 

Die foetale Thrombose findet sich, wenn auch selten, inner¬ 
halb der Nabelgefässe, sowohl in den kleineren, placentaren Aesten 
derselben, als in den grösseren im Nabelstrang liegenden Stämmen, 
und ist wahrscheinlich jedesmal aus mechanischen Ursachen zu 
erklären. Die placentare Thrombose fällt gewöhnlich mit Ver¬ 
schrumpfung oder Verdichtung der Placenta zusammen und ist 
Folge einer Hemmung des Blutstroms in gewissen Cotyledonen der 
Placenta oder in ihrem ganzen Umfange. 

Die funiculäre Thrombose ist meist durch Erkrankungen der 
Häute des Gefässes bedingt 

Die Thrombose der Neugeborenen findet sich in allen drei 
genannten Gefässarten. 

Die Nabelvene erhält sich ziemlich häufig ohne Obliteration, 
sie verengert sich nur in Accomodation an den geringeren Zustrom 
des Blutes durch die Elasticität und Muskelcontraction der Venen¬ 
wand. Verhindern Stauung des Blutes oder Lähmung der Mus¬ 
kulatur diese Verengerung, so kommt Thrombose zu Stande, 
(besonders bei Erysipel der Nabel wunde). 

Die Nabelarterien contrahiren sich nach der Geburt noch 
stärker, gleichwohl bildet hier die Thrombose die Regel. Dieser 
Thrombus aber ist sehr düun und organisirt sich meistens; unter 
günstigen Verhältnissen wandelt sich der Thrombus wie in einer 
unterbundenen Arterie um; er adhärirt der Wand, wird kleiner, 
dichter, trockener, entfärbt sich und geht zuletzt in eine feine liga- 
mentöse Masse über. (Cruveilhier’s pseudomembranöse Adhäsion). 
Aber in Folge einer helgeleiteten Entzündung von der Nabel¬ 
wunde aus kann sich die verengerte Arterienwand entzünden und 
was noch wichtiger erscheint, die Verengerung des Lumen kann 
ganz ausbleiben, ein starker Pfropf kann sich bilden und die 
Entzündungserreger in seinem Bereiche fortleiten. 



240 


Dr. Uloku*ewski. 


Auch der arteriöse Gang verengert sich nach der Einleitung 
der Respiration hauptsächlich durcli Muskelcontraction. Nur bei 
unvollkommener Athmung (Lungenateleklase) und dadurch hoch 
bleibenden Druck in der Lungenarterie bleibt der Gang offen. 
Wird der Gang unvollständig zusammeugezogen, so findet sich 
die Portio aortica weiter, und gerade hier bildet sich am leich¬ 
testen der Thrombus, der sich auch in die Aorta fortsetzen kann. 

5. Die puerperale Thrombose. 

Bei der puerperalen Thrombose hat man einmal die Formen 
der placentaren, der uterinen und der entfernteren Thrombose und 
wiederum bei der placentaren Form die normale, beschränkte, 
physiologische von der pathologischen Placentar-Thrombose zu 
unterscheiden. Schon ('ru veil hi er hob hervor, dass der Uterus 
immittelbar nach der Geburt eine grosse Wundfläche darstellte 
und der Zustand einer Wöchnerin dem einer Operirten gliche. 
Gewöhnlich löst sich mit den Eihäuten auch der grösste Theil 
der decidua, d. h. der vergrösserten und ausgezogenen oberfläch¬ 
lichen Lage der Uterinschleimhaut. Nicht selten werden auch 
die tieferen Lagen der Schleimhaut mit abgerissen imd die Muskel¬ 
schichten geradezu blosgelegt, sowie Gefässe direct zerrissen. 
Letzteres geschieht besonders an der Placentarstelle, so dass hier 
grosse klaffende Venen frei liegen. In Mutterhals und Scheide 
bilden sich zudem traumatische Risse. 

Trotz der eintretenden Uteruscontraction entstehen hier 
Venenthromben. 

Von grosser Bedeutung für die Throrabenbildung ist ferner 
die Contraction der intrauterinen, noch mehr der im Umfange 
des Uterus befindlichen Gefässe, der Plexus uterini, vaginales, 
pampiniformes und ihrer Stämme, der Venae hypogastricae und 
spermaticae internae. Geschieht diese Contraction nicht, so giebt 
es Veranlassung zur Thrombenbildung in diesen erweiterten Ge¬ 
wissen, so besonders bei erysipelatösen und diphtherischen Ent¬ 
zündungen des Puerperalfiebers. 

Als dritte Unterart sind die Thrombosen der ferner gelegenen 
Venen zu nennen, so die Phlegmasia alba dolens des Wochenbettes. 

Zu erwähnen ist schliesslich noch die puerperale Thrombose 
der Schwangerschaft, die nach Velpeau in Folge des Druckes 
des Kindskopfes auf die Vasa iliaca entstehen und als Com- 
pressions- und Dilatationsthrombose aufzufassen ist. Auch ist 
auf die Form zu achten, welche während der Schwangerschaft 
als sogenannte Apoplexie der Placenta nach äusseren Verletzungen 
oder Erschütterungen entstehen kann. 


(Fortsetzung folgt.) 



Die Betheiligung d. pr. Mcdicinalbeamten a. d. Gebiete d. Schulhygiene. 241 

Die Betheiligung der preussischen Medicinalbeamten auf 
dem Gebiete der Schulhygiene. 

Von Dr. Blokusewski, Königl. Kreisphysikus in Aorich. 

Im Anschluss an (len Ministerialerlass vom 25. Februar d. J. 
betreffend die Heranziehung der Aerzte zur Schulaufsicht (siehe 
No. 4 S. 125 der Zeitschrift) habe ich versucht, aus den Berichten 
der Regierungsmedicinalräthe über das öffentliche Gesundheits¬ 
wesen in ihren Bezirken während der Jahre 1883—85 einen 
Ueberblick über die derzeitige Betheiligung der Aerzte ins¬ 
besondere der Medicinalbeamten auf dem Gebiete der Schul¬ 
gesundheitspflege in den einzelnen Regierungsbezirken zu ge¬ 
winnen. Für einen Bezirk, dessen Bericht pro 1883—85 noch 
nicht in Druck erschienen war, habe ich einen älteren Bericht 
(1882) benutzt und für die Jahre 1886—88 ausser anderem die 
wöchentlichen Veröffentlichungen des Reichsgesundheitsamtes, in 
denen bekanntlich die dem letzteren laut Min.-Verf. vom 4. März 
1886 mitzutheilenden wichtigeren sanitätspolizeilichen Verfügungen 
der Proviuzialbeliörden zum Abdruck gelangen. Anspruch auf 
Vollständigkeit kann dieser Ueberblick allerdings schon aus dem 
Grunde nicht machen, weil gewiss manche diesbezüglichen Be¬ 
stimmungen in den Berichten nicht erwähnt sind, immerhin dürfte 
derselbe aber gerade im Hinblick auf den oben erwähnten 
Ministerialerlass für die Medicinalbeamten nicht ganz ohne Werth 
und Interesse sein. . 

Unter Berücksichtigung der Ministerialerlasse vom 15. October 
1872, 2. October 1876, 3. October 1879, 14. Januar 1880 und 
3. Juni 1881 sind, soweit es nicht schon früher geschehen, fast 
in allen Regierungsbezirken sogenannte Normativbestimmungen 
für den Bau und die Einrichtung von Schulgebäuden auf¬ 
gestellt worden, meistens jedoch ohne Mitwirkung des zuständigen 
Regierungs- und Medicinalraths. Dieselben tragen zwar den ge¬ 
sundheitlichen Anforderungen mehr oder weniger Rechnung, 
dagegen werden die darnach aufgestellten Pläne für Neubauten 
und grössere Erweiterungsbauten in den meisten Regierungbezirken 
nur einer hauptsächlich bautechnischen Prüfung durch die zu¬ 
ständigen Baubeamten unterzogen und verhältnissmässig nur selten 
auch hygienischen Sachverständigen zur Begutachtung vorgelegt. 
Vorgeschrieben ist eine obligatorische Prüfung der Baupläne 
von Schulen nach der hygienischen Seite und zwar durch 
den Regierungs- und Medicinalrath allein: in den Regierungs¬ 
bezirken Erfurt und Aurich (hier erst seit 1888); durch den 
Physikus nebst Superrevision durch den Regierungs- und Medicinal¬ 
rath; in den Regierungsbezirken Arnsberg, Breslau und 
Düsseldorf, hier ausserdem noch vorher durch die Sanitäts¬ 
kommission. In der Provinz Schleswig-Holstein ist allerdings 
nur eine Prüfung der Bauplätze durch den Physikus obligatorisch, 
jedoch scheint es hier Gebrauch geworden zu sein, auch eine 
solche der Baupläne durch denselben vornehmen zu lassen. 
Ferner muss daselbst für neu einzurichtende Kindergärten und 



242 


Dr. Blokusewski. 


Wai teschulen ein Gutachten des Physikus eingeholt werden. Eine 
ausnahmsweise aber nicht obligatorische Betheiligung des 
Physikus und in diesen Fällen auch des Regierungs- und Medicinal- 
raths bei Prüfung der Baupläne von Schulen wird angegeben für 
die Regierungsbezirke Aachen, Coeslin, Hildesheim, Münster 
und Kassel, in allen übrigen Bezirken scheint eine solche über¬ 
haupt nicht statt zu finden. Alle diese Begutachtungen erstrecken 
sich jedoch nur auf die den Regierungen unterstellten Volks¬ 
schulen, Mittelschulen, höhere Mädchenschulen und Rektorats¬ 
schulen. 

Was nun die ärztlichen Revisionen der Schulen hin¬ 
sichtlich ihrer baulichen Einrichtungen, inneren Ausstattung 
und des allgemeinen Gesundheitszustandes der Schüler anbetrifft, 
so muss man ebenfalls zwischen obligatorischen und gelegentlichen 
unterscheiden. Obligatorische Schulrevisionen durch den 
Physikus finden statt: im Regierungsbezirk Gumbinnen, jähr¬ 
lich einmal und nur am Wohnort des Physikus, sowie im 
Regierungsbezirk Düsseldorf, jährlich zweimal, an einzelnen 
Orten auch durch Armenärzte oder andere Privatärzte (s. No. 2 
dieser Zeitschrift). Ausserdem sind in den Regierungsbezirken 
Arnsberg und Köln jährlich ein- bezw. zweimalige Schul¬ 
revisionen durch die Armenärzte vorgeschrieben. In allen diesen 
Fällen handelt es sich ausschliesslich um Volksschulen; nur im 
Regierungsbezirk Düsseldorf ist seit den letzten Jahren auch die 
ärztliche Revision der höheren Töchterschulen, sowie sämmtlicher 
Privatschulen, Waisenhäuser und Kleinkinderbewahranstalten an¬ 
geordnet (s. No. 2. dieser Zeitschrift). 

Gelegentliche Schulrevisionen sind den Kreismedicinal- 
beamten aufgegeben in den Regierungsbezirken Stettin, Coeslin, 
Breslau, Oppeln, Erfurt, Kassel, Trier und in der Provinz 
Schleswig-Holstein, in letzterer auch im Bezug auf Kinder¬ 
gärten, Warteschulen, Privatschulen und Privaterziehungsanstalten. 
Die in den übrigen Bezirken von den Physikern ausgeführten 
Revisionen der Schulen sind dagegen aus eigener Initiative 
erfolgt. Uebrigens scheinen diese ärztlichen Schulrevisionen mehr 
bei den Lehrern, als bei den Kreisschulinspectoren und Schul¬ 
vorständen beliebt zu sein, bei den letzteren insbesondere desshalb 
nicht, weil die Kosten für die nötliige Abstellung Vorgefundener 
Mängel gefürchtet werden. Um so mehr muss daher der Eifer 
und das rege Interesse vieler Physiker anerkannt werden, die 
sich trotz alledem bemüht haben, die Schulen ihres Kreises 
kennen zu lernen und die darin vorhandenen gesundheitlichen 
Missstände unbeirrt aufzudecken. Auffallend ist hierbei der 
Gegensatz zwischen den Berichten der Physiker und denjenigen 
der Armenärzte; denn während die ersteren fast ausnahmslos über 
grobe hygienische Mängel zu klagen haben, berichten die Armen¬ 
ärzte meist wenig oder nur Gutes über die sanitären Verhältnisse 
der von ihnen revidirten Schulen. Mitunter ist es dann aller¬ 
dings vorgekommen, dass in solchen Schulen bei einer bald darauf 



Die Bethoiligung d. pr. Mcdicinalbouiutcn a. d. Gebiete d. Schulhygiene. 243 


durch den zuständigen Medicinalbeamten ausgeführten Revision 
recht bedeutende Missstände festgestellt wurden. 

Die bei diesen ärztlichen Besichtigungen der Schulen Vor¬ 
gefundenen hygienischen Mängel wiederholen sich in fast allen 
Berichten und will ich nur die häufigsten und auch diese nur im 
Allgemeinen anführen. Abgesehen von ganz schlechten und bau¬ 
fälligen Schulgebäuden wird berichtet über ungenügende Isolirung 
und unruhige Lage mancher Schulen; feuchten Baugrund und 
mangelhaften Schutz der Mauern gegen aufsteigende Feuchtigkeit; 
ungenügenden Rauminhalt der Klassenzimmer; schlechte und un¬ 
zweckmässige Beleuchtung derselben, störendes Doppellicht, Fehlen 
von Vorhängen, Beschattung der Fenster durch bewegliche Gegen¬ 
stände (Bäume), falsche Stellung der Bänke zum Fenster; unzweck¬ 
mässige und schlechte Bänke, Plazirung der Kinder in den ver¬ 
schieden hohen Bänken ohne Rücksicht auf ihre Grösse und 
Stellung der hintersten Bänke ohne Rücklehne unmittelbar an 
die feuchte nicht mit Holz bekleideten Aussenwand; schlechte 
Beschaffenheit der Decken und Fussböden, sogar Backsteinfuss- 
boden; mangelhafte Reinigung der Schulräurae, ungenügende und 
fehlerhafte Ventilation oder fehlerhafte Benutzung der sonst gut 
angelegten Ventilation; schlechte Heiz Vorrichtungen; unzureichen¬ 
den Schutz gegen strahlende Wärme; Fehlen oder zu geringe Grösse 
von Corridoren bezw. Vorfluren; schlechte Treppen; ungenügende 
Isolirung der Lehrerwohnung; schlechte Trinkwasserversorgung; 
Fehlen jeder Abortanlage oder unzweckmässig angelegte, für die 
Geschlechter nicht getrennte und unsauber gehaltene Abtritte; 
Mangel eines Spielplatzes u. s. w. Alle diese Fehler sind aber 
nicht etwa nur in älteren, sondern häufig auch in neueren nach 
bautechnisch geprüftem Plan erbauten Schulen beobachtet worden 
und wird man nicht bestreiten können, dass der grösste Theil 
derselben durch Prüfung der Baupläne seitens eines hygienischen 
Sachverständigen vermieden worden wäre. Die Nothwendigkeit 
einer derartigen Prüfung bei Neubauten und grösseren Umbauten 
wird daher auch in fast allen Berichten anerkannt, ebenso wie 
die Ausführung derselben durch den zuständigen Kreisphysikus 
bezw. bei der Superrevision durch den Reg.- und Medicinalrath. 

Ein anderer Theil der angeführten Mängel wird sich aller¬ 
dings nur durch regelmässige ärztliche Revisionen abstellen 
lassen. Dass hierfür die beamteten Aerzte den Vorzug vor den 
nicht beamteten verdienen, dürfte mit Rücksicht auf die besondere 
Verantwortlichkeit derselben, wie auf ihre in höherem Maasse 
nachgewiesenen hygienischen Kenntnisse nicht zweifelhaft sein 
und sprechen sich verschiedene Berichte ausdrücklich in diesem 
Sinne aus. Auch die Aerztekammer der Provinz Pommern hat in 
ihrer ersten Sitzung die Physiker als die hierbei zunächst in Be¬ 
tracht kommenden Organe anerkannt. Schwieriger ist dagegen 
der Kostenpunkt und lässt sich aus den Berichten der 
Regierungsmedicinalräthe deutlich erkennen, dass es hauptsächlich 
dieser gewesen ist, welcher die meisten Regierungen bisher ver¬ 
hindert hat, die von ihnen als nothwendig erachteten Schul- 




244 


Dr. Blokusewski. 


revisionen in ausgedehnterem Maasse durchzuführen. Einzelne 
Regierungen haben sich in Folge dessen dadurch zu helfen ge¬ 
wusst, dass sie ihren Physikern aufgegeben haben, bei Gelegenheit 
anderweitiger Dienstreisen oder Impfungen die Schulen ihres 
Bezirkes einer eingehenden Revision zu unterziehen und, abgesehen 
von sofortigem motivirtem Berichte bei erheblichen Missständen, 
im jährlichen Sanitätsbericht die revidirten Schulen und deren 
Mängel aufzuführen. Recht zweckmässig ist z. B. die von der 
Regierung in Erfurt getroffene Anordnung, wonach die Physiker 
bei Gelegenheit derjenigen Dienstreisen, welche sie gemäss des 
Ministerialerlasses vom 14. Juli 1884 betreffend die Schul¬ 
schliessungen bei ansteckenden Krankheiten auszuführen haben, 
gleichzeitig die fraglichen Schulen hinsichtlich ihrer sanitären 
Verhältnisse revidiren und über das Ergebniss dieser Revision 
ausführlich berichten sollen. Im Regierungsbezirk Breslau sind 
ausserdem die Schuldeputationen angewiesen, bei sanitätswidrigen 
Einrichtungen das Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen 
einzuholen. 

Alle diese Verordnungen beweisen jedoch nur die anerkannte 
Nothwendigkeit einer Abhülfe, ohne eine sichere Garantie für die 
Erreichung dieses Zieles zu geben, denn ausser den wegen Aus¬ 
bruchs von ansteckenden Krankheiten unternommenen Dienstreisen 
werden amtliche Reisen dem Medicinalbeamten nur selten genügend 
Zeit zu Schulrevisionen, geben. Der bei weitem grösste Theil der 
Schulen eines Kreises bleibt somit unbesichtigt, besonders seitdem 
dem Physikus durch das Ausführungsgesetz vom 12. April 1875 
in vielen Kreisen die Impfung gänzlich oder theilweise entzogen 
nnd dadurch die beste Gelegenheit genommen ist, eine grössere 
Anzahl von Schulen seines Bezirkes kennen zu lernen. Uebrigens 
würden diese nur auf die sanitären Einrichtung der Schulen und 
den allgemeinen Gesundheitszustand der Schüler sich erstreckenden 
ärztlichen Revisionen gar nicht so hohe Kosten verursachen, 
selbst wenn sie, was unbedingt erforderlich ist, auf sämmtliche 
öffentliche und private Schulen also auch auf die Gymnasien aus¬ 
gedehnt würden; denn für die meisten Schulen besonders für die 
Volksschulen auf dem Lande dürfte, wie verschiedentlich in den 
Berichten hervorgehoben wird, eine alle 3—5 Jahre wieder¬ 
kehrende Revision genügen und ausserdem könnten an einem Tage 
recht gut mehrere benachbarte Schulen eines Kreises revidirt 
werden. 

In Bezug auf die Art der Ausführung kann man nur der von 
einzelnen Physikern bezw. Regierungsmedicinalräthen geäusserten 
Ansicht zustimmen, dass die fraglichen Revisionen w T ährend der 
Schulzeit und unter Zuziehung des Lokalschulinspectors, sowie 
nach einem bestimmten einheitlichen Formular stattfinden und 
die Schulvorstände gehalten sein müssten, auf die von dem Physikus 
erstatteten Anzeigen über Vorgefundene Missstände innerhalb 
einer bestimmten Frist unter Angabe der zur Abhülfe der letzteren 
angeordneten oder in Aussicht genommenen Massregeln zu ant¬ 
worten. Eine derartige Vorschrift ist z. B. im Regierungsbezirk 



Die Betheiligung «1. pr. Meilicinalbeavnten a. d. Gebiete d. Schulhygiene. 245 

Gumbinnen erlassen, desgleichen sind hier die Physiker aus¬ 
drücklich angewiesen, in ihren Anforderungen hinsichtlich der 
Schuleinrichtungen nicht zu weit zu gehen und dabei den örtlichen 
wie finanziellen Verhältnissen der betreffenden Gemeinden möglichst 
Rechnung zu tragen. Aber selbst bei Beachtung dieser durchaus 
zweckmässigen Bestimmung werden sich viele der oben angeführten 
Missstände in den Schulen beseitigen lassen, da die Abstellung 
derselben keineswegs immer mit bedeutenden Kosten verbunden ist. 

Ein besonderer Schularzt ist nur angestellt in Frankfurt 
am Main, wo die ärztliche Beaufsichtigung der städtischen Schulen 
eine der wichtigsten Aufgaben des dortigen „Stadtarztes“ bildet 
und in Breslau, hier jedoch erst seit einigeu Monaten. Erwähnt 
zu werden verdient weiterhin ein Ausschreiben der Königl. 
Regierung zu Breslau vom 9. October 1887, worin dieselbe den 
Magistraten der Städte dringend empfiehlt, in die Schulkom¬ 
missionen stets einen Arzt, beamteten oder nicht beamteten, zu 
wählen und sich dadurch dessen Mitwirkung auf dem Gebiete der 
Schulhygiene zu sichern. 

Häufiger wiederkehrende, während der Schulstunden vorzu- 
nehmende ärztliche Untersuchungen der Schulkinder in Bezug 
auf etwaige ansteckende oder chronische Krankheiten, Störungen des 
Seh- und Hörvermögens u. s. w., wie solche von Seiten vieler 
Hygieniker (s. z. B. Schularztdebatte auf dem internationalem 
hygienischen Kongresse in Wien 1887) gefordert werden, sind in 
keinem Regierungsbezirke vorgeschrieben. Die allgemeine Durch¬ 
führung dieser Massnahme würde übrigens auf grosse Schwierig¬ 
keiten stossen, denn ganz abgesehen von dem Kostenpunkt, sowie 
von dem Umstand, dass besonders die Schulbehörden eine der¬ 
artige ärztliche Ueberwachung der Schulen aus pädagogischen 
Gründen für undurchführbar erklären, dürften auch die dazu er¬ 
forderlichen ärztlichen Kräfte keineswegs immer zu Gebote stehen. 

Vielfach wird endlich von den Physikern bezw. Regierungs- 
medicinalräthen betont, dass selbst die besten baulichen wie 
sonstigen Einrichtungen der Schulen und die strengsten Revisionen 
ihren Zweck nicht erreichten, wenn die Lehrer kein Verständniss 
für die Schulgesundheitspflege hätten, was jetzt leider noch immer 
sehr häufig insonderheit bei dem Volkssehullehrern der Fall wäre. 
Dieser Ansicht kann man nur beipflichten und jeder Physikus 
wird die Richtigkeit derselben aus eigener Erfahrung bestätigen 
können. Hier kann nur durch eine bessere hygienische Vorbildung 
der Lehrer Wandlung geschaffen werden, eine Forderung, deren 
Nothwendigkeit auch der am 23. und 24. Mai d. J. in Frankfurt 
am Main abgehaltene deutsche Lehrertag durch Annahme der 
nachfolgenden These (VH) anerkannt hat: „Die Schulärzte werden 
nur dann eine gedeihliche Wirksamkeit zu entfalten vermögen, 
wenn die Schulhygiene bei den Prüfungen für Lehrer und Schul¬ 
leiter Prüfungsgegenstand wird.“ (s. No. 7 dieser Zeitschrift 
S. 206). 

Aus dem Vergleichenden ergiebt sich, wie gering mit wenigen 
Ausnahmen in Preussen die bisherige Betheiligung der Aerzte 



246 


Kleinere Mittheilungen. 


insbesondere der Medicinalbeamten auf dem Gebiete der Schul¬ 
hygiene ist. Wie notlnvendig dagegen eine solche erscheint, zeigen 
die vielen in den Schulen Vorgefundenen sanitären Missstände. Es ist 
daher nur zu wünschen, dass die in Folge des Eingangs erwähnten 
Ministerialerlasses einlaufenden Berichte dazu beitragen mögen, 
den Herrn Minister zu veranlassen, eine den heutigen Anfor¬ 
derungen der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechende ärztliche 
Beaufsichtigung der Schulen anzuordnen und hierbei in erster 
Linie die Medicinalbeamten zu berücksichtigen. 


Kleinere Mittheilungen. 

In das Berliner Leichenschanhans eingelieferte Leichen 

pro 

II. Quartal 1888. 


Monat 

Zur Morgue 

Männer 

F rauen 

U 

& 

-o 1 

G 

5 

Neugeborene 

CD 

G 

-+-> 

:0 

Pu 

Beerdigt 

Erhängt 

Ertrunken 

Erschossen 

Vergiftet 

durch Kohlen¬ 
dunst gestorb. 

Erfroren 

Verletzt ohne 
Erscliiessen 

Unbekannte 

Todesart 

Innere 

Krankheiten 


Verbrannt 

Summa 

April . . 

60 

40 

n 

6 

3 

2 

19 

9 

10 

2 

5 

— 

— 

14 

8 

10 

2 

— 

60 

Mai . . 

81 

43 

18 

10 

10 

3 

36 

14 

16 

2 

2 

— 

— 

11 

13 

18 

5 

— 

81 

Juni . . 

67 

39 

13 

12 

3 

6 

22 

16 

15 

4 

2 

— 

— 

15 

3 

12 

— 

— 

67 

Summa . 1208 122 

|42 

28 

16 

11 

1 1 

77 

39 

41 

1 8 i 

9 

— 

— 

40 

24 

40 

1 7 


208 

Summa . 

""ioT" 








los - 







Desinfection der Schulen. Die Breslauer Schuldeputation hat folgende 
Desinfectionsordnung erlassen: 

a) Die Desinfection der Schulzimmer ist vorzunehmen: 

1. wenn in der Klasse einzelne Schüler erkrankt sind an Diphterie, 
Pocken, Cholera und Flecktyphus; 

2. wenn zahlreichere Erkrankungen unter den Schülern einer Klasse 
vorgekommen sind an Scharlach, Masern, Unterleibstyphus und Ruhr. 

Vor der Desinfection darf kein Inventarstück aus dem betreuenden 
Schulzimmer entfernt werden. Die Wände und Decken sind mit frischem 
Brod abzureiben, welches sofort nach der Verwendung zu verbrennen ist. 
Der Fussboden wird mit 5°/o Karbolsäurelösung stark augefeuchtet; be¬ 
sonders worden die Dielenfugen mit dieser Lösung sorgfältig ausgegossen. 
Polirte Flächen der Möbel Bilderrahmen u. s. w. werden mit trockenem 
Tuche scharf abgerieben. Sonstige Möbel, Thüren, Fenster, Fensterrahmen, 
Holzverkleidungen, Oefen werden mit 5®/o Karbolsäurelösung energisch ab¬ 
gescheuert. Hierauf werden Dielen und Möbel mit einer Schmierseife 
(grüner Seife) Lösung 20 gr. auf 10 Liter Wasser energisch gescheuert. 
Dann werden die Dielenfugen nochmals mit 5°/o Karbolsäurelösung ange¬ 
feuchtet. Bücher und Papiere, die sich im Zimmer betinden, sind entweder 
mit 5°/o Karbolsäurolösung zu besprengen oder in ein mit solcher Lösung 
durchtränktes Tuch auf mehrere Stunden einzuschlagen. Vorhänge oder 
sonstige im Zimmer befindliche Stoffe sind der Desinfectionsanstalt zu über¬ 
weisen. Werthlose Objekte wie Wischtücher, Papiere u. s. w. sind zu ver¬ 
brennen. Hierauf ist f> 6 Stunden lang, während event. im Ofen Feuer 
brennt, durch OefFnung von Fenstern und Thüren kräftiger Luftzug zu 
erzeugen. 




Kleinere Mittheilungen. 


247 


b) Die Desinfection im Klosett: Im Fall von Cholera, Unterleibstyphus 
und epidemischer Ruhr (Dysenterie) sind die Klosetts, bei denen die Be¬ 
nutzung der Kinder als möglich angenommen werden kann, zu desinficiren 
dadurch, dass man sie in oben angegebener Weise mit 5°/§ Karbolsäure¬ 
lösung und Sclimierseifenmischung vollständig säubert und in das Becken 
1—2 Liter derselben Karbolsäurelösung eingiesst. 


Der Titel Homöopath ist als arztähnliche Bezeichnung anzusehen. 

Der Heilkünstler G. hatte sich auf einem vor seiner Wohnung be¬ 
findlichen Schild als „Homöopath bezeichnet und ausserdem ein Plakat an 
seinem Hause auf der Strasse angebracht, welches lautete: „Heile mit dem 
denkbar besten Erfolge Diphteritie. Seit 12 Jahren unter 1000 Erkrankten 
kein Sterbefall. Heile auch innere und äussere Krankheiten.“ In diesen beiden 
Kundgebungen fand die VI. Strafkammer dos Landgerichts I. Verstösse gegen 
die (Gewerbeordnung und wies die Berufung gegen die in erster Instanz 
erkannte Strafe von 150 Mark zurück, indem sie ausführte, dass der Titel 
„Homöopath“ an sich als eine arztähnliche Bezeichnung, durch welche der 
Glaube erweckt werden kann und wird, dass der Inhaber eine geprüfte Medi- 
einalperson sei, angesehen werden müsse. Denn in dem Ausdruck „Homöopath“ 
sei ein Gegensatz gegen eine medicinisch gebildete und approbirte Medicinal- 
person keineswegs gegeben. Es würde vielmehr erfahrungsgemäss auch von 
geprüften Aerzten, die homöopathische Heilmethode in Anwendung gebracht; 
es führten die geprüften Aerzte gleichfalls diesen Titel und es gebe die Be¬ 
zeichnung „Homöopath“ nur die Besonderheit der Heilmethode, nicht aber 
Bildungsstufe und Berechtigung der ärztlichen Person zu erkennen. Auch das 
Plakat müsse den Glauben erwecken, dass der sich darin Empfehlende eine 
geprüfte Medicinalperson sei, wie denn auch eine Frau, welche ärztliche Hülfe 
suchte, thatsächlich dadurch zu der Ansicht kam, dass G. ein Arzt sei, welchen 
sie daher auch stets mit „Herr Doctor“ anredete, was sich G. ohne Widerrede 
gefallen liess. Die von G. hiergegen eingelegte Revision wurde vom Kammer¬ 
gericht, welches in den Ausführungen des Vorderrichters keinen Rechtsirrthum 
zu finden vermochte, zurückgewiesen. 

(Apothekerzeitung No. 52, vom 30. Juni 1888.) 


Replik auf die Erwiderung betr« das Eingesandt „die amtliche 
Beglaubigung privatärztlicher Atteste“. 

Der Erwiderung auf das Eingesandt in No. 7 dieser Zeitschrift kann nur 
der Werth einer persönlichen Ansicht beigelegt werden, da das, was sie ent¬ 
hält, weder durch gesetzliche, noch ministerielle Bestimmungen zu begründen 
versucht worden ist. Es steht sonach Meinung gegen Meinung. 

Wenn der Gerichtsarzt eine chemische Expertise als richtig „voraussetzen“ 
darf, so ist nicht einzusehen, wesshalb die Glaubwürdigkeit eines als gewissen¬ 
haft bekannten Arztes nicht ebenso ^ut vorausgesetzt werden darf, als die 
des Chemikers. In einzelnen Fällen wird man sich sogar nur allein auf das 
ärztliche Gutachten stützen können. Es leidet z. B. jemand an Blindheit aus 
einer schwer und nicht sofort erkennbaren Ursache. Der Specialist hat durch 
Augenspiegel und andere nicht jedem beamteten Arzte geläufige Untersuchungs¬ 
methoden die Diagnose gestellt und ausgesprochen. Sollte in solchem Falle 
der Physikus die erforderliche Beglaubigung nicht vollziehen dürfen? Oder es 
handelt sich um Epilepsie. Wäre es nicht ungerechtfertigt, die Beglaubigung 
aus dem Grunde versagen zu müssen, weil der Medicinalbeamte einen Anfall 
nicht selbst zu beobachten Gelegenheit hatte? Aehnliche Fälle sind auch 
mehr denkbar. Das dürfte auch der Grund sein, dass meines Wissens keine 
Bestimmung existirt, welche ausspricht, dass nur allein nach vorgängiger 
persönlicher Untersuchung Atteste von Privatärzten beglaubigt werden dürfeu. 
Nicht ausser Betracht scheint hierbei auch der humane Gesichtspunkt geblieben 
zu sein. Es geht dies aus der Minist erial-Verfügung vom 11. Februar 1856 
(Eulenberg, 1874 Med.-Wesen S. 350) hervor, in der nachgelassen wird, dass für 
solche Fälle, in denen die Beschaffung des Attestes eines Medicinalbeamten erheb¬ 
lichen Schwierigkeiten unterliegt (hierzu gehört bei auswärtigen Annen wohl 
auch der Kostenpunkt), Atteste einzelner Aerzte welche sich des Rufs besonderer 



248 


Kleinere Mittheilungen; 


Zuverlässigkeit erfreuen, hinsichtlich des öffentlichen Glaubens sogar denen der ! 

Medicinalbeamten gleichgestellt werden können. 

Bislang war ich der Meinung, dass es nur darauf ankommt, dass der 
Beamte die Ueberzeugung erlangt, die Angaben in dem ärztlichen Atteste 
seien richtig. Wie er diese Ueberzeugung gewinnt, bleibe ihm überlassen. 

Indess gebe ich zu, dass meine Meinung eine irrige sein kann. Jedenfalls fühle 
ich mein Gewissen nicht belastet, dass ich das Gutachten eines zuverlässigen 
Arztes beglaubigte, dass ein 37* Monate ununterbrochen zu Bett liegender 
Mann arbeite- und aufsiehtsunlühig sei. 

Eine Bestimmung, dass die zur Beglaubigung kommenden Atteste der 
Aerzte in der durch die Circul. Verfügung vom 20. Januar 1853 vorge¬ 
schriebenen Form abgefasst sein müssen, kann ich nicht auffinden. Nach 
der allegirten Verfügung des Kultusministeriums vom 11. Februar 1856 haben 
nichtbeamtete Aerzte keine Verpflichtung hierzu. Selbst von den Medicinal¬ 
beamten Ist jene Form nur bei Attesten zum Gebrauch vor Gerichts¬ 
behörden gefordert und dem Ermessen der König!. Regierungen überlassen, \ 

in geeignet scheinenden Fällen die Ausstellung eines derartigen Atteste« zum < > 

Gebrauch vor anderen Behörden zu verlangen (Circular-Verfügung vom l 

11. Februar 1856. Eulenberg, Med. Wesen 1874 8. 270). j 

Was die Bemerkung im vorletzten Absätze der Erwiderung betrifft, so 
ist der Absatz 2 des § 1 des Gesetzes vom 9. März 1872 hierbei ganz ignorirt. 

Das Gesetz enthält nur Einzelsätze für Geschäfte im Aufträge von Gerichten 
und anderen Behörden, für Geschäfte im Privat- oder Gemeindeinteresse indes» { 

nur eine einzige Bestimmung, wonach ganz allgemein gehalten eine Gebühr f 

bis zu 5 Thaler (15 Mk.) festgesetzt ist (Abs. 2 § 1 1. c.). Innerhalb dieser j _ 

Gebührengrenze muss meines Erachtens in allen speziellen Fällen liquidirt ; 

werden. l)ic im § 3 und folg, enthaltenen Einzelsätze können hierbei vielleicht 
als Richtschnur dienen, sofern der Einzelsatz 15 Mk. nicht überschreitet, ob¬ 
wohl sich dies aus der Fassung des Gesetzes nicht so ohne Weiteres folgern lässt. 

Unzweifelhaft wird der besprochene prinzipiell wichtige Fall zur Vor¬ 
sicht mahnen und die Amtskollegen vor möglichen Unannehmlichkeiten und j 

Aufregungen bewahren. Dies war der Zweck des Eingesandts. Weitere Er¬ 
örterungen halte ich für unwesentlich. 

Erwiderung: 

Auch für alle übrigen ein Dienstsiegel führenden Beamten, sowie für 
Notare u. s. w. existiren keine besonderen Bestimmungen betreffs der von 
ihnen auszuführenden Beglaubigungen und wird trotzdem keiner derselben im 
Zweifel darüber sein, dass er nur allein dasjenige beglaubigen darf, von 
dessen Richtigkeit er sich auf Grund eigener Kennt niss überzeugt hat. Die 
von Herrn Einsender für seine Ansicht angeführte Ministcrial-Verfügung vom 
11. Februar 1856 (Eulenberg, Med.-Wes. S. 350) spricht gerade für das Gegen- | 

theil; denn hier werden ausdrücklich für solche Fälle, in denen die Beschaffung 
des Atteste« eines Medicinalbeamten erhebliche Schwierigkeiten (weite Ent¬ 
fernungen) macht, Atteste von besonders zuverlässigen und gewissenhaften 
Aerzten an Stelle amtsärztlicher Atteste zugelassen, ohne dass dieselben 
beglaubigt zu werden brauchen. Eine derartige Bestimmung hätte nicht 
erlassen zu werden brauchen, w r enn Beglaubigungen im Sinne des Einsenders 
statthaft wären, da die Beschaffung der letzteren eben nie mit Schwierigkeiten 
bezw. mit nennenswerthen Kosten verknüpft ist, wohl aber, wenn die Atteste 
nur auf Grund eigener Kenntniss beglaubigt werden dürfen. , 

In der Circ.-Verf. vom 20. Januar 1853 (Eulenberg, Med.-Wes. 268) wird j 

übrigens keineswegs nur von Attesten zum Gebrauche vor Gerichtsbehörden, 
sondern von amtsärzliclien Attesten überhaupt gesprochen, ebenso wie in der 
Min.-Verf. vom 24. September 1870 (Eulenberg, Med.-Wesen S. 271), durch 
welche die Vorschriften betreffs der Form der zum Gebrauch bei Behörden 
bestimmten amtsärztlichen Atteste auch auf die neuen Provinzen ausgedehnt 
werden. Dieser scheinbare Widerspruch mit dem vom Einsender oben ange¬ 
führten Satz der Circ.-Vertilgung vom 11. Februar 1856 ist in* den meisten 
Regierungsbezirken ausserdem dadurch beseitigt, dass seitens der betreffenden 
Regierungen der obengenannten Verfügung entsprechend die fragliche Form 
ausdrücklich für alle Atteste der Medicinalbeamten zum Gebrauche von Be¬ 
hörden vorgeschrieben ist. 



Referate. 


249 


Der Abs. 2 des § 1 des Gesetzes vom 9. März 1872 ist von dem Unter¬ 
zeichneten keineswegs ignorirt; die endgültige Festsetzung der Gebühr inner¬ 
halb des nach diesem § gegebenen Spielraums bis zu 15 Mark hat aber nach 
§ 10 des genannten Gesetzes durch den zuständigen Regierungspräsidenten 
bezw. Regierung zu geschehen, falls sich, wie im vorliegenden Falle, Bedenken 
gegen die Angemessenheit des liquidirten Betrages ergeben. 

Dass der Einsender bona fide gehandelt hat, daran wird wohl Niemand 
zweifeln. Jedenfalls ist der mitgetheilto Fall sehr lehrreich und werden sich 
die Amtskollegen aus den darauf bezüglichen Erörterungen sicherlich ein 
richtiges Urtheil darüber bilden können, wie sie in gleichen Fällen zu ver¬ 
jähren haben. Rapmund, 


Referate. 

Dl*. H. Cohn, Professor in Breslau: Die Schularztdebatte auf 
dem internationalen hygienischen Kongresse zu Wien. 
Hamburg und Leipzig 1888. Verlag von Leopold Voss. 

Die Schularztfrage kam bekanntlich auf dem im vorigen Jahre zu Wien 
stattgefundenen internationalen hygienischen Kongress und zwar unter sehr 
lebhafter und zahlreicher Betheiligung der dort versammelten Hygieniker zur 
Verhandlung. Ein ofticieller Bericht über die letztere steht ebenso wie über 
den ganzen Kongress noch aus und wenn auch s. Z. politische Tagesblätter, 
wie pädagogische und medicinische Zeitschriften kurze Referate darüber ge¬ 
bracht haben und insonderheit die bei jener Verhandlung angenommenen 
Thesen allgemein bekannt sein dürften, so ist doch das Erscheinen des vor¬ 
liegenden ausführlichen und von competentester Seite (Verfasser war selbst 
Referent) erstatteten Berichtes um so willkommener, als gerade jetzt das 
Thema der ärztlichen Beaufsichtigung der Schulen in Folge der Mmisterial- 
verfiigung vom 25. Februar d. J. (mitgetheilt in No. 4 der Zeitschrift S. 125) 
alle betheiligten Kreise mehr denn je beschäftigt. Ohne weitschweifig zu 
werden, giebt der Verfasser ein klares, zutreffendes und objectiv gehaltenes 
Bild von dem Verlauf der betreffenden Debatte, das dadurch noch besonders 
an Werth gewinnt, dass ihm von den meisten Rednern Selbstreferate über das 
von ihnen Gesprochene zur Verfügung gestellt worden sind. Das Studium des 
Schriftchens sei daher allen Aerzten, Medicinalbeamten, Schullehrern und Be¬ 
hörden wärmstens empfohlen. Rapmund. 


Wiener, D. Dr., Sanitätsrath: Commentar zu den Instructionen 
für das Verfahren der Aerzte bei den gerichtlichen Unter¬ 
suchungen menschlicher Leichen nebst einem Anhang: Auszüge 
aus Obergutachten von Revisionsbehörden betreifend Obductions- 
bericlite. Wien und Leipzig. Urban und Schwarzenberg. 1888. 

Das Preussische Regulativ von 1875 hat bereits mehrere Commentare 
erfahren. Wiener hat seinem Commentare eine neue Basis gegeben, indem er 
das Regulativ nicht aus sich selbst heraus und aus den Erfahrungen am Ob- 
ductionstische erklärt, sondern einen andern Weg einschlägt. Er trifft eine 
Auswahl von Entscheidungen und kritischen Bemerkungen, welche er der 
Strafprocessordnung von Loewe, den Entscheidungen des Reichsgerichts, den 
Revisionsbemerkungen der Medicinal-Kollegien und der wissenschaftlichen 
Deputation für das Medicinalwesen entnimmt. Fragen wir, ob dieser Weg 
der richtige sei. 

Hinsichtlich der Verwendung des juristischen Materials werden wir mit 
dem Urtheil zurückhalten, da es schwierig ist, dies Gebiet ohne die Gefahr des 
Straucheins zu betreten. Was dagegen die Verwerthung des technischen 
Materials anlangt, so acceptiren wir gern den Beitrag aus den Bemerkungen 
der Wissenschaftlichen Deputation, die Auswahl der angezogenen Bemerkungen 
der Medicinal-Kollegien dürfte indess nur mit Vorsicht für die allgemeine 
Praxis der Medicinalbeamten zu empfehlen sein. 



250 


Referate. 


Die Revisionsbemerkungen der Medicinalcollegien haben aus verschiedenen 
Gründen nicht den allgemeinen Werth, welchen diejenigen der wissenschaft¬ 
lichen Deputation besitzen, und die auf sie gegründete Auslegung läuft leicht 
Gefahr, auf Widerspruch zu stossen. 

Ohne dem Werthe dieser Revisionsbemerkungen, deren Zweck in der 
C.-V. vom 9. Februar 1882 und 16. September 1887 wiederholt ausgesprochen 
ist, irgendwie nahe treten zu wollen, dürfen wir uns doch nicht verhehlen, 
dass diese Bemerkungen auf eine allgemeine Gültigkeit ohne Weiteres nicht 
Anspruch erheben dürfen, einmal schon aus dem äusseren Grunde, weil 
kein einheitliches Medicinalcollegium für den ganzen Staat, sondern nur einzelne 
Collogien für je eine Provinz bestehen, sodann aber auch aus dem Grunde, 
weil die Mitglieder der Medicinalcollegien zum Theil aus Kräften bestehen, 
welche nicht am Obductionstische gross geworden oder nicht in der Sections- 
praxis fortgebildet sind. 

Dass letzterem Uebelstande aus leicht erkennbaren Gründen nicht abzu¬ 
helfen ist, das ist eo ipso ersichtlich, und wir halten os deshalb auch nicht 
für gerechtfertigt, wenn wir den von diesen Collogien ausgehenden Bemerkungen 
mit irgend welchem Misstrauen begegnen wollten, ln den weitaus meisten 
Fällen tretfen diese Bemerkungen für den concreten Fall das Richtige, und in 
den wenigen Fällen, wo dies nicht geschieht, wird sich der Monirte selbst den 
Commentar liefern und ein Fehlgreifen in der Kritik wird keinen grossen 
Schaden anrichten. 

Anders liegt dies, wenn wir diesen Aussprüchen ohne Sichtung einen 
allgemeinen und massgebenden Einfluss boimessen wollten. Wir würden dann 
aus den beregten Erwägungen leicht in Unsicherheit über wichtige Punkte 
gerathen, und ich halte es deshalb nicht für opportun, dass Wiener diese 
Revisionsbemerkungen der Provinzial-Collegion als Normen aufgestellt hat, zu¬ 
mal wir auch von ihnen nicht behaupten können, dass sie stets Verbesserungen 
gewesen sind. 

Wien er ’b Absicht, das haste Material für solche Norm zu gewinnen, 
kann ja nicht lobend genug hervorgehoben werden. Er würde indess seinen Zweck 
jedenfalls sicherer erreicht haben, wenn er an der betreffenden Stelle die ihm 
am schlagendsten erscheinende Auslegung unter seiner persönlichen Verant¬ 
wortung gebracht hätte. Denn nicht die Autorität, sondern die Erfahrung 
und Wissenschaft hat über rein wissenschaftliche Angelegenheiten zu ent¬ 
scheiden. 

Trotz dieser Ausstellungen, welche ich nach meinen Erfahrungen in der 
gerichtsärztlichen Praxis machen zu müssen glaubte, verkenne ich den hohen 
Werth des Commentar’s nicht und darf ich seine Benutzung um so mehr 
empfehlen, als die Fassung desselben eine sehr übersichtliche ist und nament¬ 
lich die Sammlung der Ministeriellen Verfügungen den meisten Collegen sehr 
willkommen sein dürfte. Mittenzweig. 


Netolitzky, Dr. Aug., k. k. Bezirksarzt zu Eger. 

1. Sanitätspolizeiliche Gutachten, 1—11 und 12—16. 

2. Die Verunreinigung des Kuttenberger- und Kleinarka- 
Bachos. 

3. Die lnfectionskrankheiten im Sanitätsbezirke Caslau 1880 
und 1885. 

4. Hebammenwesen und Geburtstabeilen. 

5. Die Instruction zur ärztlichen Untersuchung der Wehr¬ 
pflichtigen. 

Vorliegende kleine Schriften, die uns als Sonderabdrücke theils aus der 
Prager med. Wochenschrift, theils aus der Wiener med. Presse der Jahrgänge 
1884—1887 vorliegen, geben uns nicht nur eine Probe von der Amtsthätigkeit 
des Verf.’s, sondern sollen gleichzeitig, wie z. B. die sanitätspolizeilichen Gut¬ 
achten nach des Verf.'s eigenem Wunsche, den Fachcollegön eine Basis ab¬ 
geben, auf der sie ähnliche Anträge und Gutachten weiter ausbauen mögen. 
Diesen Zweck erfüllen, um es gleich vorweg zu sagen, die vorliegenden Gut¬ 
achten durchaus, wie denn überhaupt die Publication von Gutachten ein stets 
geeignetes Mittel bildet, die allgemein wissenschaftlichen Anschauungen und 
Forschungsresultate dem Praktiker in annehmbarer Form nahezuführen. 



Referate. 


251 


lm Besondern sei bemerkt, dass unter den Gutachten solche über die 
verschiedensten gewerblichen Anlagen, wie über Knochenmühlen, Ci cho¬ 
riondarre, Ziegeleien, Coinen tfabr iken u. dergl. m., ferner über Teich- 
anlagon, Schlachthäuser, Badeanstalten, Familiengrüfte enthalten 
sind, während in der Schrift ad 2 Zuckerfabrik- und Brauhausanlagen, 
Tabakf abrication, Gasanstalten, Pferdeschlächterei, Gorborei 
und Färberei kurz berührt werden. Die Gutachten sind bündig und sachge¬ 
mäß gehalten und entbehren in nachahmungswerther Weise der Langathmig- 
keit, in die man durch die wissenschaftliche Beweisführung so leicht geräth. 

In dem Bericht sid 3 will Verf. eine raschere Verbreitung der 
Epidemien von Osten nach Westen bemerkt haben, was er auf die 
Eigenheiten des dortigen Verkehrs zurückführen zu können meint. Bei den 
einzelnen Epidemien hebt er die Nutzlosigkeit der Schulschliessungen 
hervor, weisst auf einige Vorkehrungen gegen die Krankheitsausbreitung hin, 
wie z. B. auf das Auffangen des Auswurfes bei Keuchhusten in Carbolwasser 
und auf die Speckeinreibungen der Haut bei Scharlachkranken, wovon er 
positive Erfolge gesehen haben will, und meint, dass Scharlach und Diphtherie 
meistens vergesellschaftet auftreten. Dass die Impfung als bestes 
Schutzmittel gegen die Blattern noch besonders hervorgehoben wird, 
könnte uns fast überflüssig erscheinen, ist aber doch wichtig, zumal in einem 
Staate, in welchem der Impfzwang nicht wie in Deutschland durchgeführt ist. 

ad 4 entwirft Verf. von dem dortigen Hebammen wesen ein trauriges 
Culturbild, allerdings vielleicht kein traurigeres, als wir es auch bei uns noch 
in mancher Gegend auf dem Lande antreffen. Eine Abhilfe sieht Verf. nur 
in der strengen Beaufsichtigung der Hebammen,und hält die neu oinge- 
fiihrte Verpflichtung der Hebammen zur Vorlage der Geburts¬ 
tabellen für ein sehr geeignetes Mittel, den Hebammen die Berufspflichten 
stets von Neuem wachzurufen. Sie werden dadurch angehalten, die einzelnen 
Geburtsfälle richtig zu registriren und daher schon bei der Entbindung auf 
die Einzelheiten der letzteren sorgfältiger aufzumerken. Ich kann dieser An¬ 
schauung des Verf.’s nur beipflichten und bemerke, dass ich diese bei uns 
längst bestehende Einrichtung der alljährlichen Einreichung einer Nachwei¬ 
sung über die gehobenen Geburten in dem mir unterstellten Bezirke, in wel¬ 
chem sie in Vergessenheit gerathen war, wieder in W'irksamkeit gesetzt habe. 
Dagegen stimme ich mit dem Verf. nicht überein, wenn er die bei uns üblichen 
Nachprüfungen der Hebammen ganz und gar verwirft. Zum Mindesten 
haben dieselben den Nutzen, dass die nachzuprüfende Hebamme einige Wochen 
vorher ihr Lehrbuch wieder einmal zur Hand nimmt und das Vergessene 
nachliest, auch ihre Geräthschaften einer gründlichen Reinigung unterwirft 
und dieselben vervollständigt. Allerdings bedürfen diese Nachprüfungen einer 
Erweiterung, und zwar zu einem Repetitorium, in welchem cursorisch, 
unter besonderer Hervorhebung der vorwiegend praktischen Momente aus der 
Entbindungslehre und mit Demonstration der regelwidrigen Kindslagen am 
Phantom (ein solches befindet sich jetzt in der Hand eines jeden preussischen 
Physicus), das ganze Gebiet der Geburtölohre durchgegangen wird. Ein solcher 
Cursus brauchte nur wenige Tage zu währen, und sein wirksamer Einfluss auf 
die Hebammen sollte sich bald zu erkennen geben. Ich setze dabei als selbst¬ 
verständlich voraus, dass die Physiker bei solchen Cursen von den Hebammen¬ 
lehrern der Institute unterstützt und dass auch die Hebammen für ihre Zoit- 
versäuinniss entschädigt würden Ohne den bekannten Kostenpunkt ginge 
es also auch hier nicht ab. — Was endlich die Desinfection bei der Entbin¬ 
dung anlangt, so ist es ja selbstverständlich von grösster Wichtigkeit, dass 
wir Aerzte den Hebammen selber mit gutem Beispiele voranzugehen haben, 
und dass sie es sich dann um so eher von uns aneignen werden. Allein Rein¬ 
lichkeit und Desinfection werden die Hebammen nach meiner Meinung nur in 
einem Institute lernen, wo viel operirt wird, wo also, ich möchte sagen, 
bei jedem Schrift, bei jeder Handbewegung, auf Reinlichkeit und Desinfection 
Bedacht genommen wird. Die Hebammen sollten, ehe sie in die Praxis ent¬ 
lassen werden, noch mehrere Wochen in einer chirurgischen Klinik zur 
Hilfeleistung Verwendung finden; dann könnte man erwarten, dass ihnen das, 
was wir unter Reinlichkeit verstehen, auch wirklich in Fleisch und Blut über¬ 
gehen und für ihr künftiges Thun und Lassen massgebend bleiben würde. 



252 


Verordnungen und Verfügungen. 


In der letzten Schrift endlich kritisirt Verf. die bezügliche militärärzt¬ 
liche Instruction, indem er u. a. für die Wiedereinführung des Messens des 
Brustumfanges plaidirt und bei irgend zweifelhaften Fällen die Untersuchung 
und Beobachtung des Einzustellenden in dem Militärhospital für nothwendig 
erklärt. Frey er (Stettin). 


Verordnungen und Verfügungen. 

An- und Abmeldungen der Aerzte. Verfügung des Ministers der 
geistlichen u. s. w. Angelegenheiten (gez. in Vertr. von Lucanus) vom 
29. Mai 1888 an die Königl. Oberpräsidenten. 

Auf die gef. Rand-Aeusserung vom 11. Mai d. Js. zu dem Berichte der 
Königl. Regierung, welcher nebst Anlagen mit dem Ersuchen um Rücksendung 
beigeschlossen ist, erwidere ich, Ew. pp. g. erg., dass diesseitiger Auffassung 
nach der § 1 der Polizei-Verordnung betreffend die An- und Abmeldung der 
Aerzte beim Kreisphysikus nicht nur auf solche Aerzte anwendbar ist, welche 
ihre Berufsthätigkeit in freier Praxis ausüben, sondern ebenso auf solche, 
welche lediglich in geschlossenen Anstalten die Heilkunst praktisch anwenden. 

Die durch den Wortlaut der erwähnten Polizei-Verordnung nicht gebotene 
Beschränkung derselben auf die freipraktizirenden Aerzte würde mancherlei 
Unzuträglichkeiten nicht nur für die Medicinal-Verwaltung, sondern auch für 
die Anstaltsärzte selbst zur Folge haben. 

Die Medicinal-Verwaltung hat ein erhebliches Interesse daran, festzustellen, 
dass auch die in geschlossenen Anstalten, mögen dieselben provinzialständische, 
kommunale, Vereins- oder Privat-Krankenanstalten sein, zur ärztlichen Behand¬ 
lung angestellten Personen, auch wenn dieselben imUebrigen eine ärztliche Thätig- 
keit für gewöhnlich nicht üben, wirklich approbirte Aerzte sind, und event., ob 
dieselben sich den Doktortitel oder einen anderen Charakter mit Recht beilegen. 

Für die Anstaltsärzte würde die Unterlassung des ordnungsmäßigen 
Nachweises ihrer Approbation pp. zur Folge haben, dass sie in die amtlichen 
Verzeichnisse der approbirten Aerzte nicht aufgenommen werden würden und 
event. Seitens der Polizei-Behörde dazu angehalten werden können, den Nach¬ 
weis zu erbringen, dass sie zur Führung der ärztlichen Bezeichnung oder des 
Doktortitels pp. befugt seien. An den durch Allerhöchste Verordnung vom 
25. Mai v. J. betreffend die ärztliche Standesvertretung den Aerzten verliehenen 
Rechte würden sie nicht ohne weiteres Theil haben und den Apothekern würde 
es nur unter den sehr erheblichen Beschränkungen gestattet sein, die von 
ihnen verschriebenen Recepte anzufertigen, welche sich aus der Verordnung 
vom 8. Juni 1878, betreffend die Abgabe stark wirkender Medikamente im 
Handverkauf pp. ergeben. 

Ew. pp. ersuche ich hiernach g. erg., auf den Landesdirektor dahin ein¬ 
zuwirken, dass er die bei den Provinzial-Irrenanstalten angestellten Aerzte 
nicht hindere, der betreffenden Vorschrift der in Rede stehenden Polizeiver¬ 
ordnung nachzukommen. 

Regelung des Pferdeschlüchtereigewerbcs. Erlass der Minister der 
geistlichen u. s. w. Angelegenheiten (gez. von Gossler), für Handel 
und Gewerbe (gez. in Vertr. Magdeburg) und des Innern (gez. im Aufträge 
von Zastrow) vom 2. Juni 1888. M. d. g. A. No. 3565, M. f. H. u. G. No. 

2318 u. M. d. I. II. No. 7191 an die Königl. Oberpräsidenten. 

Auf den gefälligen, an mich den mitunterzeichneten Minister der geist¬ 
lichen pp. Angelegenheiten erstatteten Bericht vom 4. Januar d. J., betreffend 
die Petition des für die Provinzen Rheinland und Westfalen gegründeten 
Vereins zur Wahrung des Pferdemetzgereibetriebes um Erlass von Bestim¬ 
mungen zur Regelung des letzteren, erwidern wir Ew. Excellenz ganz ergebenst, 
wie es im sachlichen Interesse liegt, dass für alle Theile der Provinz Westfalen 
und der Rheinprovinz einheitlich im Wege der Polizei-Verordnung den Ab¬ 
deckern der Verkauf des Fleisches der von ihnen geschlachteten Pferde zum 
menschlichen Genüsse untersagt wird, sowie, daß die zur Schlachtung be¬ 
stimmten Pferde vor dem Schlachten und die Kadaver derselben nach dem 
letzteren durch einen Thierarzt untersucht werden müssen, und Theile des 
Kadavers zum menschlichen Genuss nicht verkauft werden dürfen, bevor nicht durch 
ein Zeugniss des Thierarztes die Geeignetheit derselben hierzu erklärt worden ist. 



Personalien. 


253 


Ew. Excellenz ersuchen wir daher ganz ergebenst, gefälligst im Einver¬ 
ständnis mit dem Herrn Oberpräsidenten der Rheinprovinz, welcher sich bereits 
in derselben Angelegenheit in im Allgemeinen mit Ew. Excellenz überein¬ 
stimmendem Sinne gutachtlich geäussert hat, den Erlass entsprechender, für 
beide Provinzen gleichartiger Bestimmungen herbei zu führen und uns seiner Zeit 
einige Druckexemplare derselben einzureichen. Das Anlageheft folgt anbei zurück. 

Abschrift vorstehenden Erlasses erhalten Ew. Excellenz zur gefälligen 
Kenntnissnahme mit dem ganz ergebensten Ersuchen, geeigneten Palls auch 
für die dortige Provinz den Erlass entsprechender Bestimmungen zur Regelung 
des Pferdeschlächtcreigoworbes herbeizuführen. 


Verpackung and Versendung von Gebr&uchsgegenständen von Ortschaften 
ausserhalb Berlin an die dortigen städtischen Desinfectionsangtalten. 

Bekanntmachung des Magistrats vom 30. Juni 1888 (gez. von Forcken- 
beck), sowie Polizei-Verordnung des Königl. Polizeipräsidenten 
vom 30. Juni 1888 (gez. von Richthofen). 

Der städtischen Desinfections- Anstalt hierselbst, zu welcher der Zugang 
nur vom Cottbuser-Ufer Nr. 19 stattfinden darf, sind wiederholt von 
ausserhalb Betten, Kleider, Wäsche und andere Gegenstände zur Desinfection 
zugegangen, welche durchaus ungenügend verpackt gewesen sind. 

Da bei ungenügender Verpackung der inficirten Sachen leicht eine Ueber- 
tragung von ansteckenden Krankheiten auf das mit dem Transporte betraute 
Personal, stattfinden kann, so bestimmen wir hierdurch, dass alle der städtischen 
Desinfections-Anstalt — Cottbuser-Ufer No. 19 hierselbst — von ausser¬ 
halb, einschliesslich der benachbarten Ortschaften, zur Desinfection zuge¬ 
henden Gegenstände in festen, im Innern mit Blech ausgeschlagenen 
Kisten verpackt zugesandt werden müssen. 

Zuwiderhandlungen gegen vorstehende Bestimmungen werden dem König¬ 
lichen Polizei-Präsidium hierselbst Behufs der Bestrafung angezeigt werden. 

Die Rückgabe der von Auswärts zur Desinfection eingelieferten Gegen¬ 
stände erfolgt nur nach vorheriger Bezahlung beziehungsweise unter Nach¬ 
nahme der tarifmässigen Gebühren. 

Polizei - Verordnung: 

• Auf Grund der §§ 143 und 144 des Gesetzes über die allgemeine Lan¬ 
desverwaltung vom 30 Juli 1883 (G.-S. S. 195 ff.) und der §§ 5 ff. des Gesetzes 
über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 1850 (G.-S. S. 265) wird hierdurch 
nach Zustimmung des Gemeindevorstandes für den Stadtkreis Berlin Folgen¬ 
des verordnet: 

Einziger Paragraph: 

Wer den, über Verpackung und Versendung von Gebrauchsgegenständen, 
welche von ausserhalb einschliesslich der benachbarten Ortschaf¬ 
ten den hiesigen städtischen Desinfectionsanstalten zugesandt werden, von 
dem hiesigen Magistrat unter dem heutigen Tage veröffentlichten Vorschriften 
zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe bis zu 30 Mark bestraft. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Das Prädikat als Professor: den Privatdocenten bei der 
medicinischen Fakultät Dr. Frerichs in Marburg und Dr. Grunmach in 
Berlin. — Der Charakter als Geheimer Sanitätsrath: dem praktischen 
Arzt Sanitätsrath Dr. Mayer in Berlin; der Charakter als Sanitätsrath: 
dem Bezirksphysikus Dr. Richter in Berlin, den Kreisphysikem Dr. Haber- 
ling in Bromberg, Dr. Kranefach in Halle i. W. und Dr. Köhler in Lands¬ 
hut, dem Kreiswundarzt Dr. Crednerin Hanau, sowie den praktischen Aerzten 
Dr. Forner in Inowrazlaw, Stabsarzt a. D. Dr. Steffen zu Charlottenburg, 
Dr. Willems in Deutz-Cöln, Dr. Thanisch in Trier, Dr. Kaeben zu Forst. 
Dr. Bielitz in Lauenburg i. P., Dr. Hitzel in Homburg v. d. H. una 
Dr. Citron in Berlin. —Der rothe Adlerorden H. Classe mit Eichen¬ 
laub: dem Geheimen Medicinalrath und Professor Dr. von Gerhardt zu 
Berlin; der Stern und das Kreuz der Komthure des Königl. Haus¬ 
ordens der Hohenzollern: dem Geheimen Medicinalrath und Professor 



254 


Personalien. 


von Bergmann zu Berlin; der Kronenorden IV. Classe: dem Kreis¬ 
wundarzt Dr. Unger zu Nordhausen. — Die Erlaubniss ertheilt zur An¬ 
legung: des Ritterkreuzes 1. Classe des Herzogi. Sachs. Ernestin. 
Hausordens: dem Stabsarzt Dr. Groschke in Coburg und dem prakt. Arzt 
Dr. Erlenmeyer in Bendorf; des Kreuzes der Ritter des Königl. 
Spanischen Ordens Karl HI: dem prakt. Arzte Sanitätsrath Dr. Baumann 
in Schlangenbad. 

Ernennungen: 

Se. Excellenz der Unterstaatssecretär im König]. Ministerium der geist¬ 
lichen etc. Angelegenheiten Wirkl. Geheimer Rath Dr. von Lucanus zum 
Geheimen Cabinetsrath Sr. Majestät des Königs; der Regierungspräsident 
Nasse in Trier zum Unterstaatssecretär und Director im Königl. Ministerium 
der geistlichen etc. Angelegenheiten; der bisherige Stabsarzt bei dem medicinlsch- 
chirurgischen Friedrich Wilhelms-Institut und Privatdocent an der Universität 
in Berlin Dr Löffler zum ordentlichen Professor in der medicinischen Facultät 
der Universität Greifswald; der seither mit der interimistischen Verwaltung 
des Physikats des Kreises Lissa beauftragte Oberstabsarzt a. D. Dr. Düst er¬ 
hoff in Lissa zum Kreisphysikus dieses Kreises; der seitherige Kroiswundarzt 
des Kreises Ohlau, Dr. Lichtwitz in Ohlau zum Kreisphysikus desselben 
Kreises; der seitherige Kreiswundarzt des Kreises Schubin Dr. Lehmann in 
Exin, zum Kreisphysikus des Kreises Znin; der prakt. Arzt Dr. Erb kam in 
Görlitz zum Kreiswundarzt des Kreises Görlitz; der bisher mit der conunis- 
sarischen Verwaltung der Kreiswundarztstello Guben beauftragte praktische 
Arzt Dr. Jungmann in Guben zum Kreiswundarzt des gedachten Kreises; der 
seitherige Kreiswundarzt des Kreises Oschersleben Dr. lleicko in Gröningen 
zum Kreisphysikus dos Kreisos Wernigerode. 

Verstorben sind: 

Die Aerzte: Sanitätsrath Dr. Plastwich in Elbing, Dr. Groeschner 
in Rankau, Zeidler in Reichenbach in Schlesien, Dr. Wilh. Just. Jacoby in 
Brokenheim, Sanitätsrath Dr. Hartmann in Wiesbaden, Dr. Kröger in 
Hovestadt, Oberstabsarzt a. D. Dr. Boother und Dr. Nolda in Graudenz, 
Dr. Deutsch, Dr. Gustav Schulze, Dr. Franz Wolf und Generalarzt a. D. 
Dr. Büttner in Berlin, Oberstabsarzt Dr. Goldhorn in Trier, Dr. Brach und 
Geh. Med. Rath Prof. Dr. Rühle in Bonn, Dr. Lünemann in Göttingen, 
Dr. Piesbergen in Branesche, Dr. Galezowski in Düsseldorf, Dr. König 
in Emmerich, Dr. Mohr in Frankfurt a./M., Dr. Henke in Höchst, Dr. Lam- 
mers in Beverungen, Dr. Humpert in Grumbaeh, Landphysikus a. D. Dr. 
Wiebalck in Otterndorf und Geh. Med. Rath Prof. Dr. Budje in Greifswald. 

DasFählgkeits-Zengnlss zur Verwaltung einer Physikatsstelle haben erhalten: 

Im II. Quartal 1888 die praktischen Aerzte: Dr. Arnstein in Ratibor, 
Dr. B inner in Stettin, Dr. Brinkmann in Christburg, Dr. Eysoldt in Owinsk, 
Dr. Florschütz in Berlin, Dr. Hahn in Markt Bohrau, Dr. Hansen in Gram, 
Dr. Hartwig in Pyritz, Dr. Heinrich in Lichtonburg, Dr. Heise in Schweiz, 
Dr. Jungmann in Guben, Dr.Kracauer in Altwasser, Dr. Landmann in 
Frankfurt a/M., Dr. Le mm er in Alfeld, Dr. Mühlenbach in Lüben, Dr. Polen 
in Hannover, Dr. Pusch in Berlin, Dr. Schlegtendal in Lennep, Dr. Selig¬ 
mann in Leba, Dr. Steinbach in Triebol, Dr. Thienel in Sohrau und 
Dr. Wirsch in Berlin. 

Vakante Stellen: 

Kreisphysikate: Darkehmen, Johannisburg, Wehlau, Putzig, Briesen, 
Filehne, Witkowo, Koschmin, Neutomischel, Schildberg, Schmiegel, Kalbe, 
Mansfeldt (Gebirgskreis), Apenrade, Gramm, Neustadt a. R., Adenau, Daun 
und Oberamt Gammertingen. 

Kreiswundarztstellen: Fischhausen, Labiau, Mohrungen, Darkehmen, 
Heydekrug, Oletzko, Ragnit, Tilsit, Karthaus, Loebau, Marienburg, Anger¬ 
münde, Templin, Friedeberg, Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West-Stern¬ 
berg, Regenwalde, Bütow, Draniburg, Schievelbein, Bomst, Meseritz, Schroda, 
Wreschen, Strehlen, Ohlau, Hoyerswerda, Reichenbach, Falkenberg o./Sehl., 
Grottkau, Wanzleben, Saalkreis, Merseburg, Naumburg a. S., Koesfeldt, Borken, 
Recklinghausen, Steinfurt, Warendorf, Höxter, Warburg, Lippstadt, Meschede, 
Fulda, Hünfeld, Kempen, Zell, Kleve, Bergheim, Rheinbach, Wipperfürth, 
St. Wendel und Haigerloch. 



Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvoreins. 255 



der 


sechsten Hauptversammlung 

des 

preussischen Medicinalbeamten - Vereins 

am 26. und 27. September 1888 

zu 

BERLIN 


im grossen Hörspale des Hygienischen Instituts, 
Klosterstruse 8fi. 


Dienstag, den 25. September. 

7 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung zur Begriissung im „Fran- 
ciscaner“ (Friedrichstrasse, nahe dem Centralbahnhof). 
Daselbst wird ein Bureau behufs Eintragung in die Präsenz¬ 
liste, Austheilung von Mitglieds- und Festessenkarten etc. 
errichtet sein. 

Mittwoch, den 26. September. 

9 Uhr Vormittags: Erste Sitzung im Hörsaale des Hygienischen 
Instituts. 

1) Eröffnung der Versammlung. 

2) Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren. 

3) Die Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf die jetzige Unfall¬ 

gesetzgebung; Herr Bezirksphysikus Dr. Becker in Berlin. 

4) Der Entwicklungsgang im preussischen Medlcinalwesen. — 

I. Apothekenwesen und Apothekengesetzgebung; Herr Regie- 
rungs- und Medicinalrath Dr. Wernich in Köslin. 

5) Bemerkungen über die Lage der fremden Ernte-Arbeiter 

(Schnitter) in einzelnen Theilen der Provinzen Brandenburg und 
Schlesien; Herr Kreisphysikus Dr. Schmidt in Steinau a. O. 

6) Ueber einzelne Bestimmungen des Gesetzes vom 9. März 1872 

betreffend die Gebühren der Medicinalbeamten; Herr Kreis¬ 
physikus Sanitätsrath Dr. Wallichs in Altona. 

2 Uhr Nachmittags: Besichtigung des Römerbades, verlängerte 
Zimmerstravsse 4 u. 5. 

\ Uhr Nachmittags: Festessen im „Englichen Hause“ (Huster), 
Mohrenstrasse 49. Karten hierzu ä 5 Mark sind bei dem 
Bureau bis Vormittags 11 Uhr zu lösen. 

9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr, Friedrich¬ 
strasse 172. 



256 Die Hauptversammlung des preussisclien Medieinalbeamtenvereins. 


Donnerstag*, den 27. September. 

9 Uhr Vormittags: Zweite Sitzung im Höreaale des Hygienischen 
Institute. 

1) Der Hypnotismus unter besonderer Berücksichtigung der ge« 

richtlichen Hedicin (mit Demonstrationen); Herr Dr. Moll in 
Berlin. 

2) Vorstandswahl nnd Bericht der Sassenrevisoren. 

3) Die Konstatimng ansteckender Krankheiten mit Bezog auf die 

§§ 9 nnd 10 des Regulativs vom 8. August 1835; Herr Regie¬ 
rungs- und Medicinalrath Dr. Peters in Bromberg. 

4) Uebor einige den Medieinalbeamten abzunehmende Geschäfte. 

Herr Kreisphysikus Prof. Dr. Falk in Berlin. 

Nach Schluss der Sitzung: Besichtigung der Könfgl. Strafanstalt 
in Piötzensee (das Nähere wird am Sitzungstage mitgetheilt 
werden). 

9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Friedrich¬ 
strasse 172). 


Indem der unterzeichnet« Vorstand auf eine recht zahlreiche 
Betheiligung seitens der Vereinsmitglieder, sowie auch seitens 
derjenigen Collegen hofft, die dem Verein bisher noch nicht bei¬ 
getreten sind, bittet er, etwaige Beitrittserklärungen, Anmel¬ 
dungen zur Theilnahme an der Versammlung oder sonstige 
Wünsche demnächst dem Schriftführer des Vereins gefälligst an- 
zeigen zu wollen. 

Berlin, im Juli 1888. 


Der Vorstand des preussisclien Medieinalbeamten-Vereins. 

Dr. Kanzow, Vorsitzender, Dr. Rapmund, Schriftführer, 


Geheimer■ Medicinal- u. Regierungsrath. 

Potsdam. 


Regierungs- und Medicinalrath. 

Anrich. 


Dr. Schulz, 

Polizei -Stadtphysikus und 
Direktor des Königl. ImpMnstituts. 

Berlin. 

Dr. Mittenzweig, 

Gerichtlicher Stadtphysikus. 

Berlin. 


Dr. Wallichs, 

Kreisphysikus und Sanitätsrath. 

Altona. 


Fürstl. prlv. Hofbuchdruckerei (F. Mltzlaff), Rudolstadt. 



Jahrg. 1. 


1888 , 


Zeitschrift 

für 

MEDICINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medicinalrath in Aurich. 

und 

Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 


No. 9. 


Kraebetnt am 1. Jede. Meaata. 

Preis Jährlloh 6 Mark. 


1. Septbr. 


INHALT: 


Seite 

Origlnal-Mi ttheilungren: 

Zar Gesetzgebang über Entmündigung 

wegen Geisteskrankheit.257 

Ceber das Auftreten kernhaltiger rother 
Blutkörper bei Vergiftung mit Kalium 
chlorlcum. Von Dr. Mittenzweig . . 265 

Die Statistik der Mortalität Im Wochen¬ 
bett bez. am Wochenbettfleber. Von 
Dr. Blokusewskl.270 


Seite 


Kleinere Mitteilungen.274 

Referate: 

Dr. Mltteuzwefr. Zwölf Abhandlungen 
aus Friedreichs Blätter. ..... 275 

Verordnungen und Verfügungen . 27t 

Literatur .. . 286 

Versammlung d. Deutschen Vereins 
für öffentliche Gesundheitspflege 287 
Personalien .288 


Zur Gesetzgebung über Entmündigung wegen Geistes¬ 
krankheit. 

Da die Kenntniss der Entmündigungs-Paragraphen aus dem 
Entwürfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich 
und der Motive zu denselben für unsere Leser zweifelsohne von 
grossem Interesse ist, so geben wir die betreffenden Paragraphen 
im Abdruck wieder, zumal wir dieselben in der Folge einer 
näheren Besprechung zu unterziehen gedenken. 

1. Entwurf. 

Dritter Titel. 

Altersstufen. Entmündigung. 

§ 25. 

Das Kindesalter dauert bis zum zurückgelegten siebenten, 
die Minderjährigkeit bis zum zurückgelegten einundzwanzigsten 
Lebensjahre. 

§ 26. 

Ein Minderjähriger erlangt durch Volljährigkeitserklärung 
die rechtliche »Stellung eines Volljährigen. 


17 * 













258 


Dr. Mittenzweig. 


1. Daner 
der Minder* 
jährigkett. 


2. Dauer 
des Kindes- 
alters. 


§ 27. 

Die Volljährigkeitserklärung ist nur dann zulässig, wenn der 
Minderjährige das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt und seine 
Einwilligung ertheilt hat. Bei einem Minderjährigen, welcher 
unter elterlicher Gewalt steht, ist ausserdem die Zustimmung des 
Inhabers der elterlichen Gewalt erforderlich. Die Zustimmung 
eines Elterntheiles ist nicht erforderlich, wenn dessen Gewalt auf 
die elterliche Nutzniessung beschränkt ist. 

Die Volljährigkeitserklärung erfolgt durch Beschluss des 
Vormundschaftsgerichtes. Die Volljährigkeitserklärung soll nur 
dann erfolgen, wenn dieselbe das Beste des Minderjährigen 
befördert. 

Antragsberechtigt ist der Minderjährige und derjenige gesetz¬ 
liche Vertreter desselben, welcher die Sorge für die Person hat. 
Vor der Entscheidung sollen Verwandte oder Verschwägerte des 
Minderjährigen nach Massgabe des § 1678 sowie die Vormünder 
und Pfleger des Minderjährigen gehört werden. 

§ 28. 

Eine Person, welche des Vernunftgebrauches beraubt 
ist, kann wegen Geisteskrankheit entmündigt werden. 

Hört der im ersten Absätze bezeichnete Zustand auf, 
so ist die Entmündigung wieder aufzuheben.*) 

2. Motive. 

Dritter Titel. 

Altersstuf e.n. Entmündigung. 

§ 25. 

Die Dauer 'der Minderjährigkeit bis zum zurückgelegten ein¬ 
undzwanzigsten Lebensjahre entspricht dem Gesetze, betr. das 
Alter der Grossjährigkeit, vom 17. Februar 1875 (R. G. Bl. S. 71). 
Zurückgelegt ist das einundzwanzigste Lebensjahr, wenn der letzte 
Tag desselben abgelaufen ist (§ 149 Abs. 1). 

Innerhalb des Zeitraumes der Minderjährigkeit sind zwei 
Stufen von allgemeiner Bedeutung unterschieden: das Kindesalter, 
für welches die Willensfähigkeit verneint wird, und das Alter, 
in welchem die letztere zwar als vorhanden anzuerkennen ist, 
aber die noch fehlende Reife der geistigen Entwickeluug, der 
Mangel des normalen Grades der Besonnenheit und Einsicht in 
die Lebensverhältnisse eine Beschränkung des selbstständigen 
Auftretens im Rechtsverkehre bedingt. Die Grenze des Kindes¬ 
alters ist — in Uebereinstimmung mit dem gemeinen und preuss. 
Rechte (A. L. R. I, 1 § 25; Gesetz vom 12. Juli 1875 § 1), dem 
sächs. G. B. § 47, dem österr. G. B. § 21, dem hess. Entw. 


*) Anmerkung: Nach meiner These I vom 15. September 1887 würde 
folgende Aenderung für uns Aerzte brauchbarer erscheinen: Eine geisteskranke 
Person, welche des Vernunftgebrauches beraubt ist, kann wegen Geisteskrank* 
heit entmündigt werden. 



Zur Gesetzgebung über Entmündigung wegen Geisteskrankheit. 259 


Abtli. IV, 1 Art. 47 No. 1, dem dresd. Entw. Art. 23*) — auf 
das Ende des siebenten Lebensjahres gestellt. Nach dem bayr. 

Entw. Th. I Art 3 ist das zurückgelegte achte Lebensjahr mass¬ 
gebend. Das Schweiz. Gesetz, betr. die persönliche Handlungs¬ 
fähigkeit, vom 22. Juni 1881 begrenzt überhaupt das Lebensalter, 
in welchem Personen um deswillen „gänzlich handlungsunfähig“ 
sind, weil sie noch „keinen bewussten Willen“ haben, nicht 
näher (Art. 4). 

Für die über sieben Jahre alten Minderjährigen sind Ab- z 8 ^ l f c ° 11 1 "*. 
stuiilngen, wie solche in verschiedener Weise im gemeinen, preuss. sture«. 
(A. L. R. I, 1 § 25), bad. (L. R. Satz 1124 a) und össterr. Rechte 
(G. B. § 21) sich finden, nicht aufgestellt. Der Thatsache, dass 
die vom Beginne des achten bis zur Beendigung des einund¬ 
zwanzigsten Lebensjahres reichende Altersklasse Personen umfasst, 
die auf sehr verschiedener Stufe der Entwickelung stehen, wird 
durch das Institut der Volljährigkeitserklärung (§§ 26, 27), durch 
die Erweiterung der Geschäftsfähigkeit Minderjähriger in Fällen, 
in welchen die Berufsverhältnisse eine solche fordern (§ 67) und 
durch einschlagende sonstige Bestimmungen (vergl. §§ 68, 69) 
genügende Rechnung getragen. 

Die Ehemündigkeit tritt nach § 1233 Abs. 2 für den Mann 
mit dem zurückgelegten zwanzigsten Lebensjahre, für die Frau 
mit dem zurückgelegten sechszehnten Lebensjahre ein. Die Fähig¬ 
keit, eine letztwillige Verfügung zu errichten, ist in § 1912 an 
das zurückgelegte sechszehnte Lebensjahr geknüpft. Ueber die 
gewissen Altersstufen in einzelnen Beziehungen sonst noch zu¬ 
kommende rechtliche Bedeutung vergl. § 27 Abs. 1 §§ 709, 1238 
Abs. 1, § 1456 Abs. 1, §§ 1573, 1588, 1603 Abs. 1, §§ 1604, 

1610 Abs. 2, §§ 1612, 1643 No. 2, §§ 1657, 1680, 1917 Abs. 2 
No. 2. 

Minderjährige unter sieben Jahren werden in dem Entwürfe T *™‘ e n0 * 
mit „Personen, welche im Kindesalter stehen,“ bezeichnet (§ 64 
Abs. 1, § 709). 

§ 26. 

Die Volljährigkeitserklärung stellt im Wege der Rechtsver¬ 
günstigung Minderjährige vor dem Gesetze Volljährigen gleich. 

Dieser ihrer Bedeutung gemäss ist sie im Allgemeinen Theile, 
nicht im Familienrechte (preuss. A. L. R. II, 18 §§ 713 ff.; bayr. 

L. R. I, 7 § 36 No. 7; sächs. G. B. §§ 1967 ff.; österr. G. B. 

§ 252) geordnet. 

Die Volljährigkeitserklärung erfährt in der Mehrzahl der *•. 
bestehenden Rechte eine verschiedene Behandlung, je nachdem erklärung lat 
Minderjährige unter väterlicher Gewalt oder unter Vormundschaft Muiderjiu'ri- 
stehen. Der Einfluss der römischrechtlichen Auffassung, dass die ge £J t tatt ' 
väterliche Gewalt und die Vormundschaft, die rechtliche Stellung 
des gewaltsuntergebenen und des gewaltsfreien Kindes etwas 


*) Unter letzterem wird hier und in dem Folgenden verstanden „der 
Entwurf eines für die deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Gesetzes über 
S chuld Verhältnisse tf . 


17 * 



260 


Dr. Mittenzweig. 


grundsätzlich Verschiedenes seien, ist dabei unverkennbar. Das 
preuss. A. L. R., das bayr. L. R, das sächs. und österr. Gr. B. 
regeln die Volljährigkeitserklärung unter den Beendigungsgründen 
der Vormundschaft, fassen mithin zunächst, wenn nicht überhaupt, 
nur bevormundete Minderjährige in’s Auge. Zu Gunsten von 
unter väterlicher Gewalt stehenden Minderjährigen findet nach 
dem preuss. A. L. R. II, 2 §§ 216, 218, Anh. § 91, sofern die¬ 
selben Haussöhne sind, nach dem österr. Rechte (G. B. § 174, 
Gesetz vom 9. August 1854 § 266) allgemein eine Gewaltsent¬ 
lassung statt, welche als solche die Rechte der Volljährigkeit 
gewährt. Im sächs. Rechte wird angenommen, dass ein unter 
väterlicher Gewalt stehender Sohn auf Ansuchen des Vaters für 
volljährig erklärt werden kann, vorausgesetzt, dass ihn der Vater 
aus der Gewalt entlässt. Für Preussen ist ein einheitlicher und 
gleichmässiger Rechtszustand durch die Vorm. 0. vom 5. Juli 
1875 §§ 61, 92 Abs. 1 herbeigeführt; seit ihrer Geltung findet 
die Volljährigkeitserklärung in Ansehung aller Minderjährigen 
ohne Unterschied statt; auch hat die Gewaltsentlassung minder¬ 
jähriger Haussöhne nicht mehr die Bedeutung der Volljährigkeits¬ 
erklärung. Andere Gesetze schliessen die unter väterlicher Ge¬ 
walt Stehenden von der Volljährigkeitserklärung ebenfalls nicht 
aus, bestimmen aber die Erfordernisse für die beiden Klassen von 
Minderjährigen verschieden; bei jenen wird die Einwilligung des 
Vaters verlangt und, wenn diese ertheilt ist, von einzelnen Er¬ 
fordernissen abgesehen, deren es bei Bevormundeten bedarf. Der 
Entwurf behandelt die unter elterlicher Gewalt und die unter 
Vormundschaft stehenden Minderjährigen gleich. Wie zwischen 
ihnen hinsichtlich des Umfanges der Geschäftsfähigkeit kein 
Unterschied bestehen soll, wie beide Klassen mit Erreichung des 
Volljährigkeitsalters die volle Geschäftsfähigkeit gewinnen, so soll 
auch beiden in gleicher Weise die Volljährigkeit vor Erreichung 
dieses Alters verliehen werden können. Das Interesse des In¬ 
habers der elterlichen Gewalt, welcher bei der Volljährigkeits¬ 
erklärung des Kindes der Gewalt verlustig geht (§ 1557 Abs. 1), 
wird durch das Erforderniss seiner Zustimmung gewahrt. 

--jou- Di e Volljährigkeitserklärung verleiht die rechtliche Stellung 
J “ikilrong eines Volljährigen ohne Einschränkung. Von den im gemeinen 
v.inc W Hefbst. (1- 3 Cod. de his, qui veniam 2, 45), bayr. (L. R. I, 7 § 36 No. 7), 
sündigkett, sächs. (G. B. § 1969) und anderen Rechten bestehenden Be¬ 
schränkungen des für volljährig Erklärten hinsichtlich der freien 
Verfügung über das liegenschaftliche Vermögen ist abgesehen. 
Die Mot. zur preuss. Vorm. 0. betonen (S. 99) mit Recht, dass, 
wenn dem für volljährig Erklärten im Allgemeinen die Fähigkeit 
zugestanden werde, die wichtigsten Rechtshandlungen selbstständig 
vorzunehmen, also beispielsweise die umfangreichsten Geschäfte 
auf dem Gebiete des Wechsel- und Handelsverkehres einzugehen, 
Erbschaften anzunehmen oder auszuschlagen, Kapitalien einzu¬ 
ziehen, ein innerer Grund für die Beibehaltung solcher Be¬ 
schränkungen fehle, zumal nach den heutigen wirtschaftlichen 
Verhältnissen die Geschäfte über Immobilien keineswegs unbedingt 



Zur Gesetzgebung über Entmündigung wegen Geisteskrankheit. 261 


als die bedeutungsvollsten angesehen werden könnten. Diese 
Motive bezeugen ferner, dass nach den im Geltungsgebiete des 
A. L. R. gemachten Erfahrungen ein Bedürfhiss für ausnahmsweise 
Vorbehalte nicht hervorgetreten sei. Aufgenommen ist ebensowenig 
die Beschränkung, dass ein für volljährig Erklärter auf die Ab¬ 
legung der Schlussrechnung des Vormundes nur gerichtlich und 
nur mit Genehmigung der Vormundschaftsbehörde verzichten könne 
(sächs. G. B. § 1970; sachsen-weimar. Gesetz vom 27. März 1872 
§ 74). Erachtet man einen Minderjährigen überhaupt für fähig 
und geeignet zur vollen privatrechtlichen Selbstständigkeit, so 
wird ihm die Wahrung seiner Rechte auch in dieser Richtung 
uneingeschränkt überlassen werden dürfen. 

Die Bestimmung, dass die Volljährigkeitserklärung die recht¬ 
liche Stellung eines Volljährigen verleiht, schliesst in sich, dass 
die Vorschriften des Entwurfes, welche von den Rechten und der 
rechtlichen Stellung der Volljährigen handeln, auf die für voll¬ 
jährig Erklärten Anwendung finden, soweit nicht ein Anderes 
bestimmt ist. Mit Rücksicht hierauf ist von einer besonderen 
Erwähnung der für volljährig Erklärten in den betreffenden Vor¬ 
schriften Umgang genommen. Darüber, dass die Volljährigkeits¬ 
erklärung nicht die Ehemündigkeit begründet, vergl. § 1233 Abs. 4. 

Das römische Recht stellt in 1. 4 Cod. tit. cit. 2, 45 auf, 
dass, sofern rechtsgeschäftlich von dem Eintritte der Volljährig¬ 
keit eine Wirkung abhängig gemacht ist, unter der Volljährigkeit 
die natürliche zu verstehen sei, wenn nicht eine andere Absicht 
des Verfügenden nachgewiesen werden könne. Die Aufnahme 
einer solchen, auch in das sächs. G. B. § 1971 und in die Vorm. 
0. von Hamburg vom 25. Juli 1879 Art. 69 übergegangenen 
Regel ist entbehrlich. Die Volljährigkeitserklärung stellt den 
Minderjährigen lediglich vor dem Gesetze dem Volljährigen gleich 
und hat auf die durch Privatwillenserklärungen von der Voll¬ 
jährigkeit abhängig gemachten Rechte und Verbindlichkeiten nur 
dann Einfluss, wenn dies dem Willen des Erklärenden entspricht. 
Ob dies der Fall oder nicht, ob der Ausdruck Volljährigkeit im 
natürlichen oder im juristischen Sinne verstanden werden muss, 
ist eine nach den Umständen des Falles zu beantwortende Frage 
der Willensauslegung. 

Die Frage, ob auch Ausländer durch inländische Gerichte für 
volljährig erklärt werden können, gehört dem internationalen 
Privatrechte an und wird durch die gegenwärtige Vorschrift 
nicht berührt. 


§ 27. 

Die Volljährigkeitserklänmg hat zur Voraussetzung, dass der 
Minderjährige das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt hat (Abs. 1 
Satz 1). Es steht dies im Einklänge mit der preuss. Vorm. 0. 
§§ 61, 97, dem sächs. G. B. § 1968, dem sachsen-weimar. Gesetze 
§72, dem hess. Entw. Abth. I, 3 Art. 39, I, 4 Art. 106, dem 
Schweiz. Gesetze vom 22. Juni 1881 Art. 2. Vor Erreichung des 
bezeichneten Alters lässt sich nicht erwarten, dass der Minder- 


Termino¬ 

logie. 


1. Voraus¬ 
setzungen 
der Voll- 
jährigkelts- 
erklärung. 
a) 18 Jahre 
alt. 



262 


Dr. Mittenzweig. 


jährige diejenige Reife besitzt, welche verbürgt, dass er seine 
Angelegenheiten mit genügender Umsicht selbstständig besorgen 
b) werde. Erforderlich ist ferner die Einwilligung des Minder- 
Minder- jährigen (Abs. 1 Satz 1; preuss. Vorm. 0. §§ 61, 97, sächs. G. B. 
jährigen, g 19^8, sachsen-weimar. Gesetz § 72). Ohne seinen Willen darf 
dem Minderjährigen die geschützte Stellung, welche er vermöge 
des regelmässigen Rechtes geniesst, nicht entzogen, die Rechts¬ 
vergünstigung nicht aufgedräugt werden. Ein gedeihlicher Erfolg 
mun U9t d“g wäre in einem solchen Falle ohnehin nicht zu erwarten. Voraus- 
in'hablrsder setzung ist des Weiteren bei einem unter elterlicher Gewalt 
0 Gowau? n stehenden Minderjährigen die Zustimmung des Inhabers der 
elterlichen Gewalt (Abs. 1 Satz 2; preuss. Vorm. 0. § 97, sachsen- 
weimar. Gesetz § 17; hess. Entw. angef. Art. 39). Während bei 
bevormundeten Minderjährigen kein Grund vorliegt, dem Wider¬ 
spruche des Vormundes eine die sachliche Würdigung der Ver¬ 
hältnisse seitens des Vormundschaftsgerichtes ausschliessende Be¬ 
deutung beizulegen, verhält es sich bei gewaltsuntergebenen 
Minderjährigen anders. Die elterliche Gewalt ist zwar keine 
einseitige Herrschaft, sondern ein gegenseitige Rechte und Pflichten 
begründendes Schutzverhältniss; aber die Eltern haben während 
der Minderjährigkeit des Kindes ein Recht auf diese Gewalt. 
Die Gewalt kann ihnen entzogen oder geschmälert werden, wenn 
sie die ihnen obliegenden Pflichten nicht erfüllen. Es wäre aber 
nicht gerechtfertigt, ihnen die Gewalt gegen ihren Willen zu dem 
Zwecke zu entziehen, um dem Kinde während der Jahre der 
Minderjährigkeit ausnahmsweise eine selbstständige Stellung zu 
verschaffen. Eine derartige Bestimmung würde die in dem natür¬ 
lichen Verhältnisse wurzelnde, dem deutschen Bewusstsein ent¬ 
sprechende Autorität der Eltern schädigen und den Schutz ab¬ 
schwächen, welcher dieser Autorität im Interesse eines geordneten 
und gesunden Familienlebens gebührt. Die Besorgniss, dass das 
Wohl des Minderjährigen leiden könnte, liegt fern. Es darf ver¬ 
traut werden, dass die Eltern einen angemessenen Gebrauch von 
ihrem Rechte machen, wie sie andererseits die unmittelbarste und 
genaueste Kenntniss der massgebenden Verhältnisse besitzen. 
Das Zustimmungsrecht ist aber nicht gegeben zum Schutze ledig¬ 
lich eigennütziger Interessen der Eltern. Deshalb soll es nicht 
zustehen einem Elterntheile, dessen elterliche Gewalt auf die 
elterliche Nutzniessung beschränkt ist (§§ 1546, 1554). Ruht die 
elterliche Gewalt des Vaters und kommt dieselbe mit Ausnahme 
der dem Vater verbleibenden elterlichen Nutzniessung der Mutter 
zu (§ 1555), so ist demnach nur diese, nicht der Vater zu¬ 
stimmungsberechtigt. 

d nf n efö de8' Die innere Berechtigung der Volljährigkeitserklärung liegt 
Beston des darin, dass dieselbe im gegebenen Falle sich als eine zweck¬ 
et!“ gen. mässige, die gesammte Lebenslage des Minderjährigen fördernde 
Massregel darstellt (preuss. A. L. R. II, 18 § 713, sachsen-weimar. 
Gesetz § 72, hamburg. Vorm. 0. Art. 67 Z. 2). Es wird dem¬ 
gemäss in Abs. 2 Satz 2 die Ertheilung davon abhängig gemacht, 
dass die Volljährigkeitserklärung das Beste des Minderjährigen 



Zur Gesetzgebung über Entmündigung wegen Geisteskrankheit. 263 


befördert. Der Natur der Sache nach kann es sich dabei nur 
um eine Ordnungsvorschrift handeln. 

Hinsichtlich der Frage, durch wen die Yolljährigkeits- 2,Zu k 8 ‘f“ dlg ' 
erklärung zu erfolgen hat, gehen die Rechte erheblich auseinander. 

In Bayern (V. vom 15. April 1817 § 41 und vom 9. December 
1825 § 53 b), Sachsen (Gr. B. § 1967; V. vom 3. August 1868 
No. 6), Sachsen-Weimar (Gesetz vom 27. März 1872 §§ 17, 71), 
Braunschweig (Gesetz vom 19. Mai 1876 § 1) spricht, ebenso wie 
nach gemeinem Rechte (Cod. tit. cit. 2, 45), der Landesherr die 
Volljährigkeitserklärung aus. In Mecklenburg-Schwerin und 
Mecklenburg-Strelitz steht das Recht der Verleihung gleichfalls 
dem Landesherrn zu, der dasselbe durch das Justizministerium 
bezw. einen besonders delegirten Rath ausübt. In Lübeck gehört 
die Volljährigkeitserklärung vor den Senat (Vorn. 0. vom 
11. Oktober 1820 § 83). In Württemberg ist das Bezirkspolizei- 
Amt zuständig (Verf. der Ministerien der Justiz und des Innern 
vom 19. Juli 1865). Nach der preuss. Vorm. 0. §§ 61, 97, der 
hamb. Vorm. 0. Art. 66 und dem österr. G. B. § 252 erfolgt die 
Volljährigkeitserklärung durch das Vorraundschaftsgericht. Der 
Entwurf betrachtet die Verleihung der Volljährigkeit als eine . 
Rechtsvergünstigung, welche nur durch eine obrigkeitliche Ver¬ 
fügung erlangt werden kann, beim Vorhandensein der gesetzlichen 
Voraussetzungen gewährt werden muss und in Ermangelung der¬ 
selben nicht gewährt werden darf. Er geht ferner davon aus, 
dass nach dem Zwecke des Institutes, den in Betracht kommenden 
Erfordernissen und der Wirkung die Entscheidung der staatlichen 
Obervormundschaftsbehörde zuzuweisen ist (Abs. 2 Satz 1). Ob 
den Landesgesetzen nachzulassen sei, die Zuständigkeit des Vor¬ 
mundschaftsgerichtes insoweit an ein höheres Gericht (Landgericht, 
Oberlandesgericht) zu übertragen, wird bei der Entwertung des 
Einführungsgesetzes zu prüfen sein. 

Berechtigt, die Volljährigkeitserklärung zu beantragen, ist 
nach Abs. 3 Satz 1 der Minderjährige und derjenige gesetzliche gun«. 
Vertreter desselben, welchem die Sorge für die Person obliegt. 

Damit dürfte dem Bedürfnisse Genüge geschehen. Im Interesse 
einer thunlichst eingehenden Sachuntersuchung ist die Ordnungs¬ 
vorschrift beigefügt, dass vor der Entscheidung Verwandte oder 
Verschwägerte des Minderjährigen nach Massgabe des § 1678 
sowie die Vormünder und Pfleger des Minderjährigen gehört 
werden sollen. Ein ausreichender Grund, die Anhörung der Ver¬ 
wandten und Verschwägerten nur bei Bevormundeten eintreten 
zu lassen (preuss. Vorm. 0. § 61 Abs. 2, § 97 Abs. 1), liegt nicht 
vor; die Zustimmung des Inhabers der elterlichen Gewalt macht 
das gutachtliche Gehör anderer Familienglieder oder sonstiger 
Angehöriger nicht entbehrlich. Die Anhörung des Vormundes ist 
namentlich dann geboten, wenn der Mündel selbst den Antrag 
auf Volljährigkeitserklärung gestellt hat. Aber auch die Fälle 
sind zu berücksichtigen, in welchen neben dem Vormunde, von 
welchem der Antrag ausgeht, noch ein Vormund oder Pfleger 
vorhanden ist, oder in welchen der Minderjährige deshalb, weil 



264 


Dr. Mitten/.weig. 


der Inhaber der elterlichen Gewalt die Sorge für das Vermögen 
verloren hat, oder auf Grund des § 1738 Abs. 1 Satz 2 einen 
Pfleger erhalten hat. Es erscheint eine vorherige Vergewisserung 
darüber angemessen, ob der Volljährigkeitserklärung für den von 
einem solchen Vormunde oder Pfleger verwalteten Geschäftskreis 
Bedenken entgegenstehen. 

Die Vorschriften über den Zeitpunkt, mit welchem die Voll¬ 
jährigkeitserklärung in Kraft tritt, sowie über die gegen dieselbe 
zulässigen Rechtsmittel bleiben dem Einführungsgesetze bezw. 
einem Gesetze über das Verfahren in Vormundschaftssachen u. s. w, 
Vorbehalten. 


4 . Auf - 

andere Welse 
wird die 
Stellung 
eine« Voll¬ 
jährigen 
nicht be¬ 
gründet. 


Heirath 
macht nicht 
mündig. 


Auf anderem Wege als durch Volljährigkeitserklärung kann 
nach dem Entwürfe ein Minderjähriger die rechtliche Stellung 
eines Volljährigen nicht erlangen. Partikularrechtlich ist der 
Erwerb dieser Stellung mit der Erlangung eines Staatsamtes oder 
der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verbunden; vergl. württemb. 
Gesetz vom 21. Mai 1828 Art. 1. Soweit ein Bedürfniss nach 
unbeschränkter Geschäftsfähigkeit vor zurückgelegtem einund¬ 
zwanzigsten Lebensjahre in dieser Richtung noch hervortreten 
kann, leistet demselben die Volljährigkeitserklärung Genüge. 

Der Satz: „Heirath macht mündig“ wird nicht anerkannt. 
Die Verehelichung ist schon zur Zeit ohne Einfluss auf den Zu¬ 
stand der Mindeijährigkeit in Preussen, Sachsen, Mecklenburg- 
Schwerin mit Ausnahme von Wismar und in Mecklenburg-Strelitz.*) 
Eine erweiterte Geschäftsfähigkeit tritt ein nach franz. und bad. 
Rechte; Minderjährige werden durch Verehelichung kraft des 
Gesetzes emanzipirt (code civil Art. 47G, 480—484, 487; bad. L. 
R. Satz 47G, 480—484, 487). Volljährig wird mit der Verehe¬ 
lichung die minderjährige Frau, nicht der minderjährige Mann in 
Württemberg (Gesetz vom 21. Mai 1828 Art. 1 Abs. 3)**), Lübeck 
(Vorm. 0. § 81a Z. 2), Hamburg Vorm. 0. Art. G3) und Wismar 
(Vorm. 0. vom 9. Dezember 1875). Volljährig mit der Verehe¬ 
lichung werden sowohl der minderjährige Mann als die minder- 


*) Für Preussen vergl. die Vorn). 0. § 99 Abu. 1 verb. mit § 61 Abs. 1; 
dazu Drucksachen des Herrenhauses, Session 1874—1875, No. 7 S. 97—99, 
No. 39 S. 17, 18, Verband 1. des H. H. S. 112 f. In Sachsen fiel nach § 1589 
des G. B. das Alter der Khennindigkeit und dasjenige der Volljährigkeit für 
Männer zusammen, so dass der Satz bezüglich ihrer vor dem Inkrafttreten des 
Reichsgesetzes vom 6. Februar 1875 (§ 28) nur für Dispensationstalle in Frage 
kommen konnte; vergl. im reinigen G. B. SS 1876, 1929. In Mecklenburg- 
Schwerin und Mecklenburg-Strelitz ist durch die Verordnungen vom 31. Januar 
1871 bestimmt, dass eine sich verehelichende Minderjährige mindeijährig bleibt; 
bezüglich des minderjährigen Mannes bestellt eine diesbezügliche gleiche Vor¬ 
schrift nicht ; es wird aber das Gleiche angenommen. Nach dem österr. G. B. 
ist die Verehelichung ebenfalls ohne Einfluss auf den Zustand der Minderjährig¬ 
keit (§ 175; dazu §§ 174, 252 Satz 2). 

**) Für das württemb. Recht kommt dabei in Betracht, dass früher 
Männer vor erreichter Volljährigkeit nur nach erlangter Dispensation heirathen 
durften und dass die Dispensation die Wirkungen der Volljährigkoitserklärung 
hatte. Das Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 hat auch hier eine wesentliche 
Aenderung herbeigeführt. 



Ueber das Auftreten kernhaltiger rothor Blutkörper bei Vergiftung etc. 265 


jährige Frau nach dem bayr. L. R. I, 7 § 30 Nr. 7 und der 
Mehrzahl der bayr. Statuten, nach dem Rechte von Sachsen- 
Weimar (Gesetz vom 27. März 1872 §§ 17, 20, 71, 73) und von 
Bremen (Vorm. 0. vom 7. August 1820 § 34 b)*). Auf demselben 
Standpunkte stehen der bayr. Entw. eines Gesetzes über das Vor¬ 
mundschaftswesen Art. 1 Abs. 2, der hess. Entw. Abtli. I, 3 
Art. 38, I, 4 Art. 2, 104, das zür. G. B. §§ 275, 420 und das 
Schweiz. Gesetz vom 22. Juni 1881 Art. 1. Abs. 2. Im gemeinen 
Rechte wird vereinzelt, unter Berufung auf älteres deutsches 
Recht, der Verehelichung ebenfalls die Wirkung beigelegt, dass 
sie die Stellung Volljähriger verleihe. 

(Fortsetzung folgt.) 


Ueber das Auftreten kernhaltiger rother Blutkörper bei 
Vergiftung mit Kalium chloricum. 

Von Dr. Mittenzweig. 

Die Vergiftung durch chlorsaure Salze, insbesondere durch 
das chlorsaure Kalium, hat im letzten Jahrzehnt die Aufmerksamkeit 
der Aerzte auf sich gezogen und die Arbeiten von Tacke und 
Binz, von Marchand, Hofmeier, Lesser, Ries, Lenhartz, 
Bokai, Stokvis, ’v. Mering und anderen legen Zeugniss 
dafür ab, dass man das Studium dieser Vergiftung nicht ver¬ 
nachlässigt. Mit wachsender Gewissheit haben diese Forscher 
die Wirkungsweise des Giftes in einer Veränderung des Blutes 
gesucht und gefunden. Diese Veränderungen des Blutes gehen 
einher mit Veränderungen in der Milz, den Nieren, dem 
Knochenmark und theilweis auch den Lymphdrüsen, und dieser 
Komplex von Erscheinungen hat natürlich die Frage von dem 
ursächlichen Zusammenhang der einzelnen krankhaften Ver¬ 
änderungen in den Vordergrund der Besprechung gedrängt. 

Soweit mir die Literatur bekannt ist, neigt man der Ansicht zu, 
dass die Veränderungen im Blute die primären sind und dass diese 
Veränderungen nach zwei Richtungen hin geschehen. Es tritt ein¬ 
mal eine Veränderung der rothen Blutkörper und ihres Farbstoffes 
ein, welche mit einem Zerfall der rothen Blutscheiben endet, also 
ein destructiver Process; sodann aber wird gleichzeitig mit diesem 
Zerfall des einen Blutbestandtheiles eine vermehrte Production 
eines anderen Bestandteiles, nämlich eine solche der weissen 
Blutkörper, beobachtet. 

Kürzlich nun fand ich Gelegenheit, einen ganz acuten Fall 
von Vergiftung mit Kalium chloricum zu beobachten, in welchem die 
beiden genannten Veränderungen im Blute der noch lebenden 
Patientin mir zu Gesicht kamen. Daneben aber gelang es mir 
noch mit Hilfe der Färbemethode des Herrn Professor Ehrlich, 


*) Das bayr. L. R. macht den Zusatz: Jedoch dergestalte», dass sie wie 
andere minderjährige Personen in integrum restituirt werden, wenn sie vor 
vollstreckt ein 21. Jahr merklich gevortheilt sind“. 



266 


Dr. Mittonzweig. 


eine dritte Veränderung zu erkennen, bestehend in dem Auftreten 
von kernhaltigen rothen Blutkörpern. Da letzterer Befund, so¬ 
viel mir bekannt, bisher bei dieser Vergiftung nicht erhoben worden 
ist, so gestatte ich mir, den Fall unseren Lesern bekannt zu geben. 

Seit der Erkrankung eines mir nahe stehenden Collegen an 
Vergiftung mit Cyanwasserstoff hatte ich es mir zur Aufgabe 
gestellt, die Veränderungen des Blutes bei Vergiftungen zu 
studiren. Es erschien mir dabei nothwendig, mich mit den neueren 
Färbemethoden der Blutpräparate vertraut zu machen, wie sie 
namentlich Ehrlich mit so grossem Erfolge cultivirt hat. Der 
gütigen Unterweisung dieses Meisters in der Färbetechnik und 
der zuvorkommenden Freundlichkeit des Herrn Prof. Fürbringer, 
der mir das einschlägige Material des Krankenhauses Friedrichs¬ 
hain für meine Untersuchungen zur Verfügung stellte, verdanke 
ich den geringen Erfolg, der meine Bemühungen auf diesem 
Gebiete krönte. Herr Medicinalrath Long und Herr Dr. Gollasch 
unterstützten mich bei meinen Untersuchungen, indem sie Augen¬ 
schein von meinen Befunden nahmen und letzterer ausserdem sich 
der Mühe unterzog, die morphotischen Bestandtheile des Blutes 
in den einzelnen Präparaten einer Zählung zu unterw erfen. Allen 
diesen Herren sowie den Herren DDr. Kuthe und Bindemann 
sage ich meinen besten Dank. 

Die Geschichte des von mir beobachteten Falles ist folgende: 

Als ich mich am 26. Juli d. J. zufällig im Städtischen Kranken¬ 
hause Friedrichshain befand, um einen Fall von pernieiöser Anämie 
auf das Vorhandensein von Megaloblasten zu untersuchen, war 
gerade die 18 jährige Therese S. in dasselbe gebracht w r orden. 
Die S. hatte sich genau vor 24 Stunden eine Vergiftung mit 
Kalium chloricum zugezogen, indem sie am 25. Juli irrthümlicher 
Weise statt eines Esslöffels voll Natron bicarbonicum einen solchen 
mit chlorsaurem Kalium genossen hatte. Acht Stunden darauf trat 
starkes Erbrechen ein, welches stätig andauerte und ihre Auf¬ 
nahme in das Krankenhaus nothwendig machte. Das Kranken¬ 
journal beschreibt den Fall weiter, wie folgt: Patientin ist ein 
mittelgrosses schwächlich erscheinendes Mädchen mit hochgradiger 
Cyanose der sichtbaren Schleimhäute und graublauer Färbung 
der Haut, die namentlich intensiver wird nach den Fingernägeln 
und den Zehenkuppen zu. Der kleine Puls hat eine Frequenz 
von 120 in der Minute, die Temperatur misst 30 Grad C., dabei 
besteht sehr häufiges Erbrechen dunkelgrün gefärbter Massen. 
Nach jedem Erbrechen wird der Puls sehr klein, fast fadenförmig. 

Therapie: Wein, Kaffee, Thee, Moschus, Kampfer, Wärm¬ 
flaschen, zehn Schröpf köpfe, hypodermatisch zehn Injectionen 
von je 4 grm. einer einprocentigen Kochsalzlösung, 8 Tropfen 
Chloroform. 

Nachmittags 4 Uhr erfolgt exitus letalis unter zunehmenden 
Kollapserscheinungen. Das mit den Schröpfköpfen entleerte Blut 
ist von dunkelbrauner Farbe und coagulirt sehr schnell. Im 
frischen Präparate sieht man neben normalen rothen Blutkörperchen 
sehr viele, die theils ihre Gestalt, theils ihre Farbe verändert 



Ueber das Auftreten kernhaltiger rother Blutkörper bei Vergiftung etc. 267 


haben, daneben noch zahlreiche „Schatten“. Spectroskopisch ist 
der Hämoglobinstreifen deutlich sichtbar. Der mit dem Katheter 
in Mengen von 150 ccm. entleert« Urin ist von dunkelbrauner 
Farbe, saurer Reaction und sein' eiweisshaltig. In seinem 
Sedimento finden sich zahlreiche braune Klümpchen, mikroskopisch 
sehr viele traubenförmig angeordnete, zerfallene rothe Blut¬ 
körperchen. Diese machen den Hauptbestandteil der im Sedi¬ 
mente enthaltenen Klumpen aus. Cylinder finden sich nicht. 

Das Sectionsprotokoll des Krankenhauses lautet: 

Therese S., 18 Jahre alt, f 26. Juli 1888, secirt 28. Juli 
1888. Vergiftung mit Kalium cliloricum. 

Kräftig gebaute Leiche. In der Bauchhöhle kein abnormer 
Inhalt. Das Herz von der Grösse der Faust der Person, die 
Muskulatur von hellrother Farbe, etwas brüchig. Die Lungen 
frei in der Pleurahöhle, die linke Lunge in der Spitze mit zahl¬ 
reichen kleinen miliaren, etwas über der Oberfläche erhabenen 
Knötchen sowie von einigen Käseherden durchsetzt. Die Lunge 
im Allgemeinen sehr blutreich von dunkel schwarzröthlicher Farbe 
und überall lufthaltig. Aehnliche Verhältnisse an der rechten 
Lunge, auch liier an der Spitze kleinste Knötchen und ähnliche 
Käseherde. 

Die Milz um das Doppelte vergrössert, Parenchym von dunkel 
schwarzröthlicher Farbe, die Follikel sehr deutlich. 

Linke Niere etwas vergrössert, die Kapsel sehr gut abziehbar, 
die Niere selbst von chokolade-ähnlicher brauner Farbe, mässig 
derb, auf dem Durchschnitt ebenfalls von brauner Farbe, die 
Abgrenzung zwischen Rinden- und Pyramidensubstanz sehr deut¬ 
lich, die Markkegel mit dunkelbraunen Partien von der Rinde 
sehr scharf absetzend. Mikroskopisch finden sich sowohl an den 
Glomerulis als an den geraden und gewundenen Harnkanälchen 
zahlreiche, das Lumen völlig ausfallende, hellgelbe Scherben, 
augenscheinlich veränderte Blutkörperchen. Die rechte Niere 
verhält sich ebenso. 

Die Nebenniere von normaler Grösse, hellbräunlich und mit 
sehr deutlicher Zeichnung. 

Der Magen enthält eine ziemlich beträchtliche Menge grün¬ 
licher Flüssigkeit. Seine Schleimhaut ist etwas gerunzelt und 
injicirt. 

An Luftröhre, Larynx und Pharynx nichts Besonderes, Methä- 
moglobininfarcte der Niere, Stauungsorgane. Diagnose: Ver¬ 
giftung mit Kalichloricum. Tuberculosis pulmonum incipiens. 

Der obigen Beschreibung des frischen Blutpräparates füge 
ich noch bei, dass die weissen Blutkörper stark vermehrt waren 
und dass sich zwischen den Blutscheiben und -Körpern kleinere 
und grössere Körner sowie scheibenartige Elemente, die etwas 
kleiner als normale rothe Blutkörper waren, bewegten. Kern¬ 
haltige rothe Blutkörperchen konnten wir im frischen Blute nicht 
entdecken. Das Blut war klebrig, dickflüssig, in dicken Schichten 
braun-, in dünneren grauroth. Mit Wasser verdünnt hatte es im 
Spectralapparat undeutliche Absorptionsstreifen. Die beiden 



268 


Dr. Mittenzweig. 


Streifen des Oxyhaemoglobin waren nicht scharf, der Streif des 
Methaemoglobin so schwach, dass sowohl Herr Geheimrath Lim an, 
wie ich selbst im Roth des Spectrum nur einen undeutlichen 
Schatten beobachten konnten. Auch nach Zusatz von Schwefel- 
Ammonium klärte sich das Bild wenig. Die beiden ersten Streifen 
traten zu einem verwaschenen Grau zusammen, der letztere 
gewann nur wenig an Deutlichkeit. Herr Oberarzt Dr. Müller, 
den ich nachträglich über diese Erscheinung um Aufklärung 
anging, theilte mir mit, dass der Methaemoglobinstreif nach seinen 
Erfahrungen, um ihn kräftig zur Erscheinung zu bringen, einer 
saturirten Blutlösung bedürfe. 

Um das Vorhandensein oder Fehlen von kernhaltigen rothen 
Blutkörpern festzustellen, fertigte ich aus dem frisch gewonnenen 
Schröpfkopfblute sofort an Ort und Stelle Trockenpräparate in 
der Weise an, dass ich einen kleinen Tropfen des Blutes auf ein 
subtil gereinigtes feinstes Deckglas brachte, ein zweites Deckglas 
auf das Blut drückte, nunmehr beide schleifend von einander ab¬ 
zog und an der freien Luft trocknen liess. Sofort nach der An¬ 
kunft in meinem Arbeitszimmer in der Morgue wurden diese 
Präparate auf der Ehrlich’schen Messingplatte drei Stunden 
lang einer Temperatur von mehr denn 100° C. ausgesetzt und 
schliesslich 24 Stunden lang schwimmend auf die Ehrlich’sche 
C.-Lösung von Nigrosin, Eosin, Orange und Glycerin gelegt. 
Hiernach wurden die gefärbten Präparate mit dem Wasserstrahl 
abgesptilt, getrocknet und mit einem Tropfen Xylol in Canada- 
balsam gelegt, worauf sie folgendes mikroskopische Bild gewährten: 
Das Blutplasma war ungefärbt, nur an den dickeren Stellen des 
Präparates hatte es eine verwaschene ziegelrothe Farbe ange¬ 
nommen. 

Die weissen Blutkörperchen waren im Zellenleib schwach¬ 
violett, im Kerne dunkelviolett, etwas ins Schwarze spielend 
gefärbt. Sie waren um das Dreifache gegen normal vermehrt, 
indem jedes Gesichtsfeld circa 15 solcher Körperchen enthielt. 
An der Vermehrung betheiligten sich fast ausschliesslich die 
polynucleären Leukocyten, welche 3 bis 7 Kerne zählen Hessen. 
Die rothen Blutkörperchen hatten durchweg eine braungelbe, 
ziegelrothe oder rostbraune Farbe angenommen, besonders in den 
dichteren Schichten wiesen sie eine dunklere Nüance auf, ausser¬ 
dem fanden sich zahlreiche Scheiben von gelblicher Farbe, welche 
fast ganz verblasst waren. Meistens fanden sich bei ihnen am 
Rande oder auch dem Centrum näher gelegen dunkle rothbraune 
Körnchen von Hämoglobin. Sie stellten also verblasstes Stroma 
mit Hämoglobinconglomeraten oder auch sogenannte „Schatten“ 
dar. Hämoglobinkörner und -Scheiben, viel kleiner als normale 
rothe Blutkörper von ziegel- und rostbrauner Farbe kamen 
ebenfalls zu Gesicht. 

Zwischendurch lagen einzeln oder näher an einander gerückt 
tiefschwarze scheibenartige Gebilde entweder frei oder mit einem 
schwachen ziegelrothen Saum oder mit einem ebensolchen scharf 
contourirten Ringe oder innerhalb wohl erhaltener rother Blut- 



Ueber das Auftreten kernhaltiger rother Blutkörper bei Vergiftung etc. 269 


körperchen gelagert. Im letzteren Falle lagen sie meist am 
Rande derselben, seltener im Centrum. 

Diese Kerne sind ganz homogen, glatt-, fast scharfrandig und 
haben den halben Durchmesser eines normalen rothen Blutkörper¬ 
chens. Ganz selten sieht man innerhalb eines rothen Blutkörperchens 
zwei solcher Kerne, aber auch diese sind rund und scharfrandig. 
Nie gleichen die Kerne an Farbe, Gestalt und Inhalt den Kernen 
der polynucleären oder mononucleären Leukocyten, dagegen ist 
der sie umgebende Zellenleib bisweilen bräunlich, bisweilen violett, 
so dass besonders die letzteren Formen Schwierigkeit in der 
Diagnose machen würden, wenn der Kern nicht ein so ausge¬ 
sprochenes charakteristisches Bild gewährte. 

Wären diese Kerne nicht so eclatant gefärbt, so würden sie 
nach Grösse und Dichtigkeit an die von Virchow beschriebenen 
Veränderungen der rothen Blutscheiben erinnern, welche er bei 
einfacher Austrocknung derselben oder bei Behandlung des Blutes 
mit stärker concentrirten Flüssigkeiten gewann und welche er für 
eine der Quellen von irrthümlicher Annahme der Existenz von 
Kernen erklärt (Cellularpathologie S. 12 und S. 174). Diese 
Scheiben sind ebenfalls kleiner als die rothen Blutscheiben, ihre 
Substanz ist dichter, ihre Farbe saturirter, so dass sie schon ohne 
Färbung dunkel schwarzroth aussehn. Aber auch sie färben sich 
wie der rothe Zellenleib und sie werden nie im Leibe anderer 
rother Blntkörper angetrotfen. 

Aus obigen Gründen glaube ich die tiefschwarz gefärbten 
Scheiben für die freien oder intracellulären präformirten Kerne 
der ro hen Blutkörper ansprechen zu dürfen, nicht aber für Kerne 
der weissen Blutkörper oder für secundäre Gebilde künstlicher 
Art, wie sie ähnlich auch von Marigliano beschrieben sind. 

Diese Kerne und kernhaltigen Blutscheiben machen in den 
von mir gewonnenen Präparaten ungefähr 2 Procent der gesammten 
rothen Blutkörper aus. Die kernhaltigen Blutkörper gleichen in 
Grösse und Gestalt den normalen rothen Blutkörpern, selten sind 
sie etwas grösser, häufiger noch sind sie kleiner und haben dann, 
wie erwähnt, einen bräunlichen, bisweilen einen violetten Zellen¬ 
leib, so dass sie in letzterer Form den mononucleären Leukocyten 
oder den Lympfkörperchen ähneln. Als letzten Befund erwähne 
ich noch Haufen von blassbläulichen an einander haftenden 
Körnern, deren Deutung ich an dieser Stelle nicht näher treten 
möchte. 

Zu meinem Bedauern starb die Patientin bereits an demselben 
Tage, so dass ich neue Blutpräparate nicht entnehmen und die 
etwaigen Veränderungen der Folgezeit nicht zu beobachten 
Gelegenheit hatte. Der Section im Krankenhause beizuwohnen, 
verhinderten mich meine Berufsgeschäfte, in Folge dessen ich auch 
nicht aus eigener Anschauung über das Leichenblut und den 
sonstigen pathologischen Befund berichten kann. Ich denke indess 
Gelegenheit zu gewinnen, sowohl an Leichen wie an experimentell 
gewonnenen Präparaten die Kalium chloricum-Vergiftung nach der 
angedeuteten Richtung hin weiter zu verfolgen, namentlich auch 



270 


Dr. Blokusewski. 


die pathologischen Veränderungen des Knochenmarkes, deren bis¬ 
herige Deutung vielleicht eine Erweiterung erfahren dürfte. 

Schliesslich weise ich noch hin auf eine gerichtsärztlich 
sehr interessante Erfahrung, welche ich gelegentlich der Unter¬ 
suchung des in Rede stehenden Blutes gemacht habe. Von dem 
Gedanken ausgehend, dass der Gehalt des Blutes an Chlorsäuren 
Salzen, insbesondere an Chlor, den Zusatz des Natrium chloratum 
zur Gewinnung von Häminkrystallen überflüssig machen würde, 
kochte ich das Blut nur mit Eisessig und gewann wirklich sehr 
schöne und grosse Krystalle. Schon meinte ich, ein mikro¬ 
chemisches Reagenz auf Vergiftung mit Chlor-Verbindungen ge¬ 
funden zu haben, als Control-Versuche mich belehrten, dass auch 
anderes, unverdächtiges Blut ohne Zusatz von Kochsalz in gleicher 
Weise reagirte. 


Die Statistik der Mortalität im Wochenbett bezw. am 

Wochenbettfieber. 

Von Dr. Bloknsowski, Kreispliysikus in Aurich. 

In der diesjährigen August-Nummer des ärztlichen Vereins¬ 
blattes (No. 195) ist ein von der Aerztekammer der Provinz 
Sachsen an den Herrn Kultusminister gestellter Antrag nebst 
Denkschrift abgedruckt, worin zur Motivirung der staatlichen 
Gründung von Wöchnerinnen-Asylen auf die in den letzten zehn 
Jahren 0,59 w / 0 betragende Mortalität der Wöchnerinnen im 
preussischen Staate hingewiesen wird. Ferner wird dort gesagt, 
dass diese auf den standesamtlichen Mittheilungen beruhende 
Ziffer nach den Untersuchungen von Dr. Max Böhr an bedeu¬ 
tenden Fehlerquellen leide und im Verhältniss von 100:113 er¬ 
höht werden müsse, so dass also die wirkliche Sterblichkeit im 
Wochenbett nicht 0,59, sondern 0,0G°/ o betrage. Auch die von 
Böhr ausgesprochene Ansicht, dass von den im Kindbett Ge¬ 
storbenen 98—99°/ 0 am Kindbettfieber gestorben seien und dass 
man somit die Zahlen für Tod im Kindbett ohne grossen Fehler 
auch für Tod am Kindbettfieber gelten lassen könne, scheint von 
den Verfassern der Denkschrift getheilt zu werden, wenigstens 
findet sich in der letzteren keine Hindeutung, dass sich die Sache 
anders verhält. Ohne nun auf die Frage über die Nothwendigkeit 
der staatlichen Gründung von Wöchnerinnen-Asylen näher ein¬ 
zugehen, soll im Nachstehenden nur der Werth jener standesamt¬ 
lichen Mortalitätsziffern und der daraus in der Denkschrift ge¬ 
zogenen Schlüsse besprochen werden. 

In einzelnen von den Regierungs-Medicinalräthen für die 
Jahre 1883—85 erstatteten Generalberieilten wird bereits hervor¬ 
gehoben, dass die auf den Standesämtern gemachten Angaben be¬ 
züglich der im Kindbett Verstorbenen keinen Rückschluss auf 
die Häufigkeit des Wochenbettfiebers gestatten, da meist alle in 
der Zeit des Wochenbettes, ja sogar Monate nachher verstorbenen 



Die Statistik der Mortalität im Wochenbett bezw. Wochenbettfieber. 271 


Frauen als „an Kindbettfieber gestorben“ angemeldet werden 
ohne Rücksicht darauf, ob die wirkliche Todesursache mit der 
Geburt bezw. mit dem Wochenbett im Zusammenhänge stehe oder 
nicht. Wie weit dies geht, zeigt z. B. der betreffende Bericht 
für den Regierungsbezirk Aurich, wo erwähnt wird, dass die 
von dem Kreisphysikus in Wilhelmshaven angestellten Ermitte¬ 
lungen über acht' im Jahre 1885 auf dem dortigen Standesamte 
angemeldeten Fälle von angeblich ira Kindbett Verstorbenen zu 
dem Ergebniss führten, dass der Tod auch nicht in einem ein¬ 
zigen Falle durch Kindbettfieber, sondern theils durch Verblu¬ 
tung in der Geburt, theils durch chronische Krankheiten, wie 
Schwindsucht, Nierenentzündung u. s. w. verursacht war. 

Um nun einen Anhalt darüber zu gewinnen, wie gross unge¬ 
fähr die Zahl der wirklich an Kindbettfieber Gestorbenen sein 
kann, habe ich die Berichte derjenigen Regierungsbezirke benutzt, 
in denen, wenn nicht schon früher, so doch im Anschluss an die 
Min.-Verf. vom 6. August 1883 die Hebammen und eventuell auch 
die Aerzte durch Polizeiverordnungen zur Anzeige von Kindbett¬ 
fieber verpflichtet sind. Soweit diese Angaben den Eindruck 
machen, dass der Anzeigepflicht nachgekommen ist, habe ich sie 
in Tabelle 1 zusammengestellt und daher die Regierungsbezirke 
Trier und Wiesbaden mit 25 bezw. 19 durch Aerzte oder 
Hebammen angemeldeten Todesfällen gegenüber 623 bezw. 410 
standesamtlichen fortgelassen. Wo Todtenscheine oder besondere 
Prüfungen der standesamtlichen Eintragungen angeführt sind, ist 
dies angegeben und bei Berechnung der Geburten mit Rücksicht 
auf die Mehrgeburten 1 °/ 0 in Abzug gebracht. Aus dieser Zu¬ 
sammenstellung sehen wir betreffs der Todesfälle im Kindbett 
Folgendes: 

1) Der Procentsatz der standesamtlichen Zahl schwankt 
zwischen 0,45 und 0,72°/ 0 und ist am geringsten, wo 
Todtenscheine oder sonstige Prüfungen vorgeschrieben 
sind. 

2) Die standesamtliche Ziffer, deren Durchschnitt (0,55 °/ 0 ) 
derjenigen der Gesammtmonarchie für Stadt und Land 
zusammen (0,59 °/ 0 ) entspricht, ist im Allgemeinen drei¬ 
mal so gross als die durch Anzeige der Aerzte und 
Hebammen erhaltene und nach Abzug der unter 10—12 
aufgeführten Städte sogar viermal so gross. 

3) Selbst in den Stadtbezirken, in denen einerseits strenge 
Kontrole der Anzeigepflicht besteht, andererseits Todten¬ 
scheine eingeführt sind, ist die standesamtliche Sterblich¬ 
keitsziffer noch fast doppelt so gross, als die durch die 
Anmeldungen der Aerzte und Hebammen festgestellte. 

4) Der Procentsatz der letzteren schwankt zwischen 0,07 
und0,29°/ o . Aber selbst der höchste Procentsatz (0,29 °/ 0 ) 
ist noch um die Hälfte niedriger als der nach den standes¬ 
amtlichen Meldungen für die Gesammtmonarchie sich 
stellende (0,59 °/ 0 ). 



272 


Dr. Blokusowski 


Um nun weiter einen Anhalt über die wirkliche Mortalität 
der im Wochenbett überhaupt Gestorbenen zu erhalten, habe 
ich in Tabelle 2 die Sterblichkeitszitfern pro 1883—85 der aus 
den Städten angemeldeten Todesfälle im Wochenbett zusammen¬ 
gestellt, wobei ich bemerke, dass von den 7 Städten über 100 000 
Einw. mit Ausnahme von Königsberg alle, und von den 62 Städten 
mit 20—100 000 Einw. ungefähr zwei Drittel ärztliche Todten- 
scheine oder sonstige Prüfungen der auf dem Standesamte hin¬ 
sichtlich der Todesursachen gemachten Angaben haben, während 
dies nur in wenigen von den übrigen Städten unter 20 000 Einw. 
der Fall ist. Wir ersehen daraus Folgendes: 

1) In den Städten über 100 000 Einw. beträgt die Verhält- 
nisszitfer der im Wochenbett Gestorbenen 0,39 °/ 0 und, 
wenn man Berlin abrechnet, sogar nur 0,34 °/ 0 . 

2) In den 62 Städten unter 100 000 Einwohnern steigt der 
Procentsatz auf 0,48, in denjenigen unter 20 000 Einw. 
auf 0,52 °/ 0 . 

3) Der Procentsatz der im Wochenbett Gestorbenen ist so¬ 
mit in denjenigen Städten, wo ärztliche Todtenscheine 
eingeführt sind, erheblich geringer als in den übrigen 
Städten bezw. in der Gesammtmonarchie, wo uns nur die 
standesamtlichen Angaben zu Gebote stehen. 

Wenn nun auch die von mir gemachten Zusammenstellungen 
nur einen kurzen Zeitraum und einen kleinen Theil der Monarchie 
umfassen und insofern noch keinen sicheren Aufschluss über die 
wirkliche Mortalität im Wochenbett bezw. am Wochenbettfieber 
im preussischen Staate geben, so lässt sich aus denselben immer¬ 
hin der Schluss ziehen: 

1) Die Angabe Böhr’s, dass man, um die wirkliche Zahl 
der im Wochenbett Gestorbenen zu erhalten, die standes¬ 
amtlichen Zahlen um 13 °L erhöhen müsse, ist falsch; 
die letzteren sind im Gegentheil zu erniedrigen, und zwar 
um 30 °/ 0 , wenn man die bezüglichen Ziffern derjenigen 
Städte als Massstab annimmt, in denen ärztliche Todten¬ 
scheine eingeführt sind. 

2) Noch unrichtiger ist aber die Annahme, dass man ohne 
grosse Fehler die Zahl der im Wochenbett Gestorbenen 
für die am Wochenbettfieber Verstorbenen setzen kann 
und lässt sich schon jetzt behaupten, dass die wirkliche 
Ziffer der letzteren höchstens die Hälfte, vielleicht sogar 
nur ein Drittel derjenigen Gestorbenen beträgt, welche 
auf dem Standesamte als „im Kindbett verstorben“ an¬ 
gemeldet werden. 

3) Daraus folgt von selbst, dass alle Schlüsse, die ohne 
Weiteres aus den bezüglichen standesamtlichen Zahlen 
gezogen werden, auf falscher Grundlage beruhen und wir, 
um ein richtiges Urtheil über die Mortalität im Kindbett 
bezw. am Wochenbettfieber zu gewinnen, einer anders 
eingerichteten Statistik bedürfen. 



Zahl Hortalittt am Kindbettfleber. 


Die Statistik der Mortalität im Wochenbett bezw. Wochenbettfieber. 273 



« 

9 

** 

*4 

9 

Ä 

S 

H 


► 

a 

sa 

e 

i 

s 

t« 

fl 

fl 


2 


5 

n — 
a> 

■s * 

•p 

o 

I 

äi 

” I 

I * 

© o 

41 


iS 


s- 

s 

?! 

'S « 

5: 


33 


5 j 

t,! 

d *o 

•o — 


► 

« 

W 


© 

© 

© 

u. 

1 


kO lO lO 

cT o o 


o 

s 


co 

Ci 

Ci 

Ci 

00 


iO 

o 


CM 

aO 


00 

CO 


oo 


00 


Ci 

OJ 

CO 

CO 


s 

cT 


(M 

CO 


CO 

lO 

Io 



1884 81196 312 0,38 35261 127 0,36 103892 486 0,46 195470 1013 

1885 82139 831 0,40 35591 117 0,32 105530 509 0,48 198150 1019 

Summa: | 243443 955 0,39 | 105481 362 ! 0,34 | 309806 1516 0,48 | 583616 j 3Ö72 






















274 


Kleinere Mittheilungen. 


Kleinere Mittheilungen. 

In das Berliner Leichenschauhans eingelieferte Leichen 

pro 



Der Magnetismus vor Gericht« Bei der jetzigen, hoffentlich von Erfolg 
gekrönten Strömung gegen die Freigabe der Medicin ist es von Wichtigkeit, 
die in dem Knrpfuscherthum liegenden Gefahren möglichst allseitig zu be¬ 
leuchten. Zu diesen gehört auch das Hypnotisiren durch Unbefugte. Es wird 
daher von Interesse sein zu erfahren, dass in Frankreich, wo die Kurpfuscherei 
bekanntlich verboten ist, auch gegen Magnetisiren zu Heilzwecken mit Stra¬ 
fen vorgegangen wird. 

Im Juli-Heft der „Revue de l’Hypnotismus“, S. 28 findet sich eine solche 
Verurtheilung durch das Tribunal von Rennes. 

Die Frau Qu. hatte, ohne ein Diplom der Medicin zu besitzen, sich 
eines gewissen D. als Medium bei der Diagnose und Behandlung von Kranken 
bedient. Die Behandlung bestand ausschliesslich in Reiben und Auflegen der 
Hände. 

Das Urtheil lautete: die p. Qu. ist wegen dieser in Fieberfallen ausge¬ 
übten, unbefugten ärztlichen Thätigkeit wegen Uebertretung mit sieben Geld¬ 
strafen ä 2 fr. zu bestrafen, die Anklage wegen Betrügerei aber fallen zu las¬ 
sen. Der p. D. ist freizusprechen. 

Aus den Motiven heben wir hervor: 

„Dem Gerichtshof fallt nicht die Entscheidung darüber zu, ob der 
Magnetismus eine Wissenschaft ist, welche eine Diagnose und Therapie 
ernstlich ermöglicht oder nur in Charlatanismus oder dergl. besteht. 
Es genügt aber, dass Autoritäten demselben eine gewisse curative oder 
divinatorischc Wirksamkeit zuschreiben, um in der blossen Anwendung 
desselben zu medieinischen Zwecken nicht a priori einen Betrug zu er¬ 
kennen. Dieser ist nur vorhanden, wenn Magnetiseur und angebliches 
Medium mala fide waren und nur eine grobe Komödie zur Ausbeutung 
des Publikums auf führen wollten. 

Frau Qu. war also nur wegen unbefugter Ausübung der Medicin 
zu bestrafen. Da hierin aber nur eine Uebertretung liegt, bei welcher 
die Beihilfe, deren sich der D. sicher schuldig gemacht hat, nicht straf¬ 
bar ist, so ist derselbe freizusprechen. Als Miturheber kann er nicht 
angesehen werden, da er in der That in Folge Versenkung in magne¬ 
tischen Schlaf sich seiner Persönlichkeit entäussert und zur Zeit der 
Diagnostik nur ein passives Instrument in den Händen der Frau Qu. 
geworden war. In dieser Zeit hatte er, als des Gebrauchs der Vernunft 
beraubt, aufgehört, strafrechtlich zurechnungsfähig zu sein.* 

Hierzu bemerkt die Redaction der „Revue*: 

Wir haben nichts zu sagen bezüglich der Anwendung des Gesetzes über 
die Ausübung der Medicin. Erstaunen können wir aber mit Recht, Richter über 
Magnetismus-Medium, wie Leute sprechen zu hören, die kein Wort von den 
wissenschaftlichen Errungenschaften im Bereich des Hypnotismus gehört haben. 
Nach den wichtigen, darüber veröffentlichten Arbeiten ist es gegenwärtig 
Niemandem, am wenigsten Richtern erlaubt, die Existenz der Erscheinungen 
des Hypnotismus in Zweifel zu ziehen und sich über die Bedeutung desselben 
in gerichtlich - medicinisclier Beziehung nicht auf dem Laufenden zu halten. 

K o r n f e 1 d - Grottkau. 







Referate. 


275 


Zaläs&iger Genuss des Fleisches tuberkulöser Thiere. Auf dem Tuber* 
kuloee-Congress zu Paris vom 25.—31. Juli hielt Nocard einen Vortrag über 
die Gefahren des Genusses von Fleisch und Milch tuberkulöser Thiere. Die 
Milch tuberkulöser Thiere hält er nur dann für schädlich, wenn das Drüsen¬ 
gewebe Sitz tuberkulöser Erkrankung ist; da dieses aber schwer zu erkennen 
sei , solle man jede Milch vor dem Genuss abkochen. Im Uebrigen sei aber 
der Verkauf von Milch tuberkulöser Thiere stets aufs strengste zu untersagen. 
In Bezug auf Fleisch haben seine Versuche ergeben, dass Blut und Muskelsaft 
nur sehr ausnahmsweise gefährlich sind. Daher könne das Fleisch tuberkulöser 
Thiere zwar in gewissen Fällen einige Gefahren darbieten, jedoch nur sehr 
selten und auch dann nur in sehr geringem Grade. Dagegen hält Arloing 
nach seinen Versuchen das Fleisch für gefährlicher als die Milch und gerade 
bei fetten Thieren müsse man vorsichtig sein, da man bei ihnen keine Tuber¬ 
kulose vermuthe und besonders dieses Fleisch wegen seines schönen Aussehens 
häufig nicht völlig gar gekocht oder gebraten auf die Tafel kommt. Daher 
sei der Gebrauch des Fleisches von tuberkulösem Vieh zu untersagen bis man 
Mittel gefunden, um es ohne Schaden für die Gesundheit zu gemessen. 

Im Verlauf der Diskussion zeigten sich in Bezug auf die Zulässigkeit des 
Fleisches tuberkulöser Thiere zum Genuss 2 Richtungen vertreten, von denen 
die eine, zum Theil allerdings mit Rücksicht auf die Interessenten, Nocard, 
die andere Arloing beistimmte. Schliesslich wurde mit allen gegen 3 Stimmen 
folgende These angenommen: „Es ist Grund vorhanden, mit allen mög¬ 
lichen Mitteln, dabei inbegriffen die Schadloshaltung der In- 
teressirten, die allgemeine Anwendung der Confiscirung und der 
vollständigen Vernichtung jeglichen Fleisches, welches von tu¬ 
berkulösen Thieren stammt, anzustreben, mag die Schwere der 
bei den Thieren gefundenen specifischen Erkrankung sein wie sie 
wolle. “ 


Referate. 

In „Friedreich’s Blätter für gerichtliche Medicin und Sanitäts- 
polizei“ in den drei ersten Heften des neununddreissigsten Jahr¬ 
ganges sind folgende zwölf Abhandlungen enthalten: 

1. Ein Fall von chronischem Siechthum, hervorgerufen durch wieder¬ 
holte Einathmung von Blausäure, vom Medicinalrath Prof. Dr. A. Martin 
in München. 

2. Kindestödtung oder Kindesmord, von Dr. A. Zaggl, Königl. Bezirks¬ 
arzt in Mallersdorf. 

3. Ein Fall von Bruch des Kehlkopfes als Folge einer Körperverletzung, 
von Landgerichtsarzt Dr. Landgraf in Bayreuth. 

4. Geburt eines lebenden Kindes in einen Eimer von Dr. H. Kornfeld, 
Kreisphysikus in Grottkau. 

5. Bewusstsein und Bewusstseinsstörungen, von Dr. Franz Carl Müller in 
München. 

6. Die mit Uebertretung der Berufspflichten begangenen fahrlässigen Körper¬ 
verletzungen und Tödtungen durch Aerzte, von Dr. Ignaz Mair, Königl. 
Bezirksarzt in Ingolstadt. 

7. Die Lage des Heftes beim Schreiben, von Dr. W. Mayer in Fürth. 

8. Gehirnverletzung mit bleibender Schwächung der Sprache (Aphasie) und 
des Geistes, von Prof, von Krafft-Ebing und von ebendemselben: Ge¬ 
fährliche Drohungen, begangen in einem Zustande krankhafter Bewusst¬ 
losigkeit auf hystero-epileptischer Grundlage. 

9. Zur Kenntnis* der Brandstifter, von Dr. A. Krauss in Tübingen. 

10. Das Röckner-Rothe’sche Verfahren zur Reinigung städtischer Ab¬ 
wässer von Dr. A. Weiss, Königl. Regierung*- und Medicinalrath in 
Düsseldorf. 

11. Erwiederung von Dr. A. Krauss. 



276 


Referate. 


12. Ein Fall von Lun gen Vergiftung mit secundärem tödtlichem Empyem, 
von Dr. August Schuberg, prakt. Arzt in Karlsruhe. 

ad 1. Die Abhandlung von Martin ist in dieser Zeitschrift so eingehend 
erörtert worden, dass es eines näheren Eingehens an dieser Stelle nicht bedarf. 
Erwähnen will ich nur, da^s auch E. von Hofmann sie für sehr beachtens- 
werth erklärt hat. 

ad 2. Zag gl weist darauf hin, dass, wie schon Buchheim betont, 
der § 217 des St. G. B. nicht den Kindesmord, sondern die Kindestödtung 
charakterisirt, da 9ein Kriterium den Vorsatz, nicht aber die Ueberlegung be¬ 
zeichnet, und er berichtet als ein prägnantes Beispiel des von ihm so gekenn¬ 
zeichneten Kindesmordes einen einschlägigen Fall aus seiner Praxis. 

Die separirte 30 jährige Amalie K. hatte auf dem Abtritte ein Kind 
geboren, dasselbe gewürgt, dabei einen Bluterguss an der Seite des Kehlkopfes 
und der Luftröhre bewirkt und das Kind in den Abtritt geworfen. Dasselbe 
wurde aus demselben lebend hervorgezogen, starb aber 33 Stunden nach seiner 
Geburt an Erstickung. 

Im Obductionsbericht sagen die Gutachter: „Ein ganz bestimmter Anhalts¬ 
punkt dafür, dass in irgend einer Phase der Schwangerschaft und der Geburt, 
sowie unmittelbar nach der Geburt der physische Zustand der A. K. der Art 
gestört gewesen sei, dass die freie Willensbestimmung dadurch beeinträchtigt 
war in jenem Grade, wie ihn die Strafrechtswissenschaft bei den Gebärenden 
als immer mehr oder minder vorhanden vorweg annimmt, konnte nicht gefunden 
werden. Z. sucht dies aus den eigenen Angaben der K. zu beweisen. In wie 
weit ihm dies gelungen, das hatten die Richter seiner Zeit zu beurtheilen. 

In wie weit er Veranlassung hatte, diese Behauptung aufzustellen, ist mir 
um so weniger ersichtlich, als er hervorhebt, dass specielle Fragen Seitens des 
Herrn Untersuchungsrichters nicht gestellt wurden. 

Ich muss also annehmen, dass die directe Frage nach dem Ausschluss 
der freien Willensbestimmung nicht gestellt war. ln diesem Falle halte ich 
es für nicht opportun, auf dieselbe einzugehen. 

Der § 217 St. G. B. fordert diesen Nachweis nicht. Der Gesetzgeber 
bestimmt ohne weiteres, dass eine Mutter, weiche ihr uneheliches Kind in oder 
gleich nach der Geburt tödtet, nicht mit der gleichen Strafe wie ein gewölrn- 
licher Mörder zu bestrafen sei. Aus welchem Grunde er diese Milde walten 
lässt, das zu erörtern ist Sache des Richters, nicht des Arztes. 

Schon für gewöhnliche Fälle gehen die gerichtsärztlichen Autoritäten 
ungern an die psychologische Untersuchung des Geisteszustandes eines Ange¬ 
klagten aus dem bekannten Grunde, welcher die Leipziger Fakultät und die 
wissenschaftliche Deputation seiner Zeit veranlasste, in dem § 51 nur das Wort 
geisteskrank als Kriterium aufzustellen und abzurathen von der Aufstellung 
einer allgemein psychologischen Eigenschaft oder Fähigkeit, da nur das erstere 
im Bereich dor ärztlichen Beurtheilung läge. 

Für die Anwendung des § 217 ist sonach der Nachweis der Ueberlegung 
oder ihres Ausschlusses an und für sich nicht erforderlich, noch viel weniger 
ist der Arzt gehalten, den Ausschluss der freien Willensbestimmung aus 
eigener Initiative zu erörtern. 

ad 3. Von Interesse ist aus der Mittheilung des Dr. Landgraf die 
Beschaffenheit dor Kehlkopfverletzung und ihre Entstehung. Es heisst „8. In 
der Gegend der unteren Stimmbänder bemerkt man am vordem Ende beider 
Schildknoqiel querverlaufende Risse von unebener Beschaffenheit. In der linken 
Platte ist dieser Riss l*/ 4f in der rechten 3 /'. 4 cm lang. Die beiden Schild¬ 
knorpelplatten sind an ihrem vordem Ende von einander getrennt und hängen 
nur noch am obern und untern Ende durch Zellgewebe zusammen. 

9) Die untern Stimmbänder haben theils ein graues, theils ein schwarz¬ 
blaues Aussehen. Sie sind vorne V. 2 , hinten V, cm dick. Auf der Innenseite 
der Risse in den Schildknorpelplatten zeigt die Schleimhaut auf der linken 
Seite in der Breite eines Pfennigstückes eine blauschw-ärzlicho Farbe, auf der 
rechten Seite in der eines silbernen 20 Pfennigstückes eine blauschwärzliche 
Farbe, weiter nach unten eine blasse.“ 

Aus der weiteren Darstellung geht hervor, dass diese Kehlkopfverletzung 
durch Fall mit dem Kehlkopf auf eine Tischkante hervorgebracht worden ist. 



Referate. 


277 


ad 4 ist nur zu erwähnen, dass im Anschluss an Freyer's Arbeit von 
Kornfeld sein Fall als beweisend für das Vorkommen von Ohnmacht der 
Mutter bei der Geburt, die den Tod dos Neugebornen zur Folge gehabt hat, 
zu verzeichnen sei. 

ad 5 bringt Dr. C. Müller eine eingehende Studie über Bewusstsein und 
Bewusstseinsstörungen. 

Nachdem Müller die verschiedenen Ansichten der Autoren über das 
Bewusstsein zusammengestellt, kommt er zu dem Schlüsse: 

,Das Bewusstsein ist eine Function unseres Seelenlebens und verkehrt 
durch Sinnesorgane mit der Aussen weit. — Seine Elemente sind die Vor¬ 
stellungen, die es in Begriffe transformirt. — Der Sitz des Bewusstseins ist in 
der Grosshirnrinde, es hat die Fähigkeit zu percipiren und zu reproduciren. — 
Die Beziehung des jeweiligen cerebralen Einzelvorganges zu dem Gesammt- 
inhalt des Gehirns heissen wir Bewusstsein.“ 

Ueber diesem selbstbewussten Seelenleben, dem Person]ichkeits-, Raum-, 
Zeit- und Weltbewusstsein, existire eine Sphäre des unbewussten Geisteslebens, 
welche dauernd thätig sei. Ihr verdankten wir unsere geistige Individualität. 

Die Störungen des Bewusstseins kämen zu Stande einmal dadurch, dass 
die Leistung der unbewussten Gehirnmechanik gar nicht zum Bewusstsein vor¬ 
dränge oder auf Umwegen (z. B. als Hallucination, als vollzogene impulsive 
Handlung) vom Selbstbewusstsein erfasst würde, oder dadurch dass die dem 
Bewusstsein zukommenden Functionen (Aufmerksamkeit, Reflexion, willkürliche 
Reproduction) gänzlich aufgehoben würden. 

Bei der Schilderung dieser Störungen folgt M. der Eintheilüng von 
v. Krafft-Ehing. 

Sie traten auf: I. Als psychische Dämmerzustände (bei Epilepsie, 
Alcoholismus, Dementia paralytiea und senilis). 

II. Als Trauinzustände des wachen Lebens (Delirien, llallucinationen). 

III. Als Stupor (postepileptische und postmaniakalische Zustände, 
Melancholie, lnanition). 

IV. Als Ekstase (Hysterische Neurose und Psychose). 

Solche Störungen und Verluste des Bewusstseins linden sich: 

1) bei abnormem Schlaf (Schlaftrunkenheit und Schlafwandeln). 

2) bei Fieber- und Inanitionsdelir. 

3) bei plötzlichen Circulationsstörungen im Gehirn (Mania transitoria, 
Raptus melancholicus). 

4) bei epileptischer und hysterischer Neurose. 

5) bei Intoxication. 

6) bei pathologischen Affecten. 

7) beim Puerperium. 

Schliesslich bespricht M. die Stellung, welche der Gerichtsarzt im con- 
creten Falle dem § 51 gegenüber einzunehmen hat. Nach Anführung der 
Commentare von Berner und Schütze wendet er sich gegen Mendel, der 
bekanntlich sehr radical vorgeht und nicht nur die freie VVillensbestimmung, 
sondern auch den Gebrauch der Vernunft als nicht-medicinische Begriffe 
der Begutachtung des Arztes ganz entzogen wünscht. Auch Müller hält es 
für richtig, dass der Arzt nicht sua sponte sich darüber erklärt, ob die freie 
Willensbestimmung ausgeschlossen sei oder nicht; er betont aber, dass es eine 
Reihe von Fällen gäbe, in denen der Arzt als Fachmann hierüber am genauesten 
Auskunft geben könne. Er nennt die Frage nach der Verpflichtung des Arztes 
hierzu einen akademischen Streit, der sich in Wirklichkeit dahin schlichte, 
dass der Richter im Gerichtssaal dem Arzte diese Frage oft genug vorlege und 
dass dieser sie auch in der Kegel beantworte. Referent möchte ihm hierin 
beipflichten. 

Hat die lec lata diesen § aufgestellt., so muss ihr auch der Arzt Rechnung 
tragen, wie er ja so häufig den sicheren Boden seiner Special Wissenschaft ver¬ 
lassen und seine allgemeine Lebenskenntniss und Erfahrung in seinem Urtheil 
und seiner Begründung verwerthen muss. 

ad 6. Die strafrechtliche Studie von Ignaz Mair harrt noch ihrer Voll¬ 
endung. 

ad 7. W. Mayer hat im Aufträge der Aerztckammer von Mittelfranken 
nach dem vorhandenen Material und nach eigenen Untersuchungen die Lage 



278 


Referate. 


des Heftes beim Schreiben einer eingehenden Studie gewürdigt und folgende 
Sätze, die er für erwiesen erachtet, aufgestellt: 

1. Das Schreiben ist eine gemeinschaftliche Arbeit der rechten obem 
Extremität und der Augen. 

2. Beide Factoren unterliegen dabei keinerlei absolut starren Gesetzen, 
sondern der Spielraum, in dem sie die Schreibarbeit leisten können, ist ein 
grosser. Grösser noch als von Hand und Arm ist der der Augen und natur- 
gemäss wird der beweglichere Theil sich öfters nach dem immobileren richten 
als umgekehrt. 

3. Als die beste Schreibweise ist theoretisch diejenige zu bezeichnen, 
bei welcher Auge und Hand so arbeiten, dass weder eine Ueberanstrengung 
des ersteren, noch eine schlechte Haltung des Körpers leicht zu Stande 
kommt. Je leichter dies doch eintritt, um so schlechter die Schreibart. 

4 Von den bekannten Arten zu schreiben erfüllt die aufrechte Schrift 
bei gerader Medianlinie des Heftes alle Forderungen, die Auge und Hand 
stellen können. 

5. Schräge Currentschrift ist am besten in schräger Medianlinie des 
Heftes mit nach rechts offenem Winkel von 30—40° zu schreiben. Ein 
grösserer Winkel verschlechtert die Haltung, ein kleinerer führt bald zur 
Rechtslage, da die Schriftzüge sonst nicht mehr genügend gestellt werden können. 

6. Für die Augen und für die Körperhaltung ist die schräge Medianlinie 
aber schlechter als die gerade. 

7. Rechtslagen des Heftes sind allseitig verworfen wegen Schädigung von 
Auge und Körperhaltung, ihre allgemeine Beliebtheit hat den Grund in der 
freien Beweglichkeit, die sie der Hand lassen. 

ad 8. Zwei gerichtsärztliche Gutachten von Prof, von Krafft-Ebing 
bilden äusserst werthvolle Beiträge zur gerichtsärztlichen Diagnose der Geistes¬ 
krankheiten. Das erste hebt hervor, dass der sechszehnjährige R. nach einer 
nicht perforirenden Verletzung der linken Schläfe eine Schwächung seines 
geistigen Vermögens mit theilweisem Verlust des Gedächtnisses für Worte und 
Schriftzüge erlitten habe. „Die wissenschaftliche Erfahrung lautet bezüglich 
der Ausgleichung derartiger durch eine Kopfverletzung entstandenen Geistes¬ 
schwäche und Aphasie ungünstig, da immer organische Schädigungen des 
Gehirns ihr zu Grunde liegen. Im günstigsten Falle bleibt das Gehirn in 
Folge der Verletzung sehr empfindlich, widerstandsunfähig gegen krankmachende 
Einflüsse und ist dadurch dauernd in Gefahr im Sinne von Epilepsie, Geistes¬ 
krankheit zu erkranken.“ 

Aus dem zweiten Gutachten ist folgender Ausspruch bemerkenswerth: 

„1. Die V. ist eine nervöse, zu Nervenkrankheiten sehr disponirte Persön¬ 
lichkeit. 

2. Seit einem Gelenkrheumatismus bietet sie charabterologisch wie 
körperlich die Erscheinungen einer schweren hysterischen Nervenkrankheit etc. 

3. Es kommt nicht selten bei solchen Kranken vor, dass sie unvermerkt 
in psychische Ausnahmszustände gerathen, in welchen sie anscheinend bei sich, 
demnach des Selbstbewusstseins verlustig sind und nicht wissen, was sie 
sprechen und thun, ganz analog spontanen Zuständen von Somnambulismus. 
Bemerkenswerth ist, dass solche Kranke in diesem Zustande ganz combinirt 
denken und handeln können und im Stande sind, im Sinne von deliranten 
Vorstellungen Dinge zu reden, die sie nur delirirt, geträumt haben, die sie 
im luciden Zustand ganz anders auffassen, beurtheilen, eventuell sogar per- 
horresciren w r ürden. 

In der Regel geschieht es, dass derlei Individuen, wenn der psychische 
Ausnahmszustand vorüber ist, gar nicht wissen, was sie während desselben 
gedacht, gesagt, gethan haben, so dass sie bona fide leugnen, selbst Augen- 
und Ohrenzeugen gegenüber.“ 

ad 9. Das zweite Gutachten von Krauss gipfelt in folgendem Schluss¬ 
wort „K. ist kein geborener Verbrecher im Sinne Lombroso’s. Dazu fehlt 
es ihm ebenso sehr an Bosheit als an Mutli und Thatkraft. 

Er ist aber auch kein blosser Gelegenheitsverbrecher, der erst durch 
äussere Umstände zum Verbrechen verleitet worden. Er hat sich vielmehr die 
Gelegenheit durch innere Initiative selbst geschaffen, sofern er, 
freilich ohne den Zusammenhang zu ahnen, durch übermässigen Genuss der 



Verordnungen und Verfügungen. 


279 


geistigen Getränke den inneren Anreiz erweckte. Aus dem ersten Laster drang 
im Sprunge das zweite hervor. 

In Folge leichter Berauschung fasste er den Gedanken des Feuerlegens 
und kraft seiner Willensschwäche wurde er von Stunde an ein leidenschaft¬ 
licher, habitueller Brandstifter.“ 

ad 10. Ueber das Röckner-Rothe’sche Verfahren sagt Weiss: „Die 
Ergebnisse der chemischen und bacteriologischen Untersuchung lassen daher 
über die Wirksamkeit des Röckner-Rothe’sehen Apparates nur ein günstiges 
Urtheil zu. * 

ad 12. Schub erg berichtet über einen Fall von Lungenvergiftung, der 
grosses Interesse dadurch bietet, dass die secundären Eiterungserscheinungen 
die primären Verletzungen völlig in den Schatten stellten. Er fügt eine reich¬ 
haltige Casuistik aus der Literatur bei, welche den von ihm berichteten und 
von Escherich beobachteten Fall glänzend illustrirt. 

Mit tenzweig. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Anstalten «um Trocknen und Einsalzen ungegerbter Thierfollo, sowie die Vor- 
bleiongs-, Yerzinnmtgs- nnd Yerzinknngs-Anstalten sind genehmnngspflichtig; 

Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 16. Juli 1888, gez. i. Verte, 
von Boetticher (Reichsgesetzblatt No. 32). 

„Auf Grund des § 16 R.-Gew.-0. (R.-G.-Bl. 1883, S. 177) hat der Bun¬ 
desrath, vorbehaltlich der Genehmigung des Reichstages, beschlossen, in das 
Verzeichniss der einer besonderen Genehmigung bedürfenden Anlagen (§16 
a. a. 0.) 

die Anstalten zum Trocknen und Einsalzen ungegerbter Thierfelle, so¬ 
wie die Vorbleiungs-, Verzinnungs- und Verzinkungs-Anstalten 
aufzunehmen. “ 


Beschäftigung von Arbeiterinnen nnd jugendlichen Arbeitern ln Gummi- 
waarenfabriken. Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 21. Juli 
1888, gez. in Vertr. von Boetticher (Reichsgesetzblatt No. 32). 

„Auf Grund des § 139a R.-Gew.-O. hat der Bundesrath nachstehende 
Bestimmung über die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Ar¬ 
beitern in Gummiwaarenfabriken erlassen: 

Die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern 
bei der Anfertigung sogenannter Präservativs und anderer zu gleichen 
Zwecken dienender Gegenstände in Fabriken ist untersagt.“ 


Entwürfe für einfache ländliche Schulgebäude nebst dazu gehörigen Er¬ 
läuterungen von Geh. Ober-Regierungsrath Spiecker, Vortragendem 
Rath im Cultusministerium, mitgetheilt den König). Regierungen durch 
Circular-Erlass des Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten 
vom 24. Januar 1888 (gez. in Vertr. Lucanus) und vom 7. Juli 1888 (gez. 

i. A. Greift). 

L Allgemeines. 

1. Baustelle: Bei der Wahl eines für eine Schulanlage in Aussicht zu 
nehmenden Grundstücks kommen vorzugsweise folgende Rücksichten in Betracht: 

Die Lage des Grundstücks soll möglichst in der Mitte des Schulbezirks 
angenommen werden, damit von allen entferntesten Punkten desselben an¬ 
nähernd gleiche Wege entstehen. Sie muss gesunden, trockeuen und technisch 
möglichst günstigen Baugrund aufweisen, frei von störender und geeundheits- 



280 


Vorordnungon und Verfügungen. 


schädlicher Nachbarschaft sein, und die Anlago eines Brunnen mit gutem 
Trinkwasser gestatten. Eine leicht geneigte, die Abwässerung befördernde 
Gestaltung der Oberfläche ist einer ganz ebenen Bodenlage meistens vorzuziehen. 

Zum Schutz gegen rauhe Winde und Sonnenhitze ist eine mit Bäumen 
und Sträuchern bestandene Baustelle oft erwünscht, doch darf die Bepflanzung 
dem Schulgebäude nicht Licht und Luft verkümmern oder die Lage dumpf 
und feucht machen. 

2. Bei Anordnung der Gebäude auf der Baustelle sind alle mit 
Fenstern versehene Wände von den Nachbargrenzen, auch wenn diese zur Zeit 
noch nicht bebaut sind, soweit entfernt anzulegen, dass keine künftige Bebauung 
oder Bepflanzung des Nachbargrundstücks diesen Fenstern Licht- und Luft- 
Zuführung entziehen oder auch nur schmälern kann. Ganz besonders gilt dies 
von solchen Wänden, deren Fenster zur Beleuchtung eines Schulzimmers dienen. 
Für diese ist die Lage, wenn irgend möglich, so zu wählen, dass reines 
Himmelslicht unmittelbar bis zu den von der Fensterwand am Weitesten ent¬ 
fernten Schülersitzen einfallen und die Tischplatte trotten kann. 

In der Regel sind Schulzimmer und Lehrerwohnungen in demselben Ge¬ 
bäude zusammenzufassen. Dagegen empfiehlt es sich die erforderlichen Wirth- 
schaftsgebäude (Stallung, Scheune pp.), sowie die Abtritte nicht nur von dem 
Schulliause räumlich zu trennen, sondern sie auch in einem solchen Abstande 
von demselben zu errichten, dass sie keine schädlichen oder belästigenden 
Einflüsse auf dasselbe ausüben können. Die Abtrittanlage ist oft zweckmässig 
mit dem Stallgebäude zu verbinden oder an dasselbe anzulehnen. Ebenso 
werden besondere Scheunengebäude nur in dem selteneren Falle eines grösseren 
Umfangs der Schulländereien nöthig sein, während in den meisten Fällen die 
Anlage von Stall und Scheune unter einem Dach vorteilhafter erscheint. 
Selbstverständlich ist der Umfang aller dieser Wirthschaftsräume von dem 
nach der Grösse des dem Lehrer zugewiesenen Landes nachzuweisenden Raum¬ 
bedarf abhängig. 

Bei Bestimmungen der den einzelnen Gebäuden auf dem Grundstück an¬ 
zureihenden Stallung ist auf möglichste Uebersichtlichkeit der Gesammtanlage 
Bedacht zu nehmen. Namentlich aber muss der nach der Zahl der Schul¬ 
kinder zu bemessende freie Platz, welcher diesen zum Bewegen und Spielen 
in den Untorrichtspausen dient, sowie der Zugang zu den Abtritten von der 
Lehrerwohnung oder dem Schulzimmer aus sich bequem übersehen lassen. 

Die Abtrittanlage wird, den ländlichen Verhältnissen entsprechend, ge¬ 
wöhnlich wohl eine möglichst dicht herzustellende Grube erhalten, wobei 
jedoch die bekannten vollkommeneren die Reinheit des Untergrundes besser 
sichernden Einrichtungen für die Beseitigung der Auswurfstoffe nicht ausge¬ 
schlossen, und bei dichterer, mehr den städtischen Verhältnissen sich annähern¬ 
der Bebauung sogar zu fordern sind. Jedenfalls muss aber darauf geachtet 
werden, dass Tiefbrunnen für Trinkwasser von Abtritts- und Düngergruben 
soweit als möglich entfernt angelegt werden, wobei auch die Strömungsriehtung 
des den Brunnen speisenden Grundwassers in Betracht kommen, überhaupt 
jede Vorsicht angewendet werden muss, um eine Verunreinigung des Brunnen¬ 
wassers zu verhüten. 

lieber die Himinelslage der Baulichkeiten namentlich der Schulzimmer, 
lassen sich schwer allgemein gültige Bestimmungen treffen, einmal weil örtliche 
Verhältnisse oft in zwingender Weise die Anordnung auch in dieser Hinsicht 
beeinflussen, sodann aber auch, weil die verschiedenen hier geltend zu machen¬ 
den Forderungen nicht selten mit einander in Widerspruch stehen. So wird 
einerseits zwar mit Recht eine sonnige Lage als gesundheitlich vortheilhaft 
angesehen, während doch andererseits nicht zu leugnen ist, dass unmittelbare 
Sonnenbestrahlung der Fenster eines Schulzimmers während der Unterrichts¬ 
zeit in mehr als einer Hinsicht störend und nachtheilig wirken kann. Ist man 
in der Lage, die Himmelsrichtung für die Fensterwand dos Schulzimmers frei 
zu bestimmen, so wird man daher wohl am Besten die Anordnung so treffen, 
dass der Raum zwar in der Zeit vor oder nach dem Unterricht von der Sonne 
bestrahlt wird soweit möglich aber nicht auch während der Unterrichtszeit. 
Kann man jedoch eine sonnige Lage wogen sonstiger örtlicher Verhältnisse 
nicht vermeiden, so ist durch passende Vorkehrungen an den Fenstern dafür 
zu sorgen, dass die wesentlichsten Nachtbeile des unmittelbaren Sonnenscheins 



Verordnungen und Verfügungen. 


281 


— starke Erhitzung und zu grelle Beleuchtung — nach Möglichkeit abgedämpft 
werden. Von den der Sonne zugewendeten Lagen wird vielleicht die südliche 
deshalb noch am wenigsten jenen Belästigungen ausgesetzt sein, weil im Sommer 
die Strahlen der Mittagsonne unter so steilem Winkel einfallen, dass sie nicht 
tief in das Innere des Raumes eindringen und daher weniger störend wirken, 
als die flach einfallenden Strahlen der Morgen- und besonders der Abendsonne. 
Letztere ist jedoch für ländliche Schulen deshalb weniger lästig, weil in diesen 
die Unterrichtszeit schon mit den früheren Nachmittagsstunden auf hört.*) 

II. Das Schulhaus. 

1. Schulximmer. Hinsichtlich der einem Schulzimmer zu gebenden 
Abmessungen gilt zunächst die Regel, dass mehr als 80 Kinder nicht 
in einer Klasse zu gemeinschaftlichem Unterricht vereinigt werden sollen 
und nur in seltenen Ausnahmefällen aus besonderen Rücksichten eine etwas 
grössere Zahl bis zu höchstens 100 Schüler, zugelassen werden kann. 

a) Grundmaass für die Bestimmung des Flächenraumes. 
Lange Zeit galt der Einheitssatz von 0,60 qm für jeden Schüler als 
Grundmaass für die Flächen-Berechnung des Schulzimmers, so dass z. B. für 
eine Klasse von 80 Schülern das Zimmer etwa 8,00 Meter lang und 6,00 Meter 
breit, also mit einem Flächenraum von 48 qm angenommen wurde. Diese 
Abmessungen genügen jedoch nur unter Voraussetzungen, welche jetzt nicht 
mehr als zulässig erachtet werden. Reichen sie aber allenfalls für Schulklassen 
grösster Abmessung noch knapp aus, so erweisen sie sich als völlig ungenügend 
bei solchen Zimmern, welche für eine kleinere Schülerzahl bestimmt sind und 
umsomehr je kleiner diese Zahl ist. Dies erklärt sich leicht aus dem Umstand, 
dass die neben den Schüler-Sitzen und -Tischen unerlässlichen Freiräume — 
Gänge zu den Plätzen, Vorplatz an der Thür, dem Ofen, dem Lehrersitz pp. — 
nicht im gleichen Verhältniss mit der Schülerzahl wachsen und abnehmen, 
vielmehr einen grösseren Bruchtheil der Zimmerfiäche beanspruchen bei einem 
kleineren, als bei einem grösseren Schulzimmer. 

Man sieht sich daher zu einer anderen Form der Raum-Ermittelung 
genöthigt, bei welcher von einer ordnungsunlssigen Aufstellung und Grösse der 
Schulbänke, sowie einer genügenden Bemessung der Freiräume pp. ausgegangen 
werden muss. In einer einkla^sigen Volksschule sind Kinder vom 6. bis 
14. Lebensjahre unterzubringen. Um den verschiedenen Entwicklungsstufen 

*) Betrefls der Bauart wird bei den Erläuterungen der einzelnen Ent¬ 
würfe gesagt: Den Entwürfen liegt durchweg die Annahme des Massivbaues 
zu Grunde mit gewöhnlichem Backstein für das aufgehende Mauerwerk, welches 
in seinen Aussonflüchen ohne Mörtelputz nur in sauberer Fügung hergestellt 
werden soll. Diese Ausführungsweise empfiehlt sich überall da, wo genügend 
feste und wetterbeständige Steine zu haben sind, wobei es gar nicht etwa auf 
die Verwendung besonders sauberer „Blendsteine* abgesehen ist, da ausge¬ 
suchte gewöhnliche Steine von festem Brande dem Bedürfnis völlig entsprechen. 
Ebenso ist auf die Verwendung besonderer Formsteine nicht gerechnet. 

Das Dach ist in Ziegeln (Pfannen oder Bieberschwänze) gedeckt ange¬ 
nommen. ln einigen der Entwürfe ist dasselbe mit massigem Ueborhang durch 
Vorkragen der Sparren, in anderen ohne solchen, auf massivem Gesims an¬ 
setzend gezeichnet. Welche Dachform in jedem Einzelfalle zu wählen sei, 
unterliegt näherer Erwägung je mu h den örtlichen Verhältnissen, wobei nur 
zu beachten bleibt, dass der Dachüberhang nicht etwa den Fenstern — be¬ 
sonders denjenigen des Schulzimmers — das Licht entzieht. 

Wie hoch der F u s s h o d e n d e s E rd g e schosses über dem Erdboden 
sich erhebt, muss vorzugsweise mit Rücksicht auf die Grundwasser- und Ent¬ 
wässerungsverhältnisse der Baustelle bestimmt werden, da die Kellerräume 
stets wasserfrei sein müssen. Eine Erhebung von mindestens 0,50 Meter ist 
unter allen Umständen zu empfehlen. Liegt das höchste Grundwasser so nahe 
an Tag, dass die Anlage wasserfreier Keller unter dem Hause eine zu be¬ 
deutende Erhebung des Erdgeschosses bedingen würde, so müssen Kellerräume 
entweder im Wirtschaftsgebäude, oder in einem besonderen Kellerbau ange¬ 
legt werden. 



282 


Verordnungen und Verfügungen. 


der Körpergröße wenigstens einigermassen zu entsprechen, müssen daher Bänke 
und Tische von verschiedenen Abmessungen aufgestellt werden. Gewöhnlich 
nimmt man drei verschiedene Abstufungen der Sitzgrösse an, welche 
einen Flächenraum von je 48 auf 68, bezw. 50 auf 70 und 52 auf 72 
Centimeter beanspruchen. (Dass ausserdem auch die Höhe der Sitze und 
Tische den Altersstufen entsprechend bemessen werden muss, kann hier nur 
beiläufig angedeutet werden.) Die Freiräume sind so zu bemessen, dass von 
der dem Lehrersitz zunächst stehenden Schülerbank bis zur Wand mindestens 
1,70 m freier Abstand verbleibt, während an der Fensterwand entlang ein 
Gang von mindestens 0,40, in der Mitte zwischen zwei Bankreihen ein solcher 
von 0,50 und an der Öfenwand von 0,60 bis 0,80 Meter offen zu halten ist. 
Zwischen der Rückwand und dem hintersten Schülersitz bleiben wenigstens 
0,30 Meter frei. Trifft man nun unter Beachtung dieser Maasse die Raum- 
eintheilung des Schulzimmers, so ergiebt sich bei ganz grossen Klassen ein 
Satz von etwa 0,64 Quadratmetern für jedes Kind, der sich mit der 
Abnahme der Klassongrösse bis zu 0,74 Quadratmeter steigert. 

Bemerkt sei, dass hierbei wenigstens vier- und fünfsitzige Bänke ange¬ 
nommen sind, seltener dreisitzige. Das allerdings bei Weitem vollkommnere 
System durchweg zweisitziger Bänke, welches jedem Schüler gestattet, beim 
Aufstehen in den freien Zwischengang liinauszutreten dem Lehrer aber, zu 
jedem einzelnen Schüler unmittelbar zu gelangen, erfordert bei Weitem mehr 
Raum — etwa 1,00 bis 1,20 qm für jeden Schüler — und wird daher bei 
ländlichen Schulen wohl nur in selteneren Fällon Anwendung finden können. 

b) Höhe des Sch ulzimmers. Für die dem Klassenzimmer zu 
gebende lichte Höhe kommen verschiedene Rücksichten in Betracht. 
Zunächst kann man von der Bestimmung eines als nothwendig zu 
erachtenden Rauminhalts ausgehen, welcher jedem im Zimmer Anwesen¬ 
den eine bestimmte Luftmenge zumisst. Schon aus diesor Erwägung würde 
sich für kleinere Sehulzimmer eine etwas geringere Höhe als zulässig 
ergeben wie für grössere, da erstere einen im Verhältniss zur Besucherzahl 
grösseren Flächenraum erhalten als letztere. Aber auch aus einem anderen 
Grunde kommt dem grösseren Raume bei sonst gleichen Voraussetzungen eine 
grössere Höhe zu. Um nämlich die Länge des Schulzimmers nicht in unzweck¬ 
mässiger Weise zu steigern wird man auch die Tiefe desselben mit der Raum¬ 
grösse wachsen lassen. Da nun die Beleuchtung des Zimmers bis zu dem von 
der Fensterwand entferntesten Sitzplatz, wenn irgend möglich, durch unmittel¬ 
bar einfallendes Himmelslicht erfolgen soll, so bedarf der Raum, um das Licht 
vom Fenster aus unter gleichem Winkel nach der Tiefe eintreten zu lassen 
bei grösserer Tiefe (Breite 4 ) auch einer grösseren Höhe. 

Für die Beschränkung der Raumhöhe auf ein als noch zulässig erachtetes 
Minde8tmaaö8 sprechen vor Allem Ersparnngsrücksichten, da sowohl die Bau¬ 
kosten als auch die Schwierigkeit und die Kosten der Heizung des Raumes mit 
der Höhe desselben 'wachsen. Man hat daher in früherer Zeit nicht selten die 
Zimmerhöhe in einer die Luft- und Lichtverhältnisse auf das Schlimmste ge¬ 
fährdenden Weise beschränkt und Abmessungen für dieselbe gewählt, die jetzt 
in vielen Landestheilen sogar für Wohnräuine, in welchen sich doch immer 
nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Personen dauernd aufhält, als zu 
klein erachtet und baupolizeilich untersagt sind. Die auf diese Weise in 
vielen Landestheilen altherkömmliche Gewöhnung an niedere Räume in Zu¬ 
sammenhang mit den Schwierigkeiten, welche meistens bei Beschaffung der 
Mittel für Schulbauten den Gemeinden entstehen, lassen auch heute noch jede 
zulässige Beschränkung der Raumhöhe in den meisten Fällen als geboten 
erscheinen. Doch ist das Maas« von 3.20 Meter schon seit längerer 
Zeit als das geringste angenommen worden, welches noch für die Licht¬ 
höhe eines ländlichen Schulzimmers zugelassen wird. Bei Annahme der oben 
entwickelten Flächen-Einheitsmaasse ergeben sich dann auf den Kopf mindestens 
2 bis 2.37 Kubikmeter Luftraum — freilich geringe Maasse, welche nur in 
Anbetracht der kürzeren Unterriehtsdauei einer Dorfschule überhaupt als zu¬ 
lässig erscheinen. Geht man nun von diesem noch zulässigen Höhen-Kleinst- 
maass aus und wendet es auf ein Schulzimmer kleinster Abmessungen an in 
welchem jeder Schüler einen Flächenraum von 0,74 Quadratmeter beansprucht, 
also einen Luftraum von 2,37 Kubikmeter erhält, so müsste ein Schulziimner 



Verordnungen und Verfügungen. 


288 


grösster Abmessungen, wenn es den gleichen Luftraum auf den Kopf bieten 
soll, schon eine Lichthöhe von 3,70 Meter erhalten, während es bei Anwendung 
der kleinsten zulässigen Lichthöhe von 3,20 Meter nur 2 Kubikmeter Luft¬ 
raum für jeden Schüler gewährt. 

Dieses Verhältniss der Höhensteigerung bei wachsender Bodenfläche sollte 
daher, wo es irgend angeht, thatsächlich Anwendung finden, besonders da es 
auch der zweiten Bedingung einer ausgiebigen Beleuchtung nach der Tiefe 
wenigstens annähernd entspricht. Dass die Forderung eines Luftraums von 
2 bis 2 1 / 3 , selbst 2 1 /* Kubikmeter auf den Kopf eine sehr massige ist, geht 
übrigens u. A. daraus hervor, dass in mehreren Deutschen Staaten erheblich 
höhere Sätze — 3, 8 1 /* und sogar 4 Kubikmeter — vorgeschrieben, und dass 
für die Klassenzimmer unserer höheren Schulen Abmessungen üblich sind, 
welche ebenfalls bei normaler Besetzung 4 Kubikmeter, mitunter auch etwas 
mehr Luftraum auf den Kopf gewähren. Freilich unterliegen solche Räume 
meistens einer bei Weitem stärkeren Ausnutzung als die Rlassen einer Dorf¬ 
schule. 

c) Anordnung der Fenster des Schulzimmers. Für die aus¬ 
giebige Beleuchtung des Schulzimmers, welche von ebenso grosser Bedeutung 
ist, wie die genügende Grösse, gilt als Regel, dass die lichtgebende 
Fensterfläche mindestens */ 5 der Bodenfläche des Raumes mes¬ 
sen soll. 

Natürlich kommt es ausserdem noch auf eine zweckmässige Anordnung 
der Fenster und ihre Vertheilung im Raume an. Damit das Licht in möglichst 
günstigem (d. h. steilem) Winkel auch nach den entfernteren Plätzen einfallen 
kann, müssen die Fenster so hoch als irgend möglich angelegt werden, 
so dass ihr Sturz dicht an die Zimmerdecke reicht, was bei passender Kon¬ 
struktion der Letzteren sehr wohl angeht. Die Brüstungshöhe ist dagegen 
zweckmässig etwas grösser, als in Wohnräumen meist üblich, etwa auf 
1 Meter anzunehmen, da das unter Augenhöhe einfallende Licht blendend 
wirkt. Es wird deshalb auch nicht selten empfohlen, die unterste Fenster¬ 
scheibe — etwa durch Anstreichen mit Oelfarbe — abzublenden. Hierdurch 
soll zugleich den Schülern die Möglichkeit benommen werden, ihre Aufmerk¬ 
samkeit vom Unterricht ab und nach Aussen zu richten. 

Als bekannt darf angenommen werden, dass den Schülern das Licht 
nur von links, nie von rechts oder gar von vorne zufallen darf. Rücken¬ 
licht wäre zwar in diesem Sinne nicht nachtheilig, doch empfiehlt es sich, 
Fenster in der Rückwand zu vermeiden, weil ihr Licht dem Lehrer lästig 
wird, der vorzugsweise in der Richtung nach dieser Wand hin schauen muss, 
um seine Klasse zu überblicken. Die demgemäss nur auf der linksseitigen 
Langwand anzuordnenden Fenster werden am Besten in gleichen nicht zu 
grossen Abständen vertheilt, damit der Raum in allen Theilen möglichst 
gleichmässig beleuchtet ist. 

Tief klassen sind einer guten Beleuchtung nur bei mehr als gewöhnlicher 
Lichthöhe und verhältnissmässig grösserer Fensterfläche fähig. Ihre Anordnung 
empfiehlt sich daher im Allgemeinen für Dorfschulen nicht. Da das wirk¬ 
samste Licht aus den oberen Theilen des Fensters kommt, so ist es wichtig, 
den Sturz desselben gradlinig oder nur flachgebogen zu gestalten, dagegen 
Rundbogen und andere der Lichtgabe ungünstige Abschlussformen bei Schul¬ 
fenstern zu vermeiden. 

d) Anlage der Thür. Die Thür des Schulzimmers liegt am Zweckmäs- 
sigsten so, dass der Eintretende im Gesicht und nicht im Rücken der auf 
ihren Sitzen befindlichen Schüler erscheint, weil nur so vermieden wird, dass 
die Kinder, sich nach demselben umwendend, die Ruhe und Ordnung in der 
Klasse stören. Auch ist es für den Lehrer oder den Schulaufsichtsbeamten 
werthvoll, gleich beim Eintreten die Klasse überblicken zu können. Dass die 
Thür des Klassenzimmers — ebenso wie alle sonstigen dem Schulverkehr 
dienenden Thüren— nach Aussen aufschlagen müssen, geht schon aus 
den bekannten Vorschriften über Vermeidung von Feuersgefahr (vom J. 1884) 
hervor, welche überhaupt bei Schulbauten durchweg Anwendung finden sollen. 

e) Heizung und Lüftung. Der Ofen erhält am Zweckmässigsten seine 
Stelle in der Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Langwand. Für die 
östlichen Landestheile ist der hier allgemein übliche Kachelofen mit unter- 



284 


Verordnungen und Verfügungen. 


brochener Feuerung — im Gegensatz zu dem im Westen herkömmlichen, 
meistens eisernen Oefen mit dauernder Feuerung fWindöfen, Füllöfen pp.) — 
wohl die nächstliegendo Anordnung. Doch bedari das Schulzimmer bei die¬ 
sem den Luftwechsel so gut wie gar nicht befördernden Heizkörper noch be¬ 
sonderer, wenn auch sehr einfacher Vorkehrungen, welche eine stetige Er¬ 
neuerung der Zimmerluft, namentlich in der kalten Jahreszeit bewirken, wenn 
die einfachste Art der Lufterneuerung, das Oeffnen eines Fensters oder einer 
Fensterklappe pp. wenigstens während des Unterrichts ausgeschlossen ist. 

Am Einfachsten und doch hinreichend wirksam ist die Anordnung eines 
Lüftungsrohrs, welches nahe neben dem Schornsteinrohr im Mauerwerk aus¬ 
gespart und von diesem angewärmt, die verbrauchte Luft über Dach ableitet. 
Ein auf die Rohrmündung aufgesetzter Saugkopf wird die Wirkung des Rohrs 
verstärken, ebenso die Einlage einer Eisenplatte in die Mauergänge zwischen 
Schornstein- und Abluftrohr. Verschliessbare Oeffnungen nächst dem Fussboden 
und der Decke geben Gelegenheit, .je nach Bedarf die Abluft unten oder oben 
abzusaugen. In der Regel wird während der Heizperiode der untere Schieber 
geöffnet sein, während der obere wesentlich den Zweck hat, bei zu hoch ge¬ 
steigerter Temperatur die wärmsten Luftschichten, welche sich an der Decke 
sammeln, unmittelbar entweichen zu lassen. 

Um die als Ersatz für die Abluft von Aussen kommende frische Luft 
nicht ganz so kalt, wie sie im Freien ist, eintreten zu lassen, hat man auch 
eine einfache Vorwärmung derselben angeordnet, indem man durch den Ofen 
ein oben offenes Rohr führt, dessen unteres Ende mit der freien Luft in Ver¬ 
bindung steht. Die im Rohr befindliche Luft steigt, durch den Ofen ange¬ 
wärmt, aufwärts und tritt durch die obere Rohrmündung in’s Zimmer aus, die 
Aussenluft vom Freien her nachsaugend. Es ist jedoch dringend zu empfehlen, 
den Theil dieser Rohrleitung, welcher die Luft von Aussen dem Vorwärmerohr 
im Ofen zuführt, so kurz wie möglich, und zugleich so zu gestalten, dass es 
stets ohne besondere Schwierigkeit von dem in demselben sich niederschlagen¬ 
den Staub befreit und überhaupt reingehalten werden kann, damit nur unver¬ 
dorbene Luft dem Zimmer zugeführt wird. Auch das im Ofen liegende Wärme¬ 
rohr muss sich leicht reinigen lassen. Wie diese Anordnung in jedem Einzel¬ 
fall zu treffen ist, muss nach örtlichen Verhältnissen bestimmt werden.. 

f) Anordnung der Decke. Die Decke des Schulzimmers wird am 
Zweckmässigsten so angeordnet, dass nicht die Balken, sondern Unterzüge auf 
der Fenster- und der Ofenwand lagern, während die Balken mit diesen Wän¬ 
den gleichlaufend gestreckt sind. Hierdurch wird erreicht, dass die Fenster¬ 
sturze fast unmittelbar an die Balkenlage reichen können, und so dem Zimmer 
den möglichst günstigsten Lichteinfall sichern. Da die Unterzüge natürlich 
auf die Zwischenpfeiler der Fensterwand treffen, so können sie so angeordnet 
werden, dass ihre Oberkante annähernd mit dem Fenstersturz in gleicher Höhe 
liegt. Die Zweckmässigkeit einer solchen Anordnung im Interesse der Beleuch¬ 
tung ist schon oben erörtert worden. 

g) Umfassungswände. Als empfehlenswerth ist zu bezeichnen, dass 
in Schulzimmem alle vorspringenden Mauerecken so viel als möglich vermie¬ 
den werden, um jede Gelegenheit zum Abstossen des Putzes thunlichst zu 
vermeiden. Daher ist es zweckmässig, die Fensterbrüstungen nicht, wie sonst 
üblich, einzunischen, sondern mit der Innenwand bündig auszutühren. 

h) Fussboden. Ist das Schulzimmer nicht unterkellert, so darf der Holz- 
fussboden nicht unmittelbar auf den Untergrund oder die Füllerde gelegt, sondern 
muss über einem Hohlraum gestreckt werden, durch welchen die Zimmerluft 
streicht. Aussenluft in diesen Hohlraum einzuleiten, empfiehlt sich nicht, wenig¬ 
stens nicht in der kalten Jahreszeit, da dies den Boden „fusskalt* machen würde. 
Die technischen Anordnungen, durch welche eine die Erhaltung des Holzwerks 
sichernde, stetige, wenn auch nur massige Luftbewegmig unter dem Fussboden 
bewirkt wird, können als bekannt vorausgesetzt werden. Die hier empfohlene 
Massnahme gilt übrigens auch für nicht unterkellerte Wohn- und Schlafzimmer 
der Lehrerwohnung. 

2. Die Verkelirsräume. Der Flur, welcher dem Schülerverkehr dient, 
kann zweckmässig auch als gewöhnlicher Zugang zur Lehrerwohnung benutzt 
werden. Doch ist daneben ein dem Wirthschaftsverkehr des Lehrers dienen¬ 
der Neben- oder Hinterflur, der meistens wohl nach d^m Hofe führen wird, 



Verordnungen und Verfügungen. 


285 


als erforderlich zu erachten, damit in besonderen Fällen, z. ß. bei Krankheiten 
in der Familie des Lehrers, der Schulverkehr von dem Hausverkehr der Lehrer- 
wolinung völlig gesondert werden kann. Die Breite des Hauptflurs rich¬ 
tet sich natürlich nach der Grösse des in ihm sich abspielenden Schüler¬ 
verkehrs, sollte jedoch nie geringer als 2,50 Meter angenommen werden. 

Liegt ein Schulzimmer nicht im Erdgeschoss, sondern im ersten Stock, 
so muss die zu ihm führende Treppe den bekannten Vorschriften zur Abwen¬ 
dung von Feuersgefahr vom 27. October 1884 durchweg entsprechen. Nament¬ 
lich sind Keilstufen unbedingt zu vermeiden und die Steigungsverhältnisse so 
bequem als möglich unter Rücksicht nähme auf die Körpergrösse der sie vor¬ 
zugsweise benutzenden Kinder anzuordnen. 

Die vor der Hausthür nothwendigen Freistufen sind besonders bequem 
anzuordnen, und dürfen nicht unmittelbar vor der Thür beginnen: sie müssen 
vielmehr auf einen freien und genügend breiten Vorplatz vor der Thür mün¬ 
den. Bei Bemessung der Breite dieses Vorplatzes ist auch darauf zu achten, 
dass die Hausthürflügel vorschriftsmässig nach aussen aufschiagen sollen. Diese 
Freitreppen sind, besonders bei etwas grösserer Stufenzahl, stets mit seitlichen 
Wangen und Schutzgeländern zu versehen, so dass sie nicht von drei Seiten 
her ansteigen. Uebrigens ist die Höhe nach Möglichkeit zu beschränken und 
wenn die Ortsverhältnisse zu einer mehr als gewöhnlichen Erhöhung des Erd¬ 
geschosses über den umgebenden Boden zwingen, auf die Anordnung von sanft¬ 
ansteigenden Rampen, welche die Zahl der Freistufen vermindern, thunlichst 
Bedacht zu nehmen. 

8. Die Lehrerwohnung. Wie schon im Eingang bemerkt wurde, liegen 
die Lehrerwohnungen gewöhnlich mit den Schulräumen unter einem Dach. 
Als Raumbedarf für eine Familienwohnung gelten: Zwei Stuben, etwa zu 20 
und 25 qm, ein bis zwei Kammern, zu 12 bis 15 qm, eine Küche, etwa zu 
15 qm Fläche, sowie die nöthigen Keller- und Bodenräume. Eine der Kam¬ 
mern kann auch im Dachraum untergebracht werden. Ob besondere Wasch- 
und Back-Gelegenheit angezeigt erscheint, hängt von Ortsverhältnissen ab. 

Ein unverheiratheter (Hülfs-) Lehrer erhält eine Stube nebst Schlafkam- 
rner. Die lichte Höhe der Zimmer einer Lelirerwohnung ist mit etwa 3 Meter 
ausreichend bemassen, darf aber selbst bei Dachkammern, soweit sie zum 
dauernden Aufenthalt von Menschen (z. B. als Schlafkammern) dienen sollen, 
nicht kleiner als 2,50 Meter sein. Liegt eine solche Dachkammer in der 
Schräge des Daches, so muss ihre durchschnittliche Höhe mindestens 
2,50 Meter betragen. 


III. Die Nebenanlagen. 

1. Die Abtritte. Der Umfang einer Schulabtrittsanlage bestimmt sich 
nach der Zahl der Schüler dergestalt, dass für je 40 Knaben und für je 
25 Mädchen ein Sitz anzunehmen ist, ausserdem für jede Familienwohnung 
ein besonderer abgeschlossener Sitz. Für die Knaben treten noch Pissoirstände 
hinzu, welche am Besten in einem mit Schutzdach und Schirnrwänden ver¬ 
sehenen sonst aber offen und luftig zu haltenden Anbau untergebracht wer¬ 
den. Auf schickliche Trennung der Zugänge für die den verschiedenen Ge¬ 
schlechtern bestimmten Anlagen ist Bedacht zu nehmen. Jeder Sitz ist in 
einer besonderen, durch dichte Brett wände von der benachbarten abgetrenn¬ 
ten Zelle anzuordnen. 

Für möglichst wasserdichte Anlage der Grube ist zu sorgen. Auch nach 
oben hin ist dieselbe dicht und sicher abzuschHessen und durch Röhren, welche 
über Dach führen, zu lüften. Damit die Grubengase leichter durch diese Röh¬ 
ren in’s Freie als durch die Sitzötfnungen in die Abtrittszello ausströmen, ist 
von der Letzteren aus ein Trichter mit Fallrohr so anzuordnen, dass die 
untere Mündung des Letzteren tiefer in den Grubenraum hinabreicht, als die 
untere Oeffnung der Dunströhren, welche daher am höchsten Punkte der Gru¬ 
benabdeckung anzubringen ist. Dass auch sonst noch für gute Lüftung des 
Abtrittsraumes zu sorgen sei, versteht sich wohl von selbst. 

Die Abtrittsanlage kann entweder als kleiner Freibau für sich angelegt, 
oder mit dem Stallgebäude vereinigt werden. In letzterem Falle ist aber für 
guten Abschluss gegen die Stallräume zu sorgen. 



286 


Literatur. 


2. Die Wirthschaftsanlagen. Ob besondere Wirtschaftsgebäude 
überhaupt erforderlich sind, richtet sich nach den örtlichen Verhältnissen, 
namentlich aber danach, ob und in welchem Umfang die Lehrerstelle mit 
Landwirtschaftsbetrieb verbunden ist. In den meisten Fällen wird ein kleines 
Gebäude, welches Stallung und Vorrathsgelasse für Futter, Stroh, Brenn¬ 
stoffe etc. umfasst, genügen. Hinsichtlich der Anordnung und Grösse der ein¬ 
zelnen Abteilungen gelten die allgemeinen für ländliche Wirtschaftsgebäude 
bestehenden Regeln, so dass hier besondere Angaben überflüssig erscheinen. 
Dass nirgendwo über das nachgewiesene Raum bedürfhiss hinausgegangen 
werden darf, liegt auf der Hand. 

3. Der Brunnen. Da im Flachlande Laufbrunnen meistens nicht mög¬ 
lich sind, so erübrigt nur die Anlage eines Tiefbrunnens, der jedoch auf kei¬ 
nem Schulgehöft fehlen sollte, sofern der Untergrund desselben brauchbares 
Wasser liefert. Auf die Vorsorge für die Reinhaltung desselben ist schon 
im Eingang hingewiesen worden. Offene Schöpf- oder Ziehbrunnen sind — 
schon der mit ihnen verbundenen Gefahr des Hineinfallens wegen — nicht 
zu empfehlen, weshalb stets auf die Anlage eines abgeschlossenen Kes¬ 
selbrunnens mit Pumpe Bedacht zu nehmen ist. Wo es die Bodenverhält¬ 
nisse gestatten, ist auch die Anlage eines sog. Abessinerbrunnen nicht ausge¬ 
schlossen. 

Das ganze Schulgehöft ist in fester aber einfacher Weise, unter Berück¬ 
sichtigung der Ortsverhältnisse, einzufriedigen. Ein Lattenzaun wird meistens 
genügen. Auch können innere Abtheilungen in Betracht kommen, so dass 
z. B. Garten, Wirthschaftshof und Spielplatz für die Schuljugend in angemes¬ 
sener Weise von einander gesondert werden. 


Literatur. 

(Der Redaction zur Recension eingegangen.) 

1. J. N. von Nussbaum, Dr. med. Geheimrathund Generalstabsarzt, ord. 
Professor an der Universität zu München: Ueber Unglücke in der 
Chirurgie. Dritte Auflage. Leipzig, Verlag von W. Engelmann 1888. 

2. Thomas de Qnincey: Bekenntnisse eines Opiumessers. Zweite Auf¬ 
lage. Stuttgart, Verlag von Robert Lutz 1888. 

3. W. W. Ireland, Dr. med., Autorisirte Uebersetzung: Herrschermacht 
und Geisteskrankheit. Stuttgart, Verlag von Robert Lutz 1887. 

4. Dr. A. Paltauf, Assistent am gerichtlich - medicinischen Institut in 
Wien: Ueber den Tod durch Ertrinken nach Studien an Menschen und 
Thieren. Wien und Leipzig. Urban & Schwarzenberg, 1888. 

5. Dr. E. P ei per, Privat-Docent und Assistent an der Greifswalder medi¬ 
cinischen Poliklinik: Die Schutzpockenimpfung und ihre Ausführung. 
Ein Leitfaden für Aerzte und Studirende. Wien und Leipzig. Urban 
und Schwarzenberg, 1888. 

6. Dr. L. Pfeiffer, Geh. Med. Rath und Vorst, d. Grossh. Sachs. Impf¬ 
instituts in Weimar: Die Schutzpockenimpfung. Ein Leitfaden für 
Studierende und Aerzte. Tübingen 1888. Verlag der Laupp’schen Buch¬ 
handlung. 

7. Dr. E. Gleitsmann, Königl. Kreisphysikus in Belzig: Die ländlichen 
Volksschulen des Kreises Zauch* Belzig in gesundheitlicher Beziehung. 
Berlin 1888. Verlag von C. H. Müller. 

8. Dr. Reissner, Geh. Obermedicinalrath in Darmstadt: Zur Geschichte 
und Statistik der Menschenblattern und der Schutzpockenimpfung im 
Grossherzogthum Hessen-Darmstadt 1888. Druck von H. Brill. 



Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege. 287 


Die Tagesordnung der vierzehnten Versammlung des „Deut¬ 
schen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“ zu Frankfurt a. M. 
am 13., 14., 15. und 16. September d. J. ist folgende: 

Mittwoch, den 12. September, 8 Uhr Abends: 

Gesellige Vereinigung zur Begrttssung im grossen Saale des „Frankfurter 
Hof*, Bethmannstrasse 17 (Plan 15). 

Donnerstag, den 13. September, 9 Uhr Vorm.: 

Erste Sitzung im grossen Saale des Dr. Hoch’sehen Conservatoriums. 

I. Massregeln zur Erreichung gesunden Wohnens. 

IL Oertliche Lage der Fabriken in den Städten. 

Besichtigung des Ventilationsthurmes der städtischen Sielanlage, des allge¬ 
meinen städtischen Krankenhauses, der Grundwasserleitung im Frankfurter 
Stadtwald und des Hauptauslasssieles in der Gutleutstrasse. 

Abends 6 Uhr: Festessen mit Damen im Saale des „Zoologischen Gartens* mit 
anschliessender geselliger Vereinigung daselbst. 


Freitag, den 14. September, 9 Uhr Vorm. 

Zweite Sitzung’: 

III. Welche Erfahrungen sind mit den in den letzten Jahren errich- 
teten Klär Vorrichtungen städtischer Abwässer gemacht worden? 

1 Uhr: Mittagessen im Cafe zur Börse. 

Nachmittags: Besichtigung der Klärbecken- und Hafen-Anlagen. 

7 Uhr: Festvorstellung im Opernhause. 

10 Uhr: Gesellige Vereinigung im „Cafö zur Börse*. 


Samstag, den 15. September: 

8 Uhr Vorm«: Besichtigungen des Städtischen Schlacht- und Viehhofes. 

9 Uhr Yorau: Besichtigung der Frankensteiner und Willemer Schule. 

10 Uhr Yorm.: Dritte Sitzung. 

IV. Welchen Einfluss hat die heutige Gesundheitslehre, besonders die 
neuere Auffassung des Wesens und der Verbreitung der lnfections- 
krankheiten auf Bau, Einrichtung und Lage der Krankenhäuser? 

V. Strassenbefestigung und Strassenreinigung. 

Nachmittags: Fahrt nach Homburg. 


Sonntag, den 16. September: 

Ausflüge nach Wahl: 1) Besichtigung der Quellenfassung der Frankfurter 

Wasserleitung im Spessart. 

2) Besuch des Nationaldenkmals auf dem Niederwald. 

Für die Section der gerichtlichen Medicin und Med.-Polizei in 
Cöln Bind bis jetzt folgende Vorträge angeraeldet: 

1) Liman-Berlin. 

„Commotio med. spinal. Simulation. Haftpflicht“. 

2) Fr. Strassmann-Berlin. 

„Zur Lehre vom chronischen Alkoholismus“. 

3) Wernich-Cöslin. 

„Ueber den gegenwärtigen Stand der Prostitutionsfrage“. 

4) Mörs-Mülheim a. Rh. 

„Beurtheilung des Trinkwassers in den Brunnen-Anlagen 
vom med.-poliz. Standpunkte“. 



288 


Porsonalicn. 


5) Schwartz-Cöln. 

„Die Stellung der Gerichteärzte nach den Bestimmungen 
der deutschen Strafprocessordnung“. 

0) Ungar-Bonn. 

Thema Vorbehalten. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Der Charakter als Geheimer Medicinalrath: dem 
ordentlichen Professor in der medicinischen Facultät Dr. Kaltenbach in 
Halle a./S.; als Geheimer Sanitätsrath: den praktischen Aerzten Sanitäts¬ 
rath Dr. Grempler und Dr. Lange in Breslau; der Charakter als Sanitäts¬ 
rath: dem praktischen Aerzten Dr. Meissner in Trier, Dr. Hertel in Bonn, 
Dr. Boer in Töpliwoda. — Der Kronenorden III. Classe dem Oberstabs¬ 
arzt I. CI. a. D. Dr. Puhlmann in Potsdam und dem Sanitätsrath Dr. Cohn in 
Elbing. — Die Allerhöchste Genehmigung ertheilt zur Anlegung: des 
Ehrenkreuzes HI. Classe des Fürst!. Hohenzollerschen Hausordens: 
dem Wundarzt 1. CI. Schanz in Sigmaringen; des Kommandeurkreuzes I. CI. 
des Königl. Dänischen Danebrog-Ordens: dem Generalarzt H. CI. Bez. Arzt 
und Königl. Leibarzt Dr. Leuthold in Berlin; des Fürstl. Reussischen j. L. 
Ehrenkreuzes III. CI.: dem Oberstabs- und Reg.-Arzt Dr. Joetze in Hagenau. 

Ernennungen: 

Das ordentliche Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes Regierungs¬ 
rath Dr. Gaffky in Berlin zum ordentlichen Professor in der medicinischen 
Facultät der Universität Giessen; der prakt. Arzt Dr. Heise in Schwetz zum 
Kreisphysikus des Kreises Briesen, der prakt. Arzt Dr. Hanssen in Gramm 
zum Kreisphysikus des Bezirks Gramm und der prakt. Arzt Dr. Eysoldt in 
Owinsk zum Kreiswundarzt des Kreises Merseburg. 

Verstorben sind: 

Die Aerzte: Geh. San. Rath Dr. Voigt und Medicinalrath Dr. Kirchhoff 
in Hannover, Prof. Dr. Paul Langerhans, Dr. Sigismund Holländer und 
Dr. Schiffer in Berlin, Dr. Bremer in Laar, Dr. von Rutkowski in Gostyn 
Dr. Büdenbender in Kirchen, Geh. San.-Rath und Kreisphysikus a. D. Dr. 
Brockmann in Klausthal und Kreisphysikus a. D. Dr. Seppeier in Northeim. 

Vakante Stellen: 

Kreisphysikate: Darkekmen, Johannisburg, Wehlau, Putzig, Filehne, 
Witkowo, Koschmin, Neutomischel, Schildberg, Schmiegel, Kalbe, Apenrade, 
Neustadt a. R., Adenau, Daun und Oberamt Gammertingen. 

Kreiswundarztstollen: Fischhausen, Labiau, Mohrun^en, Darkehmen, 
Heydekrug, Oletzko, Ragnit, Tilsit, Karthaus, Loebau, Marienburg, Tuchei, 
Angermünde, Templin, Friedeberg, Landsberg a. W., Soldin, Ost- und West- 
Sternberg, Regenwalde, Bütow, Dramburg, Schievelbein, Bomst, Meseritz, Schroda, 
Wre8chen, Strehlen, Ohlau, Hoyerswerda, Reichenbach, Falkenberg o./Schl., 
Grottkau, Oschersleben, Wanzleben, Saalkreis, Naumburg a. S., Koesfeldt, Borken, 
Recklinghausen, Steinfurt, Warendorf, Höxtor, Warburg, Lippstadt, Meschede, 
Fulda, Hünfeld, Kempen, Zell, Kleve, Bergheim, Rheinbach, Wipperfürth, 
St. Wendel und Haigerloch. 


Mit Rücksicht auf den in der nächsten Nummer der Zeitung su 
bringenden vorläufigen Bericht über die am 26, und 27. September statt- 
findende Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins, 
wird dieselbe erst am 5. öctober ausgegeben werden« 


Verantwortlicher Redacteur Dr. H. Mittenzweig, Berlin, Winterfeldtstr. 3. 

Druck der Fürstl. prlv. Hofbuchdruckerei (F. Mt tri aff), Rudolstadt. 



— Zeitschrift — 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

(ierielitl. St:i<ltphysikus in Berlin. Reg.- und Medicinalrath in Aurich. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6- 


No. 10. 


Ertfhelnt am 1. Jede« Monate. 

Preis jährlioh 6 Mark. 


1. October. 


INHALT: 


Seite 

Original-Xittheilungen: 

Die Hauptversammlung’ des preuss. 
Hedicln&lbeamtenvereins ... .289 
Zar Gesetzicebong Ober Entmündigung 


wegen Geisteskrankheit.309 

Kleinere lüttheil ungen.sis 


Seite 

Referate: 

Dr, Mittenzweig. Der Bacillus . • .317 
Verordnungen und Verfügungen . Si7 


Literatur.319 

Personalien.319 


Prenssischer Medicinalbeamten-Verein. 


Vorläufiger Bericht Ober die VI. Hauptversammlung am 26. und 
27. September im Hygienischen Institut in Berlin. 

Nachdem am Dienstag, den 25. September, Abends die 
Begrüssung der zur Versammlung eingetroffenen Mitglieder im 
Franziscaner stattgefunden hatte erfolgte am Mittwoch, den 
26. September Vormittags 9 l / 4 Uhr 

L 

Die Eröffhung der fünften Hauptversammlung. 

Erschienen waren ungefähr 70 Mitglieder. Se. Excellenz der 
Herr Minister für geistliche u. s. w. Angelegenheiten von Gossler 
hatte sein lebhaftes Bedauern darüber ausgedrückt, dass er wegen 
seiner Abwesenheit vom Orte verhindert sei, der Versammlung 
seine Theilnahme zu bezeugen und die besten Wünsche für eine 
gedeihliche Fortentwicklung des Arbeitens des Vereins auszu¬ 
sprechen. In seiner Vertretung beehrte der Herr Unterstaats- 
secretär Nasse die Versammlnng mit seiner Gegenwart, des- 

19 









290 Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


gleichen nahmen die Herren Geh. Obermedicinalräthe Kersandt 
und Skreczka, sowie der Herr Director des Reichsgesundheits¬ 
amtes Köhler an derselben Theil. 

Der Vorsitzende, H. Reg.- u. Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow, 
gedachte zunächst in tief bewegten Worten der schmerzvollen Er¬ 
innerung an den Hintritt unserer grossen Kaiser Wilhelm I. und 
Friedrich III. „Wie ihr Ruhm auf den Tafeln der Geschichte glanz¬ 
voll strahlt, so wird ihr Andenken mit Verehrung und Liebe in der 
innersten Tiefe des Herzens eines jeden deutschen Mannes unauslösch¬ 
lich bewahrt bleiben. Lassen Sie uns dafür Zeugniss geben durch 
das Gelöbniss, dass wir mit derselben Zuversicht und Treue, welche 
uns für diese unvergesslichen Herrscher beseelt hat, auch allezeit 
stehen werden zu dem Sohne und Enkel, unserem jetzigen Kaiser¬ 
lichen und Königlichen Herrn, welcher die Tugenden der Ahnen 
auf sein Panier geschrieben hat Als Ausdruck solcher Gesinnung 
bitte ich Sie einzustimmen in den Ruf: 

Seine Majestät unser Kaiser und König Wilhelm II. 

lebe hoch! 

Die Versammlung stimmte begeistert in das dreimalige Hoch 
ein. Der Vorsitzende gedachte hierauf der im verflossenen Jahre 
verstorbenen Mitglieder: der Kreisphysiker Dr. Duprü zu Ahaus, 
Dr. Lorentzen in Schleusingen und Dr. Hecht in Neidenburg, 
zu deren Andenken sich die Versammelten von ihren Sitzen 
erhoben. 


II. 

Geschäfts- und Kassenbericht Wahl der Kassenrevisoren. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmund (Aurich): Die Zahl der 
Mitglieder des Vereins ist seit vorigem Jahre um 27 gestiegen und 
beträgt zur Zeit 427. Die Einnahme hat 2260 Mark, die Ausgabe 
1397 Mark 95 Pfg. betragen. Durch den Ueberschuss von 
862 Mark 5 Pfg. erhöht sich das Vermögen des Vereins auf 
2807 Mark 60 Pfg.; wovon 2000 Mark in der Sparkasse belegt sind. 

Nachdem die Herren Kr.-Phys. Dr. Pippow und Jaenicke zu 
Kassenrevisoren gewählt sind, regt Kr.-Phys. Dr. Wallichs (Altona) 
die Verlegung der Hauptversammlung in die Frühjahrszeit im An¬ 
schluss an den Chirurgencongress an. Der Vorschlag fand jedoch 
nicht die Zustimmung der Versammlung. 

HL 

Die Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf die jetzige Unfall- 

Gesetzgebung: Herr Bezirksphysikus Dr. Becker, Berlin. 

Um eine Vorstellung davon zu geben, welch’ ein umfangreiches 
Gebiet des modernen socialen Lebens durch die Unfall-Versiche¬ 
rung der Arbeiter umfasst wird, giebt der Vortragende folgende 
Zahlen: Am Schluss des Jahres 1887 gab es 111 Berufsgenossen¬ 
schaften mit nahe an 4 Millionen versicherter Arbeiter. In dem 
einen Jahre 1887 sind 113 594 Unfälle innerhalb der Betriebe 
der Berufsgenossenschaften zur Anmeldung gekommen, d. h. in 



Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 291 

runder Summe 27 000 mehr Verletzungen durch Unfälle, als ira 
ganzen grossen Kriege 1870/71 Verwundungen vorge¬ 
kommen sind. Die in dem einen Jahre 1887 gezahlten Ent¬ 
schädigungen (Renten u. s. w.) betrugen nahe an 6 Millionen 
Mark. Da schon in diesem Jahre die land- und forstwirthschaft- 
lichen Arbeiter und auch noch andere Kategorien dazu kommen, 
so würden sich die genannten Zahlen in allernächster Zeit ver¬ 
doppeln, vielleicht verdreifachen. 

Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in Bezug auf die jetzige 
Unfall-Versicherung-Gesetzgebung werde am besten erläutert durch 
eine Rekurs - Entscheidung des Reichs-Versicherungsamtes vom 
26. November 1887, nach welcher weder das bisherige Arbeits¬ 
feld des zu Entschädigenden, noch auch der Verdienst, welchen 
derselbe nach der Verletzung noch hat, allein bei der Abmessung 
der Erwerbsunfähigkeit eines Verletzten zu berücksichtigen sei, 
vielmehr der wirthschaftliche Schaden, welcher dem Ver¬ 
letzten durch die Folgen des Unfalles erwachse; und dieser wirth¬ 
schaftliche Schaden besteht in der Einschränkung der dem 
Verletzten nach seinen gesammten Kenntnissen und 
körperlichen wie geistigen Fähigkeiten auf dem ganzen 
wirthschaftlichen Gebiet sich darbietenden Arbeits¬ 
gelegenheiten. Nach dieser Begriffsbestimmung müsse man sich 
bei der Beurtheilung der Erwerbsunfähigkeit Verletzter gewisse 
Kategorien von Beschäftigung construiren, die mit der bisherigen 
des Verletzten gleichartig seien. Gleichzeitig dürfe man aber auch 
nicht allein Werth darauf legen, welchen Verdienst der Verletzte 
nach der Verletzung noch hat. Der Vortragende erläutert dies 
an einem markanten Beispiel: Ein Schlosser, welcher durch ein 
hineinfliegendes Eisenstückchen ein Auge verloren, und seitens 
seines bisherigen Arbeitgebers denselben Lohn weiter bezieht, wie 
vorher, hat immerhin doch durch den Unfall einen wirthschaft¬ 
lichen Schaden erlitten, denn wenn das Wohlwollen seines Arbeit¬ 
gebers auf hört, oder wenn die Fabrik fallirt, oder er sonstiger 
Umstände wegen sich nach anderer Arbeit Umsehen muss, so wird 
ihm als Einäugigen seine Arbeitsgelegenheit beschränkt sein. 
Und dieser wirthschaftliche Schaden soll ihm eben nicht durch 
ein jeweiliges Wohlwollen seines Arbeitgebers, sondern nach ge¬ 
schriebenem, öffentlichem Recht, wie es im Unfall-Versicherungs- 
Gesetz enthalten ist, ersetzt werden. Diesen Begriff des „wirth¬ 
schaftlichen Schadens“ sich klar zu machen, dazu gehört aller¬ 
dings, wie der Vortragende bemerkt, ein gewisses „abstractes 
Denken“, was nicht Jedermanns Sache ist. Daher rühmt der Ge¬ 
schäftsbericht des Reichs-Versicherungs-Amtes mit Recht die Ver¬ 
einigung von abstractem und concretem Denken, wie es in den 
Schiedsgerichten und Spruchsenaten des Reichs-Versicherungs- 
Amtes der Fall sei, welche aus Arbeitern, Arbeitgebern und 
Juristen zusammengesetzt sind. 

Sehr viel grösser als die Zahl der völlig Erwerbsunfähigen 
sei die Zahl der durch den Unfall nur theilweise erwerbsunfähig 
Gewordenen, und gerade diese Letzteren geben am meisten Anlass 

19* 



292 Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

zu Differenzen zwischen dem Versicherten und den Berufsgenossen¬ 
schaften. — Alle sogen. Entschädigungstarife sind unbrauchbar, 
weil unvollkommen, und weil nie ein Fall dem anderen gliche, 
weil jeder Fall besondere Verhältnisse, besondere Eigenthümlich- 
keiten schafft. Man müsse bei der Beurtheilung der Erwerbsun¬ 
fähigkeit alle Schablone über Bord werfen und dem concreten 
Falle sein Recht einräumen. Der Vortragende verweist in dieser 
Hinsicht auf sein Buch (Anleitung zur Bestimmung der Arbeits¬ 
und Erwerbsunfähigkeit nach Verletzungen), worin er die Ver¬ 
letzungen, nach Körpertheilen gruppenweise geordnet, besprochen 
und dabei immer die eigenartigen Gesichtspunkte hervorgehoben, 
welche für die Beurtheilung der Arbeitsfähigkeit im Einzelfalle 
berücksichtigt werden müssen. 

In Bezug auf das Verhältniss der Aerzte zu den Berufs¬ 
genossenschaften bemerkt der Vortragende an der Hand der Ver¬ 
handlungen des diesjährigen Verbandtages der Berufsgenossen¬ 
schaften zu Cöln, dass in den Berufsgenossenschaften zwei Strö¬ 
mungen seien, von denen die eine die Competenz der Beurtheilung 
der Erwerbsunfähigkeit seitens des Arztes in richtiger Weise an¬ 
erkenne, während die andere, wie es ja heutzutage, wo jeder 
Laie aus irgend einem Familien-Journal ärztliche Wissenschaft 
schöpfen zu können meint, leider häufig vorkomme, des sachver¬ 
ständigen ärztlichen Urtheils entbehren zu können glaubt, ja das¬ 
selbe sogar als recht unbequem empfände, weil sein moralisches 
Gewicht immer bei den Richtern schwer in die Waagschale fiele. 
Die Feststellung der anatomischen und functioneilen Beschaffen¬ 
heit der verletzten Theile, worauf sich das Urtheil über die 
Erwerbsfähigkeit der Beschädigten gründe, sei aber nur in rich¬ 
tiger Weise durch den berufenen sachverständigen Arzt möglich. 
— Der Vortragende erwähnt bei dieser Gelegenheit die Heraus- 
drängung der ärztlichen Sachverständigen aus der Gewerbe- 
Gesetzgebung. — 

Endlich beleuchtet der Vortragende die Stellung des Reichs- 
Versicherungs-Amtes zu den ärztlichen Gutachten. Es sei höchst 
befremdlich, wie wenig Gewicht im Gegensatz zu dem Militär- 
Invaliden-Gesetz das Unfall-Versicherungs-Gesetz auf die ärzt¬ 
lichen Gutachten lege bei Beurtheilung der Erwerbsunfähigkeit 
eines durch Unfall Verletzten. Seitens der Unfall-Versicherungs- 
Gesetzgebung müsse die Mitwirkung der Aerzte bezw. der Medi- 
cinal-Beamten bei der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit Ver¬ 
letzter obligatorisch gemacht werden. Aber auch bei der neuen 
Gesetzes-Vorlage über die Alters- und Invaliden-Versicherung der 
Arbeiter sei die Mitwirkung des sachverständigen Arztes wiederum 
ignorirt, während doch auch gerade auf diesem Gebiete nothwen- 
digerweise die theilweise Erwerbsunfähigkeit in ihren verschie¬ 
denen Abstufungen eine ganz besondere Rolle spielen wird. 

Der Vortragende schloss mit der Bemerkung, dass die Aerzte 
und besonders die Medicinalbeamten in der Bestimmung der 
Arbeits-Erwerbsunfähigkeit nach Unfällen, deren Feststellung 



Dip Hauptversammlung dos preußischen Meilieinalbeamtenvereins. 293 


ohne sie unmöglich sei, ein mächtiges Werkzeug thätiger Mit¬ 
arbeit an den grossen Zielen der modernen social - politischen 
Gesetzgebung hätten, welches sie, mit Betonung ihres Rechtes als 
berufene Sachverständige im Sinne und Geiste der Humanität, 
deren besondere Vertreter sie seien, benutzen sollten. 

Ebne Debatte knüpfte sich an den Vortrag nicht. 

IV. 

Der Entwicklungsgang im preueeischen Medicinalwesen: I. Apo¬ 
thekenwesen, Apothekengesetzgebung, Dr. Wernich, Regierungs- 
und Medicinalrath in Cöslin. 

Es wird für das etwas verwickelte Thema, welches der Vor¬ 
tragende auf den Wunsch des Vorstandes zu bearbeiten unter¬ 
nommen hat, der Gedankeugang gewählt, dass die vom Deutschen 
Reiche gewissermassen erbschaftsweise unternommenen Theilstücke 
— die Ausbildung der Apotheker und die Ausarbeitung des 
Arzneibuches — unerörtert bleiben. Die Keime, welche in der 
älteren preussischen Gesetzgebung für das Revisionswesen, die 
Arzneiraittelpolizei, die Einrichtung der Apotheken, liegen, werden 
in ihrer Bedeutung für die gesetzgeberischen Fortschritte anderer 
Staaten beleuchtet 

Der schwierigste Kampf erwächst aus der Besitzfrage in¬ 
sofern, als die einfachen Verhältnisse von Leistung (Staatsschutz) 
und Gegenleistung (Persönliche Thätigkeit des Apothekers in 
seinem Fache) sehr getrübt sind durch die Besitzübergänge und 
durch den gigantisch erwachsenen Merkantilismus. Beide haben 
die gegenwärtige Verknotung des Apothekenbesitzes mit Kapital- 
Interessen noch mehr verwirrt. 

Die geschichtlichen Verhältnisse der Besitzübergänge und 
des Besitzrechtes sind nun zunächst Gegenstände der ausführ¬ 
lichen Darlegung, so dass die ursprüngliche Bedeutung von Privi¬ 
legium, Realgewerbeberechtigung, Concession genauer erörtert 
wird. Ein kritisches Experiment wurde von Seiten der preussi¬ 
schen Staatsregierung im Jahre 1842 eingeleitet, als den Apo¬ 
thekerkäufern die Auflage gemacht wurde, die Einrichtung des 
abtretenden Besitzers zu kaufen, — und gleichzeitig die Personal- 
concession in dem Sinne von Seite des Ministeriums zur An¬ 
wendung gebracht wurde, dass jede frei gewordene Concession 
als erloschen anzusehen und ohne Rücksicht auf anderweitige 
Präsentation nach Auswahl Seitens der Regierung zu vergeben 
sei. Dieses Staatsexperiment hat eine lange und interessante 
Geschichte; sein Ergebniss konnte nur ein vollständiges Fiasko sein. 

Was den Merkantilismus betrifft, so sei derselbe ja ein 
milderer, insofern jeder Besitzer darauf bedacht sei, sein Neben¬ 
geschäft, den Handverkauf, oder mehrere Nebengeschäfte, neben 
der vom Staat geschützten Receptur-Anstalt in die Höhe zu 
bringen. Viele Apothekenbesitzer allerdings legen ihre Haupt¬ 
kräfte jetzt bereits vorwiegend im Nebengeschäft an. Was indess 



294 Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

schlimmer als diese kaufmännische Tendenz, schlimmer als die 
Abtrennung der Chemie, schlimmer als das Wuchern des Detail- 
Droguistenthums die Apotheken-Vermögen zermale, das sei der 
cynische Merkantilismus, wie er von Seiten der Apotheken- 
Agenturen betrieben werde. Der Vortragende geht auf dieses 
Treiben näher ein und erörtert die Massnahmen, durch welche 
von Seiten der Aufsichtsbehörden diesem Parasitismus entgegen 
zu wirken sei. 

Was nun eine sehr schwierige Aufgabe bilde, sei die Apo- 
theken-Geographie, die Vorherbestimmung eines gesicherten 
Absatzgebietes für jede neue und die umgebenden älteren Apotheken. 
Hier verdienen die Anschauungen von Pappenheim und Pistor 
im Auge behalten zu werden, welche neben der Bevölkerungszahi 
und neben gewissen Massstäben des Volkswohlstandes auch die 
Bedeutung der Volksdichtigkeit für die Leichtigkeit des Er¬ 
werbes, für die Werthschätzung des Lebens auf der einen, die 
Möglichkeit, Krankheiten zu acquiriren auf der anderen Seite, 
berücksichtigen. Hinsichtlich der Stadt Berlin sei hervor¬ 
zuheben, dass bereits jetzt mit diesen Grundsätzen eine erhebliche 
Vermehrung der Apotheken erreicht wurde. Es handelt sich hier 
auch um ein staatliches Experiment; schon zur Zeit dürfe gesagt 
werden, dass an anderen Orten vielmehr werde individuali- 
sirt werden müssen, als es für Berlin sich vielleicht als noth- 
wendig erwies. 

Eine entscheidende Bedeutung betreffs der Niederlassungs¬ 
frage legt der Vortragende dem Verlauf des Versuches in 
Elsass-Lothringen bei. Hier häuften sich in wenigen Jahren 
alle Neugründungen in den Hauptstädten zusammen und das platte 
Land wurde mehr und mehr der nothwendigen Apotheken beraubt 

Es giebt wie in der Naturwissenschaft, so auf wirthschaft- 
lichem und auf dem administrativen Gebiet Versuche, welche 
wiederholt und ausgebildet werden müssen, neben Experimenten, 
deren Wiederholung unnöthig und solchen, deren Wiederholung 
gradezu schädlich ist. Zu den ersteren gehört wohl das Berliner, 
zur zweiten Gruppe das Experiment in den Reichslanden, zur 
dritten endlich der verfehlte Schlag des Jahres 1842. — Reform¬ 
vorschläge zu machen hält der Vortragende bei seiner be¬ 
schränkten Aufgabe nicht für opportun. Ihm scheint ein dauernd 
nachwirkender aber vielleicht bald zu beseitigender Uebelstand 
in der Vermischung der Personal-Concession (Gewerbeschein) mit 
der Genehmigung zur Betriebs-Anlage, der sachlichen Concession, 
zu liegen. Vielleicht erweise es sich als aussichtsvoll, die Ini¬ 
tiative zu Neuanlagen etwa so, wie die Denkschrift des Reichs¬ 
kanzleramts vom 28. Mai 1877 dies ausführt, unter Aufsicht und 
Einspruch des Ministeriums in den Geschäftskreis der Selbst¬ 
verwaltung (modificirter Bezirksausschuss) zu verweisen. 

Eine Discussion fand über diesen Vortrag nicht statt. 

(Einstündige Pauso.) 



Die Ilauptverrammlung dos preussischen Modicinal beamten vereint. 295 


V. 

Ueber die Lage der fremden Ernte-Arbeiter (Schnitter) in ein¬ 
zelnen Theilen der Provinzen Brandenburg und Schlesien: Herr 
Kreisphysikus Dr. Schmidt in Steinau a. 0. 

Der Vortragende berichtet über seine als Physikus der Kreise 
Soldin und Steinau bezüglich der Wohnungs- und Gesundheits- 
Verhältnisse der fremden Erntearbeiter gemachten Erfahrungen. 
Zwei innerhalb des mit schlechten Verkehrsverhältnissen ver¬ 
sehenen, auf 1145 Quadratkilometer nur 49 000 Einwohner zählen¬ 
den, wohlhabenden, ackerbautreibenden Kreises Soldin in ausser- 
amtlicher Thätigkeit gemachte Beobachtungen von äusserst 
gesundheitswidriger und inhumaner Versorgung von an Lungen¬ 
entzündung erkrankten Schnittern hätten seine Aufmerksamkeit 
auf diese Kategorie von Arbeitern zuerst i. J. 1879 gelenkt 
Erst nach längeren, durch die örtlichen Verhältnisse und die 
Vorgefundene mangelhafte Entwickelung der Kreis-Gesundheits¬ 
pflege erschwerten Bemühungen habe er feststellen können, dass 
der Kreis einerseits alljährlich zahlreiche Erntearbeiter nach 
Norden in die angrenzenden Theile des Regierungs-Bezirks Stettin 
entsende, andererseits Zuzug aus anderen südlich gelegenen Theilen 
des Regierungs-Bezirk Frankfurt erhalte und dass diese auf den 
grossen Rittergütern der Neumark für die Zeit der Ernte, 
beschäftigten Arbeiter, oft 20—40 Köpfe, in den meisten Fällen 
ganz ungenügend und ohne Rücksicht auf eine Trennung der 
Geschlechter dicht zusammengepfercht untergebracht seien. Es 
habe sich ferner ergeben, dass hierdurch nicht allein die in¬ 
dividuelle Gesundheit der Schnitter und Schnitterinnen in 
Gefahr käme, sondern auch dass durch die Begünstigung der 
Entstehung und Verbreitung ansteckender Krankheiten, im Be¬ 
sonderen des Typhus, die allgemeine Wohlfahrt ernstlich be¬ 
droht werde. In Folge dessen habe er an die Königliche 
Regierung referirt, und letztere die Landräthe und Physiker 
des Bezirkes zum Bericht aufgefordert. Auf Grund dieser Be¬ 
richte habe genannte Behörde Veranlassung genommen, den Land- 
räthen der Kreise Königsberg a./M., Landsberg a./W., Soldin, 
Zielenzig und Züllichau ein Exemplar einer des Kost- und Quartier- 
Gänger-Wesen regelnden Polizei-Verordnung als Direktive zu 
übersenden, „unter dem Anheimstellen, hiernach gegen die Uebel- 
stände, welche das Herbeiziehen fremder Schnitter zu den Ernte¬ 
arbeiten im Gefolge habe, baldgefälligst durch Erlass einer ent¬ 
sprechenden Verordnung einschreiten zu wollen und sie unter 
Beifügung eines Abdruckes in Kenntniss zu setzen.“ 

Trotz alledem seien die wohlgemeinten Bestrebungen des 
Verfassers ohne jedes Resultat geblieben; die Herren Landräthe 
hätten die Regierungs-Verfügung sämmtlich ad acta gelegt und 
die Verhältnisse seien noch heute dieselben wie im Jahre 1882. 

Etwas anders habe Verfasser die Zustände in Schlesien ge¬ 
funden. Als Arzt an 2 grossen, 120 Betten zählenden, das Kranken¬ 
material aus den Regierungs-Bezirk Breslau, Liegnitz und Posen 



296 Die Hauptversammlung des preussischen MedicinalbeamtenVereins. 


entnehmenden Krankenhäusern, sowie als Medicinalbeamter in 
einem durch bereitwilliges Entgegenkommen des Herrn Landraths 
mittelst eigener Initiative gesundheitspolizeilich wohl ge¬ 
ordneten Kreise fungirend, desgleichen bei Gelegenheit der 
Ausführung von Apotheken-Revisionen in anderen Kreisen des 
Regierungs-Bezirks Breslau, sei ihm Gelegenheit geboten worden, 
sich einen umfassenderen Ueberblick über die Verhältnisse der 
Fremden, ausschliesslich polnischen, aus Oberschlesien und Posen 
durch Agenten herangezogenen in Mittel- und Niederschlesien 
beschäftigten Erntearbeiter zu verschalfen. Im Grossen und Ganzen 
erschienen die Wohnungs- und Lebens-Verhältnisse ähnlich wie 
in der Mark; die durch dieselben herbeigeführten abnormen Sitt- 
lichkeits- und Gesundheitszustände hingegen hätten bereits die 
Aufmerksamkeit der Tagespresse (Schlesische Zeitung, 1888 No. 325, 
über das „Sachsengehen“), als auch vereinzelt die der Behörden 
auf sich gezogen (Oppeln, Landräthlicher Erlass, betreffend die 
Arbeiterverwendungen, Februar d. J.). 

Durch Amtsvorsteher bezw. befreundete College habe Verfasser 
ferner im Laufe dieses Jahres genaue Erhebungen über die be¬ 
züglichen Zustände auf Grund eines Fragebogens für den Kreis 
Steinau veranlasst. Das Ergebniss sei folgendes: 

1) Fast auf allen Rittergütern seien polnische Arbeiter, Kopf¬ 
zahl 8—40; das weibliche Geschlecht sei stärker vertreten. 

2) Besondere Schlafräume ausser den Wohnräumen seien nur 
vereinzelt vorhanden, der für die Schlafzeit zugemessene 
Luftraum sei vielfach ganz ungenügend. 

3) Mit einer Ausnahme meistens überall ein gemeinschaftliches 
Lager von Stroh; letzteres werde im Laufe des Miethsjahres 
fast nie gewechselt. 

4) Die Ernährung sei mangelhaft; die Nahrungsmittel beständen 
fast ausschliesslich aus Brod, Salz, Kartoffeln und Schnaps. 

5) Die Geschlechter seien sehr häufig gar nicht oder in ganz 
unvollkommener Weise getrennt. 

6) Es fehle überall ein mit den nothdürftigsten Utensilien aus¬ 
gestattetes Krankenzimmer auf den Gütern, ebenso bis jetzt 

7) jede Controlle über die Wohnungs- und Gesundheitsverhält- 
nisse seitens der Polizei- oder Sanitätsbehörden. 

Von den in Folge der beschriebenen Wohnungs- und Lebens- 
Verhältnisse am häufigsten auf tretenden, die Gesundheit der sess¬ 
haften Bevölkerung benachtheiligenden Krankheiten seien Syphilis, 
Typhus, Krätze (letztere in starker, stetig wachsender Verbreitung 
sich zeigend) und granulöse Augen-Entzündung (Trachom) hervor¬ 
zuheben. Im Gegensatz zu der in dem Vortrage über die pseudo- 
ägyptische Augen-Entzündung niedergelegten Lehre des Geheimen 
Medicinalrath Prof. Dr. Foerster von dem Absterben des Trachoms 
in Schlesien und der geringen Ansteckungsfähigkeit desselben sei 
Verf. auf Grund zahlreicher Beobachtungen in der Lage zu be¬ 
haupten, dass die granulöse Augen-Entzündung — acute wie 
chronische Form — relativ häufig unter den polnischen Arbeitern 
vorkorame und dass die acute Form eine Gefahr für die sesshaft« 



Die Hauptversammlung des preussischen Medici imlbeamten vereine. 297 


Bevölkerung nicht allein vom Standpunkt der Erwerbsfähigkei t, 
sondern auch von dem der Landesvertheidigung involvire; diese 
seine Beobachtungen seien auch von anderen gemacht und im 
Besonderen dem Verf. von Prof. Magnus bestätigt worden. 

Zum Schlüsse betont Verf., dass eine Aenderung der ge¬ 
schilderten Zustände nöthig, dass und weshalb dieselbe nicht den 
Kreisen zu überlassen, vielmehr durch einen generellen, mindestens 
die Provinzen Posen, Schlesien, Sachsen, Brandenburg und Pommern 
umfassenden Erlass zu regeln sei. 

Die der Landwirthschaft bezw. den Grossgrundbesitzern hier¬ 
aus etwa entstehenden Kosten würden sehr gering sein und durch 
die Förderung der Gesundheit und Arbeitskraft der fremden 
Arbeiter reichlich aufgewogen werden. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schröder (Weissenfels) bestätigt die An¬ 
sicht des Vortragenden, dass das chronische Trachom ansteckend 
und gefährlich sei. 

H. Kr.-Phys. Dr. Comnick (Striegau) theilt mit, dass die 
sanitären Bedingungen der zur Zuckerrübenemte nach seinem Kreise 
kommenden Arbeiter eine erheblich bessere sei, als sie der Vor¬ 
tragende aus den Kreisen Soldin und Steinau geschildert. Eine 
Trennung der Geschlechter sei allerdings auch in seinem Kreise nicht 
durchgeführt; sie sei aber bei dem niedrigen Sittlichkeitsniveau, 
auf dem das ländliche Gesinde überhaupt stehe, wohl auch von 
keinem wesentlichen Einfluss. 

H. Kr.-W. Dr. Pitschke (Gerbstädt) hat auch in seinem 
Kreise fürchterliche Zustände bei den fremden Erntearbeitern be¬ 
obachtet. Seine Beschwerden darüber bei den Vorgesetzten Behörden 
haben aber fast gar nichts genützt, sie haben ihm nur den Erfolg 
eingetragen, dass er die Praxis bei einer Gutsherrschaft verlor. 
Dass aber bessere Zustände sich Schaffen lassen, hat Redner aus 
dem Beispiel an einem andern Orte ersehen, wo Männer und 
Frauen in gesonderten Häusern untergebracht waren und wo der 
Besitzer selbst für die grösste Reinlichkeit in diesen Gebäuden 
sorgte. Den ermüdeten Erntearbeitern könne man die Reinigung- 
ihrer Schlafstellen nicht zumuthen. • 

H. Kr.-Phys. Dr. Wodtke (Dirschau) berichtet, dass im Kreise t 
Marienburg vor 6 Jahren eine Polizeiverordnung betr. die Einrich¬ 
tung der Massenquartiere erlassen sei. Dieselbe stehe aber lediglich 
auf dem Papier, da die Amtsvorsteher selbst Besitzer seien und 
kein Interesse an der Durchführung der Verordnung hätten. Mit 
einer Untersuchung der Quartiere seien die Medicinalbearaten 
seit dem Erlass jener Verordnung niemals beauftragt worden. 

VI. 

Ueber einzelne Bestimmungen des Gesetzes 9. März 1872, betref¬ 
fend die Gebühren der Medicinalbeamten; Herr Kreisphysikus 
Sanitätsrath Dr. Wallichs in Altona. 

Der Vortragende erklärt, dass es weder seine Absicht sei, 
den Gegenstand erschöpfend zu behandeln, noch auch Vorschläge 



298 Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


zu machen, in welcher Weise den von ihm gerügten Mängeln des 
Gesetzes, das nun 16 Jahre in Geltung sei und mit dem wir uns 
alle vielfach beschäftigen müssten, abzuhelfen sei. Er wolle nur 
einiges hervorheben, was ihm aufgestossen sei; die Discussion 
werde vielleicht weiteres Material dazu thun. Wären unsere 
Wünsche nach Medicinalreform befriedigt oder auch nur nahe 
Aussicht dafür, dann hätte er den Gegenstand überhaupt kaum 
berührt. 

Im § 1 kommt der Absatz 2, nachdem uns die Begutachtung 
gewerblicher Anlagen entzogen worden, kaum noch in Anwen¬ 
dung. Der Absatz 3 giebt dagegen zu vieler Unsicherheit An¬ 
lass. Bei der Berathung des Gesetzes, welches den Landtag 
durch drei Sessionen hindurch beschäftigte, wurde in der letzten 
derselben im Abgeordnetenhause der Antrag gestellt, dass nur 
die Gemeinden, in denen eine Königliche Polizei nicht besteht, 
dem neuen Gesetze unterstellt würden, und dass die Zahlung 
der Gebühren nur dann erfolgen solle, wenn die Gemeinde 
oder die Polizeibehörde die betr. Verrichtung auch requirirt 
habe. Indess wurde derselbe auf Widerspruch des Regierungs- 
Commis8ars abgelehnt. Da nun nach § 3 des Gesetzes vom 
11. März 1850 über die örtliche Polizeiverwaltung die Kosten 
derselben (mit Ausnahme der nach § 2 angestellten beson¬ 
deren Beamten, zu denen die Physiker nicht gehören), von den 
Gemeinden zu bestreiten sind, so kommt es für den Anspruch des 
Physikus auf Gebühr nicht darauf an, ob er etwa von einem 
Königlichen Beamten (Landrath, Polizeidirector) requirirt ist, son¬ 
dern nur ob das Geschäft im ortspolizeilichen Interesse verrichtet 
ist. Dazu gehört z. B. seine Thätigkeit in der Sittenpolizei 
(nach einem Urtheil des Obertribunals), nicht aber die Revision 
von Krankenhäusern. Im concreten Falle werden etwaige Zwei¬ 
fel von den Gerichten zu entscheiden sein. Ob, wie Virchow 
in der fraglichen Sitzung am 13. Februar 1872 behauptete, der 
Reg.-Commissar jedoch in Abrede stellte, die Berliner Bezirks¬ 
physiker in diesem Betracht eine andere Stellung haben gegenüber 
der Gemeinde in Folge Vertrages, bleibe hier unerörtert. Jeden¬ 
falls ist es anzurathen, von dem Anspruch, den Absatz 3 des § 1 
gewährt, vorkommenden Falls energischen Gebrauch zu machen. 

Im § 2, der durch die Verordnung vom 17. September 1876 
geändert bezw. ersetzt worden ist, fällt die Bestimmung auf, dass 
an Tagegeldern für gerichtsärztliche Geschäfte nur 9 Mark, in 
andern Fällen 12 Mark gefordert werden können. Zur Begrün¬ 
dung dieses Unterschiedes ist geltend gemacht worden, dass die 
in gleichem Range stehenden Richter nur 9 Mark an Tagegel¬ 
dern erhalten, dabei aber nicht beachtet, oder merkwürdiger 
Weise von ärztlicher Seite nicht mit Nachdruck hervorgehoben 
worden, dass der Richter vom Staat auskömmlich besoldet wird, 
der Physikus aber zu seinem Unterhalt auf Privatpraxis ange¬ 
wiesen ist, die er durch Dienstreisen oft schädigt 

Bei § 3 ist zunächst daran zu erinnern, dass die Vorschrif- 
ten der Civil- wie der Strafprocessordnung über die Ernennung 



Die Hauptversammlung des preußischen Medicinalbeamtenvereins. 299 

von Sachverständigen znm Nachtheil der Medicinalbeamten von 
den Richtern willkürlich gehandhabt werden. 

Die Sätze für die einzelnen Verrichtungen sind zum Theii 
nicht entsprechend. Deijenige für einen Termin ist nur dann 
genügend, wenn derselbe kurz ist. Ueberstunden werden dem 
Arzte, dessen Bildung höher, dessen Zeit kostbarer ist, schlechter 
honorirt als z. B. dem Chemiker. 

Wenn die Gebühr für eine gerichtliche Obduction schon an sich 
nicht hoch ist, so erweist sich als merkwürdig unvollständig die zu¬ 
sätzliche Bestimmung über die Verdoppelung derselben, die z. B. 
nicht eintritt, wenn ein Leichnam wochenlang an der Luft ge¬ 
legen hat. Es würde sich bei einer Abänderung empfehlen, nur 
den Grad der eingetretenen Verwesung als Maassstab zu nehmen. 

Für den Obductionsbericht dürfen 6 bis 18 Mark berechnet 
werden. Es ist nun nicht wohl denkbar, dass gerade für dies 
Gutachten jemals der niedrigste Satz angemessen sein wird, und 
wenn man nicht für die dazu in der Regel beträchtliche nöthige 
Arbeit mehr als 18 Mark bewilligen wollte, so war hier ein ein¬ 
heitlicher Satz (18 Mark) gewiss am Platze. Es wird damit zu¬ 
gleich die doch unerfreuliche Anwendung des § 10 vermieden. 
Es giebt kaum ein Analogon dafür, dass ein Honorar für eine 
solche wissenschaftliche Arbeit von einem andern Sachverstän¬ 
digen willkürlich herabgesetzt werden kann; — denn so ist doch 
der Vorgang, da die Regierung stets der Ansicht ihres Techni¬ 
kers folgen wird, — und es wird den Medicinalbeamten dies 
Verfahren meistens ein peinliches sein. 

Diese Bemerkungen treffen natürlich auch die No. 6 des § 3, 
obgleich in dieser eine Abstufung schwer zu entbehren sein wird. 

Der § 6 (Vorbesuche), welcher früher zu einer sonderbaren 
Auslegung durch die Oberrechnungskammer geführt hatte, ist nun¬ 
mehr durch eine Minist.-Verf. (s. Eulenberg’s Vierteljahrsschrift 
1877, Bd. 26, S. 199) in diesem Punkt (dass nämlich jeder Vor¬ 
besuch bez. Besichtigung ausserhalb der Wohnung der Medicinal- 
Beamten berechnet werden darf), befriedigend geordnet. In 
einigem Widerspruch mit der verlangten Sorgfalt im Entmün- 
dungsverfahren steht in dem vor kurzen ergangenen Ministerial¬ 
erlass die Mahnung, thunlichst auf einen Vorbesuch sich zu be¬ 
schränken. Ein solcher dürfte dem gewissenhaften Arzte selten 
genügen. Beiläufig sei ferner erwähnt, dass der sachverständigen 
Tbätigkeit des Medicinalbeamten durch diese Verfügung ein neuer 
Abbruch geschehen ist. 

Als minder bedeutend möge schliesslich noch angefügt wer¬ 
den, dass in dem Gesetz eine Bestimmung über Vergütung für 
das Studium der Acten in solchen Fällen, in denen ein schrift¬ 
liches Gutachten nicht gefordert wird (aus Ersparungsrttcksich- 
ten?), nöthig ist, sowie für Theilnahme des Medicinalbeamten an 
einer chemischen Untersuchung (§ 8), und eine Erhöhung des An¬ 
satzes für Copialien, der in der jetzigen Gestalt bei umfang¬ 
reicheren Arbeiten das spärliche Honorar zu vermindern ge¬ 
eignet ist. 



300 Die Hauptversammlung des preussischen MedicinaJbeamtenvereins. 


Hiermit ist das Thema gewiss nicht erschöpft, aber die 
wichtigeren Punkte, die bei einer zu weitgehenden Abänderung 
des Gesetzes in Betracht zu ziehen sind, werden berührt sein. 

In der am zweiten Tage stattfindenden kurzen Discussion, 
an welcher sich die Herren Kr.-Phys. Dr. Schröder (Weissenfels), 
Dr. Freyer (Stettin), Dr. Nötzel (Colberg) und Reg.-Med.-Rath 
Dr. Rapmund (Aurich) betheiligten, wurde allseitig die Unzu¬ 
lässigkeit vieler Bestimmungen der jetzigen Taxe als durch¬ 
aus richtig anerkannt, eine baldige Aenderung derselben für 
ebenso dringend, als wünschenswerth erachtet und schliesslich 
auf Antrag von Herrn Nötzel (Colberg) einstimmig beschlossen: 

„Den Vorstand zu ersuchen, bis zur nächsten Jahresver¬ 
sammlung die nöthig erscheinenden Abänderungsvorschläge 
zu dem Taxgesetze für Medicinalbearaten eventuell unter 
Hinzuziehung geeignet erscheinender Vereinsmitglieder vor- 
zuberathen und der Versammlung zur Beschlussfassung vor¬ 
zulegen.“ 

Nach Schluss der Sitzung fand die Besichtigung des neuen 
Römerbades statt, und vereinigte darnach 4 Uhr Nachmittags 
ein Festmahl im „Englischen Hause“ den grössten Theil der 
anwesenden Mitglieder zu mehrstündigem frohbewegten Zusam¬ 
mensein. 


Zweiter Sitzungstag, 

Donnerstag, den 27. September 1888, Vormittags 9 Uhr. 

I. 

Ueber Hypnotismus unter besonderer Berücksichtigung der gericht¬ 
lichen Medicin; Herr Dr. Moll in Berlin. 

Alle, die sich heute mit dem Hypnotismus beschäftigen, ge¬ 
hören im Grossen und Ganzen drei Schulen an: Die eine ist die 
Schule Charcots, der den Hypnotismus nur an der Hand der 
grande hystörie studirt hat und drei Phasen desselben unterschei¬ 
det: Katalepsie, Lethargie und Somnambulismus. Die zweite 
Schule ist die Schule von Nancy deren Hauptgrundsatz es ist, dass 
die hypnotischen Erscheinungen in der Suggestion wurzeln, d. h. 
in der Beeinflussung der Versuchsperson durch Vorstellungen. 
Die dritte Schule, die der modernen Memeristen, hält fest 
am thierischen Magnetismus, der unabhängig vom Hypnotismus 
bestehe. 

In allen hypnotischen Zuständen findet eine Willensherab¬ 
setzung statt. 

Forensisch wichtig ist: 

1) Die Frage, ob der Hypnotismus gesundheitsschädlich ist. 
Nach Ansicht des Vortragenden ist nur das fehlerhafte 
Hypnotisiren schädlich. 

2) Dass Hypnotisirte Verbrechen ausgesetzt sind, wobei der 
Vortragende besonders die Nothzucht erwähnt. Hier wür- 



Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 301 

den die §§ 176 Absatz 2, 177 und 178 des Strafgesetz¬ 
buches ihre Anwendung finden. 

3) Dass hypnotisirte Personen durch posthypnotische Sug¬ 
gestionen zu Verbrechen veranlasst werden. Da die post¬ 
hypnotische Suggestion bald in anscheinend wachem Zu¬ 
stande ausgeführt wird, bald aber den Eintritt einer neuen 
Hypnose bedingt, so würde eine forensische Beurtheilung 
verschieden ausfallen müssen. Während nämlich im letzte¬ 
ren Falle dem Hypnotisirten § 51 des Straf-Ges.-Buches zur 
Seite stände, werde im ersteren Falle eventuell § 52 zur 
Anwendung kommen. 

Die retroactiven Suggestionen sind künstliche Erinue- 
rungsfälschungen, die zur Beeinflussung von Zeugenaussagen 
benutzt werden können. 

4) Eine Hypnotisirung wider den Willen der Versuchsperson 
ist nur in seltenen Fällen möglich; relativ am ehesten noch, 
wenn häufige Hypnotisirung vorausgegangen ist. 

5) Zu forensischen Zwecken würde eine Hypnotisirung nach 
heutigem Gesetze nur dann in Betracht kommen können, 
wenn Jemand verdächtig ist, in einer früheren Hypnose das 
Werkzeug oder das Opfer eines Verbrechens geworden zu 
sein. Das Beweisverfahren würde durch eine neue Hypno¬ 
tisirung wenigstens die Hypnotisirbasis feststellen können. 

Der Vortragende zeigte an mehreren Versuchspersonen, die 
sich aus seiner ärztlichen Praxis bereitwilligst zur Verfügung 
gestellt hatten, die verschiedenen Methoden des Hypnotisirens, 
sowie die verschiedenartigen hypnotischen Erscheinungen unter 
besonderer Berücksichtigung der vorstehend erörterten Fragen, 
und machte zum Schluss darauf aufmerksam, dass bei einer even¬ 
tuellen gesetzlichen Regelung des Hypnotismus in erster Linie zu 
berücksichtigen sei, dass das Hypnotisiren weder zu therapeuti¬ 
schen noch zu anderen wissenschaftlichen Zwecken verboten 
werde, dass es aber womöglich unter Aufsicht von Aerzten ge¬ 
stellt werde, die den Hypnotismus studirt haben. 

H. Kr.-Phys. Dr. Wallichs (Altona) richtet an den Vor¬ 
tragenden die Frage, ob er die Hypnose auch zu therapeutischen 
Zwecken verwandt habe? 

H. Dr. Moll erwidert, er habe eine ganze Reihe von Ver¬ 
suchen gemacht und bei functionellen Erkrankungen kaum von 
einem anderen Mittel so gute Erfolge gesehen, wie von der Hyp¬ 
nose und der posthypnotischen Suggestion, wenn es gelang, die 
Hypnose genügend weit zu treiben. In einer Anzahl von Fällen 
habe er die Hypnose gegen Neuralgie, Schlaflosigkeit, Chorea, 
convulsivische Anfälle u. s. w. mit Erfolg angewandt. Ueber die 
Heilung des Schreibkrampfes durch Hypnose könne er noch kein 
sicheres Urtheil fällen, da er erst seit zu kurzer Zeit derartige 
Fälle behandelt habe. 

H. Reg.- und Med.-Rath Peters (Bromberg) berichtet von 
einen ganz erheblichen Heileffect, welcher bei einer anämischen, 



302 Die Hauptversammlung des preußischen Medicinalbeamtenvereins. 


an schweren hysterischen Krämpfen leidenden Dame, die er nach 
Cudowa geschickt hatte, dort durch die Hypnose erzielt wurde. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich (Köslin) dankt dem 
Vortragenden, dass er wenigstens ihn von dem Alp befreit habe, 
welchen, die hypnotische Litteratur auszubreiten beflissen sei. 
Durch den Vortrag sei ihm klar geworden, dass der Hypnotismus 
eigentlich nichts weiter sei, als eine dialectische Spielerei mit 
den Worten Wille, Schlaf, Vorstellung u. s. w.; denn man könne 
es weder Schlaf nennen, wenn jemand dabei auf Fragen erwidere 
und allerlei kleine Thorheiten mache; noch Katalepsie, wenn je¬ 
mand seinen Arm bald stütze, bald sinken lasse; noch Wille, 
wenn sich ein armer unglücklicher Kranker durch den Arzt im- 
poniren lasse und auf dessen Geheiss alle möglichen Dinge sehe 
und thue. Wille und Vorstellungen seien doch ein Product aus 
höheren Geistesthätigkeiten. Wenn er auch die Berechtigung 
solcher Experimente im Kleinen nicht bestreiten wolle, so bedaure 
er doch die Kranken, die derartiges mit sich machen lassen 
müssten. — Die vom Vortragenden zur Discussion gestellten 
Fragen verdiene der Hypnotismus nicht; derselbe sei weiter nichts 
als die Herabdrückung gewisser hochstehender Begriffe zu einer 
fratzenhaften Terminologie und werde seiner Ueberzeugung nach 
denselben Verlauf nehmen, wie der frühere Mesmerismus. 

H. Dr. Moll erwidert, dass viele Personen im gewöhn¬ 
lichen Schlaf auch sprechen und sogar Fragen beantworten; dass 
er ferner bei den von ihm vorgeführten Personen nicht von Ka¬ 
talepsie gesprochen habe, sondern dass es sich nur um einen Zu¬ 
stand herabgesetzten Willens handle. Redner will den Hypno¬ 
tismus selbst in seinen tieferen Stadien auch gar nicht mit dem 
Schlaf identifiziren. Er bittet aber vorurtheilslos an die Prü¬ 
fung der Sache heranzutreten und dieselbe nicht a priori zurück¬ 
zuweisen. 

Nachdem H. Dr. Wal lieh s dem Vortragenden seinen Dank 
für die überaus lehrreiche Demonstration ausgesprochen, berichtet 
H. Dr. Peters noch kurz über hypnotische Experimente, denen 
er vor mehreren Jahren bei Prof. Berger in Breslau beigewohnt 
und wo unter Anderem auch ein Tabetiker in hypnotischem Zu¬ 
stande einen Stuhl besteigen konnte, was er in wachem Zustande 
nicht vermochte. 

Mit der Erklärung des Vortragenden, dass auch er bei Ta¬ 
betikern durch hypnotische Suggestion die cliaracteristischen 
Schwankungen des Ganges habe beseitigen können, wurde hier¬ 
nach die Discussion geschlossen. 


n. 

Bei der jetzt folgenden Vorstandswahl wurde der bisherige 
Vorstand wiedergewählt und hierauf nach Bericht der Kassen- 
revisoren dem Schriftführer Decharge ertheilt. 



Die Hauptversammlung des preußischen Medicinalbeamtenvereins. 303 

m. 

Die Constatirung ansteckender Krankheiten mit Bezug auf die 
§§ 9 und 10 des Regulativs vom 8. August 1835; Herr Regierungs¬ 
und Medicinalrath Dr. Peters in Bromberg. 

Die §§ 9 und 10 des Regulativs, welche von der Anzeige 
und Constatirung der ansteckenden Krankheiten sprechen, bilden 
nach der Ansicht des Redners die Grundpfeiler des sanitätspoli¬ 
zeilichen Apparates bei der Unterdrückung der Infectionskrank- 
heiten. 

An der Hand der bisherigen amtlichen Erfahrungen wird die 
Art und Weise beleuchtet, in der die Anzeige und Constatirung 
in der Wirklichkeit zu erfolgen pflegt. 

Bei § 9, welcher von der Anzeigepflicht der Familienhäup¬ 
ter, Hauswirthe, Gastwirthe und Med.-Personen handelt, wendet 
Redner sich zunächst gegen die Fassung desselben, welche es 
zweifelhaft lasse, ob die genannten Personen gleichzeitig oder 
nur in der aufgeführten Reihenfolge zur Anzeige verpflichtet 
seien; die Medicinalpersonen seien ganz zuletzt genannt, obwohl 
sie vermöge ihrer Fachkenntniss doch in erster Reihe zur An¬ 
zeige befähigt seien. Bei dieser Theilung der Anzeigepflicht ver¬ 
lasse sich immer einer auf den Andern, was zur Folge habe, dass 
die Anzeige in der Regel ganz unterbleibe; die Erfahrung zeige 
auch, dass die Polizeibehörde nur selten durch die in dem § 9 
aufgeführten Personen Kenntniss von dem Auftreten ansteckender 
Krankheiten erhalte —, viel häufiger dagegen durch Gensdarmen, 
Lehrer und Geistliche. Bei der heutigen Ausbreitung der Aerzte, 
selbst auf dem Lande, genüge es, dass lediglich den Aerzten die 
Anzeigepflicht auferlegt würde, zumal der Laie wegen der ihm 
fehlenden Fachkenntniss meist gar nicht in der Lage sich be¬ 
findet, zu Anfang die Krankheit als eine solche, die der Anzeige¬ 
pflicht unterliege, zu erkennen. Voraussichtlich würde auch bei 
den Aerzten das Pflichtgefühl zur Erstattung der Anzeige inten¬ 
siver entwickelt sein, wenn sie die Verantwortung wegen Unter¬ 
lassung der Anzeige allein zu tragen hätten. 

Der § 10, welcher von der Constatirung der ansteckenden 
Krankheiten durch die Polizeibehörden spreche, sei in der bis¬ 
herigen Ausführung der wundeste Punkt des Regulativs. Er 
habe, wenn er thatsächlich zur Ausführung gelange, zur Folge, 
dass die betr. Krankheiten 2 ja 3 mal ärztlich constatirt wür¬ 
den, ehe es zu einer zweckentsprechenden Anordnung von Prä- 
ventivmassregeln komme. Die Grundlagen für die letzteren solle 
und müsse die Fachkenntniss der Medicinalbeamten bilden, es 
läge desto näher, dass man auch deren Zuziehung zu einer Zeit 
verlangen müsse, wo ein zweckentsprechendes Einschreiten den 
besten Erfolg verspreche, nicht erst dann, nachdem auf Veran¬ 
lassung der Polizeibehörde eine ärztliche Constatirung vorange¬ 
gangen sei. Die amtliche Constatirung müsse den Zweck ver¬ 
folgen, dass gleichzeitig mit der Constatirung auch die zur Ver¬ 
hütung einer Weiterverbreitung nothwendigen Massregeln ange¬ 
geben werden könnten. Darauf hin ihre Untersuchungen auszu- 



304 Die Hauptversammlung des preußischen Medicinalbeamtenvereins. 


dehnen, herrsche aber einerseits bei den Privatärzten wenig 
Neigung, anderseits sei ein derartiges Verfahren, abgesehen von 
verschiedenen anderen Gründen, schon deshalb nicht zu empfehlen, 
weil durch den zuständigen Medicinalbeamten die etwa von dem 
Privatärzte vorgeschlagenen Vorbeugungsmassregeln kritisirt und 
umgestossen werden und dadurch für beide Theile unerquickliche 
Verhältnisse geschaffen werden könnten. 

Die zeitliche Trennung der Constatirung und Anordnung 
von Massregeln könne bei dem heutigen Standpunkte unseres 
Wissens über das Wesen und die Art der Weiterverbreitung der 
Infectionskrankheiten nicht mehr aufrecht erhalten werden; Con¬ 
statirung und Anordnung müssten gleichzeitig und zwar so früh 
als möglich schon bei dem Auftreten der ersten Fälle erfolgen. 
Dieser Zweck könne nur dadurch erreicht werden, dass die Poli¬ 
zeibehörden gesetzlich verpflichtet würden, die Anzeige von dem 
Auftreten der Infectionskrankheiten direct dem zuständigen 
Medicinalbeamten zuzuschicken, welcher die Befugniss erhalten 
müsste, eventuell zur Untersuchung der örtlichen Verhältnisse 
und zur Feststellung der Krankheit an Ort und Stelle zu er¬ 
scheinen und sofort die zur Verhütung der Weiterverbreitung 
nothwendigen Massregeln anzugeben bezw. unter eigener Verant¬ 
wortung anzuordnen. Selbstverständlich müsste die Staatskasse 
die dadurch entstehenden Kosten in analoger Weise wie bei den 
Infectionskrankheiten der Thiere übernehmen. Irgend eine uen- 
nenswertlie Vennehrung der Kosten sei kaum zu befürchten, da 
nach den bestehenden Bestimmungen das Auftreten der der ab¬ 
soluten Anzeigepflicht unterliegenden Krankheiten der Regel nach 
sowie so die Zuziehung des Medicinalbeamten auf Kosten des 
Staates nothwendig mache; auch liefern die Provinz Posen, in der 
die Constatirung der ersten Fälle der Infectionskrankheiten stets 
durch Medicinalbeamte erfolge, den Beweis, dass dadurch eine 
Vermehrung der Kosten keineswegs nothwendig bedingt sei. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schroeder (Weissenfels) hat durch 
Gründung einer ärztlichen Vereinigung in seinem Orte erreicht, 
dass alle ansteckenden Krankheiten durch die Aerzte zur Anzeige 
gebracht werden. — Einen Schulschluss bei Masern hält er nur 
für erforderlich, wenn die Fälle sehr bösartig sind. 

H. Kr.-Phys. Dr.Wallichs theilt mit, dass in seiner Provinz die 
Aerzte durch Polizeiverordnung verpflichtet sind, alle in ihre 
Behandlung kommenden ansteckenden Krankheiten auf einem 
ihnen behändigten francirten Formular allwöchentlich anzuzeigen, 
bezw. eine Vakat-Anzeige einzusenden. Fälle von Cholera, Pocken 
und Kindbettfieber müssten dagegen sofort angezeigt werden. 
Weil aber leider häufig Kurpfuscher zur Behandlung hinzuge¬ 
zogen würden, sei die Anzeigepflicht für die Haushaltungsvor¬ 
stände u. 8. w. auch nicht zu entbehren. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Aurich) ist der 
Ansicht, dass die Anzeigepflicht der Aerzte nicht durch freiwil¬ 
lige Vereinbarung unter denselben, sondern nur durch bestimmte 
polizeiliche oder gesetzliche Bestimmungen zur Durchführung ge- 



Die Hauptversammlung des preußischen Medicinalboamtenvereins. 305 


bracht werden könne. In der Provinz Hannover, wo das Regu¬ 
lativ vom 8. August 1835 nicht eingeführt sei, beständen solche 
Polizeivei Ordnungen, durch welche der Arzt, oder wo ein solcher 
nicht zugezogen ist, der HaushaltungsVorstand verpflichtet ist, 
binnen 48 bezw. 24 Stunden derartige Fälle ansteckender Krank¬ 
heiten der Ortspolizeibehörde anzuzeigen. Allerdings versuchten 
viele Aerzte, sich um die Anzeigepflicht herumzudrücken. 

Im Uebrigen steht Redner ganz auf dem Standpunkt des 
Vortragenden, dass dem Physikus bezüglich der bei ansteckenden 
Krankheiten anzuwendenden Massnahmen eine grössere Macht¬ 
vollkommenheit zu geben sei und er insonderheit mit Rücksicht 
auf die Constatirung derselben nicht lediglich von der Entschei¬ 
dung der betreffenden Ortspolizeibehörde abhängen dürfe. In der 
Prov. Hannover fielen übrigens die Kosten für die Constatirung 
der ansteckenden Krankheiten, ausgenommen in den Städten, dem 
Staate als Träger der Ortspolizeibehörde zu. In Folge dessen 
würden dort auch die Kreisphysiker in solchen FäUen scheinbar 
mehr als in anderen Provinzen zugezogen und dürfte es jedenfalls 
zu den Ausnahmen gehören, dass eine Schule geschlossen würde, 
ohne dass der Physikus sich vorher an Ort und Stelle von der 
Nothwendigkeit dieser Schliessung überzeugt habe. 

H. Kr.-Phys. Dr. Michelsen (Waldenburg) steht auf 
ganz demselben Standpunkte, wie der Vortragende. Er hat in 
seinem Kreise mit dem Landrathe eine Vereinbarung getroffen, 
wonach jeder Amtsvorsteher verpflichtet ist, ansteckende Krank- 
keiten nicht bloss dem Landrath, sondern gleichzeitig ihm zu 
melden, und wonach ihm ferner vollkommene Freiheit des Han¬ 
delns in jedem solchen Falle ein für allemal gewährt worden ist. 
— Für Diphtheritis und Puerperalfieber ist in Schlesien die An¬ 
zeige binnen 24 Stunden zur Pflicht gemacht. 

H. Kr.-Phys. Dr. Gleitsmann (Belzig) widerspricht der 
Behauptung des Hm. Rapmund, dass durch freiwillige Ver¬ 
einbarung der Aerzte nichts zu erreichen sei, und glaubt vielmehr, 
dass sich durch Strafen die Anzeigepflicht nicht erzwingen lasse. 
Er erwähnt 2 Fälle, wo Aerzte wegen unterlassener Anzeige in 
Strafe genommen, vom Gericht aber frei gesprochen wurden, da 
sie erklärten, dass sie die Krankheit nicht für eine ansteckende 
angesehen hätten. 

H. Kr.-Phys. Schmidt (Steinau) hat in seinem Kreise 
auch Vollmacht zu Dienstreisen und kann erklären, dass die 
Kosten, die dadurch erwachsen, keineswegs sehr hohe sind. 

H. Dr. Rapmund theilt einen Fall mit, wo die Entschul¬ 
digung eines in Strafe genommenen Arztes, er habe die Krank¬ 
heit nicht für eine ansteckende gehalten, zwar die Freisprechung 
desselben in der Berufsinstanz veranlasste, der Gerichtshof aber 
gleichzeitig auf Grund der seitens der Sachverständigen abgege¬ 
benen Gutachten in seinem Urtheil die Ueberzeugung aussprach, 
dass in dem fraglichen Falle zweifellos eine ansteckende Krank¬ 
heit Vorgelegen habe und der betreffende Arzt nur deshalb frei- 



306 Die Hauptversammlung des proussischon Medicinalbeamtenvereins. 


zusprechen sei, weil er die Krankheit augenscheinlich nicht er¬ 
kannt habe. Solche den Arzt gleichsam als Ignoranten hinstel¬ 
lende richterliche Entscheidungen müssen denselben aber viel 
empfindlicher als alle Geldstrafen treffen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Philipp (Berlin) theilt mit, dass in sei¬ 
nem Kreise die Einrichtung besteht, dass die ansteckenden Krank¬ 
heiten zuerst an den Physikus und von diesem an den Landrath 
gemeldet werden. Diese Einrichtung habe sich durchaus be¬ 
währt. 

H. Kr.-Phys. Dr. Nötzel (Colberg) hält die Anzeigepflicht 
der Aerzte allein nicht für ausreichend, da viele Leute selbst 
bei den schwersten Krankheiten keinen Arzt zuziehen. Redner 
wünscht ferner eine Einschärfung des Ministerialerlasses, der sich 
auf den Schulschluss bezieht, damit auch wirklich der Physikus 
jedesmal zugezogen wird. Endlich spricht er sein Bedauern dar¬ 
über aus, dass es trotz aller Bestimmungen doch noch vorkomme, 
dass der Physikus von schweren Epidemien in seinem Kreise gar 
nichts erfahre. 

H. Dr. Schmidt (Steinau) empfiehlt, um auch die Kur¬ 
pfuscher zu treffen, jedem, der sich mit der Behandlung von 
Krankheiten befasst, die Verpflichtung zur Anzeige ansteckender 
Krankheiten aufzuerlegen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Meinhof (Pieschen) wendet dagegen ein, 
dass man damit die Kurpfuscher mit den Aerzten auf gleiche 
Stufe stelle. 

H. Kr.-Phys. Dr. Pippow (Eisleben) wünscht, dass auch 
die Lehrer zur Anzeige der ihnen bekannt werdenden Fälle an¬ 
steckender Krankheiten unter den Schulkindern verpflichtet 
werden. 

H. Dr. Meinhof bemerkt bezüglich des Schulschlusses, 
dass es nicht darauf ankomme, ob die Epidemie bösartig werde 
oder nicht, sondern dass bei jeder im Schulhause selbst stattfin¬ 
denden Erkrankung die Schule geschlossen werden müsste. 

H. Dr. Nötzel hält dies nicht in allen Fällen für erfor¬ 
derlich. 

H. Dr. Rapmund befürwortet, die Lehrerwohnungen so zu 
bauen, dass sie von den Schulräumen möglichst getrennt sind, 
um die Nachtheile häufiger Schulschlüsse wegen ansteckenden 
Auftretens ansteckender Krankheiten in der Familie des Lehrers 
zu vermeiden. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich (Cöslin) bemerkt ge¬ 
genüber den Ausführungen des Hrn. Nötzel, dass die Lehrer 
im dortigen Regierungsbezirke über ihre Pflichten beim Auftre¬ 
ten ansteckender Krankheiten unter den Schulkindern vollständig 
unterrichtet wären und dass die Erlasse im Bedarfsfälle repro- 
duzirt würden. 

H. Kr.-Phys. Dr. Gutsmnth (Genthin) befürchtet, dass 
wenn man in erster Linie den Arzt zur Anzeige verpflichtet, 
noch mehr Leute als bisher den Kurpfuscher holen würden. 


i 



Die Hauptversammlung des preussischen Medicinalbeamtenvereins. 307 


H. Dr. Peters betont in seinem Schlussworte noch ein¬ 
mal die Nothwendigkeit, dafür zu sorgen, dass die Anordnung 
von Abwelirmassregeln gegen das Umsichgreifen von ansteckenden 
Krankheiten zu einer Zeit erfolge, wo sie noch Erfolg haben 
kann. 


IV. 

lieber einige den Medicinalbeamten abzunehmende Geschäfte; Herr 
Kreisphysikus Prof. Dr. Falk in Berlin. 

Der Vortragende betont zu Eingang seiner kurzen Mit¬ 
theilungen, dass er ebenso, wie der Verein wünsche, den Wirkungs¬ 
kreis der Medicinalbeamten möglichst auszudehnen und dass er 
daher den Ausschluss derselben bei der Begutachtung von Gewerbe¬ 
anlagen, bei der Untersuchung von Militärreklamanten, sowie die 
Beschränkung ihrer Thätigkeit im Entmündigungsverfahren leb¬ 
haft bedaure. Während man den Medicinalbeamten aber bezahlte 
Thätigkeiten abgenommen, würden sie auf der anderen Seite mit 
ganz unnöthigen, zum Theil neuen, unbezahlten Arbeiten be¬ 
lastet. Als solche bezeichnet der Vortragende die wiederholten 
Meldungen über den Ab- und Zugang der approbirten Medicinal- 
personen — die einmalige Meldung würde seiner Ansicht ge¬ 
nügen —-, ferner die den Medicinalbeamten auferlegte Verpflichtung 
zur kostenfreien Untersuchung der Gendarmen, die doch als 
Militärpersonen von den Militärärzten untersucht werden sollten; 
die detaillirten Angaben über die Thätigkeit der Hebeammen und 
schliesslich die Jahresberichte, neben denen ja doch die Viertel¬ 
jahresberichte bestehen geblieben seien. Eine Anzahl von Rub¬ 
riken in diesen Berichten sei der Medicinalbeamte auf Grund 
seiner amtlich gewonnenen Kenntniss gar nicht in der Lage aus- 
zufüllen und müsse dieserhalb an zahlreiche Behörden Anfragen 
stellen, die keineswegs gesetzlich verpflichtet seien, alle diese 
Anfragen zu beantworten. 

H. Kr.-Physikus Dr. Schmidt (Steinau) kann den Darle¬ 
gungen des Vortragenden nicht beipflichten. Die Hebeammen- 
statistik bearbeitet er gern, um sich zu überzeugen, ob die 
Hebammen gegen die Vorschriften verstossen haben. In den 
Jahresberichten habe der Medicinalbeamte Gelegenheit, seine 
Urtheilsfähigkeit zu zeigen und wo seine Kenntniss von den Ver¬ 
hältnissen nicht ausreiche, könne er sich von den Polizeibehörden 
das Material senden lassen. 

H. Dr. Falk will nur die vielfachen Schreibereien ver¬ 
mieden wissen. An die 40—50 Polizeibehörden, die mancher 
Kreis habe, Anfragen zu richten, die vieUeicht noch nicht einmal 
beantwortet würden, erscheint ihm doch als eine zu starke Be¬ 
lastung des Physikus. 

H. Dr. Rapmund hält gleich dem Vortragenden eine Ver¬ 
einfachung der jetzt vorgeschriebenen Nachweisungen über den 
Zu- und Abgang bei den Aerzten für durchaus wünschenswerth, 
insonderheit könnten die jährlichen Veränderungs-Nachweisungen 



308 


Dr. Mittenzweig. 


Wegfällen. In Bezug auf den Sanitätsbericht bedauert er, wenn 
in einzelnen Provinzen auch jetzt noch Vierteljahrsberichte neben 
dem Jahresberichte gefordert würden; in Hannover seien nur die 
letzteren zu liefern. Dass in denselben nach manchen Dingen 
gefragt werde, die dem Physiker aus eigenem Wissen nicht bekannt 
sein könnten, gebe er zu, aber die Rückfragen bei den lokalen 
Polizeibehörden hätten andererseits auch den nicht zu unter¬ 
schätzenden Erfolg, diese Behörden immer wieder daran zu erinnern, 
dass sie auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege einen 
technischen Beirath besässen und sie zu veranlassen, sich dessen 
mehr als bisher zu bedienen. Die Vorschrift bezüglich der aus¬ 
führlichen Revision der Hebeammenlisten durch die Physiker be¬ 
ruhe übrigens nicht auf ministerieller, sondern auf Verfügung der 
einzelnen Bezirksregierungen, und seien die aus den fraglichen 
Listen gewonnenen statistischen Zusammenstellungen über die 
vorgekommenen Geburten nicht nur für den Physikus, sondern 
auch für den betreffenden Regierungs- und Medicinalrath mit 
Rücksicht auf die von ihnen zu erstattenden Gesundheitsberichte 
äusserst werthvoll. 

H. Reg.- und Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow (Potsdam) ist 
der Ansicht, dass die Nachweisungen über die Thätigkeit der 
Hebeammen im Hebeammen-Lehrbuch vorgeschrieben seien und 
man dabei wahrscheinlich an die Sammlung einer grösseren 
Statistik gedacht habe. Die Vierteljahrsberichte seien unent¬ 
behrlich, weil die Regierung vierteljährlich die sogenannten 
Zeitungsberichte einzureichen hätte, die an den König gängen und 
in denen auch über den allgemeinen Gesundheitszustand im Bezirk 
Auskunft gegeben werden müsse. Diese Vierteljahrsberichte 
könnten jedoch mit leichter Mühe gemacht werden, da es in den¬ 
selben nicht auf vollständige Genauigkeit ankomme. In den 
Jahresberichten könne der Medicinalbeamte diejenigen Rubriken, 
über welche er keine Auskunft zu geben vermöge, einfach offen 
lassen, wie es auch seitens des Vortragenden geschehe. 

H. Dr. Falk meint, dass für eine Geburtenstatistik ganz 
andere Quellen offen seien, als die Hebeammenlisten. In Bezug 
auf die Jahresberichte findet er es nicht für korrekt, dass die 
Medicinalbeamten zu Angaben über Dinge aufgefordert werden, 
über welche ihnen keinerlei amtliche Nachrichten zugehen, sondern 
die sie höchstens durch eine Gefälligkeit der betreffenden Be¬ 
hörden erfahren könnten. 


Nach Schluss der Sitzung (2 Uhr Nachmittags) fand zunächst 
ein einfaches Mittagsessen im Prälaten statt und hierauf die Be¬ 
sichtigung der Königl. Strafanstalt in Plötzensee unter der ebenso 
liebenswürdigen wie sachkundigen Führung des dortigen Direktors 
Herrn Geheimen Justizrath Wirth. 



Zur Gesetzgebung über Entmündigung wegen Geisteskrankheit. 309 


Zur Gesetzgebung Uber Entmündigung wegen Geistes¬ 
krankheit. 

(Fortsetzung.) 

Zu Gunsten der mündigmachenden Wirkung der Verehelichung nn j r £“ d ® u . 
wird vorzugsweise geltend gemacht, dass die Eheschliessung seitens ""gründe! 11 ' 
einer minderjährigen Person die Einwilligung ihres gesetzlichen 
Vertreters zur Voraussetzung habe und dass diese Einwilligung 
vernünftiger Weise nur dann werde ertheilt werden, wenn die 
betreffende Person einen solchen Grad geistiger Reife erlangt habe, 
dass eine besondere Fürsorge für dieselbe nicht mehr geboten 
erscheine. Wer für fällig erachtet werde, die Pflichten zu erfüllen, 
welche die Eingehung der Ehe mit sich bringe, dem müsse auch 
genügende Erfahrung zugetraut werden, um selbstständig Rechts¬ 
geschäfte abschliessen und sein Vermögen verwalten zu können 
(Mot. des bayr. Entw. über das Vormundschaftswesen S. 42). 

Die Berechtigung dieses Gesichtspunktes unterliegt erheblichen 
Bedenken. Ein Blick in das tägliche Leben zeigt, dass, wenigstens 
bei Frauen, für die Einwilligung zur Eheschliessung Erwägungen 
wesentlich anderer Art massgebend sind, als die Rücksicht darauf, 
ob die Minderjährige zur selbstständigen Bewegung im bürgerlichen 
Verkehre befähigt sei. Gerade deshalb, weil die Verehelichung 
einer Frau räthlich sein kann, obwohl die Voraussetzungen voller 
Geschäftsfähigkeit nicht vorhanden sind, kann das Gesetz die 
Eheschliessung nicht von dem Besitze der natürlichen oder ver¬ 
liehenen Volljährigkeit abhängig machen. Dazu kommt, dass es 
wenig zweckentsprechend sein würde, einerseits, wie geschehen, 
die Volljährigkeitserklärung in die Hand der Obrigkeit zu legen 
und von wichtigen Vorbedingungen abhängig zu machen, anderer¬ 
seits der in das freie Ermessen des gesetzlichen Vertreters 
gestellten Einwilligung zur Eheschlicssung die Bedeutung einer 
unter der Bedingung des Zustandekommens der Ehe wirksamen 
stillschweigenden Mündigsprechung beizulegen. Gewichtiger er¬ 
scheint ein anderer Gesichtspunkt. Man beruft sich auf das 
Wesen der Ehe selbst, deren sittliche Bestimmung nicht gestatte, 
dass ein fremder, bevormundender Wille in die innigste Lebens¬ 
gemeinschaft zwischen Mann und Frau sich dränge. Die Unselbst¬ 
ständigkeit des Ehemannes verrücke die Stellung, die ihm, als 
dem Familienhaupte, nach dem natürlichen Verhältnisse gegen¬ 
über der Frau und den Kindern gebühre. Es widerstrebe dem 
Gefühle, dass Söhne, welche der Staat für fähig halte, Familien¬ 
häupter zu sein und Kinder zu tüchtigen Bürgern zu erziehen, 
daneben unfähig sein sollten, Rechtsgeschäfte mit Dritten gültig 
einzugehen und ihr Vermögen zu verwalten (Mot. des hess. Entw. 

Abth. I. S. 160). Der Gedanke, dass Ehegatten jedes bevor¬ 
mundenden Einflusses enthoben sein sollen, hat an sich volle Be¬ 
rechtigung. Er gründet sich in der idealen Auffassung der ehe¬ 
lichen Gemeinschaft. Das Gesetz hat aber nicht blos mit dieser 
Auffassung, sondern auch mit den thatsächlichen Verhältnissen zu 



310 


Dr. Mittenzweig. 


rechnen. So gewiss die vermögensrechtliche Unselbstständigkeit 
eines Ehegatten dem regelmässigen und wünschenswerthen Zustande 
nicht entspricht, so wenig dürfen andererseits die Gefahren ver¬ 
frühter Selbstständigkeit ausser Betracht gelassen werden, und 
diese überwiegen im Leben. Was die Ehefrau betrifft, so übt 
deren Unselbstständigkeit einen minder nachtheiligen Einfluss auf 
die Gestaltung des ehelichen Verhältnisses aus, als diejenige des 
Ehemannes, und etwaige Unzuträglichkeiten entfallen ganz, wenn, 
wie zulässig ist, der Ehemann selbst der Frau als Vormund 
bestellt wird (§ 1637 Abs. 3). Im Uebrigen ist sicher, dass je 
gesunder die Verhältnisse einer Ehe sind, desto weniger die 
fremde Fürsorge für die Frau sich fühlbar machen wird. Treten 
die Rechte des Vertreters derselben in einer dem Ehemanne 
empfindlichen Weise hervor, so wird der Grund hiervon vorzugs¬ 
weise darin liegen, dass der Vertreter sich genöthigt sieht, un¬ 
billigen, seine Schutzbefohlene gefährdenden Anforderungen des 
Ehemannes entgegenzutreten. Dann fällt die eintretende Störung 
aber nicht dem der Frau gewährten Schutze, sondern dem Ver¬ 
halten des Ehemannes zur Last. Hinsichtlich des minderjährigen 
Ehemannes ist von Bedeutung, dass die Ehemündigkeit nach 
§ 1233 Abs. 2 erst mit Zurücklegung des zwanzigsten Lebens¬ 
jahres eintritt, dass es somit sich der Regel nach, von Dispen¬ 
sationsfällen abgesehen, nur um eine kurze Spanne wirthschaft- 
licher Unselbstständigkeit handelt und dass auch diese in vielen 
Fällen durch eine vorhergegangene oder hinzutretende Voll¬ 
jährigkeitserklärung sich erledigen wird. Nicht stichhaltig 
erscheint endlich der Hinweis darauf, dass die Ehefrau neben 
dem Schutze, welchen der Mann ihr gewähre, des für das jugend¬ 
liche Alter berechneten Schutzes nicht bedürfe. Der Entwurf 
kennt weder eine eheliche Vormundschaft, noch beschränkt er die 
Geschäftsfähigkeit der Ehefrau. Ist die Ehefrau aber ver¬ 
pflichtungsfähig, so kann sie im Falle der Minderjährigkeit auch 
des Schutzes nicht entrathen. Das Recht wird zwar darauf ver¬ 
trauen dürfen, dass die Frau der Regel nach nicht ohne Berathung 
und Zustimmung des Ehemannes handeln und dass dieser, ihr 
natürlicher Vertreter und Vertheidiger, uneigennützigen und 
pflichtgetreuen Rath ertheilen werde. Immerhin verdienen die 
Fälle, in denen dies nicht zutrifft, Berücksichtigung. Auch kann 
und wird es Bich des Oefteren gerade um einen Schutz gegenüber 
dem Manne selbst handeln. Zudem würde der geltend gemachte 
Grund dazu führen, nur die minderjährige Frau mit der Ver¬ 
ehelichung selbstständig werden zu lassen, — eine Gestaltung, 
die sich schon deshalb verbietet, weil sie, wenn zwei Minderjährige 
die Ehe mit einander eingehen, zur Folge haben würde, dass 
wohl die Frau, aber nicht der Mann die wirtschaftliche Selbst¬ 
ständigkeit erhielte. 

Die Ablehnung des Satzes, dass Heirath mündig macht, 
schliesst nicht aus, minderjährigen Ehegatten für gewisse Fälle, 
namentlich ausserhalb des Gebietes des Vermögensrechtes, eine 
erweiterte Geschäftsfähigkeit einzuräumen; vergl. u. a. §§ 1254, 



Zur Gesetzgebung Uber Entmündigung wegen Geisteskrankheit. 311 


1263 Abs. 1, §§ 1265, 1267, 1271, 1277 Abs. 5. Ebensowenig 
führt die Belassung der minderjährigen Ehefrau unter elterlicher 
Gewalt bezw. Vormundschaft dazu, dem Ehemanne während der 
Minderjährigkeit der Frau diejenigen Rechte vorzuenthalten oder 
zu verkümmern, welche ihm nach dem Güterstande an dem Frauen¬ 
vermögen zustehen (vergl. §§ 1509, 1655). 

Das dem franz. und bad. Recht eigene Institut der Eman-o«> Institut 
zipation, welches den Minderjährigen der elterlichen bezw. vor- pauon““*!’ 
mundschaftlichen Gewalt enthebt, ihm aber nicht die volle, sondern lehnt - 
nur eine erweiterte Geschäftsfähigkeit verleiht (code civil Art. 

476 ff.; bad. L. R. Satz 476 ff), hat neben der Volljährigkeits¬ 
erklärung keinen Raum. Gegen dasselbe spricht auch,- dass die 
künstliche Abgrenzung der Geschäftsfähigkeit, wie solche in den 
bezeichneten Rechten sich findet, eine verwickelte, die Verkehrs¬ 
sicherheit gefährdende Rechtslage schafft. Die preuss. Vorm. 0. 

(§ 97 Abs. 2) hat bereits in Rücksicht hierauf die Emanzipation, 
soweit sie in Preussen bestand, aufgehoben. Nicht minder lässt 
der hess. Entw. dieselbe, unter Aufnahme der Volljährigkeits¬ 
erklärung, fallen (Abth. I Mot. S. 273 z. dems.). Das niederl. 

G. B. hat ebenfalls die der venia aetatis entsprechende meeder- 
jarigverklaring aufgenommen (Art 473 ff.), kennt aber daneben 
die Verleihung einzelner Rechte der Volljährigkeit (Art. 480 ff). 

§ 28. 

Den noch nicht zur Vernunft gekommenen Personen im Eutmündl- 
Kindesalter stehen Personen gleich, welche die Fähigkeit regel- *”oe la Tes ge " 
rechter Willensbestimmung wieder verloren haben. Die bürger- krankllP,t - 
liehe Selbstständigkeit im Allgemeinen soll aber solchen Personen 
nicht kurzer Hand, sondern nur dadurch entzogen werden, dass 
der krankhafte Geisteszustand nach vorausgegangener Sachunter- 
suchung durch gerichtlichen Spruch (Entmündigung) festge¬ 
stellt wird. 

Voraussetzung dieser Entmündigung ist, dass eine Person des i. voraus- 
Vernunftgebrauches beraubt ist. Das St. G. B. § 51 bezeichnet 
die Geisteszustände, welche die strafrechtliche Zurechnungsfähig- vetlTunft«« 
keit auf heben, als Zustände von Bewusstlosigkeit oder krankhafter braun. * 
Störung der Geistesthätigkeit, durch welche die freie Willens¬ 
bestimmung ausgeschlossen wird. Für die Bestimmung der Vor¬ 
bedingung der Entmündigung ist diese Ausdrucksweise nicht 
verwendbar. Das St. G. B. hat vorzugsweise die in der Ver¬ 
gangenheit liegende Zeit der That ins Auge zu fassen und 
namentlich auch die vorübergehend die Geistesthätigkeit beein¬ 
trächtigenden Zustände zu berücksichtigen (Entsch. des Reichs¬ 
gerichtes in Strafs. VII S. 426 ff). Die Entmündigung ist für 
die Zukunft und für eine gewisse Dauer berechnet; Zustände, 
welche in vorübergehenden Verhältnissen ihren Grund haben, 
kommen nicht in Betracht. Die gewählte Fassung entspricht der¬ 
jenigen des sächs. G. B. §§ 81, 1981, des dresd. Entw. Art. 23 
und des Schweiz. Gesetzes vom 22. Juni 1881 Art. 4. Der code 
civil erwähnt Art. 489 einen 6tat habituel; der hess. Entw. 



312 


Dr. Mittenzweig. 


2. Keine 
mhere Be¬ 
zeichnung 
er Geistes- 
rankhelten. 


3. Nicht 
l)los voll- 
ihrige Per- 
konen kön- 
en entmün- 
lgt werden. 


Abth. I, 5 Art. 1 spricht von Personen, welche sich in einem 
„nicht vorübergehenden Zustande“ von Blödsinn, Wahnsinn oder 
Baserei befinden; das zür. G. B. § 317 von Personen, welche 
wegen Geisteskrankheit dauernd ausser Stande sind, ihr Ver¬ 
mögen selbst zu besorgen. 

Unerheblich für die Entmündigung ist, ob die mangelhafte 
Geistesbeschaffenheit sich fortwährend oder mit Unterbrechungen 
äussert, ob die ihr zu Grunde liegende Krankheit bezw. das sie 
veranlassende Gebrechen die geistigen Kräfte in vollem Umfange 
oder nur theilweise beherrscht. Die Entmündigung wird im 
Besonderen nicht ausgeschlossen durch lichte Zwischenräume, wie 
solche bei sogenannten intermittirenden oder periodischen Geistes¬ 
krankheiten Vorkommen, während welcher der die Regel bildende 
Krankheitszustand eine zeitweilige Unterbrechung erfährt, die 
Krankheitsanlage aber dergestalt fortbesteht, dass ein erneuter 
Ausbruch des Leidens vorauszusehen ist. 

Abgesehen ist von einer näheren Bezeichnung der sog. 
Geisteskrankheiten, vermieden insbesondere die im Anschlüsse an 
den gewöhnlichen Sprachgebrauch übliche Eintheilung in Raserei, 
Wahnsinn und Blödsinn (vergl. preuss. A. L. R. I, 1 §§ 27—20, 
österr. G. B. § 21, code civil Art. 489, bad. L. R. Satz 489, u. s. w.). 
Jeder Versuch einer derartigen Scheidung ist bedenklich und 
zwecklos; bedenklich, weil nach dem Stande der Seelenheilkunde 
die einzelnen Formen oder Stadien der Geistesstörungen weder 
erschöpfend aufgezählt noch unter einander abgegrenzt werden 
können; zwecklos, weil weder die Verschiedenheit der äusseren 
Anzeichen noch der Umstand, ob die Störung vorzugsweise die 
eine oder die andere Seite der Geistesthätigkeit ergreift, für die 
an einen solchen Zustand zu knüpfenden rechtlichen Folgen von 
massgebender Bedeutung sein können. 

Die Entmündigung ist nicht (code civil Art. 489) auf voll¬ 
jährige Personen beschränkt. Liegt auch bei Minderjährigen in 
geringerem Masse das Bedürfniss vor, da dieselben schon an sich 
unter gesetzlicher Vertretung stehen, so muss doch dafür gesorgt 
werden, dass bei herannahender Volljährigkeit die Entmündigung 
so zeitig erfolgen kann, dass ein Zwischenzustand mangelnder 
Vertretung ausgeschlossen ist. Ausserdem hat die Entmündigung 
in manchen Rechtsgebieten insofern eine besondere, auch für 
Minderjährige wichtige Bedeutung, als von ihr die dauernde 
Unterbringung in einer Irrenanstalt abhängt (Mot. zu § 570 des 
Entw. der C. P. 0.). 

Der Ausdruck Entmündigung „wegen Geisteskrankheit“ wird 
nicht zu beanstanden sein. Mögen in der ärztlichen Wissenschaft 
die Ansichten über den Begriff der Geisteskrankheit auseinander¬ 
gehen; über den Sinn des Ausdruckes an dieser Stelle kann kein 
Zweifel sein (vergl. C. P. 0. § 593). 

Gewinnt eine wegen Geisteskrankheit entmündigte Person 
den Vernunftgebrauch wieder, so ist — auf gestellten Antrag — 
die Entmündigung wieder aufzuheben (Abs. 2). Aufgabe des 



Kleinere Mittheilungen. 


313 


bürgerlichen Rechtes ist nicht blos, die Voraussetzungen der 
Entmündigung, sondern auch, die Voraussetzungen der Wieder¬ 
aufhebung der Entmündigung festzustellen. 

Das die Herbeiführung der Entmündigung sowie die Wieder¬ 
aufhebung der Entmündiguug begleitende Verfahren ist einschliess¬ 
lich der Frage der Antragsberechtigung in den §§ 593 ff. der 
C. P. 0. geregelt. Ob und inwieweit diese Vorschriften der C. P. 0. 
eine Aenderung bezw. Ergänzung zu erfahren haben, wird bei 
Entwerfung des Einführungsgesetzes geprüft werden. 

Die Entmündigung zieht die Bevormundung nach sich 
(§§ 1720, 1735 Abs. 2). Auch kann gemäss § 1737 schon von 
der Zeit an, zu welcher der Antrag auf Entmündigung gestellt 
ist, eine vorläufige Vormundschaft mit der Wirkung des § 71 
angeordnet werden. Die Entmündigung hat ferner nach § 64 
Abs. 2 zur Folge, dass, so lange dieselbe besteht, der Ent¬ 
mündigte geschäftsunfähig ist. Ueber sonstige Wirkungen der 
Entmündigung vergl. § 1328 No. 4, §§ 1331, 1339 Abs. 5, § 1429 
Abs. 3, § 1430 Abs. 1. 

Blosse Geistesschwäche, ungenügende Entwickelung der 
geistigen Kräfte im Gegensätze zum Mangel der Fähigkeit regel¬ 
rechter Willensbestimmung, schliesst die natürliche Geschäfts¬ 
fähigkeit nicht aus und giebt deshalb keinen Gnmd zu einer 
Entmündigung wegen Geisteskrankheit ab. Ebenso kann eine mit 
einer solchen Schwäche behaftete Person nicht des vormundschaft¬ 
lichen Schutzes für bedürftig erklärt und unter Vormundschaft 
gestellt werden (vergl. § 1727). 


Kleinere Mittheilungen. 

In das Berliner Leichenschauhaus eingelieferte Leichen 

pro 

A n g u 8 t 1888* 


Monat 

Zur Morgue 

Männer 

Frauen 

Kinder | 

Neugeborene 

Fötus | 

Beerdigt || 

Erhängt | 

Ertrunken || 

Erschossen || 

Vergiftet | 

durch Kohlen-|| 
dunst gestorb.|| 

Erfroren | 

Verletzt ohnell 
Erschiessen || 

Unbekannte II 
Todesart | 

Innere II 
Krankheiten || 

Erstickt || 

Verbrannt | 

Summa |] 

August . 

M 

42 



l»l 

fl 

20 

17 

7 

2 

5 

1 

— 

14 

6 

8 

i 

n 

|61 


Ueber Asyle für Wöchnerinnen und Partus serotinus. 

Der Bericht über die Verhandlungen der Gesellschaft für Geburtshülfe 
und Gynäkologie zu Berlin für das erste Semester 1888 von A. Martin ent¬ 
hält zwei für den Medicinalbeamten bemerkenswerthe Beiträge. 

1. Den Sanitätsbeamten interessirt die Behandlung der Frage von den Wöch¬ 
nerinnenpflegestätten, welche unter Vorsitz des Herrn Gusserow von einer 


Bloag« 
Geistes- 
schwäche 
rechtfertigt 
nicht die 
Entmändl- 
gung. 



314 


Kleinere Mittheilungon. 


Commission bearbeitet ist und welche die Aufgabe in sich schliesst, dem 
besonders in den grossen Städten häufig und schwer empfundenen Mangel 
in der Reconvalescentenpflege abzuhelfen durch Errichtung von Pflegestätten 
für unbemittelte Wöchnerinnen. Die einzige deutsche Stadt, die unter dem 
Namen „Kaiserliches Kindesheim“ ein derartiges Institut besitzt, in das 
die aus der Universitäts-Entbindungsanstalt und der Hebammenlehranstalt 
entlassenen Wöchnerinnen mit ihrem Kinde transferirt, und in dem sie bis 
zum Eintritt in eine Dienststelle unentgeltlich verpflegt werden, sei Breslau. 
Nicht zu verwechseln sind diese Pflegestätten für Wöchnerinnen mit den 
Asylen für Schwangere und Kreissende. 

2. Den Gerichtsarzt interessirt dagegen in höherem Grade folgender Vortrag 
des Dr. Brosin über Ueberreife des Neugeborenen: 

„Es sind nur vereinzelte Fälle bekannt, in denen die Schwangerschafts¬ 
dauer auf mehr als 300 Tage berechnet wurde und in denen zugleich eine 
ungewöhnliche Entwickelung des Kindes, nennen wir sie „Ueberreife“, den 
Partus serotinus beglaubigte. 

Vorliegender todtgeborener Knabe wird Ihnen sofort durch seine Körper¬ 
grösse auflallen. Seine Länge beträgt 60 Ctm, sein Gewicht 5770 Grm. 
Schulterbreite = 17 Ctm., Hüftbreite = 13 Ctm. Grösster Kopfumfang 
= 41 Ctm., 

Diam. r. =13 Ctm. 

„ tr. mj. = 10 „ 

„ tr. min. = 9 „ 

„ obl. mj. =15 „ 

„ obl. min. = 11 „ 

Die Haare erreichen eine Länge von 3 Ctm., an den Nägeln der Finger 
und Zehen, sowie am Nabel ist Auffallendes nicht zu bemerKen. 

Frau R., die Mutter dieses Riesenkindes, ist kaum von mittlerer Grösse, 
aber sehr kräftig gebaut und ungewöhnlich fett. Sie ist zur Zeit VIpara. 
Die Anamnese ergiebt: Abort im Jahre 1881 (Retroflexio uteri). Normale 
Geburten 1882, 1884 und 1885. Am 19. Mai 1887 wurde wegen verzögerter 
Geburt poliklinische Hülfe in Anspruch genommen. Das Kind kam spontan 
in Schädellage tief asphyktisch zur Welt. Die 113 Ctm. lange Nabelschnur 
war zweimal um den Hals geschlungen. Wiederbelebung gelang nach Aus¬ 
saugen der Luftwege, doch starb der Knabe zwei Tage später an Bronchitis. 
Die Länge des Kindes finde ich im poliklinischen Bericht auf 53 Ctm. an¬ 
gegeben. Die Kopfmasse (grösster Umfang 38 Ctm. etc.) lassen darauf 
schliessen, dass die Entwickelung des Kindes eine ungewöhnliche war. Die 
letzte Menstruation soll Mitte Juni 1886 stattgefunden haben. Frau R. 
weiss sich dessen nicht mehr zu entsinnen, giebt aber mit Bestimmtheit 
an, dass sie schon damals den Eintritt der Geburt viel früher erwartet habe. 
Es dürfte sich demnach auch im Jahre 1887 um einen Partus serotinus 
gehandelt haben. 

Mit Sicherheit lässt sich dieses für den jetzigen Geburtsfall nachweisen. 
Die letzte Regel dauerte von Sonntag den 17. bis Mittwoch den 20. Juli 
1887. Am 5. oder 6. Januar 1888 wurden zuerst Kindesbewegungen wahr¬ 
genommen. Seit Mitte Mai verspürte Frau R. bisweilen ziehende und 
drückende Schmerzen im Kreuze „fast als wollten Wehen kommen“. Doch 
erst am 4. Juni in den ersten Nachmittagsstunden begann eine wirkliche 
Wehenthätigkeit, nachdem Vormittags um 10 Uhr das Fruchtwasser abge¬ 
gangen war. Um 3 Uhr Nachmittags wurden die Wehen kräftiger, um 
6 Uhr fand die Hebamme den Muttermund nahezu erweitert, den Kopf 
noch beweglich auf dem Beckeneingang. Einige besonders kräftige Wehen 
trieben den Kopf überraschend schnell durch das (sehr geräumig gebaute) 
Becken. Der Kopf wurde geboren, nun aber stockte die Geburt. Das 
Kind gab deutliche Lebenszeichen von sich, es schnappte wiederholt nach 
Luft. Trotz grösster Anstrengung gelang es der Hebamme erst nach fast 
halbstündiger Arbeit die Schultern durch das Becken zu ziehen, die hintere 
Schulter über den sehr nachgiebigen Damm zu heben und den Rumpf zu 
entwickeln. Das Kind war inzwischen abgestorben. Gleich nach dem 
Durchschneiden des Kopfes hatte die Hebamme von der Klinik Hülfe 



Kleinere Mittheilungen. 


315 


erbeten; 15 Minuten nach beendeter Geburt war ich zur Stelle, konnte 
aber an dem Neugeborenen Lebenszeichen nicht mehr entdecken. — Die 
Placenta war gleich nach dem Kinde geboren. Sie wiegt 970 Grm. und 
lässt, wie Sie sahen, ausser reichlichen Kalkablagerungen auf ihrer uterinen 
Fläche irgend welche Abnormitäten oder Veränderungen repressiver Art 
nicht bemerken. Die Nabelschnur erreicht eine Länge von 99 Ctm. 

Den Tag der Conception weiss Frau R., die glücklich verheirathet ist, 
nicht anzugeben. Rechnen wir die Schwangerschaft vom 17. Juli 1887, 
dem ersten Tage der letzten Regel, bis zum 4. Juni, dem Ta^e der Geburt, 
so erhalten wir eine Dauer derselben von 324 Tagen. Es ist dies ein 
Ergebniss, welches nicht nur dem Geburtshelfer, sondern unter Umständen 
auch dem Richter und dem Gesetzgeber von Wichtigkeit sein dürfte.“ 

Mittenzweig. 


Zur gerlebtsärztllchen Diagnose des infectiüsen Trippers, von Dr. 

Mi ttenzweig. 

Bei der zunehmenden Wichtigkeit, welche die Untersuchung des Genital- 
Secrets bei Erwachsenen und Kindern auch für den Gerichtsarzt gewonnen 
hat, lenke ich die Aufmerksamkeit auf nachstehende Färbemethode der Gono- 
coccen des Herrn Dr. Gollasch, deren Anwendung sich durch die Sicherheit 
und Dauerhaftigkeit der Färbung namentlich für gerichtsärztliche Unter¬ 
suchungen empfiehlt. 

Ausserdem gestatte ich mir darauf hinzuweißen, dass zur Gewinnung 
gonococcenhaltigen Secrets bei Frauen besonders geeignet ist die Entnahme 
desselben aus dem Scheidenkanal und aus den Bartholini'sehen Drüsen und 
dass die kindliche Schleimhaut einen besonders guten Nährboden für diese 
Coccenart darzubieten scheint. 

Findet man innerhalb des Zellenleibes die gefärbten Coccen, so kann 
man nach meinen Erfahrungen mit Sicherheit das Vorhandensein des infectiösen 
Trippergiftes behaupten, auch ohne Differentialfärbungen vorzunehmen, da 
andere Coccenarten hier kaum in Frage kommen. 

Färbung der Gonococcen nach Dr. Gollasch, früherer Assistent des 
Herrn Prof. Ehrlich: 

Zur Ausführung der Doppelfärbung bedient man sich zweier Lösungen: In 
ein trockenes Reagensglas giesst man 5 ccm Xylol und 10 ccm Alkohol abs. 
Zu dieser Mischung thut man so viel Fuchsin in Substanz, bis eine gesättigte 
Lösung dieses Farbstoffes entsteht. Zur Vorfärbung benützt man die Löffler’sche 
(alkalische) Methylenblaulösung. (30 ccm concentr. alkohol. Methylenblau¬ 
lösung und 100 ccm einer KalUaugenlösung von 1:10000). 

Um ein gleichmässig doppelt gefärbtes Bild zu bekommen, vertheilt man 
den Eiter am besten in der Weise, dass man auf ein trockenes Deckgläschen 
einen kleinen Tropfen Eiter bringt, ein zweites Deckgläschen darauf legt, sanft 
andrückt und nun beide Deckgläschen auseinanderzieht. Auf diese Weise ist 
es möglich, eine völlig gleichmässige Schicht zu erzielen, die für diese 
Färbung vortlieilhaft ist. Das mässig erhitzte Präparat wird nun zunächst 
mit Löfflerschem Methylenblau ca. 10 Minuten vorgefärbt und ohne abzuspülen, 
mit der oben angegebenen Fuchsinlösung ein- bis zweimal übergossen. Ist so 
das Methylenblau durch die Fuchsinlösung heruntergespült, was nach einigen 
Secunden geschieht, so wird das Präparat in Wasser abgespült und in der 
üblichen Weise für die mikroskopische Untersuchung in Balsam eingelegt. 

Es erscheinen nunmehr die Gonococcen blau, während die Kerne und 
das Protoplasma der polynucleären Eiterzellen das Fuchsin angenommen 
haben. Diese Doppelfärbung giebt zunächst gute Demonstrationspräparate, 
ferner ist es mittels dieser Methode möglich, vereinzelte resp. spärliche Gono¬ 
coccen in kürzerer Zeit aufzufinden als an dem einfach gefärbten Methylen¬ 
blaupräparat und schliesslich besitzen diese Präparate grosse Haltbarkeit. 



316 


Kleinere Mittheilungen. 


Das Stottern* Kreisphysikus Dr. Schilling, Wartenberg. 

Nur schwer kann sich heute der Arzt der immer mehr zu Tage tretenden 
Nothwendigkeit, das Stottern als eine Krankheit beachten und heilen zu lernen, 
verschliessen, da das Uebel weiter verbreitet ist, als man gewöhnlich glaubt 
und dem Schulkinde in seiner Entwicklung ebenso wie dem Erwachsenen im 
Leben hinderlich wird. Ebenso wenig darf sich aber auch der Medicinalbeamte 
dieser Kategorie von Patienten fremd gegenüber stellen. Denn wenn auch der Schule 
nicht direkt causale Schädlichkeiten wie bei der Myopie, Skoliose etc. beizumessen 
sind, so verlangen der Schutz der Schulkinder vor dem geistigen Contagium 
(ähnlich der Chorea St. Vt.), die geringen Fortschritte der Betreffenden beim 

f ewöhnlichen Schulunterrichte, die weitere Entwicklungsfrago etc. ebenso eine 
ürsorge, wie der Sprachlose, der Taubstumme oder Geisteskranke. 

Da wir über die geographische Verbreitung und über die numerische 
Häufigkeit in Deutschland gegenwärtig nur zum geringsten Theile unterrichtet 
sind, so glaube ich, kann diese Frage einer wesentlichen Klärung durch die 
Medicinalbeamten näher gebracht werden. 

Coön sagt in seiner Pathologie und Therapie der Sprechanomalien: 
„Was die Häufigkeit des Stotterns in europäischen Ländern anbelangt, so 
ist es ganz besonders in Deutschland, Russland, Grossbritannien, Frankreich, 
Oesterreich-Ungarn, Holland, Schweden und der Schweiz vertreten, während es 
in Rumänien, Belgien, Italien, Spanien und Portugal nur sporadisch auftritt.“ 

Er geht dann näher auf die Häufigkeitsskala ein und fährt fort: 

„Im Allgemeinen lässt sich die Behauptung aufstellon, dass in Gebirgs- 
rogionen, auf dem Lande oder in Gegenden, welche dem Weltverkehre ent¬ 
rückt oder von ihm gänzlich ausgeschlossen sind, wo also die Leute mehr 
unter sich oder einsam leben, das Stottern häufiger als in volksreichen Städ¬ 
ten und in den grossen Civilisationscentren vorkommt, wenn auch nicht ge¬ 
leugnet werden kann, dass das Stottern auch in diesen Mittelpunkten noch 
oft genug beobachtet wird.“ 

Die Punkte, welche besonders in Betracht kommen, sind: 

1) Procentsatz. 

2) Stand der Eltern. 

3) Alter. 

4) Geschlecht. 

5) Ursache { 

6, Art des Stotteras { 

7) Geistesfähigkeit. 

8) Simulation? 

Eine bezügliche Nachfrage im Kreise Wartenberg hat ergeben, dass von 
6622 Kindern 38, also circa 1 :170 mit diesem Sprechfehler behaftet sind. 
Dem Alter nach vertheilt sich das Verhältniss so: 

Zahl der Jahre: 6 7 8 9 10 11 12 13 14 
Zahl der Stotterer — 5754 5 6 5 1 

Das achte und zwölfte Jahr zeigt zwei Steigerungen, als ob die ersten An¬ 
forderungen in der Schule und später beim Eintritt ins Leben, welcher Zeit¬ 
punkt bei der Landbevölkerung meist auf das 12—14 Jahr fällt, von Einfluss 
wären. Doch ist es nicht angezeigt, aus diesen geringen Zahlen weitere 
Schlüsse zu ziehen. 

Ursache war in 9 Fähen Erbfehler, in einer Familie stottert der Vater 
und 4 Kinder, in 5 Fällen wurde ein Schlag oder Stoss auf den Rücken und 
Kopf, bisweilen auch Schreck angeschuldigt; oft konnte keine Ursache ange¬ 
geben werden. 

Auffallend ist, dass von 38 Kindern nur ein Mädchen stottert. 

Die polnischen Dörfer, welche an die Provinz Posen grenzen, weisen die 
grösste Zahl auf; es ist dies um so erklärlicher, als der Pole viele Buchstaben 
beim Sprechen nicht ausspricht, gewissermassen verschluckt und meist nur eine 



Referate. — Verordnungen und Verfügungen. 


317 


Silbe scharf, im Gegensatz zu den Chinesen, betont, welche keine Stotterer 
kennen und sich durch deklamatorische, wohl artikulirte Sprechweise aus¬ 
zeichnen, wobei einem Worte eine vielfache Betonung zufällt, um die Be¬ 
deutung des Wortes zu erlangen. 


Referate. 

Der Bacillus. Eine Humoreske für Aerzte und sonstige 
Liebhaber in 2 Akten von Dr. Thomas Diaforius. Stutt¬ 
gart, Verlag von Rob. Lutz, 1888. 

ln geistreicher Weise geisselt der Verfasser in dieser Humoreske die un¬ 
sinnigen Anforderungen, welche das Leben an den jungen Arzt stellt und 
gleichzeitig die thörichten Wege, auf welche der Arzt durch sie gelenkt wird. 
Die Entdeckung des Migränebacillus und das Glück des Entdeckers wird am 
Schlüsse des Stückes durch die Reinigungswuth der Putzerin vereitelt, und der un- 

f lückliche Entdecker kommt nur dadurch zu Glück, Vermögen und Stellung, 
ass er der alten Tante seiner Braut mit Erfolg die Hühneraugen operirt hat. 
Das Stück ist unterhaltend geschrieben und mit scherzhaften, aber tretfenden 
Schilderungen gewürzt und bietet Gelegenheit, eine müssige Stunde in launiger 
Unterhaltung schwinden zu lassen. 

Mittenzweig. 


Verordnungen und Vertilgungen. 

Der Betrieb von Mineralwasser-Fabriken. Polizeiverordnung des 
Königl. Polizeipräsidium zu Berlin vom 9. April 1888. 

Auf Grund der §§ 143 und 144 des Gesetzes über die allgemeine Landes- 
Verwaltung vom 30. Juli 1883 (Gesetzsammlung Seite 195 ff.) und der §§ 5 ff 
des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 1850 (Gesetzsammlung 
Seite 265 ff.) wird mit Zustimmung des Gemeindevorstandes für den Stadtkreis 
Berlin das Folgende verordnet: 

§ 1. Die Räume, in welchen künstliche Mineralwasser dargestellt werden, 
müssen gut ventilirt, geräumig und so hell sein, dass die darin aufgestellten 
Apparate in allen Einzelheiten genau beobachtet werden können. 

§ 2, Die Verwendung von Brunnenwasser ist ausgeschlossen. 

§ 3. Die bei der Bereitung der Mineralwasser zu verwendenden Salze 
müssen die, durch die Pharmacopoe vorgeschriebene chemische Reinheit haben. 

§ 4. Alle Apparate, in welchen ein, den gewöhnlichen Luftdruck über¬ 
steigender Druck hervorgebracht wird, sind aus gutem Kupferblech, welches 
innen stark verzinnt ist, herzustellen. Der bei der Arbeit herrschende Maximal¬ 
druck ist in unabnehmbarer Schrift auf dem Apparat deutlich anzugeben. 

§ 5. Diese Apparate sind mit Manometer und Sicherheit«-Ventil zu ver¬ 
sehen, welche den Druck im Apparate genau angeben, beziehungsweise bei 
der Ueberschreitung desselben abblasen. Die Sicherheitsventile dürfen nicht 
überlastet, nicht mit Gummiplatten versehen oder gar festgekeilt werden. 

§ 6. Bei denjenigen Anlagen, in welchen flüssige Kohlensäure zur Ver¬ 
wendung gelangt, ist zwischen der Flasche, in welcher die flüssige Kohlensäure 
bezogen wird und dem Mischgefass ein Expansionsgeföss von dem Inhalte von 
mindestens 100 Litern einzuschalten. Die Flasche muss mit Reductions-Ventil 
versehen, das Expansionsgefäss so, wie in den §§ 4 und 5 angeordnet, be¬ 
schaffen sein. 



318 


Verordnungen und Verfügungen. 


§ 7. Der Betrieb darf nicht eher begonnen werden, als bis die Prüfung 
der Betriebsstätte und der aufgestellten Apparate auf ihre Beschaffenheit be¬ 
ziehungsweise Zuverlässigkeit nach Massgabe dieser Verordnung durch einen 
Sachverständigen erfolgt, eine Bescheinigung darüber dem Polizei-Präsidium 
vorgelegt und Genehmigung des Betriebs ertheilt worden ist. 

§ 8. Die Apparate werden alle zwei Jahre auf ihre gute Verzinnung 
und auf ihre Zuverlässigkeit, indem sie dem Vl 2 fachen Ueberdrucke ausge- 
setzt werden, durch einen Sachverständigen geprüft. Der Nachweis der er¬ 
folgten Prüfung ist durch Vorlage der Bescheinigung dieses Sachverständigen 
dem Polizei-Präsidium oder dessen Vertretern auf Erfordern zu führen. 

Diese Vorschrift erstreckt sich auch auf die tragbaren Gefässe, in welchen 
die kohlensäurehaltigen Wasser zum Ausschank ausserhalb des Fabriklokals 
gelangen. 

§ 9. Die Sachverständigen (§§ 7 und 8) werden vom Polizei-Präsidium 
ernannt, welches auch die, von den Unternehmern zu zahlenden Prüfungs- 
Gebühren festsetzt. 

§ 10. Zur thunlichsten Sicherung der Arbeit gegen Gefahren sind ferner 
die mit kohlensäurehaltigem Wasser gefüllten Flaschen bei ihrem Verschlüssen 
mit Sicherheitskörben aus starkem enggeflochtenem Draht zu überdecken, auch 
sind geeignete Schutzbrillen vorzuhalten. 

§ 11. Uebertretungen dieser Verordnung werden, sofern nicht die Be¬ 
stimmungen des § 147 zu 4 der Gewerbe-Ordnung beziehungsweise des § 367 
No. 6 des Strafgesetzbuchs Anwendung finden, mit Geldstrafe bis zu 30 Mark 
bestraft, an deren Stelle im Falle des Unvermögens entsprechende Haft tritt. 

§ 12. Vorstehende Polizei-Verordnung tritt mit dem 15. Mai 1888 
in Kraft. 


Anrechnung der Militärdienstzett der Pharmacenten ln die dreijährige 
Servierzeit* Erlass des Reichskanzlers (gez. im Auftr. Bosse) vom 

8. September 1888. 

Dem geschäftsführenden Ausschuss des Vorstandes des Deutschen Apo¬ 
theker-Vereins erwidere ich auf die gefällige Zuschrift vom 27. v. M. ergebenst, 
dass gegenwärtig im ganzen Reichsgebiete denjenigen Pharmaceuten, welche 
während ihrer Servierzeit ihrer Militärzeit genügen, die Zeit des Militärdienstes 
in die vorgeschriebene dreijährige Servierzeit eingerechnet wird, vorausgesetzt, 
dass der betreffende Pharmaceut auch während seines Militärdienstes, soweit 
letzterer es ihm gestattete, in einer Apotheke als Gehilfe thätig war und hier¬ 
über ein Servierzeugniss beizubringen vermag. 


Denselben Gegenstand betreffender Circular-Erlass des Ministers der 
geistichen u. s. w. Angelegenheiten vom 14. September 1888 (gez. 
in Vertr. Nasse) an sämmtliche Königl. Universität skuratoren. 

Der Herr Reichskanzler hatte sich damit einverstanden erklärt, dass den 
Pharmaceuten gestattet werde, während ihrer dreijährigen Servierzeit der 
Militärpflicht zu genügen. Hierdurch scheint die irrthümliche Auffassung ver¬ 
anlasst zu sein, dass diejenigen Pharmaceuten, welche in der Zeit zwischen der 
Gehilfenprüfung und dem Beginn des Universitätsstudiums ihrer Militärpflicht 
genügen, nur noch eine zweijährige Servierzeit nachzuweisen verpflichtet seien. 
Diese Annahme ist insofern eine unhaltbare, als eine derartige Handhabung 
der Prüfungsvorschriften thatsächlich eine Abkürzung der Servierzeit in sich 
schliessen würde. Nach Bestimmung des Herrn Reichskanzlers kann die An¬ 
rechnung der Militärzeit in die Servierzeit nur dann in Frage kommen, wenn 
der betreffende Pharmaceut auch während seines Militärdienstes soweit letzterer 
es ihm gestattet, in einer Apotheke als Gehilfe thätig gewesen ist und hier¬ 
über ein Servierzeugniss beizubringen vermag. 

Ew. Hochwohlgeboren wollen dies in geeigneter Weise gefälligst zur 
Kenntniss der Botheiligten bringen. 



Literatur. — Personalien. 


319 


Die Einforderang eines Physikats-Ootachten bei Anlegung oder Erweiterung 
der Kirchhöfe geschieht im landespolisellichen Interesse und hat die 
Staatskasse die dadurch entstehenden Kosten za tragen. Verfügung des 
Ministers der geistlichen u. s. w. Angelegenheiten vom 12. J uli 1888 
(gez. im Aufträge Greiff), G. I. J. N.954. M. 2817, an die Kgl. Regierung in L. 

Auf den Bericht vom 30. Januar d J., II. 9, dessen Anlage anbei zurück¬ 
erfolgt, erwidere ich der Königlichen Regierung, dass, wenngleich es im In¬ 
teresse eines beschleunigteren Geschäftsganges für wünschenswerth zu erachten 
ist, dass die Kirchenvorstände bei Nachsuclmng der Genehmigung zur Anlegung 
neuer oder zur Erweiterung bestehender Kirchhöfe ein Pliysikats-Attest über 
die Geeignetheit des gewählten Platzes in sanitärer Beziehung vorlegen, die¬ 
selben mangels einer gesetzlichen Bestimmung doch nicht hierzu angehalten 
werden können. Der von der Königlichen Regierung in Bezug genommene 
§ 1 Absatz 1 und 2 des Gesetzes vom 9. März 1872 trifft nicht zu, da bei der 
Anlegung öffentlicher Begräbnissplutze weder Privatinteressen in Frage stehen, 
noch die Thätigkeit der Medicinal-Beamten für solche ortspolizeiliche Interes¬ 
sen der Gemeinden in Anspruch genommen wird, deren Befriedigung den 
letzteren gesetzlich obliegt. 

Da es einem Zweifel nicht unterliegen kann, dass die Anlegung neuer 
Friedhöfe über die örtlichen Interessen hinausgeht und allgemeine Interessen 
des Landes, insbesondere auch in sanitärer Beziehung, berührt, so wird event. 
die Königliche Regierung das Gutachten des Kreis-Physikus zu erfordern und 
die Kosten gemäss § 1, Abs. 1 a. a. 0. auf die Staatskasse anzuweisen haben. 

Hiernach wolle die Königliche Regierung in Zukunft verfahren. 


Literatur. 

(Der Redaction zur Recension eingegangen.) 

1. Dr. M. Freyer, Kreisphysikus in Stettin. Wie ist unser Hebaramen¬ 
wesen rationell zu bessern? Berlin, Verlag von Julius Springer, 1888. 

2. Dr. Robert Behla, Königl. Kreiswundarzt. Die Gesundheitsverhältnisse 
des Kreises Luckau. Luckau N.-L. Druck der Entlautner’schen Buch¬ 
druckerei (Otto Moschütz), 1884. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Der Charakter als Geheimer Medicinalrath: den 
ordentlichen Professoren Medicinalrath Dr. Karsch in Münster und Dr. Kal¬ 
tenbach in Halle a. S.; als Geheimer Sanitätsrath: dem praktischen 
Arzt Sanitätsrath Dr. Ohrtmann in Berlin; als Sanitätsrath: dem Polizei- 
Stadtphysikus Dr. Schulz, sowie den praktischen Aerzten Dr. Fröhlich und 
Dr. Herold in Berlin; dem Polizei-Bezirksphysikus Dr. Schmiedel und dem 
praktischen Arzt Dr. Schmeidler in Breslau, den prakt. Arzt Dr. Glucz- 
czewski in Buckowitz und Dr. Collas in Graudenz, sowie dem Direktor der 
Rheinischen Prov. Irrenanstalt Dr. Nötel in Andernach. — Der Kronenorden 
HI. Classe: den Oberstabsärzten I. CI. und Regimentsärzten Dr. Rothe in Rostock 
und Dr. Horn in Berlin, dem bisherigen Kreisphysikus Geh. Med.-Rath Prof. 
Dr. Haeckermann in Greifswald, dem Sanitätsrath Dr. Gürke in Bunzlau 
und dem praktischen Arzt Sanitätsrath Dr. Cohn in Elbing; der Rothe 
Adlerorden III. Classe: dem Oberstabsarzt I. CI. und Regimentsarzt Dr. 
Weidener in Brandenburg a./H.; der Rothe Adlerorden IV. Classe: dem 
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hartmann und dem Bezirksphysikus Geh. Sanitäts¬ 
rath Dr. Sieber in Berlin; den praktischen Aerzten Geh. Sanitätsrath Dr. 
Cohen in Hannover, Dr. Kelle in Hildesheim, Dr. Heidemann in Sonnen¬ 
burg, Dr. Müller in Herzberg, Dr. Hautei in Elbing und Hausmann in 
Wennebostel sowie den Oberstabsärzten II. CI. und Regimentsärzten Dr. Ass- 
mann in Spandau, Dr. Lenz in Schwedt, Dr. Richter in Brandenburg a./H., 
Dr. Jarosch in Perleberg und dem Stabs- und Bataillonsazt Dr. Hering in 



320 


Personalien. 


Frankfurt a. Oder; das Kreuz des Königl. Hausordens von Hohen- 
zoIlern: dem Generalarzt II. Classe und Regimentsarzt Dr. Krautwurst 
in Berlin — Die Allerhöchste Genehmigung ertheilt zur An¬ 
legung: de« Kom thu rkreu zes des G ros sherzogl. Sachs. Haus¬ 
ordens der Wachsamkeit: dem Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Gerhardt 
in Berlin; des Kom thurkreuzes II. Classe des Herzogi. Sachs. 
Ernest. Hausordens: dem Geheimen Medicinalrath Prof. Dr. Meyer in 
Göttingen und Geh. Sanitätsrath Prof. Dr. Tobold in Berlin; des Ritter¬ 
kreuzes L Classe desselben Ordens: dem Direktor der Prov. Irren¬ 
anstalt Dr. Paetz in Altscherbitz; des Fürstl. Reuss. Ehrenkreuzes 
U. Klasse: dem Oberstabsarzt a. D. Dr. Ridder in Bückeburg; des Gross- 
herzogl. Hess. Ritterkreuzes I. Classe des Verdienstordens Philipp 
des Grossmüthigen und des Kaiserl. Russischen Stanislaus-Ordens 
II. Classe: dem Marine Stabsarzt Dr. Thoerner. 

Ernennungen: 

Der bisherige ordentliche Professor Dr. Schultze in Dorpat zum ordent¬ 
lichen Professor in der medicinischen Fakultät der Universität Bonn; die bis¬ 
herigen Privatdocenten Oberstabsarzt Dr. Trautmann in Berlin und Kreis- 
physikus Dr. Boumer in Greifswald zu ausserordentlichen Professoren; der 
Kreisphysikus des Landkreises Wiesbaden Dr. Pfeiffer zugleich zum Physikus 
des »Stadtkreises Wiesbaden, der praktische Arzt Dr. Reh der in Flensburg 
zum Kreisphysikus des Kreises Apenrade und der praktische Arzt Dr. Diet¬ 
rich in Möckern unter Belassung an seinem Wohnsitz zum Kreiswundarzt des 
Kreises Jerichow 1. 


Verstorben sind: 

Die Kreisphysiker und Geh. Sanitätsräthe Dr. Feld mann in Elberfeld, 
Dr. Hartcop in Lennep und Dr. von Heer in Oppeln; der Generalarzt a. D. 
Dr. Gronert in Berlin, die praktischen Aerzte Schmidt in Bialla, Dr. 
BrUningin Dorum, Sanitätsrath Dr. Reinhardt in Neuss, Dr. Markus 
in Hirschberg i./Schl., Dr. Nagel in Baumholder, Dr. Mügge in Stade, sowie 
Dr. Lublinski und Sanitätsrath von Gustorf in Berlin. 

Vakante Stellen: 

Kreisphysikate: Johannisburg, Wehlau, Putzig, Filohne, Witkowo, 
Koschmin, Noutomischol, Schildberg, Schmiegel, Kalbe, Lehe, Hümmling, 
Neustadt a. R., Adenau, Daun, Stadtkreis Elberfeld, Lennep und Oberamt 
Gammertingen. 

Kreiswundarztstellen: Fischhausen, Labiau, Mohrungen, Darkehmen, 
Heiligenboil, Hoydekrug, Oletzko, Ragnit, Tilsit, Karthaus, Loebau, Marienburg, 
Tuchei, Schubin, Angermünde, Templin, Friedeberg. Landsberg a. W., Soldin, 
Ost- und West-Sternborg, Regenwalde, Bütow, Dramburg, Greifenhagen, Schievel- 
bein, Bomst, Moseritz, Schroda, Wreschen, Strehlen, Ohlau, Hoyerswerda, 
Reichenbach, Falkenberg o./Schl., Grimberg, Grottkau, Oschersleben, Wanz- 
lcben, Wernigerode, Saalkreis, Naumburg a. S., Koesfeldt, Borken, Reckling- 
hausen, Steinfurt, Warendorf, Höxter, Warburg, Lippstadt, Meschede, Fulda, 
Hünfeld, Kempen, Zell, Klove, Bergheim, Rheinbach, Wipperfürth, St. Wendel 
und Haigerloch. 


Druckfehler: Im Referate No. 9 pag. 274 ist zu losen „in sieben Fäl¬ 
len* statt „in Fiobertallon.* 


Verantwortlicher Redacteur: Dr. H. Mittenzweig, Berlin. Winterfeldt<tr. 3. 
Druck d«*r Fürstl. prhr. HofluichdruckerM (F. MlUlsff), Rndolstadt. 



Jahrg. 1, 


1888 , 


Zeitschrift 

für 

MEDICINALBEAMTE 


Herausgegeben von 

De H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

Gericht!. Stadtphysikus in Berlin. Reg.* und Medicinalrath in Aurich. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer 1 : medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 


No. 11. 


Erscheint am 1. Jede« 9fo««ta« 

Prei8 jährlich 6 Mark. 


1. Novbr. 


Originol-Mittheilungen 
Tod «nf den Schienen, oder durch Ein¬ 
klemmen des Halses zwischen Thür 
nnd Pfosten. Von Dr. L. Blumenstok 321 

Kleinere Mittheilungen.333 

Referate: 

Dr. Pal tauf. Ueber den Tod durch Er¬ 
trinken nach Stadien an Menschen 

und Thleren.334 

Dr. tileltsmann. Die ländlichen Volks¬ 
schulen des Kreises Zanch-Belzig in 
gesundheitlicher Beziehung . . . 338 

Dr. Rettmer. Zur Geschichte und Sta¬ 
tistik der Menschenblattern und der 
Schutzpockenimpfung im Grossher- 
zogthume Hessen.339 


Seite 

Dr. Pelper. Die Schutzimpfung und 
Ihre Ausführung. — Dr. Pfeiffer. Die 
Schutzpockenimpfling. — Dr. Rap¬ 
mund. Das Helchslmpfgesetz nebst 
Ausführungsbesttmraungen .... 340 
Dr. Freyer. Wie ist unser Hebammen¬ 
wesen ratlonoll zu bessern ? ... 342 

Dr. Popoff. Ueber die Veränderungen 
im Rückenmarke des Menschen nach 


aknter Arsenvergiftung.342 

de ({uineej. Bekenntnisse eines Opium¬ 
essers .343 

Dr. freiend. Herrschermacht und Gei¬ 
steskrankheit .343 

Verordnungen und Verfügungen . 843 

Personalien.36a 


INHALT 

Seite . 


Tod auf den Schienen, oder durch Einklemmen des 
Halses zwischen Thür und Pfosten. 

Von Prof. Dr. L. Blumenstok in Krakau. 

In der Nacht vom 23. auf den 24. September wurde auf dem 
Geleise der galizischen Karl-Ludwig-Bahn, in der Nähe des 
Wächterhäuschens No. 398, die Leiche des Anton G. gefunden. 
Ein 15 jähriger Bursche, welcher vom Wächterhause No. 399 mit 
einer Botschaft zu No. 398 ging, stiess neben den Schienen auf 
einen leblosen Menschen, in welchem er sofort den Anton G. 
erkannte. Derselbe lag mit dem Rücken nach aufwärts, das 
Gesicht war dem Graben zugewendet, die rechte untere Extre¬ 
mität gestreckt und parallel zu den Schienen, die linke hing zum 
Graben hinunter. In der Nähe des Gesichtes reichliche Blut¬ 
spuren am Boden. Denatus hatte Stiefel und Beinkleider an, 
während der Oberkörper entblösst war, indem die Weste unweit 
der Leiche lag, das Hemd aber bis zum Gürtel herabgeschürzt 
nur in den Beinkleidern stak. Zeuge lief sofort zum Vater des 
Entseelten, welcher als Bahnwächter in dem ungefähr 20 Schritte 
von dem Fundorte befindlichen Wächterhause wohnte; er betrat 

21 













322 


Prof. Dr. L. Blumenstok. 


dieses Häuschen um 9 Uhr 20 Minuten Bahnzeit, etwa */ a Stunde 
nachdem der letzte Zug jene Stelle passirt hatte. Der Vater 
zündete eine Laterne an und ging sofort mit dem Zeugen an die 
von Letzterem bezeichnete Stelle, wo sie Beide den Leichnam 
abseits von den Schienen legten. Zwei andere, in der Nähe des 
Wächterhauses 398 wohnende Bauern sagten aus, dass sie an jenem 
Abend von jenem Hause kommende Hilferufe vernommen hätten. 

Anton G., 19 Jahre alt, war der einzige Sohn des Bahn¬ 
wächters Josef G.; er war als Taglöhner bei der Bahn beschäftigt, 
nach Aussage Beiner Collegen fleissig, sanft, nicht streitsüchtig, 
besass nie Geld, da er alles, was er verdiente, seinem Vater gab, 
bei dem er wohnte. Zeuge Juda B. giebt an, gehört zu haben, 
dass der Alte den Sohn schlecht behandelte, und ein anderer 
Zeuge deponirt, dass der Entseelte sich vor ihm über die schlechte 
Behandlung seitens seines Vaters beklagte und am 20. September, 
also 3 Tage vor seinem Tode, erklärte: „Ich werde nicht mehr 
lange leben, denn der Vater will mich todtschlagen, wie einen 
Hund.“ Da auch anderweitige Zeugen Thatsachen angaben, 
welche für schlechte Behandlung seitens des Vaters sprachen, so 
entstand der Verdacht, dass Josef G. Schuld trage an dem Tode 
seines Sohnes, wenngleich die Untersuchung ein hinlängliches 
Motiv nicht nachzuweisen vermochte. 

Der Angeschuldigte ist 50 Jahre alt; er verheirathete sich 
vor 23 Jahren, lebte 18 Jahre mit seiner Frau, welche er vor 
5 Jahren verstiess, da sie an Gelenkentzündung erkrankte und 
nicht arbeiten konnte; er liess sich in eine entfernte Gegend 
transferiren und nahm statt seiner Frau eine Geliebte mit, 
Caroline N., welche damals 29 Jahre zählte, ledig, und Mutter 
eines unehelichen Mädchens, Marie N., welche jetzt 7 Jahre zählt, 
war. Josef G. leugnet jede Schuld; er habe an jenem Abend mit 
seinem Sohne keinen Streit gehabt; als der Eisenbahnzug 
passirte, habe er mit der Laterne vor dem Wächterhause gestanden, 
während seine Geliebte schon im Bette lag; der Sohn habe sich 
entfernt, um Tabak zu holen, und sei nicht mehr zurückgekehrt. 
Die sofort vorgenommene ärztliche Untersuchung erwies beim Be¬ 
schuldigten keine Spur einer körperlichen Verletzung. Auch 
Caroline N. leugnet jede Schuld; nur giebt sie an, Anton G. habe 
den Vater beim Passiren des Zuges vertreten wollen, sei hinaus¬ 
gegangen und sie wisse nicht, auf welche Weise er ums Leben 
gekommen sei. Da die Gerichtscommission an der Thür des 
Wächterhauses verdächtige Flecke fand, welche das Aussehen von 
Blutflecken hatten, meinte Josef G., dieselben könnten von einer 
früheren Rauferei mit seinem Sohne stammen, Caroline N. aber, dass 
sie von einem geschlachteten Ferkel herrühren könnten. 

Am 29. September wurde die gerichtliche Section der Leiche 
des Anton G. von zwei Aerzten vorgenommen. Das Obductions- 
protocoll lautete wie folgt: 

A. Aeussere Besichtigung. 1) Leiche eines 19jährigen, 
kräftigen Jünglings, Körperlänge 1,68. Das Haupthaar kurz ge¬ 
schoren; am Hinterhaupte mehr nach rechts eine dreieckige 



Tod auf den Schienen, oder durch Einklemmen des Halses etc. 323 


Wunde, deren Schenkel 3 und 5,5 ctm. betragen; die Wundränder 
blutunterlaufen, platt und scharf, der zwischen den Schenkeln 
befindliche Hautlappen leicht abhebbar. Die Basis der dreieckigen 
Wunde bildet die unbeschädigte Kopfhaut. Der Hinterhaupt¬ 
knochen von der Beinhaut entblösst, gegen den Scheitel des 
Dreiecks furchenartig vertieft. Das Kopfhaar durch Blutgerinsel 
verklebt. 2) Die Nasenöffnungen mit Gerinseln gefüllt, die 
Zungenspitze zwischen die Zähne eingekeilt, zeigt Abdrücke der 
einzelnen Zähne. 3) Die linke Halsgegend schwarz, pergament¬ 
artig; an derselben weder Fingereindrücke noch Excoriationen zu 
sehen. Die erwähnte Veränderung nimmt den Baum zwischen 
Zungenbein und dem linken Sternocleidomastoideus ein. Bei der Be¬ 
tastung ist eine abnorme Beweglichkeit des Zungenbeines wahr¬ 
zunehmen. 4) Der Nacken stark geschwollen, im ganzen dunkel¬ 
blau in einer Länge von 10 cm. Beim Einschnitt sowohl in dem 
Unterhautgewebe als zwischen den einzelnen Muskeln reichliche 
Blutgerinsel. Die Gestalt und Verlauf sowohl der verfärbten 
Stellen als der Sugillationen striemenartig. 5) An der äusseren 
Fläche.des linken Armes oberhalb des Oberarmes eine 4 Kreuzer 
grosse, pergamentartige Excoriation, mit geringer Sugillation 
verbunden. 6) An den Fingern unbedeutende theils frische, theils 
bereits geheilte kleine Excoriationen. 7) Sonst ausser Fäulniss- 
veränderungen nichts Bemerkenswerthes. 

B. Innere Besichtigung. 8) Kopfhaut von innen blass, 
der beschriebenen Wunde entsprechend mit Blutgerinseln bedeckt, 
die Wundränder selbst und das Periost in der Nähe der Wunde 
mit Blut unterlaufen. Schädel compact. In der rechten Hälfte 
des Hinterhauptbeines ein bohnengrosses Loch, dessen Ränder 
glatt, oben Fragmente oder von denselben auslaufende Fissuren. 
Die äussere Fläche der Hirnhäute mit Gerinseln bedeckt. Harte 
und weiche Hirnhäute hyperämisch, die äussere Fläche des Ge¬ 
hirnes blutig tingirt, Hirnsubstanz hart, auf dem Durchschnitte 
Extravasate, Blutleiter enthalten viel geronnenes Blut; ebenso die 
Kammern. Schädelbasis unverletzt. 9) Nachträglich bemerken 
wir, dass auch auf der rechten Halsseite ein schwarzer Striemen 
von der rechten Ohrmuschel bis in die Mitte des Halses verläuft, 
welcher 6 cm lang, 1 */ 2 cm breit und pergamentartig ist. Beim 
Einschnitte fliesst reichlich Blut, die Halsmuskeln sind beider¬ 
seits zertrümmert und mit Blut infiltrirt. Das Zungenbein ist 
zwar unverletzt, aber von den Knorpeln des Kehlkopfes ganz ab¬ 
gelöst; diese Knorpel selbst sämmtlich zertrümmert. Ueber- 
haupt erstreckt sich die Zertrümmerung der Weichtheile des Halses 
von einem Sternocleidomastoideus bis zum anderen. Die Luft¬ 
röhre vom Kehlkopfe abgerissen. 10) Lungen lufthaltig, auf dem 
Durchschnitte schaumiges Blut entleerend. 11) Herz in jeder 
Beziehung normal, Kammern leer. 12) Magen enthält etwas 
Speisebrei. 13) Leber normal. 14) Ebenso die Milz und 15) die 
Nieren. 16) Darm gebläht, harte Faeces enthaltend. 17) Harnblase 
leer. 18) Das Hemd, welches der Verstorbene an hatte, unbe¬ 
schädigt; der Hut ebenso. 


2X * 



324 


Prof. Dr. L. Blumeustok. 


Auf Grund dieser Befunde erstatteten die Obducenten nach¬ 
stehendes Gutachten: 

Die Kopfverletzung wurde mit einem spitzigen Werkzeuge 
mit grosser Kraft beigebracht. Diese Verletzung war tödtlich, 
indem sie schnell durch Hirnerschütterung den Tod herbeiführte. 

Auf Hals und Nacken wirkte ein schwerer Druck und be¬ 
wirkte Zertrümmerung der Weichtheile und des Kehlkopfes und 
dadurch plötzlichen Tod. 

Der Umstand, dass an der Leiche keine Spuren von Kampf 
und Gegenwehr gefunden wurden, dass ferner an der Leiche das 
Hemd herabgeschürzt und gar nicht mit Blut besudelt war, Hut 
und Weste aber in der Nähe der Leiche lagen, spricht im ge¬ 
gebenen Falle für einen Selbstmord. Anton G. konnte vor An¬ 
langen des Zuges sich auf die Schienen mit dem Gesichte nach 
abwärts gelegt haben, durch einen hervorragenden, unteren Theil 
der Locomotive (wahrscheinlich durch eine scharfe Kante des 
Aschenkastens) ins Hinterhaupt getroffen, durch einen Haken oder 
eine Kette an Hals oder Nacken gefasst und gequetscht, darauf 
über die Schienen hinaus geschleudert oder gedrängt worden sein. 


Josef G. und seine Concubine Caroline N. wurden trotzdem 
als eines Verbrechens verdächtig in Haft genommen. Unterdessen 
war Marie G., die Ehegattin des Josef G., von dem plötzlichen 
Tode ihres Sohnes verständigt, an Ort und Stelle erschienen, und 
von Vornherein überzeugt, dass ihr Sohn nicht zufällig, geschweige 
denn freiwillig, sondern durch fremde Hand ums Leben gekommen 
sei, forschte sie aus eigenem Antriebe nach dem Urheber seines 
Todes. Nachdem sie mit Marie N., der 7 jährigen Tochter der 
Caroline N., Kücksprache gepflogen, gewann sie die Ueberzeugung, 
dass dieses Kind Augenzeuge der Katastrophe gewesen, in welcher 
ihr Sohn Anton G. umgekommen. Auf ihre Anzeige hin wurde 
das Kind zuerst vom Gemeindevorstande und dann gerichtlich 
vernommen. Die Aussage desselben lautete in wortgetreuer 
Uebersetzung wie folgt: 

„Ich will vor Gericht die Wahrheit sagen, was ich gesehen; 
wiewohl meine Mutter den Anton schlug, will ich nicht schweigen, 
obwohl der Herr sagt, dass ich gegen meine Mutter nicht aus- 
sagen muss; übrigens wünscht der Herr, so werde ich nicht 
sprechen; aber ich will erzählen, was ich gesehen; warum hat es 
auch die Mutter gethan. Ich war abends in der Stube, als 
Anton von der Arbeit nach Hause kam. Anton entkleidete sich, 
das heisst er nahm den schwarzen Bock ab und setzte sich in der 
Blouse auf einen Sessel neben der Commode. Bald darauf brachte 
die Mutter das Abendessen. Wir assen Knödel mit Kartoffeln. 
Anton ass ans einer Schüssel, Vater und Mutter aus der anderen, 
ich aus einer dritten, auf dem Boden neben dem Ofen sitzend. 
Nach dem Essen drehte Anton für sich und den Vater Cigaretten, 
beide rauchten, und sassen noch bei der Commode, als die Mutter 
zu den Kühen ging. Die Mutter kam dann zurück, durchseihte 



Tod auf den Schienen, oder durch Einklemmen des Halses etc. 325 


die Milch, ich lag schon im Bette heim Fenster, von wo man den 
Stall und von der anderen Seite die Ausgangsthtir sieht Die 
Mutter stellte die Milch in der zweiten Stube nieder, und kam 
in die erste Stube zurück; bald darauf ergriff der Vater den 
Anton an der einen, die Mutter an der anderen Hand, und zog 
ihn von der Commode ab gegen die Mitte der Stube. Hier knöpfte 
ihm die Mutter die Blouse auf und nahm sie ihm ab. Anton 
widersetzte sich sehr, während der Vater das Hemd ihm ab¬ 
nehmen wollte, dasselbe aber nur bis zum Gürtel abstreifen 
konnte. Darauf rief der Vater: vorwärts, zur Thür hinaus! Anton 
wollte nicht gehen, da zog ihn der Vater an der Hand, während 
die Mutter von rückwärts ihn fortstiess; so schafften sie ihn zur 
Thür hinaus und schlossen dieselbe. Dabei sprachen sie kein 
Wort Im Vorhause bat Anton anfangs um Verzeihung und 
sprach: vergieb mir, Vater, vergieb noch das letzte Mal, — dann 
rief er wiederholt: helfet, Leute, wer hört! Da schlich ich vom 
Bette, lüftete ein wenig die Zimmerthür und sah, wie Anton 
mit den Füssen im Vorhause stand, den Kopf draussen 
und den Nacken zwischen der Thür eingeklemmt hatte; 
die Mutter stand im Vorhause und schlug ihn mit einem Haken 
in die Schulter und den Kopf, eigentlich schlug sie ihn nicht in 
den Kopf. Der Vater stand im Vorhause neben der Thür und 
drückte Bie fest an. Darauf warf die Mutter den Haken weg 
und presste gleichfalls die Thür an. Anton röchelte zwischen der 
Thür. Ich schaute nicht lange hin, aus Furcht von den Eltern 
gesehen zu werden, und ging ins Bett zurück. Später ging ich 
aus der Stube ins Freie, als ich hörte, dass Vater und Mutter 
auf der Treppe zu einander sagten: Man wird glauben, dass ihn 
die Locomotive getödtet hat. Als ich hinauskam, befanden sich 
die Eltern auf der Treppe nahe der Brücke; der Vater stand 
höher, die Mutter tiefer und schleppte den Anton an der Hand, 
während der Vater seine Füsse nachstiess, denn er lag mit dem 
Kopfe nach unten und den Füssen nach oben; sie schleppten ihn 
über den Rasen neben der Treppe an jener Seite, wo die Lehne 
ist; darauf trugen sie ihn auf die Strecke, nach jener Seite, wo 
die Haltestation ist und legten ihn neben dem Pfeiler nieder. 
Ich stand damals neben der Signalstange, auf der Strecke war’s 
finster, aber die Eltern hatten Stiefel an und deshalb hörte ich, 
wie sie den Anton trugen und auf der Strecke neben dem Pfeiler 
niederlegten. Als die Eltern in die Stube zurückkehrten, lag ich 
schon wieder im Bett Die Mutter nahm Wasser aus der Küche, 
goss es im Vorhause in ein Schaff, wusch mit einer Bürste die 
Thür, wobei sie sich mit einer Lampe leuchtete, welche sie aus 
der Stube genommen und auf den Ofen im Vorhause gestellt 
hatte. Darauf entkleidete sie sich und begab sich zur Ruhe, und 
der Vater setzte sich neben die Commode bei meinem Bette. Er 
entkleidete sich nicht, sondern wartete angekleidet auf einen 
Zettel. Später legte er sich aufs Bett neben die Mutter, ent¬ 
kleidete sich aber nicht, da er den Zettel erwartete. Endlich 
kam Johann mit dem Zettel und sagte, dass auf der Strecke ein 



326 


Prof. Dr. L. Blumenstok. 


Mensch liege; der Vater erschrack nicht, da er passte, wer dort 
liege, und die Mutter sucht den Anton in der zweiten Stube, 
Anton war nicht drinnen, da ging die Mutter wieder ins Bett, 
der Vater aber nahm eine Laterne und ging mit Johann auf die 
Strecke. Dann ging die Mutter ins Freie und blieb bei der 
Signalstange stehen. Als die Eltern den Anton auf die Strecke 
getragen hatten, kam die Mutter in die Stube zurück, nahm den 
Hut Antons, welcher auf einem Sessel neben der Commode lag, 
und seine Blouse, trug sie ins Freie hinaus, worauf sie erst die 
Thür wusch. Tags darauf nahm ich den Haken, welchen die 
Mutter, als sie den Anton geschlagen, hinter den Ofen im Vor¬ 
hause geschleudert hatte, und da sah ich, dass der Haken zer¬ 
brochen war. Der mir vorgezeigte Haken gehört uns und ist der 
nämliche, mit welchem die Mutter den Anton schlug; auch die 
Bürste gehört uns und mit dieser wusch Mutter die Thür.“ 


Als diese Aussage den Obducenten vorgehalten wurde, er¬ 
achteten sie die Besichtigung des Wächterhauses für nothwendig. 
Diese Besichtigung fand am 19. November statt und bei dieser 
Gelegenheit wurden die an der Thür gefundenen verdächtigen 
Flecke abgekratzt und 2 sachverständigen Chemikern zur Unter¬ 
suchung übergeben, welche in ihrem Berichte, hauptsächlich auf 
das positive Resultat der mikrochemischen Untersuchung gestützt, 
erklärten, die Flecke stammten von menschlichem Blute. Ein 
Eisenbahningenieur, gab, vom Gerichte befragt, an, der Eisen-, 
bahnzug sei am 23. September Abends an jener Stelle, wo Anton 
G. aufgefunden wurde, um 8 Uhr 37 Minuten vorübergekommen, 
und dass die Locomotive keinen Pflug hatte. Die Obducenten 
erklärten nach Besichtigung des Wächterhauses, bei ihrem Gut¬ 
achten beharren zu müssen. 


Wegen der Wichtigkeit des Falles, sowie des Umstandes, dass 
das Gutachten der Obducenten im Widerspruche stand mit der Aus¬ 
sage des angeblichen Augenzeugen, veranlasste das Kreisgericht, 
die Untersuchungsacten an die med. Facultät mit der Bitte um ein 
Obergutachten zu übersenden. Die Referenten der Facultät stiessen 
bei Durchsicht der Acten auf manche Zweifel, deren Beseitigung 
sie für nothwendig erachteten. So mussten sie das Gutachten der 
Chemiker bezüglich der Blutspuren als zu gewagt und weitgehend 
zurückweisen und eine abermalige Untersuchung des noch vor¬ 
handenen Materialrestes beantragen; ebenso war es erwünscht, 
etwas Näheres über die Lage, in welcher Anton G. sich befand, 
als er zwischen Thür und Pfosten geklemmt wurde zu erfahren; 
ferner wurde das Ansuchen gestellt, durch einen Ingenienr und 
Fachmann im Eisenbahnwesen feststellen zu lassen, ob an der Loco¬ 
motive irgend ein stachelförmiger Fortsatz vorhanden ist, welcher 
ein bohnengrosses Loch im Schädel verursachen könnte, sowie dass 
nach Ergänzung der Untersuchung die Obducenten nochmals be¬ 
fragt werden, ob Anton G. nicht auf die von dem jugendlichen 
Zeugen angegebene Weise umkommen konnte. 



Tod auf den Schienen, oder durch Einklemmen des Halses etc. 827 

Die vom Gerichte vorgenommene Ergänzung ergab folgendes: 
Der Eisenbahningenieur gab eine genaue Beschreibung und 
Zeichnung der Locomotive, welche am 23. September Abends in 
Verwendung war, und schloss jede Möglichkeit aus, dass die 
Kopfwunde und Halsverletzung des Anton G. durch eine Loco¬ 
motive überhaupt verursacht sein könnte. 

Marie N., am 14. April (also nach fast 7 Monaten) abermals 
verhört, gab an: „Als ich hörte, dass Anton schreit, stieg ich aus 
dem Bette, und durch die vorsichtig halb geöffnete, in das Vor¬ 
haus führende Thür forschte ich, was mit Anton vorgehe; dabei 
sah ich, dass Anton in der nach aussen führenden Thür stand 
mit nach aussen vorgebeugtem Gesichte, mit zwischen der Thür 
geklemmtem Halse. Der Kopf Antons war jenseits der Thür im 
Freien, deshalb sah ich ihn nicht und weiss auch nicht, ob Anton 
mit nach oben oder unten gekehrtem Gesichte stand.“ 

Die Obducenten erklärten: Wir bleiben dabei, dass Anton G. 
nicht in der von Marie N. geschilderten Lage umkommen konnte. 
Wir schliessen auch die Möglichkeit aus, dass Anton G. die an 
seiner Leiche gefundenen Verletzungen mit seiner eigenen Hand 
hervorgerufen haben sollte. Wir sind aber nicht in der Lage 
anzugeben, auf welche Weise diese Verletzungen ent¬ 
standen sind. 

Die sachverständigen Chemiker wiederholten die Untersuchung, 
fanden wiederum Häminkrystalle und blieben bei ihrem ersten 
Gutachten, dass sie menschliches Blut nachgewiesen haben. 
Das Gutachten der Facultät lautete: 

I. Wenngleich angenommen werden könnte, dass die bei 
Anton G. gefundene Kopfverletzung durch die Einwirkung 
irgend eines hervorstehenden Theiles der Locomotive ent¬ 
standen sei, so wäre es doch unerfindlich, wie gleichzeitig 
die tödtliche Verletzung des Kehlkopfes und der Luftröhre 
ohne äussere Wunde oder wenigstens ohne Verletzung der 
angrenzenden Theile des Halses entstehen konnte. Die 
Facultät ist daher der Ansicht, dass der Tod des Anton G.’s 
nicht durch eine Locomotive oder einen in Bewegung be¬ 
findlichen Waggon hervorgerufen wurde, zumal in diesem 
Falle die Verletzungen am Körper viel umfangreicher ge¬ 
wesen sein müssten. 

II. Ohne in eine Erörterung der Frage einzugehen, ob die Aus¬ 
sagen der Marie N. im allgemeinen Glauben verdienen oder 
nicht, und ob der Vorgang ein solcher gewesen ist, wie sie 
ihn geschildert, beschränkt sich die Facultät auf die Er¬ 
klärung, dass der Aussage dieses Zeugen von gerichtsärzt¬ 
lichem Standpunkte nichts vorgeworfen werden könne und 
dass der Vorgang ein solcher, wie der von ihm geschilderte, 
gewesen sein konnte. 

Die Keferenten der Facultät haben sich übrigens durch 
eigne Anschauung in einem Wächterhause der Karl-Ludwigs- 
Bahn überzeugt, dass die Einklemmung des Halses zwischen 
Thürrand und Pfosten gut möglich ist. 



328 


Prof. Dr. L. Blumenstok. 


III. Die mikrochemische Untersuchung der fraglichen Flecke hat 
ergeben, dass dieselben Blutflecke sind. Die Behaup¬ 
tung der Chemiker, dass diese Flecke von Menschenblut 
stammen, ist zu gewagt und nicht genug begründet. 


Ende Februar 1888 fand vor dem Geschworenengerichte zu T. 
die Hauptverhandlung gegen die des Mordes angeklagten Josef G. 
und dessen Geliebte Caroline N. statt. Auch die Geschworenen 
fanden es für nothwendig, am Bahnhofe an verschiedenen Loco- 
motiven nach der Möglichkeit zu forschen, dass Anton G. durch 
das Einwirken einer solchen umgekommen sei, sowie mit dem Bau 
und der Einrichtung eines Wächterhauses sich bekannt zu machen. 
Zur Verhandlung waren mehrere Zeugen geladen, welche die 
Leiche des Anton G. vor den Gerichtsärzten gesehen und be¬ 
sichtigt hatten; einer derselben, Bahnarzt Dr. S., welcher im Auf¬ 
träge der Bahnverwaltung die Leiche schon am 24. September 
besichtigt hatte, gab an, am Halse beiderseits dreieckige, dunkle 
Verfärbungen, welche bis zum Nacken reichten, wahrgenommen 
zu haben; am Vorderhalse subcutanes Emphysem; die Halswirbel 
unverletzt; am Nacken und oberhalb der Schulterbeine etwas nach 
links von der Mittellinie des Körpers 6 oder 7 quer gelagerte, 
zu einander parallele 8—10 cm lange und 1 cm breite Striemen; 
am Kopfe eine winklige Wunde, daselbst ein elliptisches, der 
Körperaxe paralleles Loch, von welchem eine Fissur ausläuft. 
Der Scheitel der Wunde war gegen das Hinterhaupt gekehrt, der 
kleinere Schenkel derselben 3 cm, der grössere b 1 ^ cm lang. 

Die Hauptverhandlung dauerte 3 Tage und endigte mit Ver- 
urtheilung des Josef G. zu fünf und der Caroline N. zu drei 
Jahren schweren Kerkers. Die Frage auf Mord wurde von. den 
Geschworenen verneint, jene auf Todtschlag mit 8 von 12 
Stimmen bejaht. 


Das Verdict der Geschworenen hat den Knoten entzweige¬ 
hauen. Sie konnten sich nicht die Ueberzeugung verschaffen, dass 
Josef G. von Vornherein die Absicht hatte, seinen Sohn zu tödten, 
da er durch seinen Tod nicht nur keinen Nutzen, sondern eher 
Schaden erwarten musste. Andrerseits gelangten sie zum Schlüsse, 
dass der Tod des Anton G. auf die von Marie H. angegebene 
Weise erfolgt ist, da sie durch Augenschein die Ueberzeugung 
gewannen, dass Anton G. nicht auf den Schienen oder überhaupt 
durch Einwirken irgend eines Bestandteils des Eisenbahnzuges 
umgekommen sein konnte. Abgesehen davon halte ich das Ver¬ 
dict aus gerichtsärztlichen Gründen für zutreffend, weil dieser 
ungewöhnliche Fall nach zwei Richtungen hin manche nicht zu 
beseitigende Zweifel erregt hat: 

1) Wer die ungeheuren Verwüstungen zu sehen Gelegenheit 
hatte, welche das Ueberfahren durch einen Eisenbahnzug, eine Loco- 
motive oder auch nur einen Waggon im menschlichen Körper her¬ 
vorzurufen pflegt, musste die relativ geringen und auf einen kleinen 
Raum beschränkten Verletzungen, welche der Körper des Anton G. 



Tod auf den Schienen, oder durch Einklemmen des Halses etc. 329 


darbot, auffällig finden. Nach einem solchen Ueberfahren kommt 
es vor, dass der Körper zerfetzt, zerrissen erscheint, oder dass 
äusserlich fast keine Verletzungsspur sichtbar, dafür aber umfang¬ 
reiche innere Verletzungen vorhanden sind. Es wäre überdiess 
schwer zu begreifen, auf welche Weise der überfahrene Körper 
nicht auf den Scliienen, sondern neben ihnen und parallel zu ihnen 
gelagert sein konnte. Es bliebe nur die Vermuthung übrig, dass 
Anton G. nicht überfahren wurde, sondern dass er in selbst¬ 
mörderischer Absicht sich neben die Schienen gelegt habe und 
durch irgend einen hervorragenden Theil der Löcomotive getroffen, 
in der selbst gewählten Lage getödtet wurde. Für diese Ver¬ 
muthung schienen das Loch im Hinterhaupte, sowie die Entblös- 
sung des Oberkörpers und die in der Nähe gefundenen Kleidungs¬ 
stücke zu sprechen. Allein angenommen selbst, dass das Loch 
im Hinterhaupte durch irgend einen hervorragenden Theil der 
Maschine hervorgerufen worden sein konnte, so war mit dieser' 
Verletzung die Quetschung des Halses nicht iu Einklang zu 
bringen, da man sich einen derartigen hervorstehenden Bestand- 
theil der Maschine, welcher fast gleichzeitig eine Lochfractur im 
Kopfe und eine Quetschung des Halses verursachen könnte, kaum 
denken kann, und überdiess ein solcher Bestandtheil an der Loco- 
motive, welche hier in Betracht kommen kann, nach Versicherung 
des betreffenden Ingenieur’s nicht vorhanden war, und überhaupt 
bei keiner Maschine, welche zur Herbstzeit nicht mit einem Pfluge 
versehen ist, vorkommt. Nichtsdestoweniger musste das Obergut¬ 
achten die Möglichkeit zugeben, dass die Lochfractur wenigstens 
durch irgend eiuen hervorragenden Theil der Locomotive verur¬ 
sacht worden sein konnte, und dies aus folgenden Gründen: 

v. Hofmann (Lehrbuch d. ger. Med. IV. Aufl. p. 422) giebt 
an, dass die Verletzungen, welche durch einen Eisenbahntrain 
verursacht werden, colossal sind, dass jedoch nicht alle Verletzun¬ 
gen von den Rädern herrühren müssen, sondern auch durch die 
sog. Bahnräumer, theils direkt, theils indirekt, durch Wegschleu¬ 
dern der Körper von der Balm, bewirkt werden können. So wurde 
ihm ein Fall mitgetheilt, in welchem bei einem in trunkenem 
Zustande überfahrenen Manne ausser Quetschungen und Zerreis- 
sungen auch eine tiefe Wunde am Halse sich befand, welche das Aus¬ 
sehen einer Stichwunde hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach 
durch ein Reis des aus steifen, harten Besen bestehenden ,Bahn¬ 
räumers“ erzeugt worden war. Sehr interessant ist folgender 
von v Hofmann secirter Fall: Im J. 1878 war eines Morgens 
ein Bahnwächter innerhalb eines der Wiener Bahnhöfe bewusst¬ 
los neben den Schienen gefunden worden; er starb nach 3 Tagen. 
Die Obduction ergab eine 2 cm. breite, vollkommen kreisrunde 
Lochfractur der Hinterhauptschuppe, die auf ein, eine kugelige 
und kleine Oberfläche besitzendes Werkzeug schliessen liess. Zu¬ 
folge der Erhebungen hatte sich der Mann in der Nähe der 
Schienen niedergelegt, um den ankommenden Zug zu hören, war 
aber von diesem überrascht und von dem Ende einer der Kolben¬ 
stangen am Kopfe getroffen worden. 



330 


Prof. Dr. L. Blumenstok. 


Maschka (Samml. gerichtärztl. Gutachten, IV. Folge, 
Leipzig 1873, p. 89—101) beschreibt zwei interessante Fälle, ln 
dem einen handelte es sich darum, ob ein 60jähriger Mann durch 
seinen Sohn ermordet oder während des Kohlenstehlens von einem 
Train gepackt und überfahren wurde. Der des Mordes beschul¬ 
digte Sohn gab an, er habe den Vater am Bahnhofe mit Frac- 
turen der Knochen der oberen und unteren Extremität und neben 
ihm den zerschmetterten Karren gefunden, mittelst welchen er die 
Kohlen wegschaffen wollte, und dass er ihn nach Hause brachte. 
Ein Bruder des Beschuldigten hingegen behauptete, es sei zwischen 
Vater und Sohn in der Stube ein Zwist entstanden, Letzterer 
habe Ersteren zuerst mit Fäusten tractirt und dann mit einem 
Stück von einem zerbrochenen Fenster geschlagen, und die Ge¬ 
schichte vom Ueberfahrenwordensein fingirt habe. Die Obduction 
wies zahlreiche Sugillationen am Gesichte, 3 Wunden am rechten 
Arm, 3 am linken Vorderarme nach, aus einer der letzteren rag¬ 
ten die Enden beider gebrochenen Vorderarmknochen hervor, 
Arterien und Ulvarnerv zerrissen, zahlreiche Sugillationen am 
rechten Oberschenkel, Fractur des Schenkelknochens; innerlich 
wurden keine auffallenden Veränderungen gefunden. Die Obdu¬ 
centen sprachen sich für Tod durch Verblutung aus, die Verletzun¬ 
gen seien durch Misshandlung von Seiten einer zweiten oder 
mehrerer Personen veranlasst worden, die Angabe, dass Denatus 
überfahren worden, sei unwahr. Die Prager medicinische Facul- 
tät erklärte, der Tod sei durch Erschöpfung eingetreten, und bei 
Erwägung der Nebenumstände (Mangel von Blutspuren am Bahn¬ 
hofe, dafür Vorhandensein derselben in der Stube u. s. w.) müsse 
fast mit Gewissheit angenommen werden, dass die Verletzungen 
nicht durch den Eisenbahnzug, sondern durch Misshandlung her¬ 
vorgerufen worden sind. 

Wichtiger und lehrreicher ist der zweite Fall Maschka’s: 

Auf einem Eisenbahndamme wurde ein bewusstloses Weib 
mit schweren Kopfwunden gefunden, welches 20 Stunden später, 
ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, starb. Am Kopfe 
hatte es ein Tuch, welches die Wunde bedeckte, unterhalb des 
Kopfes auf der Erde nur geringe Blutspuren. Die Obduction ergab: 
an der Stirn 2 Wunden, die eine verläuft vom rechten inneren 
Augenhöhlenrande bis zu den Kopfhaaren, dringt bis zum Knochen, 
hat glatte Ränder; die zweite verläuft über den rechten Stirn¬ 
beinhöcker, ist lappig, in ihrem Grunde ist das zerschmetterte 
Stirnbein zu fühlen; an der inneren Seite des rechten Kniegelen¬ 
kes und in der Mitte des linken Unterschenkels je eine Sugilla- 
tion. Die Oeffnung im Stirnbein oval, scharfrandig, ihr Längen¬ 
durchmesser 5 / 4 Zoll, der quere 1 Zoll, die Knochensplitter mit 
den Fingern leicht entfernbar, vom unteren Rande aus geht ein 
Knochensprung durch die obere Augenhöhlen wand; die vordere 
Partie der rechten Hemisphäre in einen mit Blutgerinnseln unter¬ 
mengten Brei verwandelt. Die Obducenten erklärten, die Ver¬ 
letzungen können unmöglich durch eine Locomotive oder einen 
Eisenbahnzug veranlasst worden sein, die Stirnverletzungen seien 



Tod auf den Schienen, oder durch Einklemmen des Halses etc. 331 


mit einem stumpfen, zum Theile mit einem cylindrischen Werk¬ 
zeuge hervorgerufen worden. Später gab jedoch einer der Obdu¬ 
centen zu Protokoll, dass er sein Gutachten zurückziehe, weil er 
es für möglich halte, dass die Verletzungen auch durch eine sich am 
Dampfcylinder nach vom und rückwärts bewegende Kolbenstange 
veranlasst worden sein könnten; der andre Sachverständige hin¬ 
gegen hielt sein Gutachten aufrecht, und demselben stimmte auch 
ein dritter, vom Gerichte eigens herbeigezogener Arzt, hei; in Folge 
dessen zog nun auch der Erste sein zweites Gutachten zurück. 
Die Angeklagten leugneten jede Schuld. Die Prager medicinische 
Facultät sprach sich dafür aus, dass die Stirnverletzungen nicht 
durch die Kolbenstange des Dampfcylinders entstanden sein konnte, 
weil dieselbe 20'" im Durchmesser beträgt, somit viel stärker 
ist als die Oeffnung im Stirnbein, und weil bei der enormen Kraft 
des Stosses und der grossen Geschwindigkeit der Locomotive der 
ganze Schädel hätte durchbohrt und zertrümmert werden müssen. 
Da überdiess ausser der Kopfverletzung und zwei Sugillationen 
an den unteren Extremitäten keine anderweitige Beschädigung 
aufgefunden wurde und bei Betrachtung einer Locomotive und 
der Waggons an denselben kein Bestandtheil in die Augen fällt, 
welcher vollkommen mit diesen Wunden correspondiren würde, 
so erscheint es wahrscheinlicher, dass die Verletzungen nicht 
durch einen Eisenbahnzug, sondern auf andere Weise zugefügt 
worden sind. Anders gestaltet sich aber die Sache, wenn die Frage 
gestellt wird, ob die Entstehung dieser Verletzungen durch einen 
Eisenbahnzug absolut unmöglich sei, in welcher Beziehung 
die Facultät hervorheben zu müssen glaubt, dass man, eine je 
grössere Erfahrung man besitzt und je mehr Verletzun¬ 
gen man gesehen hat, auch desto vorsichtiger mit dem 
Worte „unmöglich“ wird, weil sich oft die seltensten 
und ungeahntesten Zufälle und Combinationen ereignen 
können. Wenngleich kein Bestandtheil der Locomotive und der 
Waggons den an der Leiche Vorgefundenen Wunden vollkommen 
entspricht, so giebt es aber so viele vorstehende Kanten, Schrauben 
und Eisentheile, dass die Entstehung solcher Verletzungen durch 
dieselben immerhin als möglich gedacht werden kann, und nament¬ 
lich dürfte der unterhalb des Dampfcylinders befindliche Ablasshahn 
eine Berücksichtigung verdienen. Es wäre möglich, dass das Weib 
in selbstmörderischer Absicht sich so auf den Eisenbahndamm 
niederlegte, dass bloss der Kopf auf die Schienen zu liegen kam, 
oder dass sie strauchelte, niederfiel und in solche Lage gerieth; 
in diesen Fällen konnte der Kopf von irgend einem Theile des 
Zuges getroffen und gleichzeitig aus den Schienen herausgeschleu¬ 
dert werden. Auch wäre es denkbar, dass das Weib am Eisen¬ 
bahndamme knapp neben den Zug zu stehen kam und von einem 
hervorragenden Theile der Locomotive, Waggons u. s. w. getroffen 
und herabgeschleudert wurde. 

Wir sehen somit, dass von zwei hervorragenden Gerichts¬ 
ärzten der Eine das Entstehen einer tiefen Halswunde durch die 
Einwirkung eines sog. Bahnräumers für wahrscheinlich hält und 



332 


Prof. Dr. L. Blumenstok. 


selbst eine durch einen hervorstehenden Theil der Locomotive 
verursachte Lochfractur von 2 cm Durchmesser am Hinterhaupte 
gesehen hat, der Andere aber 2 Fälle, in denen es sich um die 
Frage: Mord oder zufällige Beschädigung durch einen Eisenbahn¬ 
train handelte, zu begutachten hatte, und in dem einen Falle, in 
welchem er sich auf die Aussage eines Zeugen und die Nebenum¬ 
stände stützen konnte, die Beschädigung durch den Eisenbahnzug 
ausschloss, in dem anderen aber, wo er jene Hilfsmittel entbehren 
musste, zwar den Mord für wahrscheinlich erklärte, die Beschädi¬ 
gung durch den Eisenbahnzug aber nicht nur nicht ausschloss, 
sondern zur Vorsicht mahnt, da das Wort „unmöglich“ in dem 
Wörterbuche des erfahrenen Sachverständigen nicht existirt 
2) Wenngleich nun unser Fall einerseits eine Aehnlichkeit 
mit dem 2. Falle v. Hofmann’s, andrerseits mit dem 1. Masch- 
ka’s insofern hatte, als auch in unserem ein Augenzeuge auf¬ 
trat, — so war doch unsere Aufgabe eine schwierigere, insofern 
unser klassischer Zeuge ein Kind war, welches mit seiner Angabe 
erst dann hervortrat, als es von einer Person dazu angeeifert 
worden war, welche durch den Tod ihres einzigen Sohnes einen 
so empfindlichen Verlust erlitten hatte und daher von Rachsucht 
nicht frei gewesen sein dürfte. Mit so jugendlichen Zeugen hatten 
wir in unserer Praxis vielfach Bekanntschaft gemacht, zumal in 
Fällen von angeblich an jugendlichen Individuen verübter Noth- 
zucht. So oft wir solche Kinder, an der Hand der Mutter oder 
des Vaters in zweifachem Charakter, als Beleidigte und zugleich 
als einzige Zeugen des an ihnen verübten Verbrechens, vor Ge¬ 
richt erscheinen sehen, und alle Einzelheiten des schändlichen 
Vorganges von ihnen erzählen hören, können wir uns eines pein¬ 
lichen Eindrucks nicht erwehren. Ist die genaue Angabe von 
Einzelnheiteu des geschlechtlichen Attentates, welche doch einem 
Kinde nicht bekannt sein können, wenn es eben nicht Object und 
Zeuge desselben gewesen, geeignet, als bester Beweis der Wahr¬ 
heit zu gelten, so muss doch dem Verdachte Raum gegeben wer¬ 
den, dass diese so genaue und klare Erzählung des Vorgefallenen 
von den Eltern zu dem Zwecke gelehrt worden sein konnte, um 
entweder irgend eine verhasste Person zu verdächtigen oder um 
Jemand in pecuniärer Hinsicht auszubeuten, wie derartige Fälle, 
zumal in grosseren Städten, gar nicht selten Vorkommen. Dieser 
Verdacht schwindet nicht, sondern steigert sich vielmehr, wenn 
Kinder, nach längerer Zeit abermals verhört, den ganzen Hergang 
in derselben Folge und mit denselben Worten recitiren, wie das 
erste Mal, welcher Umstand bei Vielen als Bekräftigung der 
Glaubwürdigkeit der Angabe zu gelten pflegt. Von psychia¬ 
trischer Seite wurde auch neulich darauf hingewiesen, dass ein der¬ 
artig stereotypes Wiederholen irgend einer Angabe seitens jugend¬ 
licher Zeugen eher für lügenhafte Darstellung eines Vorganges 
spricht, dem sie gar nicht beigewohnt haben und der ihnen nur 
eingelernt wurde. Es musste daher in unserem Falle darauf Rück¬ 
sicht genommen werden, dass Marie N., die ihr von Marie G. ein¬ 
gegebenen oder vielleicht hineinexaminirteu Einzelheiten des von 



Tod auf den Schienen, oder etc. — Kleinere Mittheilungen. 


333 


der Letzteren verhassten zwei Personen verübten Mordes sowohl 
beim ersten als zweiten Verhöre ganz einfach wiederholt hat. 
War aber von Vornherein bezüglich der Glaubwürdigkeit dieser 
so schwer wiegenden Aussage grosse Vorsicht geboten, so musste 
andrerseits in Erwägung gezogen werden, dass es wohl für eine 
ältere Person leicht ist, ein Kind über den Geschlechtsact zu 
belehren, dass es aber kaum denkbar ist, dass Jemand im Stande 
sein sollte, einzelne Phasen eines unter so ungewöhnlichen Um¬ 
ständen verübten Mordes so zurecht zu legen, dass sie in keiner 
Beziehung mit den Ergebnissen der gerichtärztlichen Expertise im 
Widerspruche ständen. Ich zweifle, ob selbst ein Gerichtsarzt, 
der doch mit so verschiedenartigen Todesarten zu thun hat, auf 
die Idee kommen würde, einen Fall von gewaltsamen Tod durch 
Einkeilung des Halses zwischen Thür und Pfosten zu ersinnen. 
Hat man aber durch den Augenschein sich die Ueberzeugung 
verschafft, dass solch ein Einkeilen möglich war, so gewinnt die 
Aussage des Kindes an Werth. Nichtsdestoweniger ist es nicht 
Aufgabe des Experten, über die absolute Glaubwürdigkeit irgend 
einer Aussage sich zu äussern; seine Sache ist es nur anzugeben, 
ob die Aussage nicht im Widerspruche steht mit der gerichts¬ 
ärztlichen Erfahrung, und die weitere Beurtheilung dem Gerichte 
anheimzustellen. 

Ich hielt diese Bemerkungen nicht für überflüssig, um das 
Gutachten der Facultät gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, 
dass dasselbe unentschieden, schwankend sei. Dasselbe konnte 
nicht entschiedener ausfallen, wenn man die Seltenheit des Falles 
berücksichtigt. Wenngleich Fachingenieure, sowie der von Aerz- 
ten und Geschworenen vorgenommene Augenschein gegen die 
Möglichkeit sprechen, dass die in Rede stehenden Verletzungen 
durch einen Bestandteil eines Eisenbahntrains hervorgerufen 
wurden, so konnte in Erwägung der von Hofmann und Maschka 
beschriebenen Fälle, besonders aber der berechtigten Mahnung 
des Letzteren, aus den angeführten Gründen doch nicht mit Be¬ 
stimmtheit erklärt werden, dass die tödtlichen Verletzungen auf 
die vom Zeugen angegebene Weise entstanden sind, obschon diese 
Aussage den ganzen Hergang am besten aufzuklären im Stande 
war. Handelte es sich ja um Leben oder Tod zweier Individuen! 


Kleinere Mittheilungen. 

In das Berliner Leichenschauhaus eingelieferte Leichen 

pro 

September 1888. 


Monat £ 


S c £ 
H Ö k 


September jl 57 j 29 16;! 6 


- 57 





334 


Referate. 


Referate. 

Dr. Arnold Paltauf, Assistent am gerichtlich-medicinischen Institut 
zu Wien. Ueber den Tod durch Ertrinken nach Studien 
an Menschen und Thieren. Wien und Leipzig. Urban und 
Schwarzenberg, 1888. 

Die umfangreiche Literatur von 157 Nummern, welche Paltauf bei dieser 
Studie benutzt hat, lässt an und für sich nicht vermuthen, dass es leicht sei, 
auf dem Gebiete des Ertrinkungstodes etwas Neues zu bringen. Dennoch hat 
Verfasser den Beweis geliefert, dass auch die Lehre von dieser Todesart noch 
nicht abgeschlossen ist, dass es bisher weder gelungen ist, ein specifisches 
Merkmal fiir den typischen Ertrinkungstod aufzulinden, noch auch zahlreiche 
wichtige Fragen praktischer und theoretischer Natur, welche sich an diese 
Lehre anknüpfen, endgiltig und befriedigend zu beantworten. 

Paltauf ist an der Hand einer sehr reichen Literatur, der Beobachtung 
an menschlichen Leichen, der Experimente an Thieren und der mikroskopischen 
Untersuchung der von ihm gewonnenen Präparate, unterstützt von dem mass¬ 
gebenden Blicke seines genialen Lehrers und Meisters zur Aufstellung nach¬ 
stehender zwölf Sätze gekommen, welche ich an die Spitze dieses Referates 
stelle, um den Leser sofort von Anfang an über seine Ergebnisse und die von 
ihm gewonnenen Anschauungen zu orientiren. 

„I. Die Obduction der Mehrzahl der durch Ertrinken Verstorbenen ergiebt 
eine Reihe von Befunden, durch deren Zusammenfassung es mit einer nach 
dem concreten Falle sich ändernden Sicherheit ermöglicht wird, die Todesart 
zu diagnosticiren. 

II. Die wichtigste Stelle hierbei nehmen die Lungen ein. 

HI. Es ist sowohl für Mensch als Thier als die Regel hinzustellen, dass 
die Ertränkungsflüssigkeit in die Lungen eindringt. Beim Thier lässt es sich 
nach weisen, dass dieselbe zunächst die an der Lungenwurzel liegenden Gew r ebs- 
partien erfüllt, sodann aber auch in die entferntesten einzudringen vermag. 
Die Oberlappen enthalten in der Mehrzahl der Fälle die meiste Ertränkungs¬ 
flüssigkeit. 

Gleichwohl begegnet man Ausnahmen, sowohl was die Menge als was 
die örtliche Vertheilung des Mittels angeht. 

IV. An der Lungenoberfläche kann man röthlich gefärbte Flecken und 
Stellen erkennen — Ertränkungsflüssigkeitsaustritte. 

V. Die eigenthümliche Beschaffenheit der Lungen, das Ausbleiben des 
Zusammenfallens derselben u. s. w. finden ihren Grund vornehmlich in einem 
während des Ertrinkens stattfindenden Eindringen von Er- 
tränkungsfltissigkeit in die Alveolen und von da aus in das 
Zwischengewebe, und zwar auf präformirten Wegen (Kittleisten 
und Saftspalten), mitunter auch durch kleine Läsionen der Al¬ 
veolenwand. 

VI. Die in den Lungen und den Luftwegen ertränkter Thiere enthaltenen 
Flüssigkeits- und Schaummassen bestehen, abgesehen von Beimengungen an 
Schleim, Blut, Epithel, zum grössten Theil aus Ertränkungsflüssigkeit. Active 
vitale Transsudation (Oedem) aus den Gelassen der Lunge trägt höchstens 
einen sehr geringen Theil zu jener Flüssigkeits- und Schaumbildnng bei. Wir 
sind berechtigt, ein Gleiches auch für den Menschen anzunehmen. 

VII. Die Lungen ertrunkener Menschen, Erwachsener und Neugeborener, 
verhalten sich, soweit dies dem untersuchenden Auge zugänglich ist, nicht 
merklich von einander verschieden. In den Bronchien und Alveolen Aller ge¬ 
lingt in gleicher Weise der Nachweis von Schleim, von in regelmässiger 
Wiederkehr stets zu beobachtenden Veränderungen der Alveolen, Capillaren 
Lymphgefässen u. s. w. Man ist daher nicht berechtigt, aus einer Verschieden¬ 
heit im anatomischen Befunde auf wesentliche Differenzen im physiologischen 
Verhalten der Thiere und Menschen zu schliessen. 

VIII. Der Gehalt der Lungen an Luft, Blut und Ertränkungsflüssigkeit 
bedingt Verschiedenheiten in deren Aussehen: Blähung, Fleckung, Atelec- 
tasen u. s. w. 



Referate. 


3S5 


IX. Die Ertränkungsflüssigkeit dringt im zweiten und dritten Stadium 
des Ertrinkungstodes in die Lungen ein; hierfür, sowie für die Menge der ein¬ 
gedrungenen Flüssigkeit sind verschiedene Momente massgebend. 

X. Unter Anderem wird dem verschiedenen Verhalten angewachsener und 
freier Lungent heile in Bezug auf den Feuchtigkeitsgehalt derselben besondere 
Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Angewachsene Lungenpartien enthalten 
nämlich in der Regel geringere Flüssigkeitsmassen als die freien im Gegen¬ 
satz zu ödematÖsen Lungen, bei denen sich das Verhältnis«umkehren kann. 

XI. Das Blut Ertrunkener ist im Allgemeinen dunkelilüssig. Trifft man 
Gerinnungen an, so hat man hierfür in einer Anzahl solchor Fälle eine ge¬ 
änderte chemische (pathologische) Beschaffenheit des Blutes als Ursache 
anzusehen. 

XII. Das Blut eines Theils der Ertrunkenen erfährt eine Verdiinnung; 
dieselbe ist das Ergebnis« einer vital von den Lungen her erfolgenden Auf¬ 
nahme von Ertränkungsflüssigkeit. 

Diese Resorption hängt ausser von der Natur des Mittels noch von der 
Menge des Eingedrungenen, der Zeit der Einsaugung, der Dauer des Er¬ 
trinkungsvorganges, endlich auch der Beschaffenheit der Lungen ab. Die Blut¬ 
verdünnung ist selten eine über den ganzen Körper verbreitete; meist ist sie 
auf die linke Herzhöhlen und die Aorta beschränkt. Der Nachweis der 
Verdünnung des Blutes könnte unter gewissen Bedingungen als 
diagnostisches Hilfsmittel verwendet werden.“ 

Die Durchsicht der Paltauf'sehen Arbeit wird es uns ermöglichen zu 
beurtheilen, in wie weit diese Sätze einer ferneren Begründung noch bedürfen. 
Bei dem fehlenden Inhalts verzeichniss und der nicht ganz genügenden Markirung 
der einzelnen Abschnitte werde ich zuerst eine kurze Uebersicht der Behand¬ 
lung des Stotfes geben und dann in der Folge die einzelnen Abschnitte des 
Werkes eingehender referiren. Die Studie umfasst auf 124 Seiten: 

Die Einleitung, Seite 1—5, dann 

1. den anatomischen Befund beim specifischen Ertrinkungstod, Seite 
6 bis 88. 

n. Die mikroskopische Untersuchung, Seite 38—66. 

III. Die Theorie der einzelnen Vorgänge, Seite 66—74. 

IV. Die Erklärung der einzelnen Befunde, Seite 74—115. 

V. Den plötzlichen Eintritt des Todes ohne specifische Merkmale des 
Ertrinkungstodes, Seite 115—116. 

VI. Die Wiederbelebung Ertrunkener, Seite 116—122. 

VII. Thesen und Nachtrag, Seite 122—124. 

VIII. Literatur, Seite 125—129 und Abbildungen. 

I. Im anatomischen Befunde bespricht Palt auf die bekannten Eigen¬ 
schaften der Wasserleiche, von denen er zehn besonders namhaft macht und 
geht er dann zu den mehr specifischen Kennzeichen des Ertrinkungstodes über. 

Der Befund von Ertränkungsflüssigkeit in den Luftwegen, in den Lungen, 
im Magen und in der Paukenhöhle kann, wie P. noch einmal recapitulirt, 
auch Folge cadaveröser Vorgänge sein, doch bieten hier viele Momente, wie 
bereits v. Hofmann und andere betont haben, Anhaltspunkte zur differen¬ 
tiellen Diagnose. Die grosse Literaturkenntniss Pal tauf’s und der Einfluss 
der von Hofraann 1 sehen Lehren machen sich bei der Besprechung jedes 
einzelnen Punktes geltend und verleihen dadurch der Behandlung der einzelnen 
Abschnitte doppelten Werth. Eine eingehende Betrachtung erfährt der Befund 
von Schaum und Schleim in dem Respirationstractus und die Möglichkeit des 
Eindringens von Wasser in das Athnnmgsrohr. Das Vorhandensein von Schaum, 
Flüssigkeit und Schleim wird von Palt auf betont und in letzterer Beziehung 
ausgesagt: r Oetfnet man die Trachea vorsichtig mit der Scheere, lässt die 
daselbst befindliche Flüssigkeit ausrinnen, spült mit einem schwachen Wasser¬ 
strahle den etwa haftenden Schaum weg, so sieht man in dem über die meist 
intensiv gerötheto Schleinihautoberfläche hinwegrinnonden Wasser zahlreiche 
feinste Fäden Hottiren, die an einem Punkte der Schleimhaut anhaften. Sie 
sind nichts anderes als Sehleimtadon; der Ort, wo sie anhaften, ist, wie man 
sich besonders durch Zuhilfenahme der Loupe überzeugen kann, die Mündung 
einer Schleimdrüse. Ich wüsste nicht, wie man dies Phänomen anders deuten 
könnte als Beau. Auch bezüglich des Zusammenhanges der Scbleimsecretion# 



386 


Referate. 


mit dem Reize durch das eindringende Wasser kann man ihm ohneweiters 
beipflichten. Trotzdem bleibt es sicher, dass andere (Lesser) aus dieser 
Schleimabsonderung gezogene Schlüsse nicht richtig sind. Wie der Schaum 
färbt sich durch die Fäulnis» auch die Flüssigkeit dunkler, um gleichzeitig 
durch Transsudation und Ausrinnen zu verschwinden. Dieser Inhalt setzt sich 
aus der Luftröhre fort in die grösseren und kleineren Bronchien, woselbst er 
theils durch die Eröffnung mit der Scheere, theils durch Druck auf die Schnitt¬ 
fläche nachgewiesen werden kann.“ 

Ueber die symptomatische Bedeutung des Kehlkopfödems spricht sich P. 
skeptischer aus, als nach Ansicht de« Referenten dieser Befund es verdient. 

P. sagt: „Zu den häufigeren Befunden an den Luftwegen Ertrunkener 
gehört, das Oedem der epiglottischen Falten. Die Schleimhaut am Kehlkopf¬ 
eingang bietet das Bild einer Schwellung; ihre Falten sind mehr minder aus¬ 
geglichen, bald hellroth, bald blasser, wie durch Auswässerung; bei Einschnitt 
findet man die Mucosa und Submucosa von klarer Flüssigkeit durchtränkt, 
worauf selbe ausfliesst. Die Schwellung ist auf diese Stelle beschrankt , greift 
nicht auf die Umgebung, wo die Schleimhaut fester haftet, über. Bei 
Liegen an der Luft verschwindet das' Oedem wieder von selbst. Es gleicht 
auf den ersten Blick einem solchen, wie man ihm neben entzündlicher Aftection 
des Kehlkopfes und Rachens begegnet. Der Versuch lehrt, dass es sich hier¬ 
bei nicht um einen dem Ertrinken eigenthümlichen Vorgang handle, wahr¬ 
scheinlich nicht einmal um einen vitalen Process, sondern dass es nicht« anders 
zu sein scheint, als eine Imbibition der Schleimhaut durch Berührung derselben 
mit Wasser. Es gelingt nämlich leicht , an aus anderen Leichen ausgeschnit¬ 
tenen Kehlköpfen durch Einlegen derselben in Wasser ein ganz gleichartiges 
Bild zu erzeugen, nur mit dem Unterschiede, dass an solchen Prä¬ 
paraten die Imbibition sich auf weitere Umgebung ausbreitet. 
Man wird sich durch diesen Befund, dessen v. Hofmann bereits Erwähnung 
that, nicht verleiten hissen dürfen, hierin einen pathologischen Vorgang, etwa 
ein Oedem als Ursache des Erstickungstodes zu erblicken, oder darnach auf 
Ertrinken zu schliessen.“ 

Diesen Ausführungen dürfte man so ohne weiteres nicht beitreten, da 
das Stauungsödem am Kehlkopfeingang und an der Uvula als Kriterium der 
gestörten Blutcirculation bei Erstickung nicht ganz von der Hand zu weisen 
sein möchte. 

Verfasser wendet sich nunmehr zu der Beschaffenheit der Lungen Er¬ 
trunkener, dem Kernpunkte der Obduction. Die Vorwölbung der Zwischen- 
rippenmuskeln, das Vordrängen der Lungen aus dem geöffneten Thorax, ihre 
Furchung, blutige Flockung (Pantherhaut) werden der Besprechung unterzogen 
und die characteristischen Ertränkungssuffusionen besonders 
gewürdigt (IV). 

Die Abhängigkeit der Beschaffenheit der Lungen vom Blut-, Feuchtigkeits¬ 
und Luftgehalt, auf welches Verhältniss vornehmlich Lim an hingewiesen, wird 
auch von Paltauf anerkannt. Er macht des Feineren auf den Befund auf¬ 
merksam, dass angewachsene Lungentheile weniger Flüssigkeit aufhehmen als 
freie und führt hierfür drei charakteristische Fälle an. Nach seinen Erkun¬ 
digungen bei pathologischen Anatomen liegt dies Verhältniss beim Oedem 
umgekehrt. 

Es wird in der Arbeit ein näheres Eingehen auf Beschaffenheit des 
Oedems vermisst, wie auch das absichtliche Uebergehen der Leichenerschei¬ 
nungen vielen Lesern nicht angenehm sein wird, lieber den Befund in der 
Paukenhöhle hören wir nichts Neues. 

Dagegen geht P. des Näheren ein auf die Beschaffenheit des Blutes, auf 
die Gerinnbarkeit des Fasersstoffes und auf die Flüsslichkeit des Blutes, 
welche er zum grossen Theil der Resorption von Ertränkungsflüssigkeit und 
der dadurch entstandenen Blutverdünnung, Blutwässerigkeit, zuschreibt. 
Verfasser empfiehlt zur Constatirung dieses Zustandes die Anwendung des 
v. Fl ei schleichen Haemometers. 

Das Vorkommen von Blutgerinnseln im Blute Ertrunkenerbezieht Pal tauf 
auf das gleichzeitige Vorhandensein anderer krankhafter Vorgänge im Körper. 

P. zieht sodann zum Vergleiche mit dem Ertrinkungstod die Erstickung 
Neugeborener im Fruchtwasser etc., sowie die Aspiration von Blut bei Er¬ 
wachsenen heran und geht dann über auf 



Referate. 


337 


II. Die mikroskopische Untersuchung. 

Palt auf hat Ertränkungs versuche an Thieren gemacht mit Lösungen 
von Berlinerblau, mit indigschwefelsaurem Natron und mit sehr schwachen 
Lösungen von salpetersaurem Silber und menschliche Lungen untersucht von 
Erwachsenen, die in Flusswasser, von Neugeborenen, die in Canal jauche oder 
in Blut ertrunken oder die durch Aspiration von Fruchtsclileim etc. in partu 
verstorben, endlich noch von solchen Menschen und Thieren, die unter Aspi¬ 
ration von Blut gestorben waren. Er fand die Ertränkungsflüssigkeit in den 
Lungen der Thiere vor, wo sie meist bis zur Pleura vorgedrungen war. Hier 
traf er Punkte und schmale Streifen, selbst regelmässig gestaltete Felder an 
(Lobuli), besonders im Oberlappen. In den Bronchien, Bronchiolen und In- 
fundibeln sah er die Oberfläche der Epithelien, ihre Zwischenräume (Kitt- 
leisten) und die Gegend der Basalmembran blau gezeichnet. In den Alveolen 
dagegen fand sich eine Verschiedenheit je nach der Grösse der Höhle. Die 
weiten Alveolen enthalten keine oder wenig aspirirte Flüssigkeit, dagegen viel 
Luft. Ihre Wandungen sind verdünnt, ihre Capillaren sind blutleer. Die 
engen Alveolen dagegen sind mit Blau angefüllt. Ihre Wandungen sind 
gezackt und wellig, ihr Querschnitt ist unregelmässig gestaltet. Das Berliner- 
blau umscheidet auch hier die Epithelien, die Capillaren sind weit und 
blutreich. Ehemaliger Luftgehalt findet sich hier nur spärlich angedeutet 
durch kleine farblose Scheiben. Freiliegend in den Alveolen findet man ausser 
Alveolenepithelien auch Bronchial- und Trachealepithel. Schleimköqierchen und 
Wanderzellen. Schliesslich stösst man auf ganz atelectatische Alveolen, welche 
aber ebenfalls Farbstotf enthalten. Im perivasenlären und peribronchialen 
Zellgewebe erblickt man entweder nichts Fremdartiges oder feinkörnigen Nieder¬ 
schlag, ebenso in den hier befindlichen Lymphgetassen. Aber die Ertninkungs- 
flüssigkeit dringt auch in das Gewebe der Alveolarwände selbst. Man findet 
dann Streifchen zwischen den elastischen Fasern oder eine Reihe hinter ein¬ 
ander stehender Pünktchen, welche von den Kittleisten auszugehen scheinen. 
— Auch unter der Pleura finden sich Austretungen von Blau, als Streifen 
oder als verzweigte Figuren. 

In den anderen Versuchen und auch an menschlichen Objecten fand P. 
dieselbe Vertheilung von Farbstoff, resp. Blut oder anderer Flüssigkeit. 

Verfasser bespricht dann den Lymphapparat der Lungen und wendet 
sich zu Abschnitt 

III. Deutung der einzelnen Vorgänge. 

Deutung des Lungenbefundes. 

Die Ertränkungsflüssigkeit dringt nach den Versuchen bis in die Luftröhren 
und Alveolen, dann in die Spatien zwischen den Epithelzellen (Kittleisten) bis zur 
Basalmembran, auf der das Epithel aufliegt, und kann sich in der Kittsub¬ 
stanz unter den Epithelien verbreiten. In dem Bronchialepithel finden sich 
ausserdem noch Bilder, die den von Klein als Pseudostomata beschriebenen 
ähneln und in diesem Sinne gedeutet werden könnten. 

Gleichzeitig erfolgt eine Vermengung der Ertränkungsflüssigkeit mit dem 
schon vorhandenen und dem später abgesonderten Schleim. — Doch erreicht 
dessen Menge nie einen solchen Grad, dass dadurch eine Ver¬ 
legung der Lichtung des Bronchus erfolgte, auch nicht des 
kleinsten. Auch findet man nirgends grössere Schleimmassen 
allein. 

Die Flüssigkeit dringt bis in die Lymphknötchen. 

Die Flüssigkeit in den Alveolen vertreibt durch die während In- und Ex¬ 
spiration erfolgenden Grössen- und Ausdehnungsverschiedenheiten der Lungen 
die Luft aus denselben und ersetzt sie. (? Referent). 

Während dieser Vorgänge in den Lungen wird aus dem Munde der 
feinschaumige Gischt entleert, wie man es im zweiten Stadium des Er¬ 
trinkungstodes zu sehen gewohnt ist. Auch hier dringt die Flüssigkeit 
zwischen die Epithelien und erfüllt die Ecken und Winkel zwischen den Ca- 
pillarschlingen und Alveolenwandungen. Sie dringt bis in die Bindegewebs- 
gnuidlage der Lungen, in die Lymphspalten, Lymghcanäle und bis ins sub¬ 
pleurale Gewebe (Figur 5), 



338 


Referate. 


IY. Deutung der einzelnen Befunde. 

Diesem Vorgänge haben a) die Lungen ihr verändertes Aussehen zu danken. 

Die Lungen haben ihre characteristische Beschaffenheit, ihre Grösse und 
Consistenz nicht einer, sondern mehrfachen Ursachen ihr Wesen zu verdanken, 
deren wichtigste die Infiltration des Gewebes durch Ertränkungsfliissigkeit ist. 

Es folgt 

b) die Beschaffenheit des Blutes. 

Pal tauf leitet sie zum Thoil her von der Resorption der Ertränkungs- 
flüssigkeit in die Circulationswege und bestimmt die Verdünnung des Blutes 
durch das von Fleischle’sche Haemometer. Die Resorption geschieht in den 
Lungen durch die Lymphgefässe und wird unterstützt durch die gesteigerte 
Exspiration. 

P. streift dann noch die Aufnahme von Luft in die Blutgefässe und er¬ 
innert an den Fall von Levin, welcher bei der Venaesection eines Ertrunkenen 
Luftblasen in dem hervorspringendem Blute beobachtete. 

Sodann folgt 

c) die Beschaffenheit des Schaumes und der Lungenflüssigkeit 
und kommt P. hierbei zu dem Schlusso, „dass die in den Lungen und Luftwegen 
der typisch ertrunkenen Thiere vorzufindende Flüssigkeit aus der Ertränkungs- 
flüssigkeit bestehe, der etwas Schleim, Blut, Epithel, dagegen Oedemflüssigkeit 
höchstens in Spuren beigemengt sei. — 

Da Resorption, also Eindringen von Flüssigkeit in das Gefasssystem, 
sicher steht, so müsste, Gefasst ranssudation angenommen, es zu einem ent¬ 
gegengesetzten Flüssigkeitsstrom kommen, was, wenn es nicht auf dem Wege 
der Diosmose geschähe, wohl schwer verständlich wäre. 

In den folgenden Abschnitten schliesst sich Paltauf in höherem Masse 
seinen Vorgängern, namentlich Falk an, sodass diese Theile durch eine weniger 
individuelle Auffassung und Bearbeitung sich auszeichnen. 

So umfangreich unser Referat geworden, so wenig erschöpfend ist das¬ 
selbe. Die Arbeit von Pal tauf ist eine so inhaltsreiche und enthält so viel 
Thatsächliches, dass es schwierig ist, die wesentlichsten Punkte in Kürze 
wiederzugeben. Wir können nur Jedem, der sich für gerichtliche Medicin und 
insbesondere die Lehre vom Ertrinkungstode interessirt. empfehlen, diese ge¬ 
diegene Studie im Original zu lesen und zu studiren. Mittenzweig. 


Dr. E. Gleitsmann, Kreisphysikus in Belzig: Die ländlichen 
Volksschulen des Kreises Zauch-Belzig in gesundheit¬ 
licher Beziehung. Berlin 1888. Verlag von C. H. Müller. 

Verfasser hat versucht, sich durch an die Lehrer vertheilte Fragebogen 
möglichst genaue Aufschlüsse über den hygienischen Zustand sämmtlicher länd¬ 
licher Volksschulen seines Kreises zu verschaffen und ist ihm dies auch durch 
bereitwilliges Entgegenkommen der betreffenden Kreisschulinspectoren, Geist¬ 
lichen und Lehrer gelungen. Das auf diese W eise erhaltene Bild von der Be¬ 
schaffenheit der fraglichen Schulen ist kein erfreuliches und lassen dieselben 
fast alle in gesundheitlicher Hinsicht sehr viel zu wünschen übrig. So haben 
z. B. nur 80,4°/ 0 der Schulräume eine Zimmerhöhe von über 3,15 m, drei so¬ 
gar nur eine solche von 2,12, 2,16 bez. 2,17 m. Nicht weniger als 80°^' o sind 
mit Rücksicht auf die Schülerzahl zu klein; fast 25°/ 0 unzweckmässig und 
76,7°/ 0 ungenügend erleuchtet; 47,8°/ 0 werden noch von aussen geheizt und 
bei 82°/ 0 fehlt jede, selbst die einfachste Ventilationseinrichtung, ln keiner 
einzigen Schule entsprechen die Subsellien den gesundheitlichen Anforderungen. 
Abtritte fehlen bei ungefähr 10°/ o der Schulen gänzlich und bei 40°/ 0 , darunter 
Schulen mit mehr als 100 Schülern, ist nur ein gemeinschaftlicher Abtritt für 
beide Geschlechter vorhanden u. s. w. 

Der Inhalt des Schriftcliens zeigt, wiederum recht deutlich, wie nothwendig 
eine grössere Betheiligung der Aerzte insonderheit der Medicinalbeamten auf 
dem Gebiete der Schulgesundheitspflege ist, denn nur dann steht zu erwarten, 
dass allmählich derartige, allen hygienischen Grundsätzen widersprechende 
Missstände in den Schulen verschwinden werden. Rpd. 



Referate. 


339 


Dr. Reissner, weil. Geh. Obermedicinalrath in Darmstadt: Zur 
Geschichte und Statistik der Menschenblattern und 
der Schutzpockenimpfung im Grossherzogthume Hessen. 
Darmstadt 1888 . Druck von H. Brill. 

Der um die Entwicklung des Impfwesens, insonderheit um die allgemeine 
Einführung der Impfung mit animaler Lymphe hochverdiente Verfasser ist im 
August vorigen Jahres im besten Mannesalter dem Leben entrissen und das 
obige, von ihm hinterlassene und nach amtlichen Quellen bearbeitete Werk 
von seinem Amtsnachfolger, Obermedicinalrath Dr. Neidhart auf Grund einer 
Reihe vorhandener Tabellen, sowie einer Anzahl handschriftlicher Aufzeich¬ 
nungen ergänzt und vollendet worden. 

Das Buch zerfällt in neun Abschnitte, von denen die ersten fünf bereits 
im Jahre 1884 unter demselben Titel im Druck erschienen sind. Der erste 
Abschnitt bringt Aktenauszüge über das Vorkommen der Menschenblattem 
im Grossherzogthume Hessen, während der zweite in sehr eingehender und 
sachkundiger Weise die Ausführung der Schutzpockenimpfung daselbst während 
der Jahre 1809—1881 behandelt. Mit grosser Genauigkeit sucht hier der Ver¬ 
fasser den Procentsatz der der Impfpflicht sich trotz aller gesetzlichen Vor¬ 
schriften entziehenden Impfpflichtigen zu berechnen und kommt dabei zu dem 
Ergebnis», dass derselbe für Hessen ungefähr 1 /. 2 °/ 0 beträgt und sich in den 
städtischen Bezirken etwas höher als in den ländlichen stellt, wie sich über¬ 
haupt das Impfgeschätt in den letzteren schneller und glatter, als in den 
ersteren abwickelt. Am Schluss dieses Kapitels werden die von den Impf¬ 
gegnern (Oidtmann, Böing etc.) aufgestellten Ansichten über Bivaccination, 
über Erkrankungen, Erhöhung der Kindersterblichkeit in Folge der Impfung etc. 
objectiv beleuchtet und ihre Haltlosigkeit nachgewiesen. 

Im dritten Abschnitt sind die Erkrankungen an Menschenblattem 
während der Jahre 1873—1883, für welche Zeit ein durchaus zuverlässiges und 
.vollständiges Material zur Verfügung stand, statistisch nach Kalenderjahren 
und Monaten, nach Gebietstheilon, Geschlechts- und Altersklassen der Er¬ 
krankten u. s. w. zusamniengestellt. Daraus ergiebt sich, dass je kleiner der 
Ort, desto seltener treten die Pocken in denselben auf, befallen aber dann 
verhältnissmässig mehr Personen als in den grösseren Ortschaften. In Bezug 
auf die Altersklassen zeigt- sich, dass die Zahl der Erkrankungen im Ver- 
hältniss zur gleichaltrigen Bevölkerung relativ hoch im ersten Lebensjahr 
ist. hierauf jedoch sehr schnell abfällt, im 4. und 5. Lebensjahr gleich Null ist, 
bis zur Pubertätszeit verschwindend klein bleibt und erst von da ab allmäh¬ 
lich steigt, um in der Altersklasse von 40—45 Jahren ihr Maximum zu erreichen 
Die höheren Altersklassen scheinen dagegen eine geringere Empfänglichkeit 
für die Pocken zu haben, wenigstens nimmt hier die Zahl der Erkrankungen 
wieder wesentlich ab. 

Im vierten Abschnitt werden die Wasserblattern, Varicellen, be¬ 
sprochen. Den bisherigen Erfahrungen gemäss nimmt auch Verfasser dieselben 
als eine besondere von den Menschenblattern ganz verschiedene, hauptsächlich 
bei Kindern vorkommende Krankheit an, fordert aber gerade wegen der 
grossen Seltenheit der Varicellen bei Erwachsenen, dass alle derartigen Er¬ 
krankungen bei den letzteren im sanitätspolizeilichen Sinne als Pocken zu be¬ 
trachten und zu behandeln seien, um dadurch etwaigen Verheimlichungen von 
richtigen Blattern vorzubeugen. 

Der fü n ft e Abschnitt handelt über mehrfache Erkrankungen an 
Menschenblattern und wird hier die impfgegnerische Behauptung, dass das 
Ueberstehen der Pocken vor einer wiederholten Erkrankung an denselben nicht 
allein nicht- schütze, sondern zu einer solchen geradezu disponire, widerlegt. 

Die im sechsten Abschnitt gegebenen Uebersichten der Todesfälle 
an Pocken lehren, dass das Grossherzogthum Hessen zu den von den Blattern 
am wenigsten heimgesuchten Ländern gehört, was jedenfalls der seit dem An¬ 
fang des Jahrhunderts daselbst, eingeführten und möglichst vollständig durch¬ 
geführten obligatorischen Impfung zuzuschreiben ist. Betreffs der Pockensterb¬ 
lichkeit nach den einzelnen Altersklassen ergiebt sich ungefähr ein ähnliches 
Verhalten wie bei den Erkrankungen, nur dass das zweite Maximum in eine 



840 


Referate. 


höhere Altersklasse (von 50 — 60 Jahren) füllt und dann erst wieder eine 
stärkere Abnahme eintritt. 

Der siebente Abschnitt enthält genauere Nachweise über die Ver¬ 
breitungsweise der Pocken durch den Verkehr, besonders durch vagirende 
Personen, durch Bett- und Leibwäsche, Kleider, Handel mit Lumpen u. s. w. 
und werden speciell für die Verbreitung durch den letzteren eine Anzahl neuerer 
und sicherer Beobachtungen angeführt. 

Im achten Abschnitt über die Periodicität der Pockenepidemien ver¬ 
tritt der Verfasser die Ansicht, dass die zeitlichen Schwankungen in der Häu¬ 
figkeit der Pockenerkrankungen vorzugsweise durch wechselnde Eigenthümlich- 
keiten des in seinen Eigenschaften allerdings noch so gut wie unbekannten 
Contagiums hervorgerufen werden: denn dass die Eigentümlichkeit des Con- 
tagiums sich überhaupt zeitweise verändere, würde durch die sehr verschiedene 
Bösartigkeit der einzelnen Epidemien ohnehin bewiesen. 

Der neunte und letzte Abschnitt ist der Wirksamkeit der Schutz¬ 
pockenimpfung gewidmet. Die von impfgegnerischer Seite gemachten Ein¬ 
wände, dass die Ungeimpften seltener als die Geimpften und Wiedergeimpften 
an den Pocken erkranken und keine Gefahr für die letzteren bilden, werden 
widerlegt, und an der Hand amtlichen Materials die zweifellose Thatsache des 
Impfschutzes, wie der segensreiche Einfluss des Reichsimpfgesetzes auf das 
Nachlassen der Pockenkrankheit im Deutschen Reiche in überzeugender Weise 
dargethan. 

Die umfangreiche und werthvolle Arbeit ist ein schätzenswerther Beitrag 
zur Impffrage und reiht sich den vom Kaiserlichen Gesundheitsamte jüngst 
veröffentlichten „Beiträgen zur Beurtheilung des Nutzens der Schutzpocken¬ 
impfung“ (s. Nr. 6 der Zeitschrift) würdig an. Beim Studium der einzelnen 
Abschnitte erkennt man sofort, wie vorzüglich in Hessen das Impfwesen ge¬ 
regelt ist und mit welcher Sorgfalt das Impfgeschäft ausgeführt wird. Nicht 
zum geringsten Theile dürfte dies dem Umstande zuzuschreiben sein, dass das 
ganze Impfgeschäft, auch die Führung der Impflisten, ausschliesslich den 
dortigen Medicinalbeamten übertragen ist und die letzteren ihren amtlichen 
Dienst nicht mehr als Nebenbeschäftigung zu betreiben genöthigt sind. 

Rpd. 


Peiper, Dr. E., Privatdocent in Greifswald: Die Schutzimpfung 
und ihre Ausführung. Ein Leitfaden für Aerzte und Stu- 
dirende. Wien und Leipzig. Urban & Schwarzenberg, 1888. 
Pfeiffer, Dr. L., Geh. Med.-Rath in Weimar: Die Schutzpocken¬ 
impfung. Ein Leitfaden für Studirende und Impfärzte. 
Tübingen, 1888. Verlag der H. Lauppe’schen Buchhandlung. 
Rapmund, Dr. 0 ., Keg.- u. Med.-Rath in Aurich: Das Reichs- 
Impfgesetz nebst Ausführungsbestimmungen. Zum Ge¬ 
brauch für Verwaltungsbehörden, Medicinalbeamte, Aerzte und 
Impfärzte. Berlin, 1889. Fischer’s med. Buchhandlung. 
H. Kornfeld. 

Nachdem durch Bundesrathsbeschluss vom 81. März v. J. die Schutz¬ 
pockenimpfung und deren Technik Gegenstand der medicinischen Staatsprü¬ 
fung geworden, war auch sofort das Bedürfhiss nach geeigneten Leitfäden 
hervorgetreten. Diesem Bedürfhiss ist nun durch das Erscheinen einer ganzen 
Reihe solcher Anleitungen Rechnung getragen. Den Reigen eröflnete das be¬ 
zügliche Büchelchen von Schulz (besprochen in No. 4 dieser Zeitschrift), und 
es folgten alsbald die oben angeführten Schriften. 

Während die beiden ersteren vorwiegend die medicinische Seite des 
Gegenstandes behandeln, beschäftigt sich die Rapmund’sche Schrift aus¬ 
schliesslich mit der practischen Ausführung der gesetzlichen Be¬ 
stimmungen. 

Im Einzelnen ist von diesen Büchern zu bemerken, dass das Peiper’sche 
Buch, mit der historischen Entwickelung der Impfung beginnend, unter Be¬ 
handlung der Pocken-Aetiologie, der Schutzimpfung, ihre Technik, sowie aller 



Referate. 


341 


sonstiger, medicinisch wissenswerthen Punkte allmählich bis zum gegenwär¬ 
tigen Stande der Vaccinationslehre vordringt. Dass hierbei kleine Einzelheiten 
und manches nicht ganz Zutreffendes zu corrigiren sind, will ich nur erwäh¬ 
nen, ohne es gerade besonders zu betonen. Im Ganzen ist jedoch das Buch 
klar geschrieben und dürfte den Zweck, den Studirenden und Aerzten ein Leit¬ 
faden bei dem Studium des Gegenstandes zu sein, vollauf erfüllen. Im An¬ 
hänge sind die gesetzlichen Bestimmungen nebst Formularen über Listen und 
Impfscheine beigefügt. 

Pfeiffer hat die gesetzlichen Bestimmungen und zwar im Umfange für 
sämmtliche deutsche Staaten seinem Büchelchen vor an gestellt und dem¬ 
selben ein Sachregister mitgegeben. Dann geht er zum medicinischen Theile 
über und zwar, gleich in medias res, zur Besprechung der Vaccination des 
ungeimpften Kindes. Es werden nun Physiologie und Pathologie der Schutz¬ 
impfung kapitelweise abgehandelt, und zum Schluss eines jeden Kapitel’s wird, 
gesperrt gedruckt, das feststehende Ergebniss gewissermassen als Lehrsatz bei¬ 
gefügt, während in den einzelnen Kapiteln zugleich das practische Verhalten 
des Impfenden berücksichtigt wird. Der Werth, den diese Art der Behandlung 
des Gegenstandes mit jener Präcisirung des bisher Feststehenden hat, ist 
sicherlich nicht zu verkennen, und es wird sich zeigen müssen, in wie weit 
auch die bezügliche Anordnung dos Stoffes für Lehrzwecke, wobei der Verf. 
sich, wie er angiobt, auf den Rath des Prof. Paezold in Erlangen gestützt, 
sich bewähren wird. Kleinere Ungenauigkeiten, besonders mit Bezug auf 
Daten von Verfügungen und speciell Preussen betreffende Bestimmungen sind 
auch hier zu corrigiren. 

Rapmund’s Buch behandelt speciell die practische Handhabung des 
Impfgesetzes, es ist daher eben so wohl für die betreffenden Verwaltungsbe¬ 
hörden und Medicinalbeamten, wie für die die Impfung ausführenden Aerzte 
bestimmt. Mit diesem Buche ist einem längst bestehenden Bedürfnisse abge¬ 
holfen. Denn wer sich practisch mit der Impfung beschäftigt, weiss, wie viel 
einschlägige Fragen es giebt, die nicht ohne Weiteres aus dem nackten Impf¬ 
gesetze herauszulesen sind, und wie oft von den betheiligten Kreisen theils 
aus Unkenntniss, theils wegen unrichtiger Auslegung der gesetzlichen Bestim¬ 
mungen gesündigt wird. Verfasser hat daher, indem er die Gesetze und Aus¬ 
führungsbestimmungen als Text benutzte, in sehr ausführlichen Amnerkungen, 
die nöthigen Erläuterungen gegeben, unter Benutzung oberstgerichtlicher Ent¬ 
scheidungen und sonstiger nachträglicher Verordnungen, Verfügungen u. s. w., 
von denen die wichtigsten vollständig wiedergegeben sind, um das zeitraubende 
und lästige Aufsuchen derselben an anderen Stellen entbehrlich zu machen. 
Besondere Sorgfalt ist den Vorschriften betreffs Aufstellung und Führung der 
Listen und Uebersichten gewidmet. 

Bei den vielfältigen, oft nicht unwesentlichen Abweichungen sowohl 
zwischen den Impfregulativen der einzelnen Regierungen, als auch den Aus¬ 
führungsbestimmungen der einzelnen Bundesstaaten ist vorwiegend auf die 
preussischen Behörden und Aerzte Rücksicht genommen; doch dürften auch 
die nichtpreussischen manche dankenswerthe Belehrung hier finden, da ja 
alle für das deutsche Reich geltenden Bestimmungen in erschöpfender 
Weise behandelt sind. Eine chronologische Uebersicht und ein sehr ausführ¬ 
liches Sachregister erleichtern das Auffinden der einzelnen Gegenstände. Dass 
hie und da Wiederholungen in den Anmerkungen sich finden, ist dem Buche 
nicht als Fehler anzurechnen, da dem Leser dadurch weiteres Nachschlagen 
erspart wird. Ein weiterer Vorzug des Buches ist, dass beim Impfgesetz, beim 
Ausführungsgesetz und bei den Bundesraths beschlössen vom 18. Juni 1885 in 
den bezüglichen Anmerkungen stets eine kleine Einleitung unter Berücksich¬ 
tigung der parlamentarischen Vorgeschichte gegeben ist, auch sind die Parla¬ 
mentsverhandlungen bez. diejenigen der Impfcommission soweit erforderlich be¬ 
rücksichtigt. Schliesslich sei noch hervorgehoben, dass selbst der allerneueste 
Erlass vom 18. Septbr. c., das Auftreten der Impetigo contagiosa betreffend, 
bereits Aufnahme gefunden hat. 

Das Büchelchen ist vortrefflich ausgestattet, der Inhalt klar und über¬ 
sichtlich geordnet; seine Anschaffung ist daher nicht bloss Behörden und be¬ 
amteten Aerzten, sondern auch dem in die Praxis tretenden Arzte als prak¬ 
tischer Wegweiser bei der Handhabung der Impfung aufs Wärmste zu empfehlen. 

Frey er (Stettin). 



342 


Referate. 


Dl*. M. Freyer, Kreisphysikus in Stettin. Wie ist unser Heb¬ 
ammenwesen rationell zu bessern? Berlin, Verlag von 
Julius Springer. 1888. 

Der Gedanke der Aufbesserung unseres jetzigen Hebammenwesens, welcher 
besonders in dem letzten Jahrzehnt so manche Feder in Bewegung gesetzt 
hat, hat auch Freyer bewogen, in dieser Angelegenheit das Wort zu ergrei¬ 
fen. F. geht von der Thatsache aus, dass die Ministerial-Verfügung vom 
6. August 1883 sich nicht ausreichend erwiesen habe, um den vollen Schutz 
der Antiseptik an jedes Kreiss- und Wochenbett heranzutragen und das.s die 
weiter gehenden Meinungen und Vorschläge, welche in der Erkenntnis» dieser 
Thatsache von den verschiedensten Seiten, namentlich in letzter Zeit von den 
Aerztekammern gemacht seien, weit auseinander gingen und nicht das Rich¬ 
tige träfen. Er selbst hält für die rationellste Massnahme eine Schulung der 
Hebammonlehrtöchter in einer chirurgischen Heilanstalt. Dort und nur dort 
würde der werdende Hebammen die Lehre und die Kunst der Antiseptik, das 
aseptische Handeln, in Fleisch und Blut übergehen. 

Wir können seinem Vorschläge nicht zustimmen, denn abgesehen davon, 
dass die Hebammenlehrzeit um ein Vierteljahr verlängert werden und die 
Kosten für die Ausbildung um ein Beträchtliches wachsen würden, halten wir 
dafür, dass diese Massrogel sich überflüssig erweist, sobald in allem Hebammen- 
Lehranstalten die Leitung von Geburt und Wochenbett aseptisch geworden 
sein wird. Dies ist allerdings ein nothwendiges Erforderniss der jetzigen 
Schule. Dann aber wird gerade die geburtshilfliche Anstalt der geeignete 
Ort sein, um die Lehre der Aseptik den Lehrtöchtem in succum et sanguinem 
einzuverleiben, da bekanntlich die operative Gynäkologie seit Schröder die 
Verkörperung der aseptischen Chirurgie geworden ist. 

Dass auch in gut geleiteteten Krankenhäusern derselbe Zweck erreicht 
werden kann und unter Freyer’s Augen erreicht worden ist, davon sind auch 
wir überzeugt; wir meinen indes», dass dies in den Hebammen -Lehranstalten 
in gleicher Weise ohne neue Kosten und ohne Verlängerung der Lehrzeit er¬ 
reicht werden könnte, sobald erst in diesen Lehranstalten der Geist weht, 
welcher die geburtshilflichen Anstalten der Charite, der Universitäten und der 
grossen Privat-Kliniken heute schon beherrscht. 

Mittenzweig. 


Dr. N. M. Popoff, Prof, in Warschau. Ueber die Veränderungen 
im Rückenmarke des Menschen nach akuter Arsenver¬ 
giftung. Virchow’s Archiv, Bd. 113, S. 385 ff. 

Verf. hatte sich schon vor mehreren Jahren mit der Untersuchung des 
Rückenmarks von Thieren, die durch akute Arsen-, Blei- oder Quecksilber¬ 
vergiftung zu Grunde gegangen waren, beschäftigt und gefunden, dass dieses 
Organ Veränderungen erleidet, die denen der akuten Myelitis gleichen. Neuer¬ 
dings hatte er nun Gelegenheit, das Rückenmark eines durch Arsenvergiftung 
gestorbenen Selbstmörders zu untersuchen und seine durch Thierversuche 
erhaltenen Befunde bestätigt zu linden. Schon makroskopisch zeichnete sich 
das Rückenmark durch Weichheit des Gewebes und intensiv rot he Färbung der 
grauen Substanz aus. Mikroskopisch dagegen waren Ueberfüllung der Gelasse 
mit Blutkörperchen, abgegrenzte Blutergiessungen von verschiedener Grösse 
und Massen plastischer Exsudate zu bemerken, während die Nervenzellen trübe 
Schwellung und Verlust ihrer Ausläufer sowie stellenweise Vacuolenbildung 
erkennen Hessen. 

Fügen wir noch die Thatsache hinzu, dass nach Scolosaboff’s (ibid.) 
chemischer Erforschung der verschiedenen Gewebe und Organe mit Arsen 
vergifteter Thiere das Centralnorvensystem 35 — 37 mal mehr von dem Gift 
enthält, als die Muskeln, und 4 mal mehr als die Leber, so dürfte eine weitere 
Erforschung dieser Verhältnisse für die forensische Medicin durchaus von 
Wichtigkeit sein. Noch wichtiger aber wäre es, in diese Untersuchungen auch 
andere Gifte, insbesondere die organischen, deren chemischer Nachweis 
theils durch die Kleinheit der in den Körper eingoführlen und von diesem 
wieder ausgeschiedenen Menge, thcils durch vorgeschrittene Fäulnis» des 



Verordnungen und Verfügungen. 


343 


Körpers oft illusorisch gemacht wird, hineinzuziehen. Bei ihrer durch die 
klinischen Erscheinungen noch mehr ausgesprochenen Wirkung auf das Central¬ 
nervensystem würde um so mehr zu erhoffen sein, dass vorwiegend in dem 
letztem, sei es pathologisch, sei es chemisch, die Wirkung bez. Anwesenheit 
des Giftes sich nachweisen liesse. 

Stettin. Frey er. 


Quincey, Thomas de. Bekenntnisse eines Opiumessers. 
II. Auflage. Stuttgart 1888. Verlag von Robert Lutz. 

Eine hochwillkommene Bereicherung auch der medicinischen Literatur 
durch einen Laien, die sich Dank der gelungenen Uebersetzung sicher bei uns 
zahlreiche Freunde erwerben wird. Die Freuden und Leiden des Opiums sind 
mit dichterischer Begeisterung geschildert, mit scharfem Verstände zergliedert. 
Der Herausgeber bemerkt, dass der gefeierte englische Schriftsteller bis zu 
seinem Tode mit 74 Jahren, von 1804 ab mit kurzen Unterbrechungen (1848 
bis 61 Tage lang) ein Opiumesser gewesen ist. Die Quantität betrug viele Jahre 
hindurch 150 Tropfen Laudanum und stieg bis auf 8000 Tropfen täglich. Wie 
er (und der Herausgeber in der zugefügten Biographie ergänzend) angiebt, 
waren traurige äussere Umstände die Ursache eines chronischen, äusserst 
schmerzhaften Magenleidens geworden, welches durch Opium gelindert wurde, 
obschon die erste Anwendung aus anderer Ursache erfolgte. Dass Opiumesser 
übrigens im Orient bei Vermeidung von Excessen dieselbe anregende Wirkung 
vom Opium erfahren, wie sie bei uns durch Alkohol erfolgt und dabei von 
Nebenwirkungen des Alkohols frei und vollständig gesund bleiben, scheint nach 
ärztlichen Berichten aus dem Orient festzustehen. Kornfeld. 


W. W. Ireland, Dr. med. Herrschermacht und Geisteskrank¬ 
heit. Studien aus der Geschichte alter und neuer Dynastien. 
Stuttgart 1887. Verlag von R. Lutz. 

Die unter dem Titel: The blot upon the brain (der Makel am Gehirn) 
erschienene Broschüre behandelt den (übrigens schon deutscherseits früher be¬ 
arbeiteten) Cäsaren-Wahnsinn, den Geisteszustand eines indischen Sultans, 
mehrerer Mitglieder der spanischen und russischen Dynastie und des Königs 
Ludwig von Baiern. Inwieweit Erblichkeit eine Rolle dabei mitspielt, dürfte 
wenigstens bei den römischen Kaisern auf Grund der nicht bloss geistigen, 
sondern auch sittlichen Störung der weiblichen Mitglieder sehr unsicher fest¬ 
zustellen sein So interessant der Beitrag des Verfassers ist, so hat er doch 
jedenfalls nicht bewiesen, dass die Stellung eines Fürsten im socialen Leben 
zu Geistesstörungen disponirt. Es verhält sich damit ähnlich wie bei den 
Fürsten im Bereiche der Kunst und Wissenschaft. Ref. hat schon vor Jahren 
(WestphaTsches Archiv) den entgegengesetzten Standpunkt zu vertheidigen 
Gelegenheit gehabt und hält daran fest, obwohl von hoehbeachtenswerther 
Seite insbesonders von Lombroso die Verwandschaft zwischen Genie und 
Wahnsinn zu begründen versucht worden ist. Kornfeld. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Das Auftreten einer ansteckenden Ansschlagskrankheit (Impetigo contagi¬ 
osa) im Zusammenhänge mit der Schutzpockenimpfung. Circular-Erlass 
des Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten vom 18. Sep¬ 
tember 1888, No. 7569 (gez. von Gossler) an sämmtliche Königl. Regierungs¬ 
präsidenten, sowie Schreiben nebst Denkschrift des Reichskanzlers 
vom 5. September 1888 (gez. von Bötticher) an die ausserpreussischen 

Bundesregierungen. 

Beigeschlossen lasse ich Ew. Hochwohlgeboren Abschriften eines an die 
ausserpreussischen Bundesregierungen gerichteten Schreibens des Herrn Reichs¬ 
kanzlers (Reichsamt des Innern) vom 5. September 1888 (zu R. A. d. J. 
No. 8990 I), betreffend das Auftreten einer ansteckenden Ausschlagskrankheit 



344 


Verordnungen und Verfügungen. 


(Impetigo contagiosa) im Zusammenhänge mit der Schutzpocken-Impfung, und 
der zugehörigen Denkschrift zur gefälligen Kenntnisnahme mit dem ergebensten 
Ersuchen zugehen, gefälligst dafür Sorge zu tragen, dass die gegen die Aus¬ 
breitung der etwa wieder auftretendeu Krankheit und zur sonstigen Bekämpfung 
derselben in dem vorgedachten Schreiben empfohlenen Massregeln auch in dem 
dortigen Verwaltungsbezirk soweit als möglich getroffen werden. 

Ueber das Auftreten einer jeden Ausschlags-Epidemie im Anschluss an 
die Schutzpocken-Impfung sehe ich dem sofortigen Bericht unter Angabe der¬ 
jenigen Lymphegewinnungsanstalt, aus welcher die zu der Impfung benutzte 
Lymphe bezogen war, entgegen; ausserdem ist das Kaiserliche Gesundheitsamt 
von dem Ausbruche durch den Kreisphysikus, in dessen Kreise derselbe statt¬ 
gefunden hat, unverzüglich und direkt zu benachrichtigen. 

Schreiben des Reichskanzlers an die ausserpreussischen Bundes¬ 
regierungen vom 5. September 1888. 

Im Laufe der letzten Jahre ist in Preussen an verschiedenen Orten im 
Zusammenhänge mit der Schutzpocken-Impfung eine ansteckende Ausschlags¬ 
krankheit (Impetigo contagiosa) aufgetreten. Wenn auch die Erkrankungen 
in den meisten Fällen milde verlaufen sind nnd zu dauernder Schädigung der 
Gesundheit für die Betreffenden nicht geführt haben, so hat es doch auch an 
schwereren Fällen und selbst an solchen mit tödtlichem Ausgang nicht gefehlt. 
Die Zahl der Erkrankungen, welche nicht auf die Impflinge beschränkt ge¬ 
blieben, sondern durch Ansteckung auch auf andere Personen übertragen 
worden sind, ist an einzelnen Orten nicht unbeträchtlich gewesen. In der 
beifolgenden Denkschrift sind nähere Angaben über das Auftreten und den 
Verlauf der fraglichen Epidemien zusammengestellt. 

Es erscheint geboten, der Wiederkehr ähnlicher Vorkommnisse nach 
Möglichkeit vorzubeugen, zumal dieselben geeignet sind, der Agitation gegen 
den Impfzwang, welche bekanntlich mit grosser Hartnäckigkeit betrieben und 
in immer weitere Kreise getragen wird, Vorschub zu leisten und den Bestand 
des Impfgesetzes zu gefährden. Für ein umfassendes sanitätspolizeiliches Vor¬ 
gehen fehlen zwar zur Zeit bei dem Mangel ausreichender Kenntniss über die 
Ursache und die Natur der in Rede stehenden Krankheit die nothwendigen 
Grundlagen; immerhin aber wird schon jetzt die Möglichkeit goboten sein, bei 
etwaigem erneuten Auftreten der Krankheit der weiteren Ausbreitung der¬ 
selben mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten, indem nach Möglichkeit dafür 
Sorge getragen wird, beim ersten Erscheinen des Ausschlags den Erkrankten 
eine zweckentsprechende ärztliche Behandlung zu Theil werden zu lassen und 
die zur Verhütung von Ansteckungen erforderlichen Massregeln zu treffen. Zu 
diesem Behufe empfiehlt es sich, die Impfarzte dahin mit Anweisung zu ver¬ 
sehen, dass sie über alle bei der Nachschau oder sonst zu ihrer Kenntniss 
gelangenden verdächtigen Ausschlagscrscheinungen an den Impflingen unver¬ 
züglich dem zuständigen Medicinalbeamten Anzeige erstatten, um letzteren zur 
Anordnung geeigneter Massnahmen in den Stand zu setzen. Da nach den 
seitherigen Erfahrungen die ersten Erscheinungen des Hautausschlages nicht 
selten erst nach der zwischen dem sechsten und achten Tage seit der Impfung 
abzuhaltendon Nachschau hervortreten, so werden die Impfärzte durch ent¬ 
sprechende Belehrung bei der Impfung und Nachschau darauf hinzuwirken 
haben, dass ihnen von etwaigen Ausschlagserkrankungen, sei es direkt, sei es 
durch Vermittelung der Ortsbehörde, unverzüglich Mittheilung gemacht wird. 

Die Medicinalbeamten, welche zweckmässig auf die in den Veröffent¬ 
lichungen des Gesundheitsamtes enthaltenen Darlegungen über die seitherigen 
Ausschlagsepidemien (Jahrg. 1885 II S. 272 und 316 und Jahrg. 1888 S. 33) 
hinzuweisen sein möchten, werden ihre Ermittelungen hauptsächlich auf folgende 
Punkte zu richten haben: 

1. Zeit des Auftretens der ersten Erkrankungen im Verhältniss zur vorauf¬ 
gegangenen Schutzpocken-Impfung und etwaiger Zusammenhang der 
Erkrankungen mit der letzteren. 

2. Ursprung und Beschaffenheit der zu den Impfungen benutzten Lymphe. 

3. Bemerkenswerthe Thatsachen bezüglich der Ausführung der Impfungen 
(Impftechnik, Impflocal, Anwesenheit mit Ausschlag behafteter Personen 
und dergl.). 



Verordnungen und Verfügungen. 


345 


4 . Zahl der geimpften bezw. wiedergeimpften Kinder, welche: 

a) an dem Ausschläge erkrankt, 

b) von demselben frei geblieben sind. 

5. Entwickelung der Impfpusteln bei den erkrankten und den gesund ge¬ 
bliebenen geimpften Kindern. 

6. Zwischen der Impfung und dem Anftreten der ersten Krankheits¬ 
erscheinungen bei den Geimpften verflossener Zeitraum. 

7. Krankheitserscheinungen und Krankheitsverlauf bei den Geimpften. 

8. Zahl der erkrankten nicht geimpften Kinder und Erwachsenen; 
Krankheitserscheinungen und Krankheitsverlauf bei denselben. 

9. Wege der Verbreitung der Krankheit (Ansteckung von Geschwistern, 
Eltern etc.; Einfluss der Schulen etc.). 

10. Tödtlich verlaufene Krankheitsfälle; Obductionsbefund bei denselben. 

Was die zur Bekämpfung der Krankheit zu ergreifenden Massregeln 
anlangt , so empfehlen sich nach den bisher gesammelten Erfahrungen nach¬ 
stehend aufgeführte Massregeln: 

1. Schleunige Benachrichtigung der Lymphegewinnungsanstalt, aus welcher 
die zu den Impfungen benutzte Lymphe bezogen war. Die weitere Ver¬ 
sendung der bet reffen den Lymphe wird sofort einzustellen und die An¬ 
stalt einer gründlichen Desinfection zu unterwerfen sein. 

2. Thunlichste Absonderung der Erkrankten und Belehrung der Ange¬ 
hörigen derselben über die Ansteckungsfähigkeit des Ausschlages. 

3. Ausschluss der erkrankten Kinder vom Schulbesuch. 

4 . Sorge für Reinlichkeit und häufige Luftemeuerung in den Wohnungen 
der Erkrankten. 

5. Sorge für ärztliche Behandlung der Erkrankten, Bereitstellung der er¬ 
forderlichen Arzneien und Verbandmittel, sowie nötigenfalls Fürsorge 
für geeignete Krankenpflege. 

Wenn in dieser Weise vorgegangen wird, darf angenommen werden, dass 
es gelingen wird, die Verbreitung der Krankheit in engen Schranken zu halten 
und ernstlichere Gesundheitsschädigungen zu verhüten. Abgesehen davon aber 
wird sich Gelegenheit ergeben, eingehende Untersuchungen über die Ent¬ 
stehung und den Verlauf der Krankheit anzustellen und dadurch die Grund¬ 
lagen Für ein umfassendes sanitätspolizeiliches Vorgehen zu gewinnen. 

Von besonderem Werthe würde es mir sein, wenn bei Ausbruch einer 
Ausschlagsepidemie das Kaiserliche Gesundheitsamt möglichst schnell benach¬ 
richtigt und dadurch in den Stand gesetzt werden könnte, sich an den Unter¬ 
suchungen zu betheiligen, insbesondere das dazu erforderliche Material sich 
zu beschaffen. 

Indem ich das etc. (den etc., Ew. etc.) ersuche, die Angelegenheit unter 
Berücksichtigung der dargelegten Gesichtspunkte gefälligst einer Prüfung 
unterziehen zu wollen, darf ich einer Mittheilung über das Veranlasste ergebenst 
entgegenseben. 

Denkschrift über die in Preussen im Zusammenhänge mit der 
Schutzpocken-Impfung aufgetretenen Ausschlags-Epidemieen 

(Impetigo contagiosa). 

Mit dem Namen „Impetigo contagiosa 11 wird eine von fieberhaften Allge¬ 
meinerscheinungen begleitete Ausschlagskrankheit bezeichnet, bei welcher auf 
der Haut des Gesichtes und im geringeren Masse auch auf derjenigen des 
Rumpfes und der Gliedmassen erbsen- bis pfennigstückgrosse Blasen sich bilden, 
und welche von anderen ähnlichen Hautkrankheiten durch ihre Uebertragbar- 
keit von einer Person auf die andere unterschieden ist. Der zur Zeit noch 
nicht sicher bekannte Ansteckungsstoff ist in dem Inhalt der Blasen enthalten; 
denn durch Verimpfung desselben können bei bis dahin gesunden Personen 
die gleichen Hautveränderungen erzeugt werden. Die Krankheit ist im Allge¬ 
meinen eine leichte. Die gebildeten Blasen trocknen schnell zu dicken Borken 
ein, welche nach einigen Wochen mit Hinterlassung rothor, bald verschwinden¬ 
der Flecke von selbst abfallen. 

Dass die in Rede stehende Krankheit auch im Zusammenhänge mit der 
Schutzpockenimpfung auftreten kann, war bereits durch einigo frühere Be¬ 
obachtungen festgestellt worden. Die Aufmerksamkeit weiterer ärztlicher 



346 


Verordnungen und Verfügungen. 


Kreise wurde jedoch erst durch die im Jahre 1885 auf der Insel Rügen ge¬ 
machten Erfahrungen auf einen derartigen Zusammenhang hingelenkt. 

1. Nach der im Juni des genannten Jahres auf der Halbinsel Wittow 
(Rügen) .stattgehabten öffentlichen Impfung erkrankte nämlich der grösste 
Theil der geimpften Kinder an einem impetigoartigen Hautausschlage, welcher 
sich bald als ansteckend erwies und auf zahlreiche nicht geimpfte Kinder, 
sowie auf mehrere erwachsene Personen, die mit den Erkrankten in naher 
Beziehung gestanden hatten, sich verbreitete. 

Die zu den Impfungen benutzte Lymphe, aus dem Königlichen Impf¬ 
institute zu Stettin bezogen, war von gesunden Kindern vorschriftsmässig ab¬ 
genommen, zum Theil auch von anderen Impfärzten mit bestem Erfolge 
benutzt worden. Gleichwohl war, wie die von einer besonderen Ministerial- 
Commission angestellten eingehenden Ermittelungen ergeben haben, die Krank¬ 
heit bei den geimpften Kindern ohne Zweifel in Folge der Impfung entstanden 
und hatte erst von den Geimpften aus sich weiter verbreitet. Auf welche 
Weise der Krankheitsstotf in die Lymphe gelangt war, blieb unaufgeklärt. — 
Von 79 mit jener Stettiner Lymphe geimpften Erstimpflingen waren 75 an 
dem Ausschlage erkrankt. Die Gesammtzahl der Erkrankten hat sich nach 
den Ermittelungen der Ministerial-Commission auf 342 belaufen, welche sich 
auf 8 Ortschaften vertheilt haben. 

Der Verlauf der Krankheit war in Kurzem folgender: Nachdem bei den 
geimpften Kindern zur Zeit der Revision (am 8. Tage) zwar fast durchweg 
die mangelhafte Entwicklung der Pusteln aufgefallen, von einem Ausschlage 
aber nichts zu bemerken gewesen war, entstanden zwischen dem 9. bis 18. Tage 
nach der Impfung in der Nähe der Impfstellen Blasen, welche rasch zu Erbsen- 
bis Bohnengrösse anwuchsen, hie und da zusammenflossen und sich schliesslich 
in Schorfe verwandelten. Nur in wenigen Fällen bildeten sich unter den 
Schürfen Geschwüre; meist fielen die Schorfe ab, ohne eine Narbe zu hinter¬ 
lassen, während neue Blasen an anderen Körpertheilen, zumal im Gesicht ent¬ 
standen. Aehnlich war der Verlauf bei den später erkrankten, nichtgeimpften 
Kindern. Fieberhafte Erscheinungen sind anscheinend nur in geringem Masse 
aufgetreten. Vielfach beobachtete Lymphdrüsenanschwellungen wurden nach 
Heilung des Ausschlages bald rückgängig. 

Von den älteren erkrankten Kindern soll kein einziges bettlägerig gewesen 
sein. Geringer als bei den Kindern war die Ausbreitung des Ausschlages bei 
den nur in verhältnissmässig kleiner Zahl erkrankten Erwachsenen, 

Die Krankheit hat sich zumal in Folge des Umstandes, dass bei den 
Erkrankten mehrfach frische Nachschübe des Ausschlages stattfanden, über 
mehrere Monate hingezogen: Erst am 5. December waren sämmtliche Er¬ 
krankte genesen (vergl. Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes 
1885 H Seite 272 und 316, und 1886 Seite 5 und 36). 

2. Eine der im Vorstehenden kurz beschriebenen sehr ähnliche, wenn 
auch bei Weitem kleinere Epidemie wurde und zwar ebenfalls während des 
Sommers 1885 in Sydow im Kreise Schlawe (Reg.-Bez. Köslin) beobachtet. 
Hier blieb es allerdings mindestens zweifelhaft, ob der Schutzpocken-Impfung 
ein Einfluss auf die Entstehuug der Krankheit zuzuschreiben sei. Zu Gunsten 
einer solchen Annahme sprach nur, dass die beiden, in jener Gegend zuerst 
beobachteten Fälle zwei derselben Familie angehörige Kinder betrafen, welche 
kurz vorher geimpft worden waren. Auch bei diesen Kindern waren bereits 
10 Tage seit der Impfung verflossen, bevor der Ausschlag sich entwickelte, der 
sich dann auf die sämmtlichen Familienmitglieder verbreitete. 

Von den 49 überhaupt erkrankten Personen, welche sich auf 14 Familien 
vertheilten, waren nur 7 im Laufe des Sommers geimpft oder wiedergeimpft. 
Die zur Ausführung des öüentliclion Impfgeschäftes benutzte Lymphe war zum 
Theil Thierlymphe, bezogen vom Apotheker Aehle zu Burg, zum Theil von 
gesunden Kindern abgenommen, mit Glycerin versetzte Monschenlymphe. 

Die Erkrankungen verliefen sämmtlich leicht, wenn sie auch zum Theil 
in Folge mehrfacher Nachschübe ziemlich lange sich hinzogen. 

8. Eine ausgebreitete Epidemie von Impetigo contagiosa ist im Sommer 
1885 auch in mehreren Bezirken des Kreises Cleve (Regierungs-Bezirk Düssel¬ 
dorf) beobachtet worden, woselbst namentlich zahlreiche Schulkinder von dem 
Ausschlage zu leiden hatten. Nach den angestellten Erhebungen scheint es 



Verordnungen und Verfügungen. 


347 


indesH wenig wahrscheinlich, dass der AnsteckungestofF hier durch die bei den 
öffentlichen Impfungen benutzte Lymphe (Thierlymphe, bezogen vom Apotheker 
Aehle in Burg) übertragen worden ist. Immerhin hat der an sich harmlose 
und nur durch sein massenhaftes Auftreten bedeutungsvolle Ausschlag auch 
nach Annahme des dortigen Königlichen Kreisphysikus durch das Zusammen¬ 
kommen der Kinder in den Impf localen weitere Verbreitung gefunden. 

In dem bezüglichen Berichte wird übrigens hervorgehoben, dass auch 
sonst Hautausschliige unter den Bewohnern der niederrheinischen Ebene ein 
ausserordentlich häufiges Vorkommnis« seien, so dass die Aerzte längst daran 
sich gewöhnt hatten, bei den regelmassigen sanitätspolizeilichen Schulrevisionen 
und bei den öffentlichen Impfungen Hautausschlägen der verschiedensten Art, 
darunter auch impetigoartigen Formon, zu begegnen. 

4. Zu Eichemvaldo im Kreise Meseritz (Regierungsbezirk Posen) ist nach 
der im Mai 1885 ausgeführten öffentlichen Impfung bei 28 von 41 geimpften 
Kindern ein Hautausschlag beobachtet worden, der sich ebenfalls in einigen 
Fällen auf nicht geimpfte Personen verbreitet hat und der Beschreibung nach 
den iiupetiginös-contagiösen Formen zuzurechnen ist. In diesem Falle war die 
Lymphe direct vom Arme eines anscheinend gesunden Kindes entnommen, 
welcnes indess in der Folge auch von dem Ausschlage befallen wurde. 

5. Für das Jahr 1886 ist aus Preussen bezüglich des Auftreten« von an¬ 
steckenden Hautausschlägen im Zusammenhang mit der Impfung nur die 
folgende Beobachtung mitgetheilt: Im Impf bezirk Eiderstedt (Regierungsbezirk 
Schleswig) erkrankte eino grössere Zahl von Impflingen, bei welchen noch 
gelegentlich der Nachschau Störungen in der Entwickelung der Pusteln nicht 
hatten wahrgenommen werden können, an einem meist sehr leichten Blasen- 
ausschlage, der auch auf einzelne nicht geimpfte Kinder in Folge der Be¬ 
rührung mit dem Inhalt der Blason überging. Sämmtliche Erkrankten wurden 
völlig geheilt. Die zu den Impfungen benutzte Lymphe stammte von einem 
vor und nach der Lymphe-Abnahme gesunden Kinde, war auf einer reinen 
Glasplatte eingetrocknet und vor der Impfung mit Glycerin versetzt. 

Die Wiedorimpflinge, welche mit der von einem anderen Kinde abge¬ 
nommenen, sonst aber in der gleichen Weise behandelten Lymphe geimpft 
waren, blieben gesund. 

6. Wenn man sich nach den bis dahin gemachten Erfahrungen immer 
noch der Hoffnung hingeben konnte, dass bei der Verwendung von Thier¬ 
lymphe die Uebertragung des Krankheitsstoffes Impetigo contagiosa durch den 
Impfact ausgeschlossen sei, so hat sich diese Hoffnung durch die im Jahre 1887 
beobachteten Vorkommnisse als trügerisch erwiesen. Im Sommer des genannten 
Jahres kamen nämlich in nicht weniger als zehn verschiedenen, zum Theil 
räumlich weit von einander entfernten preussischen Kreisen zahlreiche Er¬ 
krankungen an einem impetiginösen Hautausschlage bei Kindern vor, welche 
sämmtlich mit Thierlymphe, bezogen aus dem Lympheerzeugungs-Institut des 
Dr. Protze zu Elberfeld, geimpft worden waren. 

Wie die angestellten Ermittelungen ergeben haben, war die betreffende 
Lymphe von drei verschiedenen Kälbern entnommen. Die letzteren hatten 
Krankheitserscheinungen nicht gezeigt und waren nach dem der Abimpfung 
folgenden Schlachten bei der ttierärztlichen Untersuchung ebenfalls gesund 
befunden worden. 

Auch in diesem Falle ging der Ausschlag von den zuerst erkrankten 
Impflingen vielfach auf Angehörige derselben Familie und demnächst auf 
andere Personen über. Einen Hauptverbreitungsweg bildeten in dem Schlawer 
Kreise, in welchem schon im Jahre 1885 die Krankheit beobachtet worden war, 
die Schulen. — Die Mehrzahl der Erkrankungen verlief, wie in den be¬ 
sprochenen früheren Epidemieen, leicht; in einer Anzahl von Fällen waren 
jedoch die betroffenen Kinder ernstlich krank, und in 5 im Kreise Schlawe 
beobachteten Fällen erfolgte sogar ein tödtlicher Ausgang. Von diesen 5 ge¬ 
storbenen Kindern waren nur zwei während der fraglichen Impfperiode geimpft 
worden; die übrigen waren, ohne geimpft zu sein, angesteckt (vergl. Ver¬ 
öffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes 1888 Seite 83 ff.). 

Seither sind weitere Beobachtungen über das Auftreten ansteckender 
Hautausschläge im Anschluss an die Impfung aus Preussen nicht bekannt 
geworden. 



848 


Verordnungen und Verfügungen. 


Ueber die Ursachen der bereit« besprochenen im Jahre 1887 nach Ver¬ 
impfung von Thierlymphe aus dem Institut des Dr. Protze im Schlawer Kreise 
ausgetretenen Erkrankungen sind von dem dortigen Kreisphysikus, Herrn 
Dr. Vanselow, zahlreiche bakteriologische Untersuchungen angestellt. Soweit 
es angängig war, sind diese Untersuchungen von dem Director des hygienischen 
Instituts in Berlin, Herrn Geheimen Medicinalrath Dr. Koch, einer Nachprüfung 
unterzogen worden. Sie haben in der zu den Impfungen benutzten Thier¬ 
lymphe so wohl, wie in dem Inhalte der bei den Erkrankten entstandenen 
Blasen einen nach der Art seines Wachsthumes in Nährgelatine bisher unbe¬ 
kannten Mikrokokkus auffinden lassen, welcher, in Reincultur auf die mensch¬ 
liche Haut verimpft, pemphigusähnliche Blasen erzeugt. Die endgültige Ent¬ 
scheidung der Frage, ob dieser Mikroorganismus als die Ursache der Krankheit 
angesehen werden muss, ist erst von weiteren Untersuchungen zu erwarten. 
Den letzteren muss es auch Vorbehalten bleiben, zu ermitteln, auf welche 
Weise der Infectionsstoff in die Lymphe gelangt ist. 


Ennittelungen Uber die Verbreitung der Perlsucht unter dem Rindvieh« 

Circular-Erlass des Ministers für Landwirthschaft, Domänen und 
Forsten (gez. in Vertr. von Marcard) vom 11. September 1888 No. 15333 L 
an 8ämmtliche Königliche Regierungs-Präsidenten. 

Zur Beurtheilung der Frage, ob bezw. welche Massregeln zur wirksamen 
Bekämpfung der Tuberkulose (Perlsucht) unter dem Rindvieh zu ergreifen sein 
möchten, erscheint es nothwendig, möglichst genau darüber unterrichtet zu 
sein, in welchem Masse die der menschlichen Gesundheit und dem nationalen 
Viehstand gefährliche Krankheit in Deutschland verbreitet ist. 

Auf Anregung des Herrn Reichskanzlers ersuche ich Ew. Hochwohlgeboren 
ergebenst, gefälligst Erhebungen anordnen zu wollen: 

1. über die Zahl der Fälle von Perlsucht bei geschlachtetem Rindvieh nach 
den Ermittelungen in den öffentlichen und privaten Schlachthäusern 
mit Angaben über die Gesammtzahl des in den einzelnen Schlachthäusern 
geschlachteten Rindviehs (Bullen, Ochsen, Kühe, Rindern und Kälber 
unter 6 Wochen); 

2. über die Zahl der sonst beobachteten Krankheitsfälle bei lebendem 
Rindvieh nach den Ermittelungen der beamteten Thierärzte bei der 
Beaufsichtigung von Märkten etc., sowie bei der Privatpraxis mit An¬ 
gabe darüber, ob das Vorhandensein der Tuberkulose als bestimmt oder 
wahrscheinlich anzunehmen, oder nur zu vermuthen ist und ob etwa 
das Vorhandensein der Tuberkulose später bei der Schlachtung sicher 
festgestellt worden. 

Als Zeitdauer für die Dauer der Erhebungen ist das vom 1. October 1888 
bis 30. September 1889 laufende Jahr festzusetzen. 

Die Ermittelungen haben nach Massgabe der in den angeschlossenen 
Fragebogen aufgestellten Gesichtspunkte stattzufinden und sind zu bewirken 
in Bezug auf die in den öffentlichen Schlachthäusern geschlachteten Rinder 
durch die Schlachthausvorstände, bezüglich der in den privaten Schlachthäusern 
geschlachteten Thiere von den beamteten Thierärzten unter geeigneter Mit¬ 
wirkung der Ortspolizeibehörden. 

Eine rege Betheiligung auch der landwirthschaftlichen Kreise etc. an den 
vorzugsweise für die Vieh wirtschaften wichtigen Erhebungen würde die Ge¬ 
winnung umfassenden Materials den beamteten Thierärzten erheblich erleichtern. 
Ew. Hochwohlgeboren wollen daher die landwirthschaftlichen Hauptvereine 
von den angeordneten Erhebungen in Kenntnis« setzen und sie ersuchen, in 
geeigneter Weise dahin zu wirken, dass die Landwirthe den beamteten Thier- 
arzt bei Sammlung des Materials thunlichst unterstützen und ihm die Unter¬ 
suchung verdächtiger Thiere gestatten. 

Die beamteten Thierärzte sind zu veranlassen, gelegentlich ihrer amtlichen 
Verrichtungen und bei Ausübung der Privatpraxis ihre Aufmerksamkeit auf 
die Perlsucht zu richten, an der Hand des bezeichneten Fragebogens Notizen 
über die Krankheitsfälle zu sammeln und über das Ergobniss der Ermittelungen 
unter Beifügung zweier — nach Gemeinden geordneter — Tabellen und zwar: 



Verordnungen und Verfügungen. 


349 


a) über die Fälle von Tuberkulose bei in den privaten Schlachthäusern 
geschlachteten Rindern und 

b) über die Krankheitsfälle bei lebenden Thieren 

zum 15. October 1889 an den Departements-Thierarzt zu berichten. Die Ge- 
sammtzahl der während des Erhebungsjahres in den privaten Schlachthäusern 
geschlachteten Rindviehstücke ist von dem Kreisthierarzte, erforderlichen Falls 
unter Mitwirkung der Ortspolizeibehörden, zu ermitteln und in die Tabelle zu 
a aufzunehmen. 

Die Vorstände der öffentlichen Schlachthäuser werden ihre Aufzeichnungen 
zum 15. October 1889 dem Departements-Thierarzt mitzutheilen haben. Dieser 
Beamte hat alsdann das gesammte Material unter Beifügung der von ihm zu 
fertigenden übersichtlichen Zusammenstellungen über die Fälle bei geschlach¬ 
teten und bei lebenden Rindern zum 1. November 1889 der technischen 
Deputation für das Veterinärwesen zu übersenden. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, die hiernach erforder¬ 
lichen weiteren Verblassungen schleunigst treffen zu wollen und für die sach¬ 
gemäße Ausführung der wichtigen Enquete gefälligst thunlichst zu sorgen. 

Fragebogen. 

Bei den Ermittelungen über die Verbreitung der Tuberkulose (Perlsucht) 
des Rindviehs ist bei jedem Krankheitsfalle eine möglichst genaue Feststellung 
in Bezug auf folgende Punkte wünschenswerth — unter strenger Sonderung 
der bei geschlachtetem Rindvieh und der sonst gemachten Ermittelungen: 

a) die Viehgattung (Bullen, Ochsen, Kühe, Rinder und Kälber unter 
6 Wochen); 

b) das Alter des Viehs (6 Wochen bis 1 Jahr, 1—3 Jahre, 3—6 Jahre, 
über 6 Jahre); 

c) die Rasse oder den Schlag des Viehs, 

d) die Herkunft des Viehs mit Angaben darüber, ob vorwiegend Stall¬ 
oder Weidewirthschaft in dem betreffenden Bositzthum getrieben wird; 

e) den Sitz des Leidens: 

äußerlich (Euter), innerlich (nur beim geschlachteten Vieh), 
und zwar: 

Ausbreitung auf ein Organ mit den zugehörigeu Lymphdrüsen 
und serösen Häuten; 

desgleichen auf mehrere oder sämmtliche Organe einer Körper¬ 
höhle; 

desgleichen auf mehrere Körperhöhlen; 

Auftreten von Tuberkeln im Fleisch; 

allgemeine Tuberkulose; 

f) die Qualität des Fleisches tuberkulöser Thiere I. H. III. Qualität; 

g) die veterinär - polizeiliche Behandlung des Fleisches der tuberkulösen 
Thiere. 

Für das während des Lebens bestimmt, wahrscheinlich oder vermuthlich 
als tuberkulös erkannte Vieh sind Angaben darüber wünschenswerth, ob die 
Diagnose nach der Schlachtung sich bestätigte. 

Allgemeine Mittheilungen über die Verbreitung der Tuberkulose, die 
Vererbung, Uebertragung und dergleichen würden anzufügen sein. 


Gerandheitsachädlichkeit der Carbon-Natronöfen. Circular-Erlass des 
Ministers des Innern (gez. Herrfurth) vom 2. October 1888, No. 12197 II. 
an sämmtliche Königliche Regierungs-Präsidenten. 

Seit einiger Zeit werden, soviel ich erfahren habe, bisher allein von der 
Firma Alwin Nieske in Dresden, sogenannte Carbon-Natronöfen in den Handel 
gebracht, welche nach den veröffentlichten Prospekten für Gesundheit und 
Leben durchaus gefahrlos sein sollen, indem angeblich das Feuerungsmaterial 
nur Kohlensäure producire und bei vorschriftsmäßiger Verwendung der Oefen 
in Schlaf- und Wohnräumen die Heizgase durch einen Gummischlauch in’s 
Freie abgeführt werden. 



350 


Verordnungen und Verfügungen, 


Von dem Herrn Rogierungs-Präsidenten zu Wiesbaden ist mir gegen 
Ende Juni d. J. berichtet worden, dass sich daselbst kurz nach einander zwei 
Fälle ereignet haben, in denen in Folge der Benutzung eines solchen Ofens 
ein Mensch an der Gesundheit geschädigt, bezw. getödtet worden ist. 

In Folge dieses Berichtes habe ich den Herrn Minister der geistlichen, 
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten ersucht, die Frage wegen der 
Gefährlichkeit dieser Oefen einer näheren Prüfung unterziehen zu lassen. Per 
genannte Herr Minister hat darauf Veranlassung genommen, über diese Frage 
ein Gutachten des Direktors der hygienischen Institute der hiesigen Universität, 
Geheimen Medicinalrathes, Professors Dr. Koch zu erfordern, welches ich Ew. 
Hochwohlgeboren anbei in Abschrift ergebenst übersende. Aus dem Gutachten 
ergiebt sich, dass die Carbon-Natronöfen als gemeingefährlich anzusehen sind. 

Wenn auch, schon aus dem Grunde, weil meines Wissens diese Oefen 
bisher eine ausgedehnte Verbreitung nicht gefunden haben, ihr Gebrauch sich 
vielmehr auf bestimmte Gegenden beschränkt, vorläulig davon abzusehen sein 
wird, ihre Benutzung allgemein im Wege des polizeilichen Verbotes zu 
untersagen, so erscheint es doch angezeigt, Vorkehrungen zu treffen, damit 
das Publikum in denjenigen Gegenden, in welchen der Gebrauch der Oefen 
üblich geworden ist, vor den durch dieselben entstehenden Gefahren wirksam 
geschützt und damit der weiteren Verbreitung der Oefen thunlichst vorge¬ 
beugt werde. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich daher ergebenst, die zu diesem Zwecke 
geeigneten Schritte, sei es durch den Erlass einer Polizeiverordnung für den 
dortigen Regierungsbezirk oder einzelne Theile desselben, sei es durch die 
Veröffentlichung einer eindringlichen Verwarnung, gefälligst veranlassen 
zu wollen. 

Gutachten über die Gefährlichkeit der sogenannten Carbon- 

Natronöfen. 

Berlin, den 25. August 1888. 

Ew. Excellenz beehre ich mich mit Bezugnahme auf den br. m. Erlass 
vom 20. Juli d. J. No. 6151 M. unter Rücksendung desselben nebst Anlagen 
über die Gefährlichkeit der sogenannten Carbon-Natronöfen ganz gehorsamst 
nachstehenden Bericht zu erstatten. 

Die Carbon-Natron-Oefen, welche von der Firma Alwin Nieske in 
Dresden in den Handel gebracht werden, sollen nach den darüber veröffent¬ 
lichten Prospekten durchaus gefahrlos sein, weil angeblich das Feuerungs¬ 
material nur Kohlensäure producirt und bei der vorschriftsmässigen Verwendung 
in Schlaf* und Wohnräumen die Heizgase durch einen Gummisehlauch ins 
Freie abgeführt werden. 

Aufmerksam gemacht durch eine Abhandlung von Professor Wolpert, 
welcher Versuche? mit einem Carbon-Natron-Ofen angestellt hat, sowie durch 
eine Zeitungsnotiz, nach welcher ein derartiger Ofen die Ursache einer tödlichen 
Kohlenoxydgas-Vergiftung gewesen sein sollt«, veranlasst« ich im Herbst des 
vergangenen Jahres Herrn Dr. Petri, im hygienischen Institute den Carbon- 
Natron-Ofen daraufhin zu untersuchen, in wie weit derselbe die ihm von der 
Firma Nieske zugeschriebenen Eigenschaften wirklich besitzt. 

Als Versuchs-Ofen wurde die kleinste Nummer von Nieske gelieferten 
Oefen benutzt; derselbe stimmt aber in seiner Construktion, namentlich auch 
in Bezug auf den damit verbundenen Gummischlauch so vollkommen mit den 
grösseren Oefen überein, dass die erhaltenen Resultate auch für letztere 
Geltung haben. 

Die Einrichtung des Carbon-Natron-Ofen unterscheidet sich von derjenigen 
anderer Oefen insofern, als er in seinem oberen Theile nicht luftdicht abge¬ 
schlossen, sondern nur mit einem lose auf liegenden Deckel versehen ist, so 
dass die Heizgase an dieser Stelle fast ungehindert aus dem Ofen und die 
Luft des beheizten Raumes übergehen können. Würde das für die Heizgase 
bestimmte Abzugsrohr mit dem oberen Theil des Heizkörpers in Verbindung 
stehon und in einen Schornstein führen, der eine stark ansaugende Wirkung 
ausübt, .dann wäre es trotzdem noch möglich, dass in Folge kräftiger Zug¬ 
wirkung die Heizgase sämmtlieh nach dem Schornstein abgeführt werden und 
dass durch die Spalte neben dem Deckel eher Luft in den Ofen hinein gesogen 



Verordnungen und Verfügungen. 


351 


wird, als dass Heizgase den Ofen an dieser Stelle verlassen. Das ist aber nicht 
der Fall, denn das Abzugsrohr beginnt zwar oben am Heizkörper, geht dann 
aber wieder nach unten und steht gegenüber der Regulirungsöffnung mit einem 
Gummischlaueh in Verbindung, welcher durch eine Oeffnung im Fenster in’s 
Freie geführt werden soll. Bei dieser Einrichtung fehlt für die Heizgase jede 
Veranlassung in den Gummischlauch überzutreten, der Inhalt des letzteren 
erwärmt sich demzufolge nicht über die Zimmertemperatur und es kann somit 
von dem Gummischlauch überhaupt keine Zugwirkung, wie etwa von einem 
Schornstein ausgeübt werden. Es bleibt unter diesen Verhältnissen den Heiz¬ 
gasen nichts anders übrig, als aus dem Ofen auf dem nächsten Wege d. h. 
durch den Spalt neben dem Ofendeckel in die Luft des geheizten Raumes zu 
entweichen. 

Dass sich dies in Wirklichkeit auch so verhält, ist durch Dr. Petri’ß 
Versuche direkt erwiesen; denn selbst mit Hülfe eines sehr empfindlichen 
Anemometers liess sich ein Austreten des Heizgases aus dem vorschriftsmässig 
geheizten Ofen durch den Gummischlaueh nicht nachweisen, sogar eine Flaum¬ 
feder, welche durch den allergeringsten Luftzug in Bewegung gesetzt wurde, 
blieb, wovon ich mich selbst überzengt habe, auf der Mündung des Gummi¬ 
schlauchs regungslos liegen. 

Wenn die Heizgase gesundheitsgefahrliche Stoffe enthalten, dann müssen 
dieselben also sämmtlich in den vom Carbon-Natron-Ofen geheizten Raum 
gelangen. 

Die Heizgase der Ofenfeuerung enthalten nun aber stets solche Stoffe, 
vor Allem das höchst gefährliche Kohlenoxydgas. Es liess sich sogar erwarten, 
dass bei der verlangsamten Verbrennung, wie sie im Carbon-Natron-Ofen statt¬ 
findet, besonders reichliche Mengen von Kohlenoxydgas producirt werden. 
Auch diese Voraussetzung ist durch Dt. Petri ’s Untersuchungen bestätigt. 
Es konnten mit Hülfe der üblichen Reaktionsmittel, nämlich durch Palladium- 
chlorür und durch verdünnte Blutlösung und schliesslich auch durch das 
Thierexperiment übereinstimmend in der Luft des geheizten Raumes solche 
Mengen von Kohlenoxydgas nachgewiesen werden, dass dieselben nach der 
bisherigen Erfahrung auf Menschen tödtlich wirken können. 

Diese Beobachtungen allein würden schon ausreichend sein, um zu der 
Ueberzeugung zu gelangen, dass die Benutzung eines Carbon-Natron-Ofens 
ebenso lebensgefährlich ist, wie die eines Kohlenbeckens in einem geschlossenen 
Raum oder eines Ofens, dessen Klappe zu früh geschlossen ist. 

Die bisher bekannt gewordenen Unglückställe haben aber auch weiter 
den Beweis geliefert, dass die Verwendung des Ofens zur Beheizung von Wohn- 
und Schlafräumen in der That die schlimmsten Folgen haben kann und dass 
die erhobenen Bedenken nicht ausschliesslich von theoretischer Bedeutung 
sind. Wenn derartige UnglücksfÜlle nicht häufiger vorgekommen sind, dann 
mag dies daran liegen, dass die Oefen gewöhnlich in solchen Räumen benutzt 
werden , in denen sich Menschen nur vorübergehend auf halten, oder in denen 
durch häufiges Oeff'nen der Thiiren ein starker Luftwechsel stattfindet. Aber 
die den Carbon-Natron-Oefen zur Last fallenden Kohlen-Oxydgas-Vergiftungen 
werden unzweifelhaft in dem Masse zunehmen, in welchem dieser Ofen beim 
Publikum immer weiter Eingang findet. 

Besonders bedenklich muss es in dieser Beziehung noch erscheinen, dass 
das Publikum keine Ahnung von der Gefährlichkeit des Carbon-Natron-Ofens 
hat und dass die Firma Nieske mit ihren Prospekten und Gebrauchsan¬ 
weisungen die Abnehmer der Oefen in den Glauben versetzt, als ob die Heiz¬ 
gase, welche möglicherweise schädlich wirken könnten, durch den Gummi¬ 
schlauch beseitigt würden. Diejenigen Besitzer des Ofens, welchen denselben 
hiernach für ungefährlich halten, werden ihn gelegentlich auch in solchen 
Räumen aufstellen, wo er unter allen Umständen gefährlich werden muss. 

ln diesem Sinne ist der Ofen entschieden als gemeingefährlich anzusehen 
und es wird unzweifelhaft manchem Verlust an Gesundheit und Leben dadurch 
vorgebeugt werden, dass der Gebrauch der Carbon-Natron-Oefen in geschlossenen 
Räumen allgemein untersagt wird. 

Dr. Koch, Geheimer Medicinal-Rath, 
Direktor des hygienischen Instituts. 



352 


Personalien. 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Das Prädikat Professor: dem Privatdocenten in der 
medicinischen Fakultät Dr. Horstmann in Berlin. — Der Rothe Adler¬ 
orden 111. Classe mit der Schleife: dem ordentlichen Prof. Geh. Med.-Rath 
Dr. Jacobson zu Königsberg i./Pr. — Der Kronenorden Hl. Classe: dem 
Kreispkysikus und Director der Hebammenlehranstalt Geh. Sanitätsrath 
Dr. Wachs in Wittenberg, dem Kreisphysikus Medicinalrath Dr. Bickel in 
Wiesbaden und dem Geh. Sanitätsrath Dr. von Steinau-Steinrück in Berlin. 
— Der Kronenorden IV. Classe: dem praktischen Arzt Schaller in 
Olvenstedt und dem Kreiswundarzt Cösters in Berleburg. — Das Kreuz der 
Ritter des Königl. Hausordens von Hohenzollern: dem Geh. Med.-Rath 
Prof. Dr. Olshausen in Berlin. — Die Erlaubniss ertheilt zur Anlegung: 
des Ritterkreuzes II. CI. des Grossherzogi. Badischen Ordens vom 
Zähringer Löwen mit Eichenlaub: dem Stabsarzt a. D. Dr. Gloxin in 
Berlin; des Kaiserl. Russischen Stanislaus-Ordens 11. CI. mit dem 
Stern; des Kommandeurkreuzes I. CI. des Königl. Schwedischen 
Wasa-Ordens sowie des Kommandeurkreuzes L CI. des Königl. 
Dänischen Danebrog-Ordens: dem Generalarzt H. CI., Reg.-Arzt und 
Königl. Leibarzt Dr. Leuthold in Berlin. 

Ernennungen: 

Der bisherige commissarische Verwalter des Physikats des Kreises Alfeld 
Dr. Lemmer zu Alfeld zum Kreisphysikus des gedachten Kreises; der prak¬ 
tische Arzt Dr. Bückling in Wolgast zum Kreisphysikus des Kreises Neu¬ 
stadt aJR.; der praktische Arzt Dr. Eckervogt zu Bocholt unter Beladung 
seines Wohnsitzos zum Kreiswundarzt des Kreises Borken; der praktische Arzt 
Dr. Haase zu Lippehne unter Belassung seines Wohnsitzes zum Kreiswundarzt 
des Kreises Soldin; der bisherige commissarische Verwalter der Kreiswundarzt¬ 
stelle des Kreises Rybniek Dr. Thienol zu Sohrau O.-Sch. zum Kreiswundarzt 
dieses Kreises; der bisherige Kreisphysikus Dr. Zimmermann in Lüben zum 
Kreisphysikus des Kreises Kalbe mit dem Wohnsitz in Schönebeck. 

Das Fählgkeitszeugniss zur Verwaltung einer Physikatestelle haben im 

III« Quartal 1888 erhalten: 

Die praktischen Aerzte: Dr. Dietrich in Möckern, Dr. Grawitz in 
Berlin; Dr. Grau in Hilders, Dr. Haase in Lippehne, Dr. Hirschfeld in 
Briesen, Dr. Klihm in Berlin, Dr. Nebler in Hundsfold und Dr. Schian in 
Ziegenhals. 

Verstorben sind: 

Die praktischen Aerzte Sanitätsrath Dr. Pohlenz in Kottbus, Dr. Senstius 
in Stettin, Dr. Rothschild, Kreisphysikus a. D. in Drossen, Dr. Willimski 
in Leschnitz, Sanitätsrath Dr. Kalk off, Kreisphysikus in Kölleda, Dr. Aron 
in Nieder-Wüstegiersdorf, Kreisphysikus a. D. Geh. Med.-Rath, Prof. Dr. Häcker¬ 
mann in Geifswald und Landphysikus Dr. Schmidt in Hannover. 

Vakante Stellen: 

Kreisphysikate: Johannisburg, Wehlau, Putzig, Filehne, Witkowo, 
Koschmin, Neutomischel, Schildberg, Schmiegel, Kalbe, Eckartsberga, Lehe, 
Hümmling, Adenau, Daun, Stadtkreis Elberfeld, Lennep und Oberamt 
Gammertingen. 

Kr eis wundarztstellen: Fischhausen, Labiau, Mohrungen, Darkehmen, 
Heiligenbeil, Heydekrug, Oletzko, Tilsit, Karthaus, Loebau, Marienburg, Tuchei, 
Schubin, Angermünde, Templin, Friedeberg, Landsberg a. W., Ost- und West- 
Sternberg, Regenwalde, Bütow, Dramburg, Greifenhagen , Schievelbein, Bomst, 
Meseritz, Schroda, Wreschen, Strehlen, Ohlau, Hoyerswerda, Reichenbach, 
Falkenberg o./Schl., Grünberg, Grottkau, Oschersleben, Wanzleben, Wernige¬ 
rode, Saalkreis, Naumburg a. S., Koesfeldt, Recklinghausen, Steinfurt, Waren¬ 
dorf, Höxter, Warburg, Lippstadt, Meschede, Fulda, Hanau, Hünfeld, Kempen, 
Zell, Kleve, Bergheim, Rheinbach, Wipperfürth, St. Wendel und Haigerloch. 


Verantwortlicher Redacteur: Dr. H. Mittenzweig, Berlin, Winterfeldtatr. 3. 
Druck der Fürstl. priv. Hofbuchdruckerei (F. Hltzlaff), Rudolstadt. 



Jahrg. 1 


1888 , 


Zeitschrift 

für 

MEDICINALBEAMTE 

Heraasgegeben von 


Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

Gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medicinalrath in Aurich. 

and 

Dr. W1LH. SANDER 

Medicinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s medic. Buchhdlg, H. Kornfeld, Berlin NW. 6- 


No. 12. 


Erscheint am 1. Jedes Monats. 

Preis jährlich 6 Mark. 


1. Decbr. 


Original-Mittheilung en: 


Zur gerlohtsärztltohen Beurthellung von 
Perforationen des Oesophagus nach 
Verätzungen desselben. Von Prof. 

E. r. Hofmann.353 

Zur Casulstlk des plötzlichen Todes. 

Von Dr« Mittenzweig.359 


Ein Fall von Selbstmord durch Er* 
würgen. Von Dr. Dinner .... 364 

Kleinere Mitteilungen.8 d8 


Seite 

Referate: 

Anleitung zur Gesundheitspflege an 
Bord von Kauffahrteischiffen . . . 875 

Kaltenbach, B. Dehnungsstreifen ln 

der Halshaut des Foetus.376 

Dr. R. v. Krafft-Ebing. Psychopathla 
sexualls mit besonderer Berücksich¬ 
tigung der conträren Sexualempfln- 

düng.876 

Dr. 0. Lange. lieber Gemüthsbe- 

wegungen.877 

Verordnungen und Verfügungen. 877 

Personalien..W3 


INH ALT 

Seite 


Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung von Perforationen 
des Oesophagus nach Verätzungen desselben. 

Von Prof. E. ton Hofmann in Wien. 

Zu den besonderen Seiten der Vergiftungen mit ätzenden 
Substanzen, insbesondere mit Aetzlauge (Laugenessenz), gehören 
auch die im weiteren Verlaufe sieb mitunter entwickelnden retro- 
und peri-oesophagealen Vereiterungen, welche zur Bildung von 
Abscessen und schliesslich zum Durchbruch derselben führen 
können, der meistens in einen Pleuraraum und zwar in der Regel 
in den rechten erfolgt. ’ Diese Abscesse können längere Zeit 
ohne auffällige Erscheinungen, ja seihst bei relativem Wohlbe¬ 
finden bestehen, bis endlich der Durchbruch eintritt, der sofort 
schwere Erscheinungen, insbesondere gewöhnlich eines rechts¬ 
seitigen Pleuraexsudates hervorruft, welche unter raschem Anstieg 
meist in 1—2 Tagen und selbst schon in kürzerer Zeit zum Tode 
führen. Da nun gleichzeitig in der Regel Oesophagusstrikturen 

33 














354 


Prof. E. t. Hofmana. 


bestehen und mit Einführung von Sonden behandelt werden, so 
kann es geschehen, und ist auch thatsächlich wiederholt vorge¬ 
kommen, dass die fast plötzliche und so rasch zum Tode führende 
Erkrankung mit der stattgehabten Sondirung in ursächlichen Zu¬ 
sammenhang gebracht, insbesondere von einer Perforation der 
Speiseröhre durch die Sonde hergeleitet wird, und man denkt 
besonders dann leicht an ein solches Vorkommniss, wenn die 
Erkrankung kurz nach einer Sondirung begann oder gar, was ja 
bei einem dem Durchbruch nahen Abscess und bei der Unruhe 
und Reaktion der Patienten (fast durchaus Kinder) wohl begreif¬ 
lich ist, während der Sondirung erfolgt 

Beobachtungen ähnlicher Art, welche, da sie als „Kunst- 
fehler“ aufgefasst werden können, eine gerichtsärztliche Bedeutung 
besitzen, sind wiederholt publicirt worden. Die letzte unter dem 
Titel: „Ein Fall von Laugenvergiftung mit secundär tödtlichem 
Empyem“ von A. Schub erg in Friedreichs Blättern für gerichtl. 
Med. 1888, S. 199. Er betraf ein 2 jähriges Kind, welches einen 
Monat zuvor eine Laugensteinlösung getrunken hatte und nun 
bei sonstigem Wohlbefinden durch mehrere Tage mit der Trous- 
seau’schen Schlundsonde behandelt wurde. Eines Tages, während 
einer von „ungeübter Hand“ vorgenommenen Bougierung trat 
plötzlich auffallende Cyanose, Dyspnoe und heftiges Widerstreben 
des Kindes ein, so dass man meinte, die Sonde könnte vielleicht 
in den Larynx eingedrungen sein. Es stellte sich Fieber, Husten, 
Heiserkeit, Oedem des Halses, Gesichtes und selbst der oberen 
Extremitäten ein und am anderen Morgen erfolgte der Tod. Die 
Obduction ergab zwischen Schlund und Wirbelsäule eine jetzt 
leere Eiterhöhle, welche sich hinter der Speiseröhre in einen 
Kanal fortsetzte, der in einen in beide Pleurahöhlen durch¬ 
brochenen Abscess endigte. Im Oesophagus fand sich am Ein¬ 
gänge eine Strictur, unter welcher die Wandung des Schlund¬ 
rohres eitrig zerfallen war. Im unteren Dritttheil derselben eine 
zweite Striktur. Spuren einer frischen Verletzung konnten nicht 
nachgewiesen werden, und alles sprach dafür, dass der Abscess 
offenbar schon lange bestanden haben musste. 

Aus der Litteratur erwähnt Sch. unter A. eines Falles von 
Billroth, betreffend einen 25jährigen Mann, der wegen einer 
Striktur nach Laugenvergiftung wiederholt und anstandslos 
sondirt worden war. Nachdem eines Tages die Sonde wieder mit 
Leichtigkeit durchgegangen war, führte B. gleich darauf eine 
dickere Sonde ein, was allerdings mit stärkerem Druck geschah, 
zog sie jedoch gleich zurück, als Patient heftigen Schmerz 
äusserte. Am Tage darauf fieberte der KraUke und zeigte Er¬ 
scheinungen einer rechtsseitigen Pleuritis, der er nach einigen 
Tagen erlag. Bei der Sektion fand sich Pleuritis rechts und 
eitrige Mediastinitis posterior, der Oesophagus jedoch an 
keiner Stelle verletzt. 

Schliesslich citirt Sch. den besonders interessanten Fall von 
Kurz (Deutsche med. Wochenschrift 1887 No. 34), wo es sich 



Zar gerichtsärztlichen Beurtheilang von Perforationen d. Oesophagus. 355 


um einen 4 jährigen Knaben handelt, der vor 8 Monaten Schwefel¬ 
säure geschluckt und eine hochgradige Striktur davongetragen 
hatte. Trotzdem fand K den Knaben auffallend kräftig ent¬ 
wickelt und von blühendem Aussehen. Da auch die feinsten 
Sonden nach 2 tägigen vergeblichen Dilatationsversuchen ungefähr 
in der Höhe des Ringknorpels zurückgehalten wurden, so wurde 
in den folgenden Tagen überlegt, was zu thun sei. Da kam 
plötzlich die Nachricht, dass der Kleine bei einem Spaziergange, 
bei dem er sehr viel herumgesprungen, schwer erkrankt sei Er 
hatte hohes Fieber, Athemnoth und Delirien. Die Untersuchung 
ergab linksseitiges Pleuraexsudat Der Tod erfolgte 36 Stunden 
nach Beginn der Erkrankung. Die Section ergab in der Höhe 
des Ringknorpels eine trichterförmige Striktur mit schliesslich 
nur stecknadclkopfgrossem Lumen und 2 andere je 2 cm lange 
Strikturen in den unteren Partien des Oesophagus. Die Schleimhaut 
desselben zeigte nirgends eine Continuitätstrennung, nicht 
einmal eine Erosion. Die Speiseröhre erschien im Bereiche der 
Vereiterungen eingelagert in einen periösophagealen Abscess, be¬ 
stehend aus altem, dicken, zum Theile käsigem Eiter. Der Abs¬ 
cess erstreckte sich, die Thymusdrüse durchsetzend, ins Media* 
stinum und communicirte durch eine kleine Perforationsöffnung 
in Höhe des Sternalansatzes der ersten Rippe mit der linken 
Pleurahöhle. 

Ich bin nun in der Lage, 3 Fälle aus meiner eigenen Er¬ 
fahrung zu bringen, wo man auch noch bei der Section an eine 
traumatische Perforation denken konnte, weil wirkliche mit der 
Durchbruchstelle der Verschwärung durch einen kanalartigen 
Gang in Verbindung stehende Oeffnungen im Oesophagus gefunden 
wurden, Und wo trotzdem nicht eine durch die Sondirung veran- 
lasste, sondern unabhängig von dieser durch den oben angeführten 
analoge Vereiterungen bedingte Perforation vorlag. 

Diese Fälle zeigen zugleich, dass die periösophagealen Ver¬ 
eiterungen nach Verätzung des Schlundrohres auf verschiedene 
Weise zu Stande kommen können und sind auch insofern nicht 
unwichtig, als sie einen Beitrag einestheils zur Kenntniss der 
Divertikelbildungen, anderseits zur Kenntniss derjenigen Ver¬ 
änderungen im Oesophagus liefern, welche der Einführung der 
Sonde Schwierigkeiten zu bieten und eventuell eine Perforation 
durch diese zu begünstigen vermögen. 

1. Sch. Karl, 2 Jahre, wurde am 1. Mai 1887 in das Kinderspital auf¬ 
genommen, nachdem er einige Tage früher Laugenessenz getrunken hatte. 
Er konnte Milch noch gut schlucken. Am 22. Mai erkrankte er an Masern 
und starb am 28. an Lungenentzündung, nachdem während des Spitalsaufent¬ 
haltes wiederholt und ohne dass hierbei auffällige Erscheinungen auftraten 
oder besondere Schwierigkeiten sich ergaben, Sonden eingeführt worden waren. 

Obduction. Starke Abmagerung, beiderseitige eitrige Pleuritis, Pneumo- 
nia catarrhalis mit beginnender Verkäsung. An der Basis des rechten Gaumen¬ 
bogens 2 über linsengrosse, flache rundliche Geschwürchen mit geröthetem 
und geschwelltem Grund und iiyicirter Umgebung. Im Schlund zarte ober¬ 
flächliche, ausgebreitete Narben. Die Speiseröhre unmittelbar über dem Magen¬ 
eingang in der Länge von 2 Cehtimetern sichtlich verengert, die Innenwand da¬ 
selbst narbig glänzend und verdickt Die Längsfalten des Oesophagus gegen 



856 


Prof. E. v. Hofmann. 


diese Narbe wie strahlig eingezogen ohne Taschenbildung. Der Oesophagus 
darüber bis fast zum Schlund ziemlich stark spindelförmig erweitert. Die 
Innenwand glatt von zart narbigem Aussehen. Die Muscularis verdickt. Zwei 
Querfinger über dem oberen Ende der Striktur an der Vorderwand der Speise¬ 
röhre ein über linsengrosses ovales longitudinal gestelltes glattes flaches Ge¬ 
schwür mit abgerundeten glatten Rändern, von denen der obere leicht unter- 
minirt ist. Ein Querfinger über diesem ein ovales ebenfalls longitadinal ge¬ 
stelltes 8 mm langes und 4 mm breites Loch mit platten abgerundeten 
Rändern welches in eine bohnengrosse glattwandige Höhle führt, von welcher 
man nach aufwärts mittelst eines 1 cm langen glatten Kanals zu einem 
Paquet bis haselnussgrosser käsiger Lymphdrüsen gelangen kann, anderseits 
aber auch nach abwärts und nach rechts durch einen ebensoweiten doch 
2 cm langen Kanal ebenfalls zu käsigen Lymphdrüsen, in deren Nachbarschaft 
die rechte Lunge angewachsen fleischartig verdichtet und mit zahlreichen 
grauen Knötchen durchsetzt erscheint. Eine Perforation dieser Kanäle in die 
Pleurasäcke ist nicht nachweisbar. Magenschleimhaut blass ohne Narben 
oder sonstige Veränderung. 

Bei oberflächlicher Betrachtung konnte in diesem Falle 
wegen Form und Grösse des Loches in der vorderen Wand des 
Oesophagus an eine traumatische Perforation desselben gedacht 
werden. Eine frische Perforation war allerdings wegen Abgang 
frischer Beactionserscheinungen sofort auszuschliessen. Aber es 
hätte behauptet werden können, dass dieselbe in den früheren 
Stadien der Behandlung erzeugt worden war. Diese Behauptung 
wird aber schon durch die Anamnese unhaltbar, welche ergiebt, 
dass die Sondirung keine besondere Schwierigkeit darbot und 
niemals mit auffälligen Erscheinungen verbunden oder von diesen 
gefolgt war, die doch nach einer Perforation nicht ausgeblieben 
wären, vorzugsweise aber durch den Umstand, dass einer der 
von der OefFnung ausgehenden kurzen Kanäle, die beide geglät¬ 
tete Wandungen zeigten, nach aufwärts verlief. Offenbar 
handelte es sich entweder um aus Verätzungsgeschwüren hervor¬ 
gegangene fistelartige Verschwärungen, wie daa unterhalb des 
Loches gefundene linsengrosse, abgerundete und unterminirte 
Bänder besitzende Geschwür als möglich erscheinen lässt, oder es 
liegt ein sog. gerade an dieser Stelle bekanntlich häufig zu 
findendes Eetraktionsdivertikel vor, in welchem es in Folge der 
Verätzung zur Verschwärung und von da aus zur eitrigen Pleu¬ 
ritis gekommen war. Die Verkäsung der Bronchialdrüsen bestand 
wahrscheinlich schon vor der Vergiftung. 

2. Franziska Z. VL Jahre. Das Kind soll vor 5 Wochen Laugen¬ 
essenz getrunken haben. Es wurde kein Arzt geholt, sondern dem Kinde 
Milch, Oel etc. gegeben, worauf es mehrmals erbrach und der Zustand sich 
so gebessert haben soll, dass die Eltern ihn nicht für gefährlich hielten. In 
der letzten Zeit wurde jedoch die Speisenaufnahme immer schwieriger, so dass 
zuletzt nur ganz klein gemachte Speisestückchen geschluckt werden konnten. 
Nun erst und zwar am 2. December 1887 suchten die Eltern das Kinderspital 
auf, wo man durch Sondirung eine Oesophagusstrictur konstatirte. Von' da 
an soll das Kind unwohl gewesen sein und starb am selben Tage un£ r 
Erstickungserscheinungen. 

Obduction, 5. December 1887. Körper stark abgemagert, blass; an de k 
hinteren Rachenwand und an der Basis der Gaumenbögen oberflächlich zarte 
Narben. Im rechten Brustraum etwa 2 Deciliter einer braungelblichen trüben 
wässrigen Flüssigkeit. Die rechte Lunge klein, überall fleischartig. Beide 
Pleurablätter getrübt, nur am unteren Rande des Ünterlappens mit einer 
dünnen Schicht fibrinösen Exsudates belegt. An der Mitte der hinteren Um- 



Zur gerichteärztlichen Beurtheilung von Perforationen d. Oesophagus. 857 


schlagsstelle eine bohnengrosse unregelmässige nicht suffiindirte Oeffnung mit 
verdünnten fetzigen missfarbigen Rändern, welche nach aufwärts gegen die 
Speiseröhre führte. Im Magen spärliche Flüssigkeit, die Schleimhaut daselbst 
und im Duodenum von normalem Aussehen. Im Dünndarm spärlicher gelblich¬ 
schleimiger Inhalt, im Dickdarm weissliche geballte dunkelgrüne Eothmassen. 
Die Speiseröhre in ihrem oberen Drittel leicht erweitert, die Schleimhaut 
daselbst blass mit oberflächlichen narbigen Zügen, besonders im unteren An- 
theil. Die untern 2 / s des Oesophagus 9ind in nach abwärts etwas abnehmendem 
Grade so stark verengt, dass man kaum mit der Branche einer kleinen Scheere 
durchkommen kann. Die Wandungen dieser verengten Partie sind bis 4 mm 
dick, sehr derb, die Innenwand überall narbig wie von gestricktem Aussehen. 
Unmittelbar über dem Anfänge der Striktur findet sich in der rechten Wand 
der Speiseröhre eine quergestellte, fast 1 cm lange schlitzförmige Oeffnung, 
deren oberer Rand fast scharf, deren unterer aber deutllich abge¬ 
rundet und mit Schleimhaut überzogen ist. Diese Oeffnung setzt sich 
entlang der rechten Seite der Speiseröhre in einen 4 cm langen und */a—1 cm 
breiten Kanal fori, welcher an seinem unteren Ende in die oben erwähnte 
Oeffnung im Brustfell übergeht, theils glatte theils wie gestrickt und narbig 
aussehende Wandungen zeigt, die mit einer dünnen Schicht Eiter belegt sind, 
aber nirgends, auch nicht an den Oeffnungen Suffusionen oder frisch aussehende 
Trennungen erkennen lassen. An der der Eingangsöflhung dieses Kanals 
gegenüberliegenden Stelle des Oesophagus findet sich eine fast dreieckige mit 
der einen Spitze nach unten gekehrte Oeffnung mit etwa 3 mm langen fast 
gradlinigen, jedoch abgerundeten Rändern, von denen der obere allmählich in 
den glatten wie narbig aussehenden Grund übergeht, während der untere mit 
letzterem eine gegen die untere Ecke des Dreieckes an Tiefe zunehmenden 
Tasche bildet, die eben den Kopf einer gewöhnlichen Metallsonde aufzunehmen 
vermag. Eine um ein geringes kleinere, sonst ebenso geformte Tasche findet 
sich etwa 1 1 / i Millimeter über der eben beschriebenen. Die Schleimhaut der 
ganzen Gegend ist gegen das obere Ende der Strictur undeutlich strahlenförmig 
eingezogen, mit flachen und schmalen doch langgestreckten taschenförmigen 
Vertiefungen zwischen den Längsfalten. 

In diesem Fall war die Annahme einer traumatischen Per¬ 
foration sehr nahe liegend, da das bis dahin relativ gesunde 
Kind fast unmittelbar nach der Sondirung, die überdies zum 
erstenmal geschah, schwer erkrankte, schon am selben Tage 
starb, und wie die Sektion ergab, an einer frischen Perforations- 
Pleuritis gestorben war. Trotzdem konnte auch hier erklärt 
werden, dass die Oeffnung im Oesophagus und der von ihr aus¬ 
gehende Kanal nicht durch jene Sondirung veranlasst wurde, 
sondern schon früher bestand, da keine frischen Reaktionsspuren 
weder im Kanal, noch an der Oeffnung konstatirt wurden und 
da letztere abgerundete mit Schleimhaut überzogene Ränder be- 
sass. Da ausserdem in der Nachbarschaft dieser Oeffnung zwei 
andere ähnliche doch nur taschenförmige Oeffnungen sich fanden, 
die offenbar aus Ulcerationen sich entwickelt hatten, so ist es 
höchstwahrscheinlich, dass auch erstere und der von ihr aus¬ 
gehende Kanal auf diese Weise sich gebildet und schliesslich 
zur Abscessbildung im hinteren Mediastinum geführt hat. 

Die Frage, ob der Abscess spontan in den rechten Pleura¬ 
raum durchgebrochen ist, oder in Folge der durch die Sondirung 
veranlassten Unruhe und stärkeren Thoraxbewegung eintrat, oder 
endlich ob der Operateur mit seiner Sonde zufällig in den bereits 
bestehenden abnormen Kanal gerieth und die bereits stark ver¬ 
dünnte Abscesswand durchstiess, liess sich natürlich nicht beant- 



858 


Dr. Mittenzweig. 


Worten, war jedoch für die weitere gerichtsärztliche Beurtheilung 
des Falles irrelevant. 

8. Johann A. 3 3 / 4 Jahre alt, trank am 6. Januar 1888 Laugenessenz, wo¬ 
durch eine Verätzung der Schlingorgane und consecutive Verengung der 
Speiseröhre eintrat, in Folge welcher die Ernährung litt und das Kind stark 
abmagerte. Das Kind wurde längere Zeit im Kinderspitale behandelt, aus 
welchem es vor mehreren Wochen gebessert entlassen wurde. Zu Hause be¬ 
fand sieh das Kind wohl, das Schlingen ging ziemlich gut von statten. Am 
25. März erkrankte es plötzlich und starb am 26. Eine Sondirung hatte seit 
der Entlassung aus dem Spital nicht stattgefunden. Die am 28. März vorge¬ 
nommene Obduction ergab starke Abmagerung und Anämie; vergrösserte und 
central verkäste Halsdrüsen besonders rechts, ebenso starke Verkäsung der 
Bronchialdrüsen besonders der rechten. Beiderseits eitrig-faserstoffige Pleu¬ 
ritis, im linken Brustraum auch reichliche trübe Flüssigkeit. Der Oberlappen 
der rechten Lunge angewachsen. Die Schleimhaut des Rachens, des Schlundes 
und des oberen Drittels der Speiseröhre blassviolett, glatt und feucht, ohne 
Narben. Das mittlere Drittel des Oesophagus seiner ganzen Länge nach 
ziemlich gleichmässig verengert, doch für den Knopf einer kleineren Knopf- 
scheere leicht passirbar. Die Wand stark Verdickt und derb anzufühlen, aie 
Innenfläche überall narbig, doch ziemlich glatt. Der oberhalb dieser Ver¬ 
engerung liegende Theil der Speiseröhre ist bis zur Schlundenge mässig 
spindelförmig erweitert, mit verdickter Muskularis, welche im unteren AntheO 
dieser Partie bis in die strikturirte hinein in Form niedriger Querleistchen 
hervortritt. In der Höhe der Bifurcation der Trachea befindet sich an der 
Vorderwand der Speiseröhre in dem oberhalb der Striktur gelegenen etwas 
erweiterten aber sonst normal aussehenden Theile derselben eine über linsen¬ 
grosse taschenförmige Oeflhung mit abgerundeten von Schleimhaut überzogenen 
Rändern, welche in einen eben so weiten ebenfalls mit Schleimhaut ausge¬ 
kleideten Kanal sich fortsetzt, dessen vordere und hintere Wand sich berühren, 
welcher nach abwärts und etwas nach links hinter den Oesophagus herab¬ 
ziehend, beiläufig in der Mitte des letzteren, in eine über nussgrosse mit zer¬ 
fallenem Gewebe ausgekleidete Eiterhöhle führt, die in ihrem unteren Antheil 
in den linken Brustfellsack durchbrochen ist. Die Bronchialdrüsen sind, be¬ 
sonders rechts, bis haselnussgross und grösstentheils verkäst. Auch finden sich 
einzelne geschrumpfte schiefergraue Lymphdrüsen mit kreidigen Einschlüssen. 

Diese Beobachtung ist besonders interessant, da hier nicht 
der geringste Zweifel bestehen kann, dass der Perforationsvorgang 
unabhängig von einer Sondeneinführung eingetreten ist, indem bereits 
seit mehreren Wochen eine solche Operation nicht mehr statt¬ 
gefunden hatte, das Kind sich bis zum Tage vor seinem Tode 
wohl befand und ziemlich gut schlingen konnte, insbesondere 
aber weil die Oeffnung im Oesophagus in ganz charakteristischer 
Weise die Eigenschaften eines durch geschrumpfte Lymphdrüsen 
veranlassten Retractionsdivertikels darbot, von welchem aus, nach¬ 
dem sich in Folge der Verätzung eine Verschwärung in demselben 
ausgebildet hatte, die Abscessbildung und Perforation in den 
Brustraum ausgegangen war. Auch ist dieser Fall ein ausge¬ 
zeichnetes Beispiel der Thatsache, dass solche Abscesse längere 
Zeit bestehen und bis zum schliesslichen Durchbruch ziemlich 
latent verlaufen können. 



Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 


359 


Zur Casuistik des plötzlichen Todes. 

Ein Fall von Thrombose beider Lungenarterien durch 
embolische Thromben des rechten Herzens. 

Von Dr. Mlttenrwelg. 

(Schluss.) 

6. Die secundäre Thrombose. 

Die secundäre Thrombose umfasst diejenigen Fälle von Ge- 
fässverstopfungen, in welchen die GefäBsentzündung der Thromben¬ 
bildung vorhergeht und diese durch die Entzündung ihrer Wand 
bedingt.. Im Herzen finden wir als Ursache die Endokarditis, nament¬ 
lich die Endokarditis ulcerosa, in den grossen Arterien die Arte¬ 
riitis deformans, insonderheit ihre atheromatösen Ausgänge, in den 
Venen aber vornehmlich die Phlebitis, welche von benachbarten, 
besonders eiterigen und jauchigen Entzündungen auf die Venenwand 
fortgeleitet wird. Bei der secundären Thrombose entstehen nach 
Virchow (Ges. Abhandlungen S. 618 ff.) zuerst auf den veränder¬ 
ten Stellen der Gefässwand flache Auflagerungen von einem ge¬ 
wöhnlich ziemlich blassen, bald mehr blassrothen, bald grauweis- 
sen, bald gelbweissen Gerinnsel, die Anfangs ganz lose anhängen 
und sehr leicht abzustreifen sind. Schon in der ersten Zeit 
bestehen diese wandständigen Thromben aus relativ 
dichtem, fibrillären Faserstoff und zahlreichen einge¬ 
sprengten farblosen Körperchen; sie zeigen also eine 
Zusammensetzung, wie die früher geschilderten Throm¬ 
buskerne. Nach und nach wachsen sie durch schichtweisen Ab¬ 
satz von neuen Gerinnsellagen, werden dichter und breiten sich 
sowohl in der Fläche, namentlich in der Richtung des Blutstro¬ 
mes, als auch in der Dicke mehr aus. Dann haben sie die grösste 
Aehnlichkeit mit Crouphäuten. Auch ihre Adhärenz nimmt in 
dem Maasse zu, als sie grösser werden, und während Anfangs der 
Blutstrom noch neben ihnen vorbei passirt, so bilden sie nach 
und nach eine immere grössere Verengerung und endlich eine 
vollständige Verschliessung der Gefässlichtung. Dann schreitet 
die Thrombu8bildung auch rückwärts bis zu den nächsten Colla- 
teralen fort und erreicht einen Umfang, welcher den oft sehr be¬ 
schränkten Ausgangspunkt fast ganz übersehen lässt. 

Die Wirkung dieser secundären Thrombose ist daher zunächst 
eine nicht ganz ungünstige, indem der Eiter, welcher endlich die 
Gefässwand durchbricht, sequestrirt wird. Allein nach und nach 
kann auch die Thrombusmasse schmelzen und dann entweder 
durch eigene Abbröckelung und Fortspülung oder durch Durch¬ 
bruch der eiternden Massen Metastasen bilden. Wahrscheinlich 
in kleinen Venen tritt diese Thrombosenart nicht selten ein, so 
bei den Venae diploeticae nach Kopfverletzungen, ferner bei den 
grösseren und mittleren Hautvenen am Gesicht und den Extre : 
mitäten, namentlich aber in den Sinus der harten Hirnhaut und 
den Lebervenen. Alsf ein prägnantes Beispiel einer solchen secun¬ 
dären Thrombose sah ich ganz vor Kurzem im pathologischen In- 



360 


Dr. Mittenzweig. 


stitut der Charite, wo nach einer Caries des Fersenbeines ausser 
einem kleinen Durchbruch auf die Vorderfläche des Os petrosum, 
auch ein solcher in der Knochenwand des Sulcus sigmoides erfolgt 
war. Hier war die anliegende Sinuswand jauchig infiltrirt und 
verdickt, während weiterhin in seiner Wand einige kleinere gelbe 
Abscesse sassen. Die Wand war nirgends durchbrochen, die 
Lichtung des Sinus selbst aber durch einen grossen adhärirenden 
Thrombus verschlossen. Von dem Thrombus aber hatten sich 
Stücke abgelöst und waren in die Lunge als Emboli eingewan¬ 
dert, wo sie metastatische herdige Pneumonien mit jauchigem 
Character hervorgerufen hatten. Die Dura selbst, die Pia und 
das Gehirn waren an dieser Stelle durch die Thrombose vor 
directer Berührung mit der Knocheneiterung geschützt worden. 

IV. Die Lungenthrombose und Lungenembolie. 

In den Lungen treffen wir sowohl die Thrombose wie die 
Embolie an, doch nimmt hier die secundäre Thrombose der Venen 
eine geringere Stellung ein als die Embolie der Lungenarterie, 
von welcher wir überhaupt bei unserer Darstellung ausgegangen 
waren. 

Wenn ich im Eingänge dieser Betrachtung unter dem Ein¬ 
drücke des frischen Falles, dem Eindrücke eines mündlichen Vor¬ 
trages Virchow’s über denselben und dem Eindrücke der gewal¬ 
tigen und anregenden Literatur über die Lungenembolie die 
geringe gerichtsärztliche Würdigung ihres Vorkommens hervor¬ 
hob, so hat mich spätere eigene Beobachtung und Durchsicht der 
gerichtsärztlichen Fälle belehrt, dass nicht ein Uebersehen der 
Lungenembolie Hauptursache der spärlichen gerichtsärztlichen 
Fälle ist, sondern vielmehr das seltenere Vorkommen dieser Em¬ 
bolie auf dem Obductionstische des Gerichtsarztes als dasjenige 
auf dem Secirtische des pathologischen Anatomen. Nach Vir- 
chow ist das primäre Vorkommen von älteren, längere Zeit vor 
dem Tode entstandenen Gerinnseln (Fibrinpfröpfen) in der Lungen¬ 
arterie, wo erweislich die Obstruction der Arterie den etwaigen 
Veränderungen des Parenchyms voraufgeht, oder unabhängig da¬ 
von ist, in Beziehung auf den Ort der Gerinnung stets 
ein secundäre8. Diese Pfropfe sind an irgend einem, in der 
Circulation vor den Lungen gelegenen Theile des Gefässsystems, 
d. h. in den Venen oder dem rechten Herzen, entstanden und 
durch den Blutstrom in die Lungenarterien geführt worden. Da¬ 
mit aber ist zugleich bestimmt, dass bereits krankhafte Zustände 
im Organismus vorhanden sind, welche zu primären Gerinnungen 
in den Venen disponiren und schon daraus lässt sich entnehmen, 
dass solche Fälle, wenn überhaupt, eher dem pathologischen Ana¬ 
tomen als dem Gerichtsarzte zu Gesicht kommen. Der Gerichts- 
arzt wird solche Fälle von Lungenembolie nur dann in grösserer 
Häufigkeit zu sehen bekommen, wenn er auch Gelegenheit hat, 
die polizeilichen Leichen, an deren Obduction die Staatsanwalt¬ 
schaft kein Interesse hat, unter das Secirmesser zu bekommen, 
denn bei diesem Material begegnen wir naturgemäße häufiger dem 



Zur Caauistik des plötzlichen Todes. 


861 


plötzlichen Tode durch Lungenembolie als bei dem rein gericht¬ 
lichen- Wir müssten denn die Fälle von Lungenembolie mit ein¬ 
rechnen, welche durch Eindringen von flüssigem Fett in die Lungen- 
capillaren entstehen, von deren Besprechung wir indess beim vor¬ 
liegenden Thema abgesehen haben. 

Die Einwanderung von Venen und Herzpfröpfen in die Lungen¬ 
arterie bietet nach der anatomischen und functionellen Seite so 
viel Eigenartiges, dass sie schon deshalb besondere Beach¬ 
tung verdient. Leider gestattet mir der Baum nicht, dieselbe 
nach Wunsch auszudehnen, auch genügt schon das Hervorheben 
der einzelnen diesbezüglichen Factoren, um die Tragweite der¬ 
selben und ihren Einfluss auf die Besonderheit der Lungenembolie 
zu ermessen. Ich nenne die Weite der Lungencapillaren, die end¬ 
arterielle Verästelung der Pulmonalarterien, andererseits ihre 
Communication mit den Bronchial-, Pleural- und Mediastinalarte- 
rien, daneben die Anordnung der functionellen und nutritiven 
Gefässbahn und schliesslich den Effekt, welchen die Athmungs- 
bewegungen auf die Circulation des Lungenblutes ausüben. 

Bei Berücksichtigung dieser Punkte erklärt sich so manche 
Eigentümlichkeit, welche uns bei der Lungenembolie entgegen¬ 
tritt und erhellt sich so manches Dunkel, welches die verschie¬ 
dene Gestaltung des anatomischen Effectes der eingewanderten 
Pfropfe anfänglich bietet. Die relative Seltenheit und das un¬ 
regelmässige Auftreten des Lungeninfarctes entspringt zum Theil 
dieser anatomischen Beschaffenheit der Circulation, zum Theil ist 
sie abhängig von der Länge der Zeit, welche seit der Einwan¬ 
derung verstrich. Die geringere Entfärbung der Lungeninfarcte 
gegenüber den Milz- und Niereninfarkten, welche besonders in 
der Milz als Fibrinkeile zur Anschauung kommen, findet eben¬ 
falls wohl hierin wenigstens theil weis ihre Erklärung. Weigert 
hebt diesbezüglich hervor, dass Lungeninfarcte überhaupt nur 
dann eintreten, wenn die Circulation der ganzen Lunge (nament¬ 
lich durch braune Induration) sehr beeinträchtigt sei. Mit der 
Anordnung der genannten Anastomosen zwischen Lungen-, Bron¬ 
chial- und Mediastinalarterien und mit den mangelnden Capillar- 
gebieten an der Peripherie der Lunge hängt ferner das Auftreten 
der peripherischen Infarctkeile in den Lungen zusammen, welche ent¬ 
sprechend den Gebieten der einzelnen Lungen lappen, ihrer Arterien 
und Venen, sich mit Vorliebe an den Lungengrenzen etabliren, 
und so manches Andere. 

Die frischen Infarcte sind dunkel schwarzroth und fast scharf 
umgrenzt, meist peripherisch gelagert, von kegelförmiger Gestalt. 
Die Kegelgrundfläche ist nach der Lungengrenze gerichtet und 
hier prominirend. Der ältere Infarct ist rothbraun oder rostfar¬ 
ben. Der Infarct kann resorbirt werden ohne jede bleibende Ge¬ 
websveränderung oder er hinterlässt verdichtetes Lungengewebe 
mit narbiger Schrumpfung an der Oberfläche, wobei die Farbe 
unverändert, braun oder schiefrig werden kann. Selten erfolgt 
Nekrose, Erweichung, Verkäsung, Verkalkung etc. 



362 


Dr. Mittenzweig. 


Derartige Ausgänge und namentlich die entzündlichen, eitern¬ 
den, verjauchenden geschehen mehr auf Kosten der Malignität als 
der sonstigen Eigenschaften des Embolus. 

Die Malignität des Pfropfes bedingt nicht nur den Ausgang 
des Infarctes, sondern die Wirkung der Embolie selbst. Die Bös¬ 
artigkeit entfaltet auch dort eine örtliche Wirkung, wo gutartige 
Arterienverschlüsse ohne jede locale Störung verlaufen. Demzu¬ 
folge finden wir die infectiöse Wirkung besonders da entfaltet, 
wo wir die Circulationsstörungen seltener sehen, d. h. an der 
Lungenpforte und im centralen Theile des Lungengewebes. Diese 
Entzündungsherde liegen nicht hinter, sondern um den Embolus, 
sie sind nicht keil- sondern kugelförmig, da die infectiöse 
Wirkung von einen Centrum radiär sich ausbreitet 

Neben diesen anatomischen Verhältnissen interessiren den 
Gerichtsarzt fast in noch höherem Grade die functionellen 
Störungen der Lunge. 

Während kleinere Verstopfungen ohne allgemeine oder ört¬ 
liche Erscheinungen verlaufen, pflegen grosse Verstopfungen sehr 
erhebliche functionelle Störungen im Gefolge zu haben. Virchow 
hat dies sowohl durch Fxperimente an Thieren als auch durch 
seine Casuistik der an Menschen beobachteten Erscheinungen 
nachgewiesen. (Die plötzlichen Störungen des Athmens in Folge 
grosser Verstopfungen der Lungenarterien). 

In den tödtlich verlaufenden Fällen kamen die Anfälle mit 
Angstgefühl, Oppression, Stöhnen, brachten schnell Pulslosigkeit, 
Kälte der Peripherie des Körpers, kalten Schweiss, und der 
letztere endigte schnell mit Streckung der Glieder, Verdrehen 
der Augen, stossweisser Bewegung des Thorax und tiefem Auf¬ 
seufzen. Die vollständige Abschliessung des Lungenkreislaufes 
bewirkt nach ihm Opisthotonus, plötzlichen Stillstand des Herzens 
(Asphyxie) in der Diastole, Erweiterung der Pupillen und Ver¬ 
langsamung, dann Stillstand der Respiration. Die Unterbrechung 
der Lungencirculation lähmt zunächst nicht die Re¬ 
spiration, sondern das Herz. 

Die nächste Folge der pulmonalen Ischämie ist die Unter¬ 
brechung der Zufuhr Sauerstoff haltenden Blutes zu den Kranz¬ 
arterien des Herzens und zu den Körperarterien sowie die 
Stauung des Venenblutes im rechten Herzen, den Kranzvenen 
und den Körpervenen. Daraus folgt der diastolische Stillstand 
des Herzens, die tetanische Streckung der willkürlichen Muskeln, 
die Verlangsamung der Respiration, die Erweiterung der Pupille, 
die Vortreibung des Auges etc., bald der völlige Tod. 

Tödtet die Embolie nicht sofort, so führt sie eine Reihe von 
dyspnoetischen und asthmatischen Zuständen herbei. 

V. Epikrisis. 

Wenden wir uns nach diesen theoretischen Erörterungen, in 
welchen ich im Wesentlichen den noch heute massgebenden 
Lehren, die Virchow vor fast fünfzig Jahren veröffentlicht 



Zur Caraistik des plötzlichen Todes. 


368 


hat, gefolgt bin, zur Kritik des Falles, der uns im Beginne 
beschäftigt hat, so finden wir in der Krankengeschichte die vor¬ 
stehend verzeichneten Erscheinungen nur wenig markirt. 

Eine fiinfundvierzig-jährige kachektische Frau mit oedema- 
töser Geschwulst der Beine wird sterbend in das Krankenhaus 
geliefert unter den Erscheinungen von starker Athemnoth, welche 
seit einigen Tagen aufgetreten ist und plötzlich sich so verstärkte, 
dass der Tod befürchtet werden musste. Hier war sie besinnungs¬ 
los gestorben. 

Wenn wir hier nur Lungenbeklemmung und Besinnungslosig¬ 
keit und damit einen nicht auffallend specifischen Symptomencomplex 
vermerkt finden, so müssen wir die Umstände berücksichtigen, 
unter denen wir diese Anamnese erhalten haben. Die Patientin 
erkrankte als Dienstmädchen unter primitiven Verhältnissen, 
welche die sorgfältige ärztliche Beobachtung erschwerten. Dabei 
trat ihr Tod so überraschend ein, dass der Verdacht eines fahr¬ 
lässigen oder gewaltsamen Todes rege und erst durch das Er- 
gebniss der Obduktion beseitigt wurde. 

Die Obduktion ergab nun zweifellos das Bestehen eines 
chronischen Siechthums, welches im Gefolgt einer chronischen 
Nierenerkrankung eingetreten war. Das Herz zeigte nur eine 
geringe braune Atrophie, aber im rechten Herzen sassen grosse 
Thromben, welche durch die Beschaffenheit ihrer Oberfläche 
verriethen, dass Theile von ihnen abgelöst und weggeschwemmt 
waren. Diese fanden wir wieder in den Stämmen der Lungen¬ 
arterie, und zwar bewies die verschiedene Beschaffenheit der secun- 
dären Niederschläge und Gerinnungen an den eingewanderten 
Pfröpfen, dass die Verstopfung linkerseits etwas früher erfolgt 
war, als diejenige der rechten Lunge. 

Die Lungenemboli hatten dieselbe Beschaffenheit wie die 
Herzthromben und bekundeten auch hierin ihre Herkunft Sie 
waren hart aber bröcklich und erwiesen sich auf dem Durch¬ 
schnitt als weisse Thromben, sowohl durch ihre schichtartige 
Schnittfläche wie durch die meist weissliche Farbe derselben. 
Nur im centralen Theile sass eine schmutzig rothbraune Masse, 
welche theils fest, theils schmierig, theils dickflüssig war und 
stellenweis in einem alveolären Gefüge zu sitzen schien. Um 
diese gelbliche centrale Schicht fanden sich unregelmässige Reifen 
von weisser und grauer Farbe, untermischt hie und da mit spär¬ 
licher Einlagerung braunrother Striche. 

Die mikroskopische Untersuchung ergab dementsprechend ein 
buntes Bild. 

Die röthliche Masse wurde gebildet von einem derben Balken¬ 
netz einer feinkörnigen Masse, dessen Maschen mit bräunlichem 
Detritus, mit Conglomeraten rother Blutkörper oder mit grauer 
Kömermasse ausgefüllt waren. Dazwischen lagerten glänzende 
Klumpen und feinere Stäbchen, welche sich aus farblosen Fett¬ 
nadeln bestehend erwiesen. Die rothe Masse war augenscheinlich 
gebildet von eingeschlossenen rothen Blutkörpern, welche sich durch 
Farbe, Gestalt und Pigmentbildung als solche kennzeichneten. 



864 


Dr. Binner. 


Die Balken stellten körniges Gewebe mit körnigem Fett unter¬ 
mischt dar, über dessen Herkunft sich Bestimmtes nicht aus- 
sagen liess. Dagegen erwiesen sich die weissen Schichten meist 
als Streifen fädigen Fibrins, zwischen denen einzelne Körner¬ 
schichten gelagert waren, welche Eiweiss- oder Fett-Reaction 
gaben. Namentlich die gelblichen Schichten waren reich an 
Fettkörnern, während die grauen Ringe die sonst im Throm¬ 
bus spärlich nachweisbaren Kerne durch ihre Tinction in grös¬ 
serer Menge nachweisen Hessen. 

Für die Entstehung der Herzthromben liess sich eine Ver¬ 
änderung des Endokardiums nicht nachweisen. In gleicher 
Weise ist es mir nicht gelungen, durch elektive Färbungen die 
Genesis des Thrombuskerns zu ermitteln. Zahlreiche Färbungen, 
welche ich nach dem Vorgänge von Eberth und Weigert vornahm, 
haben mir an diesem Präparate einen befriedigenden Aufschluss 
nicht ergeben, wenngleich die Weigert’sche Färbung auch hier eine 
grosse Menge fädigen Fibrins an Orten erkennen liess, an denen 
mich andere Tinctionen im Stich gelassen hatten. Recht gute Re¬ 
sultate erzielte ich durch Anwendung verdünnter Lösungen des 
Ehrlich’schen Triacid’s, welche an Unterbindungsthromben und 
cadaverösen Gerinnseln eine sehr schöne Färbung der rothen und 
weissen Blutkörper, des Fibrins und der körnigen Masse be¬ 
wirkten. Die Bestimmung des Herkommens der letzteren bildet 
vorläufig noch grosse Schwierigkeit und lässt deshalb diese Frage 
für die pathologischen Thromben als eine gelöste nicht erscheinen. 
Nach meinen spärHchen Untersuchungen masse ich mir ein Urtheil 
über das Vorkommen von Blutplättchen nnd deren Bedeutung für 
die Thrombose nicht an. Ich habe zwar nicht selten Bilder ge¬ 
funden, welche denen von Eberth-Schimmelbusch aufs Haar 
gleichen, glaube aber daraus kein Recht herleiten zu dürfen, 
eine eigene Meinung über diese jetzt noch so heikle Frage zu 
besitzen. 

Am Schlüsse dieser Arbeit drängt es mich, Herrn Prof. 
Eberth für die gütige Ueberlassung von Thrombose-Präparaten 
meinen Dank auch an dieser Stelle auszusprechen. 


Ein Fall von Selbstmord durch Erwürgen. 

Von Dr. Binner, Stettin. 

Dass sich ein Mensch durch Erwürgen selbst tödten kann, 
wird gewöhnlich für nicht wohl möglich gehalten, weil man 
schliesst, dass mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit die Muskeln 
der würgenden Hände erschlaffen und so die Athemwege für den 
Zutritt der Luft wieder frei werden müssen. 

Diese theoretische Erwägung fand eine Stütze in der That- 
sache, dass ein Fall von Selbstmord durch Erwürgen noch nicht 
bekannt geworden ist. 



Ein Fall von Selbstmord durch Erwürgen. 


865 


Aus diesen Gründen stellen die Lehrbücher der gerichtlichen 
Medicin den mehr oder weniger scharf formulirten Satz auf, 
dass, wenn an der Leiche Erstickung durch Erwürgen als Todes¬ 
ursache festgestellt ist, dies berechtigt, die Schuld eines Dritten 
an dem Tode anzunehmen. 

Es erscheint mir deshalb von einigem Werth, einen Fall zu 
veröffentlichen, in dem zweifellos Selbstmord durch Erwürgen 
vorlag. 

Die am Ende der dreissiger Lebensjahre stehende Schutz¬ 
mannsfrau Str., die früher im Wesentlichen gesund gewesen war 
und vor acht Jahren einmal geboren hatte, litt seit dem Anfang 
des Jahres 1887 an wiederholten Anfällen von Gelenkrheumatis¬ 
mus. Im Anschluss an einen solchen Anfall traten in den ersten 
Tagen des September desselben Jahres plötzlich Zeichen einer 
geistigen Störung bei ihr auf, die so heftige waren, dass sie in 
das städtische Krankenhaus gebracht werden musste. Dort hatte 
ich als Vertreter des zur Zeit verreisten Oberarztes Gelegenheit, 
sie einige Zeit zu beobachten. Sie befand sich in einem Zu¬ 
stande hochgradiger ängstlicher Erregtheit, lief viel umher, 
weinte und klagte, fürchtete, hingerichtet, lebendig begraben zu 
werden und ähnliches mehr. Dabei riss und kratzte sie an ihrem 
Körper und machte wiederholte Versuche, sich zu erhängen. 
Schlaf und Nahrungsaufnahme waren gering. 

Anfangs October nahm sie der Mann wieder nach Hause. 
Dort sah ich sie am 22. October wieder, um ein Attest zum 
Zweck ihrer Aufnahme in eine Provinzial-Irrenanstalt auszustellen. 
Sie war etwas ruhiger geworden, lag viel im Bett oder auf dem 
Sopha, klagte und jammerte in monotonen, unverständlichen 
Lauten und war nicht zu bewegen, auf ein Gespräch einzugehen. 
Schlaf und Nahrungsaufnahme waren unregelmässig. Ernstere 
Selbstmordversuche waren in der letzten Zeit nicht beobachtet 
worden. 

Am 26. October gegen 10 Uhr Vormittags wurde sie von 
der Frau, die der Mann zu ihrer Wartung und zur Führung des 
Haushalts angenommen hatte, gefunden, wie sie in ihrem Bette 
hockte und sich mit beiden Händen den Hals zusammendrückte. 
Die Ellbogen waren dabei auf die Knie aufgestützt, der Bücken 
lehnte an die Wand an. Die Frau riss ihr die Hände vom Halse 
weg und legte sie hin. Als ich, schleunigst gerufen, bald darauf 
hinkam, fand ich die Frau Str. in tiefster Bewusstlosigkeit, so 
dass selbst die Berührung der Hornhäute keinen Beflex auslöste. 
Die Athembewegungen erfolgten in grossen unregelmässigen 
Pausen, waren krampfhaft und von Eöcheln begleitet. Der Puls 
war an der Badialis nicht zu fühlen. Haut und Schleimhäute 
des Gesichts waren cyanotisch gefärbt. Die blaue Zunge war 
fest zwischen den Zähnen eingeklemmt. Auf beiden Seiten des 
Halses fanden sich zahlreiche, unregelmässig gestaltete, stellen¬ 
weise excoriirte Flecke. 

Es bedurfte zwei Stunden lang fortgesetzter Bemühungen 
meinerseits, die besonders in Ausführung der künstlichen Athmung 



366 


Dr. Binner. 


bestanden, ehe die Frau Str. wieder zu einer regelmässigen 
Athmung und zum Bewusstsein gelangte. 

Von diesem Tage an trat eine auffallende Besserung in dem 
geistigen Zustande der Frau ein. Am folgenden Tage fand ich 
sie vollständig angekleidet am Fenster sitzend und mit Stricken 
beschäftigt. Sie erschien freundlich und dankbar, antwortete be¬ 
reitwillig auf Fragen und fragte selbst wiederholt, ob sie wohl 
wieder gesund werden würde. Diese Besserung blieb bestehen 
und machte Fortschritte: sie beschäftigte sich regelmässig, ass 
gut und machte mit dem Manne kleine Spaziergänge. Unter 
diesen Umständen glaubte der Mann von der Ueberführung in 
die Irrenanstalt, als die Genehmigung dazu eintraf, absehen zu 
sollen. Wie er mir sagte, hielt sie auch der Director der An¬ 
stalt, mit dem er persönlich Rücksprache genommen, bei dem 
guten Befinden der Frau nicht für angezeigt. Auch ich mochte 
nicht dazu rathen, ermahnte den Mann aber, vorsichtig zu sein. 
Namentlich rieth ich ihm noch im November dringend davon ab, 
die zur Führung des Haushalts angenommene Frau zu entlassen, 
wozu ihn seine Frau sehr drängte, weil sie allein die Wirtschaft 
führen wollte. Trotzdem war die Frau am letzten November 
entlassen worden. 

Am 3. December war der Mann gegen 7 Uhr Vormittags in 
den Dienst und das Kind zur Schule gegangen. Die Frau war, 
wie die ganze Zeit vorher, anscheinend bei bestem Befinden ge¬ 
wesen. Als der Mann gegen J /,ll Uhr nach Hause kam, fand 
er seine Frau im Schlafzimmer neben einem ungemachten Bett in 
hockender Stellung, beide Hände am Halse haltend. Die Ell¬ 
bogen waren auf die Knie oder Oberschenkel aufgestützt, der 
Kopf war nach vorn übergefallen, so dass das Gesicht auf dem 
Bett lag. Als er sie aus dieser Stellung gebracht und auf das 
Bett gelegt hatte, konnte er irgendwelche Lebenszeichen nicht 
mehr wahrnehmen. Auch seine Bemühungen, künstliche Athem- 
bewegungen zu machen, wie er es am 26. October von mir ge¬ 
sehen hatte, blieben erfolglos. Was die äusseren Umstände be¬ 
trifft, so war die Vorraum-Thür der Wohnung, wie gewöhnlich, 
geschlossen gewesen, und hatte sie der Mann von aussen mit 
dem Drücker geöffnet. Das Wohnzimmer war schon vor seinem 
Weggang aufgeräumt worden und befand sich noch in demselben 
Zustand ohne jede Unordnung. Im Ofen fand sich ein herunter¬ 
gebranntes Feuer, welches die Frau noch angemacht haben 
musste. Im Schlafzimmer war von den drei dort stehenden 
Betten erst das eine in Ordnung gebracht. Die Kleider der 
Frau waren geordnet und zeigten keine Spuren eines Angriffs. 

Als ich gegen 12 Uhr die Leiche der Frau sah, fand ich 
bereits eine merkliche Abkühlung derselben, beginnende Todten- 
starre und in der Gesässgegend einige Todtenflecke. Am Halse 
bestanden auf beiden Seiten einige blaurothe Flecke und Finger- 
nägel-Eindrücke, deren genaue Beschreibung ich leider nicht mehr 
geben kann, da mir die betreffende Notiz verloren gegangen ist. 



Ein Fall von Selbstmord durch Erwürgen. 


367 


Weitere Verletzungen, namentlich auch eine Strangmarke, waren 
an der Leiche nicht zu finden. 

Eine Obduction ist nicht gemacht worden. 

Indessen liegt wohl der Fall auch ohne diese, wenigstens 
in forensischer Beziehung klar genug. Bedenken könnten sich in 
dieser Beziehung nur daran knüpfen, dass man den Mann bei der 
Verdunkelung der Wahrheit für interessirt und seine Angaben, 
wie er die Leiche seiner Frau gefunden, für unwahr hält. Aber 
abgesehen davon, dass die Leute beständig im besten Einver¬ 
nehmen gelebt, und dass ein irgendwie tumultuarischer Auftritt 
bei den dünnen Wänden des Hauses von den Nachbarsleuten hätte 
gehört werden müssen, ergaben die objectiven Zeichen des Todes, 
welche ich an der Leiche fand, dass der Tod bereits vor einigen 
Stunden zu einer Zeit eingetreten sein musste, in welcher sich 
der Mann, wie leicht nachzuweisen, im Dienst fern vom Hause 
befand. So ist der Hergang jedenfalls der gewesen, dass die 
Frau wieder von einem Anfall ihrer Melancholie erfasst worden 
ist und in diesem in derselben Weise, wie am 26. October durch 
Erwürgen ihrem Leben ein Ende zu machen gesucht hat, und 
dass ihr das dieses Mal gelungen ist. 

Von medicinischem Interesse ist aber noch die Frage, wie 
hat das Erwürgen gewirkt, dass es den Tod herbeigeführt hat. 

Da die Frau wiederholt an Gelenkrheumatismus gelitten hat, 
so könnte die Vermuthung entstehen, dass ihr Herz erkrankt 
gewesen ist, und dass ein Druck auf die Vagi eine Lähmung des 
erkrankten Herzens herbeigeführt hat. Indessen hat die Frau 
weder je subjective Störungen von Seiten des Herzens empfunden, 
noch waren durch die wiederholte physikalische Untersuchung 
während des Lebens Veränderungen des Herzens nachzuweisen. 

Gestützt auf Thierversuche nimmt man an, dass auch beim 
Menschen die durch das Würgen gesetzte Reizung des n. laryngeus 
superior Athemstillstand bewirken kann. Indessen fand Falk 
und ebenso Hofraann (Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Wien 
und Leipzig 1884) bei ihren auf diese Frage gerichteten Thier¬ 
versuchen, dass, wenn der Druck auf den Kehlkopf nicht zu 
lange fortgesetzt wurde, die Athmung wiederkehrte. Da dieser 
Druck im vorliegenden Falle mit dem Eintritt der Bewusstlosig¬ 
keit auf hören musste, so wird man den Tod mit dem durch 
Reizung des laryngeus superior bewirkten Athemstillstand nicht 
wohl erklären können. 

Wenn man nun die eigentümliche Stellung betrachtet, in 
der die Frau bei dem Selbstmordversuch am 26. October und 
als Leiche am 8. December gefunden wurde, so gelangt man zu 
der wohl zu begründenden Annahme, dass der Tod durch Ab¬ 
schluss der Luft von den Athemwegen und Lungen erfolgt ist. 
Beide Male wurde die Frau in hockender und durch Anlehnen 
unterstützter Stellung gefunden. Die Hände lagen am Halse und 
die Ellbogen waren auf die Knie oder Oberschenkel aufgestützt. 
Der Umstand, dass diese Haltung auch am 26. October, nachdem 
bereits tiefste Bewusstlosigkeit eingetreten war, bestand, lässt 



368 


Kleinere Mittheilangen. 


die Angabe, dass die Frau auch nach dem Tode in dieser Haltung 
gefunden worden ist, nicht unwahrscheinlich erscheinen- Das 
Liegenbleiben der Hände am Halse lässt sich nun wohl nicht 
anders erklären, als, dass mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit 
der Kopf über die den Hals umfasst haltenden Hände nach vom 
herübergesunken ist, und durch seine Schwere Hände und Unter¬ 
arme zwischen ihm und den Knien gewissermassen eingeklemmt 
worden sind. Dieses Heruntersinken des Kopfes und seine Schwere 
müssen aber auch den Hals in den Gabeln zwischen den Daumen 
und den übrigen Fingern der Hände zusammengedrückt oder den 
Mundboden und die Zunge nach oben und hinten gedrängt haben, 
so dass der Zutritt der Luft zu den Lungen verhindert war. 

So würde denn jedenfalls auch die Obduction, wenn sie ge¬ 
macht wäre, als Todesursache Erstickung und Erwürgen als die 
Veranlassung dieser ergeben haben. 

Wäre nun der in gleicher Weise ausgeführte Selbstmord¬ 
versuch am 26. October nicht vorausgegangen oder nicht be¬ 
obachtet worden, so hätte nach unseren bisherigen Anschauungen 
der Tod nicht wohl anders als auf fremde Schuld zurückgeführt 
werden können. 

Darum muss der Fall, so vereinzelt er, wie es scheint, bis¬ 
her dasteht, doch eine Aufforderung sein, auch nach der Fest¬ 
stellung des Todes durch Erwürgen die äusseren Umstände und 
besonders die Lage, in der die Leiche gefunden worden ist, zu 
prüfen, ehe man sich mit Bestimmtheit für die Schuld eines 
Dritten an dem Tode ausspricht. 


Kleinere Mittheilungen. 

In das Berliner Leichensehanhans eingelieferte Leichen 


pro 

October 1888. 


Monat 

Zur Morgue | 

U 

© 

P 

a 

*8 

& 

Frauen 

Kinder 

Neugeborene 

' Fötus 

Beerdigt 

JS 

JS 

u 

w 

Ertrunken | 

Erschossen |( 

Vergiftet || 

durch Kohlen-|| 

dunst ge8torb.|| 

Erfroren || 

Verletzt ohne) 

Erschiessen 

Unbekannte || 

Todesart || 

Innere 

Krankheiten 

Erstickt | 

Verbrannt || 

Summa || 

October 

59 

36 

i*i 

i*i 

i*i 

1*1 

20 

4 

2 

10 

i 

— 

— 

16 

10 

16 

Fl 

n 

59 


Stellvertreter praktischer Aerzte sind nicht rar Anmeldung verpflichtet. 

Vor dem Schöffengericht in Alfeld (Prov. Hannover) wurde jüngst folgender 
Straffall verhandelt: Der Dr. med. F. hatte die Vertretung des zu einer mili¬ 
tärischen Dienstleistung einberufenen practischen Arztes Sch. übernommen und 
in dessen Hause Wohnung genommen. Der zuständige Kroisphysikus erstattete 
dem Landrathsamte Anzeige, dass der Dr. F. nicht m Gemässheit der Polizei¬ 
verordnung der vormaligen königlichen Landdrostei Hildesheim vom 23. De- 
cember 1875 ihm von Beginn der gedachteu Thätigkeit Anzeige erstattet habe. 
Das Landrathsamt erliess wegen dieser Uebertretung einen Strafbefehl, lautend 
auf 20 Mk. Geldstrafe, gegen den Dr. F. Auf erhobenen Einspruch seitens dee 
Letzteren sprach das Schöffengericht den Dr. F. frei, indem es ausführte, dass 





Kleinere Mittbeilungen. 


369 


die fragliche Polizeiverordnung sich nur auf diejenigen Aerzte beziehen könne, 
welche behulfs Ausübung der Praxis in eigenem Namen und für eigene Rech¬ 
nung sich an einem Orte niederlassen, nicht aber auf solche Aerzte, welche 
lediglich einen verhinderten Collegen auf kürzere Zeit vertreten. 

Desinfectionsordnung für die Hebammen. Im Laufe des Jahres haben 
sich bekanntlich verschiedene Aerztekammem mit der Frage einer Desinfec¬ 
tionsordnung für die Hebammen beschäftigt und hierauf bezügliche Eingaben 
an die Königl. Regierungen gerichtet. Wie das „Aerztliche Vereinsblatt* 1 in 
No. 198 mittheilt, hat jetzt der Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein 
auf die an ihn von der Aerztekammer dieser Provinz gerichtete Bitte, betref¬ 
fend Vorschriften zur Antisepsis der Hebammen dem Vorsitzenden der Kam¬ 
mer unter dem 24. September d. J. folgendes Antwortschreiben zugehen lassen: 

„Ew. Hochwohlgeboren erwidere auf das gefällige Schreiben vom 
13. d. M. ergebenst, dass zufolge eines Erlasses des Herrn Ministers 
der geistlichen etc. Angelegenheiten vom 15. d. M. (M. N. 7579) der 
Erlass einer allgemeinen Desinfectionsordnung für die Hebammen 
für den ganzen Umfang des preussischen Staates sich z. Z. in Vor¬ 
bereitung befindet.“ 

Anfertigung von Recepten nicht als Arzt approbirter Personen. 

Während im Jahre 1882 das Landgericht in Berlin in einem Falle, wo ein 
Apotheker ein von einer nicht als Arzt approbirten Person verschriebenes Re- 
cept wegen Uebertretung der Ministerialverfügung vom 3. Juni 1878 in Ver¬ 
bindung mit § 367 No. 5 des Strafgesetzbuches verurtheilte und in diesem 
Urtheile ausführte: 

„dass dem Angeklagten folglich nicht zugemuthet worden könnte, 
die Namenszüge sämmtlicher hiesiger Aerzte zu kennen und es zu 
den grössten Unzuträglichkeiten führen würde, wenn 
man die Apotheker für verpflichtet halten wollte, bei 
jedem, sachlich auch unbedenklichen Recepte von unbe¬ 
kannter Hand erst eine mit Zeitverlust und eventuell mit 
Gefahr für die Kranken verbundene Rückfrage darüber 
anzustellen, ob das Recept auch wirklich von einem 
Arzte herrühre“ 

hat nach No. 56 der „Apothekerzeitung“ vom 27. October d. J. die VI. Straf¬ 
kammer desselben Landgerichts in der Sitzung vom 8. October d. J. die Be¬ 
rufung eines wegen desselben Vergehens vom Schöffengericht verurtheilten 
Apothekers als unbegründet verworfen. Der Gehülfe des betreffenden Apothe¬ 
kers hatte sechs Morphiumpulver mit einem Gesammtgehalt von 0,06 Mor¬ 
phium aceticum auf Grund eines sachgemäss und mit deutlicher, leserlicher 
Schrift ausgestellten Receptes für ein Kind angefertigt und verabfolgt; das Re¬ 
cept war jedoch von einem Medicinalpfuscher (Halfnap) verschrieben und mit 
dem Buchstaben „H“ unterzeichnet. Ln dem verurtheilenden Erkenntniss des 
Landgerichts heisst es nun folgendennassen: 

„Wenn gewisse Stoffe nicht ohne, d. h. nur auf schriftliche Or¬ 
dination eines approbirten Arztes verabfolgt werden dürfen, so ver- 
stösst hiergegen nicht bloss derjenige Verabfolger, welchem der Ver¬ 
ordnende als Nichtarzt bekannt ist, sondern auch derjenige, welcher 
durch seine Schuld in Unkenntniss darüber bleibt, dass der Ordini- 
rende nicht approbirter Arzt ist, welcher also diejenige Aufmerksam¬ 
keit ausser Acht lässt, durch deren Anwendung er sich diese Kennt- 
niss verschaffen könnte. Dem Angeklagten muss zugegeben werden, 
dass der Apotheker einer Grossstadt nicht die Handschrift oder Unter¬ 
schrift eines jeden Arztes des Ortes kennen kann und dass zahlreiche 
Aerzte ihre Recepte nicht mit dem Namen, sondern mit einem Buch¬ 
staben, theilweise auch mit unleserlichem Namen zeichnen. Daraus 
folge aber nicht, dass der Apotheker nunmehr unbekümmert alle 
Recepte auch mit den unter die Verordnung vom 3. Juni K378 fal¬ 
lenden gefährlichen Stoffen immer dann ausführen darf, wenn ihm 
der Aussteller nur nicht als Nichtarzt bekannt ist. Vielmehr ist 
der Apotheker verpflichtet, in allen Fällen, in welchen 



370 


Kleinere Mittheilungen. 


ihm die Handschrift des Receptes oder die Namensunter¬ 
schrift bezw. das Buchstabenzeichen nicht als von einem 
approbirten Arzte herrührend bekannt ist, Nachfrage 
nach dem Aussteller zu halten und die Verordnung erst 
dann auszuführen, wenn die Annahme, dass sie von einem 
approbirten Arzte herrührt, begründet erscheint, nur 
wenn der Apotheker dies ohne eigene Fahrlässigkeit annehmen 
konnte, liegt, falls dennoch ein Nichtarzt der Aussteller war, eine straf¬ 
bare Uebertretung nicht vor. Aus dem Gesagten folgt schon, dass der 
Gehülfe sich dadurch strafbar gemacht hat, dass er sich bei seiner 
Unkenntniss des Ausstellers beruhigte und die Ueberbringerin des 
Receptes nicht nach dessen Person befragte, wozu um so grössere 
Veranlassung vorlag, als die gesammte Menge des verordneten und 
verabfolgten Morphiums den doppelten Betrag der höchstzulässigen 
Einzelabgabe erreichte, das Morphium überdies für ein Kind be¬ 
stimmt war, mithin im Falle des Missbrauchs die Gefahr eine sehr 
grosse war.“ 

Also in zwei ganz ähnlichen Fällen von ein und demselben Ge¬ 
richtshöfe zwei diametral sich gegenüberstehende Urtheile. Jedenfalls 
höchst interessant! (Die Fälle liegen doch wohl verschieden. Anm. der Redaction). 


Nlcholson’s vervollkommuete künstliche Ohrtrommeln. 

Ende September d. J. ersuchte mich eine arme Taglöhnersfrau, ihrem 
Sohne ein Paar Ohrtrommeln einzusetzen; derselbe höre seit 8 Jahren 
schwer. Es stellte sich Folgendes heraus: Der etwa 18 Jahre alte Sohn, 
Knecht, war nach einem * Nervenfieber“ absolut taub geworden; er hörte das 
Aufziehen der Remontoiruhr weder dicht am Ohr, noch vermittelst der 
Knochenleitung; die Trommelfelle zeigten eine sehnig-weisse, gleichmässige 
Trübung und waren stark eingezogen u. s. w. — In einer kleinen, auf Zei¬ 
tungs-Annonce hin aus Wien bezogenen Kiste fanden sich eine Flasche mit 
einer wasserklaren, ätherischen Flüssigkeit, sowie eine Dose mit einem grauen, 
aromatisch riechenden Pulver und die „Ohrtrommeln.“ Letztere bestanden je 
aus einem etwa 2 1 /* cm langen, 1 mm dicken metallenen (vergoldeten?) Stäb¬ 
chen, an dessen Enden je eine runde, an der Peripherie mehrfach eingekerbte, 
trommelfellgrosse, dünne Gummiplatte befestigt war. 

Nach Inhalt einer Gebrauchsanweisung, die nicht beigefügt, weil sich 
der Kranke selbige mit nach Hause nahm, sollten die Ohrtrommeln, nachdem 
die eine Gummiplatte mit der Flüssigkeit (Lotion) befeuchtet war, in den 
äusseren Gehörgang eingelegt und zweimal täglich gewechselt, das Pulver 
(Dr. SimpsonSche Präparat) dagegen in Form einer Prise mehrmals täglich in 
die Nase eingeführt werden. 

Unterhalb des Textes befindet sich der natürlich mittels Nachnahme er¬ 
hobene Preiß für Ohrtrommeln und Medicamente, das Ganze dürfte kaum einen 
Werth von 2 Mark haben. Das Nähere ergiebt sich aus beifolgendem Briefe: 

„Wien, den 5. September 1888. 

Herrn Carl Walter, Tiemendorf. 

Wir empfingen die Beschreibung Ihrer Schwerhörigkeit und halten 
in diesem Falle die Anwendung der Dr. Nicholson Sehen Ohrtrommeln 
für angezeigt. 

Die Ursache der Schwerhörigkeit liegt in solchen Fällen in der Ver¬ 
stopfung der Eustachischen Röhre, welche das Einsinken des Trom¬ 
melfelles zur Folge hat. 

Wenn in Verbindung mit den Ohrtrommeln ein Präparat zur Offen¬ 
erhaltung der Eustachischen Röhre angewendet wird, werden die Ohr¬ 
trommeln das Gehör dauernd wiederherstellen, indem sie das Trommel¬ 
fell anspannen und in seine normale Lage zurückführen. 

Dr. Nicholson empfiehlt daher für Ihren Fall ein Paar Ohrtrom¬ 
meln, nebst einer Flasche der Dr. Simpson Sehen Ohr-Lotion zur 
Bildung eines normalen Ohrenschmalzes und zur Geschmeidigerhaltung 
der Ohrtrommeln, ferner eine Flasche des Dr. SimpsonSchen Präpara¬ 
tes zur Offenerhaltung der Eustachischen Röhre und zur Verhinderung 
der Ohrengeräusche. 



Kleinere Mittheilungen. 


371 


Untenstehend finden Sie die Preisangabe für die in Ihrem Falle 
nöthige Behandlung, wobei keine Berufestörung eintritt. 

Hochachtungsvoll 

Hior Weshing, 8ecretär. 

1 Paar Ohrtrommeln mit Goldplattirung . . Rm. 42.50 
1 Flasche Dr. Simpson’sche Ohrlotin ... * 4.60 

1 do. do. Luftröhrenpr äparat „ 4.50 

Rm. 51.50* 

Um dem Manne den Beweis zu liefern, dass er betreffs seiner Ohrtrom¬ 
meln in die Hände eines Schwindlers gerathen sei — er hatte sich die für 
seine Verhältnisse enorm hohe Summe bei seiner Mutter und bei Bekannten 
zusammengeborgt — nahm ich ihn, entsprechend einer dringenden Bitte seiner 
Mutter, auf 8 Tage in das hiesige Kloster der barmherzigen Brüder auf, und 
liess ihn nach der Gebrauchsanweisung „behandeln*, selbstredend ohne jedes 
Resultat. 

Interessant ist auch der „Kopf* zu den zahlreichen Anerkennungsschreiben: 

„Nicholson’s vervollkommnete künstliche Ohrtrommeln. Das wirk¬ 
samste Mittel gegen Schwerhörigkeit. Bureaux: Wien (Oesterreich), 
IX, Kolingasse 4 — Paris (Frankreich), 4, Rue Drouot — London (Eng¬ 
land), 21, Bedford Square, W. C. — New York (Vereinigte Staaten), 177, 
Max Dougal St. — In Schweden, Spanien, Italien, Mexico, Indien, Ca- 
nada, Südamerika und Australien. — Anerkennungsschreiben von allen 
europäischen Staaten über den Erfolg der Nicholson’schen paten- 
tirten Ohrentrommeln* welche jeden Zweifel Über deren Wirk¬ 
samkeit beseitigen.* 

Dr. Schmidt-Steinau a/Oder. 


Zur Darstellung der Puplllarhaut, von Dr. Mitten zweig. 

Behufs Untersuchung der Pupillarmembran ist nach von Hofmann der 
Bulbus zu enucleiren und quer zu durchschneiden, hierauf wird unter Wasser 
die Chorioidea sammt Ciliarkörper und Iris mit dem Griff des Scalpells abge¬ 
streift, dann die Iris auf einem Objecttrager ausgebreitet und die Pupille theils 
mit freiem Auge, theils mit der Loupe untersucht. 

Auf Grund der von mir ausgeführten Untersuchungen glaube ich nach¬ 
stehendes Verfahren empfehlen zu dürfen, welches zur sichern Beurtheilung 
aller vorhandenen Pupillargefässe führt und sich namentlich auch zur Demon¬ 
stration empfiehlt. 

Mit einer Scheere wird die äussere Lidcommissur getrennt, der Augapfel 
mit einer Hakenpinzette gefasst und sein vorderes Segment circa cm von 
der Hornhaut entfernt abgetrennt. Dieses Segment wird umgestülpt, auf 
eine Unterlage z. B. die Daumenkuppe gelegt und nunmehr werden mit der 
Messerklinge Iris nebst Pupillenmembran abgestreift, kurze Zeit in Carmin- 
lösung gefärbt, in Wasser abgespült und mit Wasser unter Deckglas gebracht. 

Der Pupillenrest markirt sich dann in schöner und deutlicher Weise, 
so dass selbst der Richter ohne Mühe von seiner Grösse und Gestalt eine klare 
Anschauung zu gewinnen vermag. 


Die erste 8itzung der wissenschaftlichen Deputation für das Medici- 
nalwesen unter Znsiehnng der von den Aerstekammern gewählten Vertreter 

hat am 24. October d. J. im Ministerium der Medicinalangelegenheiten statt- 
gefunden. Ausser den ordentlichen Mitgliedern der Deputation waren folgende 
12 von den Aerztekammem gewählte ausserordentliche Mitglieder erschienen: 
Dr. C rüg er (Insterburg), Dr. Lissauer (Danzig), Geh. San.-Rath Dr. Körte 
(Berlin), Professor Dr. Krabler (Greifswald)* Generalarzt Dr. Henrici (Posen), 
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Förster (Breslau), San.-Rath Dr. Hüllmann 
(Halle a. S.), Reg.- u. Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Bockendahl (Kiel), San.- 
Rath Dr. Saxer (Goslar), San.-Rath Dr. Mörsbach (Dortmund), Kreisphysi- 
kus Dr. Grandhomme (Höchst) und Geh. San.-Rath Dr. Graf (Elberfeld). 

Se. Excellenz der Cultusminister von Gossler eröffnete die Verhand¬ 
lungen in Person und begrüsste die neu eingetretenen Mitglieder mit einer be¬ 
sonderen Ansprache, worauf der Director der wissenschaftlichen Deputation 



372 


Kleinere Mittheilungen. 


WirkL Geh. Rath Dr. Sydow die Leitung der Verhandlungen übernahm. Auf 
die Tagesordnung der diesjährigen Sitzung war gesetzt: 

1. Berathung der Grundsätze, deren Beachtung bei Anordnungen der Ver¬ 
waltung zur Verhütung einer gemeinschädlichen Verunreinigung öffent¬ 
licher Wasserläufe vom Standpunkt« der öffentlichen Gesundheitspflege 
für erforderlich erachtet wird. 

2. Die Erörterung der sogenannten Schularztfrage. 

Betreffs der neuen Geschäftsanweisnng, welche mittels Allerhöchsten Er¬ 
lass vom 22. September d. J. an Stelle der Instruktion vom 13. Januar 1817 
getreten ist, vergleiche die amtlichen Verfügungen in der heutigen Nummer. 


Hygienische Curse für Verwaltung«- und Schulbeamte. Auf Veranlas¬ 
sung Sr. Excellenz des Herrn Ministers Dr. v. Gossler werden im hygienischen 
Institute der Universität Berlin während des Monats December d. J. hygienische 
Curse für Verwaltungs- und Schulbeamte unter Leitung des Herrn Geheimen 
Medicinalrath Dr. Koch statt Anden. 

Die Curse sollen den Zweck haben, den Theilnehmem in verhältniss- 
mäß8ig kurzer Zeit einen Einblick in die ihren Wirkungskreis berührenden 
Theile der Hygiene mit besonderer Berücksichtigung der praktischen Bedürf¬ 
nisse zu verschaffen und werden deswegen vorwiegend in Demonstrationen von 
hygienischen Einrichtungen und damit in Zusammenhang stehenden Gegen¬ 
ständen bestehen unter stetem Hinweis auf ihren Zweck und ihren Werth in 
sanitärer Beziehung. 

Das Hygienische Iustitut, die Sammlungen des Hygiene-Museums und die 
sanitären Einrichtungen der Stadt Berlin bieten hierzu eine besonders gün¬ 
stige Gelegenheit. 

Als Unterrichtsgegenstände sind z. B. für die Curse für Verwaltungsbe¬ 
amte in Aussicht genommen: Reinhaltung der Städte (Canalisation mit 
Reinigung der Abwässer durch Berieselung oder durch Klärverfahren; Abort¬ 
anlagen mit beweglichen oder unbeweglichen undurchlässigen Kothbehältern); 
Wasserversorgung (verschiedene Arten der Wasserversorgung im Grossen; 
Filteranlagen (bacteriologische Kontrole des Filterbetriebs) Konstruktion der 
Brunnen); Wohnungshygiene (im Allgemeinen: Bauhygiene, locale und, 
centrale Heizeinrichtungen, Ventilation, Vorkehrungen gegen Rauchbelästigungen, 
Beleuchtungswesen; im Speciellen: Schulbauten, Krankenhäuser, (Isolirspitäler, 
transportable Baracken), Versorgungsanstalten, Gefängnisse, Arbeiterwohnungen; 
Massregeln gegen Infectionskrankheiten; (die wichtigsten Thatsachen 
in Bezug auf Aetiologie von Typhus, Cholera, Pocken, Tuberkulose; nament¬ 
lich auch Einfluss der Reinhaltung und Wasserversorgung auf die Abnahme 
der Infectionskrankheiten, Impfwesen); Verkehr mit Nahrungsmitteln 
(Schlachthäuser, Markthallen, polizeiliche Controlo des Milchhandels etc.); 
Badeanstalten, Einrichtungen zur ersten Hülfe bei Unglücks¬ 
fällen; Begräbnis«wesen; die wichtigsten Theile der Gewerbe¬ 
hygiene u. 8. w. 

Für den Cursus der Verwaltungsbeamten ist die Zeit vom 3. bis 15. De¬ 
cember, für den der Schulbeamten die Woche vom 17. bis 22. December fest¬ 
gesetzt. Die Zahl der Theilnehmer soll 12 nicht übersteigen. 


Bacteriologische Kurse für Medicinalbeamte. Nach einem Erlass des 
Herrn Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten sollen auch für Medicinal¬ 
beamte in diesem Winter zwei bacteriologische Kurse unter Leitung des Geh. 
Med.-Rath Prof. Dr. Koch im hygienischen Institute zu Berlin in ähnlicher 
Weise wie vor zwei Jahren statt Anden. Als Theilnehmer werden nur solche 
Medicinalbeamte zugelassen, welche mit der bacteriologischen Literatur ver¬ 
traut sind und speciell Kenntniss der im Kaiserlichen Gesundheitsamt ange¬ 
wandten Unterrichts-Methoden besitzen, zugleich aber im Mikroscopiren geübt 
sind. Ausserdem muss jeder Theilnehmer ein Mikroscop zur Verfügung haben, 
welches mit Oel-Immersion und Abbö'schem Beleuchtungsapparat versehen ist. 

Die Kurse werden im Januar k. J. beginnen und unmittelbar aufeinander 
folgen. Jeder derselben wird 14 Tage dauern und circa 20 Theilnehmer er¬ 
halten. Die letzteren sind von den betreffenden Regierungspräsidenten vorzu- 



Kleinere Mittheilungen. 


373 


schlagen, jedoch werden aus jedem Regierungsbezirk nur ein oder zwei Medi- 
cinalbeamte zugelassen. Die Gewährung der taxmässigen Reise- und Tagegel¬ 
der ist vom Herrn Minister den Theilnehmern in Aussicht gasteilt. 


Fall von Kohlenoxydvergiftung, Der zweijährige Carl W. starb durch 
Einathmen von kohlenoxydhaltigem Rauche im Zeitraum von 1—2 Stunden und 
ergab folgende Beschaffenheit der Lunge und Arterien: 

Die linke Lunge ist gross, schwammig, glatt, hellblauroth, nur in ein¬ 
zelnen Interstitien ziehen sich zarte schwarze Linien hin und an einzelnen 
Stellen der Oberfläche zeichnen sich kohlschwarze Puncte ab. 

Im Durchschnitt der Luftröhre liegt auf der gerötheten und injicirten 
Schleimhaut kohlige schwarze Masse, zum Theil in glasigen Schleim eingehüllt. 
Die Schleimhaut ist hell grauroth durch Injection der kleineren Gefässe. In 
den Luftröhren bis in die feinsten Verästelungen hinein liegen solche schwarze 
schleimige Massen. Die Luftröhrendrüsen sind geschwollen, geröthet, auf dem 
Durchschnitt blauroth und in der peripherischen Zone mit schwarzer Zeichnung 
versehen, welche neben der Grenze eine schwarze etwas unregelmässige bis 
1 mm breite Linie bildet, von der aus zackige schwarze Striche 2—4 mm 
weit und ca. 1 mm von einander entfernt nach dem Hilus der Drüse zu ver¬ 
laufen. 

Auf die glatte gleichmässig hellrothe Schnittfläche der linken Lunge 
tritt blutiger kleinblasiger Schaum und hellrothes flüssiges Blut in kleinen 
Punkten. 

Eine Pigmentzeichnung findet sich auf der Schnittfläche nicht. 

Die rechte Lunge verhält sich ebenso. 

Die Zunge ist dick, ihre Spitze ist bläulich, etwas trocken Die Spitze 
wie der Zungenrand sind durch einen, dem Rande parallelen Eindruck (Zahn¬ 
abdruck), welcher circa 5 mm vom Rande entfernt liegt, von der peripheri¬ 
schen Zone abgegrenzt. 

Mund und Rachenhöhle enthalten schwärzliche, kohlige Partikel. 

In der Speiseröhre liegt eine Spur schwärzlicher Partikel. 

Kehlkopf und Luftröhre enthalten viel von den beschriebenen schwarzen 
Massen, welche in glasigen Schleim gehüllt sind. Die Schleimhaut ist an der 
Knorpelwand grauweiss, wenig geröthet, nur an der Stelle der Gabelung blau¬ 
roth injicirt. Dagegen ist die hintere häutige Wand gesättigt roth durch 
dichte Injection der kleineren Gefässe. 

Der Magen enthält 400 Gramm stückigen Speisebreies und etwas glasigen 
Schleim, welcher mit schwarzen Partikeln untermischt ist. 

In der Paukenhöhle finden sich keine schwarzen Partikel. 

Die am folgenden Tage ausgeführte microscopische Untersuchung ergab 
die Drüsenrinde netzförmig mit Kohlenpartikeln gezeichnet; die Hilusgegend 
frei. Einzelne Follikel waren mit einem Kohlenkranz umgehen. 

Der Oberflächenschnitt der Lunge ergab unregelmässige zackige, z. Theil 
sternförmige Zeichnung der Anordnung der kohlieen Massen. 

Ueberall machten die schwarzen Massen den Eindruck frischer Einlagerung. 

Dieser Fall scheint mir ein Beleg für die Schnelligkeit zu sein, mit wel¬ 
cher staubige Massen in die Luftröhren und Alveolen, in das Lungengewebe 
selbst, in ihre Lymphgefässe und in die Lymphdrüsen an der Lungenwurzel ein- 
dringen, und damit das Ergebniss der Pal tauf 1 sehen Versuche zu unterstützen. 

Mittenzweig. 


Zur Casuistik der Kindespech-Aspiration Neugeborener« 

Nachstehender kurz skizzirter Fall interessirt einmal wegen des Vorhanden¬ 
seins von Meconium in beiden Paukenhöhlen, sodann aber wegen des Vorhan¬ 
denseins kleiner Fäulnissblasen an den Stellen der Lungenoberfläche, bis zu 
welchen Partikel von Kindespech aspirirt worden waren. 

Die 51 cm lange, 3800 Gramm schwere männliche Kindesleiche ist kräf¬ 
tig entwickelt, die Haut massig mit Fett gepolstert, die Hautfarbe am Kopf 
blassgelblich, am Rumpf gelbblauroth gefleckt, an den oberen Extremitäten 
blassgelb, am Unterbauch grünlich. Am Rücken livid. Nirgends ausgetrete¬ 
nes Blut im Gewebe. 



374 


Kleinere Mittheilungen. 


Grosse Fontanelle 2>/ f cm lang, 

2 cm breit. 

Durchmesser: gerader ll 1 / a , 
schiefer 13 ! / a , 
querer 9 3 / 4 , 

Schultern 8*/*, 

Hüften 7. 

Hautabschürfungen am Schlüsselbein. 

Schambeingegend und angrenzende Theile der Oberschenkel geschwollen, 
wässerig durchtränkt. 

Knochenkern 8 mm. 

Keine Kopfgeschwulst. 

Zwerchfell rechts 4., links 5. Rippe. 

Es wird die Luftröhre und der Kehlkopf von vorn geöffnet. Schleimhaut 
sehr blass. Auf ihr eine dünne Lage grünlich breiiger Substanz, welche bei 
der microscopischen Besichtigung hauptsächlich aus Plattenepithelien, Wollhaar, 
Cylinderepithel, Gallenfettkrystallen, Gallenfarbstoff und Bacterien besteht. 

In Speiseröhre Kindspech. 

Ausserdem befinden sich in den Lungen an der Oberfläche unscheinbare, 
graugelbliche, inselförmige, kreisrunde Partien von Nadelkopf- bis Linsengrösse, 
über welche das Lungenfell durch Luft abgehoben erscheint. Ebenfalls Kinds¬ 
pechpartikel. 

In kleinsten Luftröhren-Aesten Kindspech. 

In Mund- und Rachenhöhlo Kindspech. 

In beiden Paukenhöhlen Kindspech. 

Mittenzweig. 


Notizen über die Ausstellung bei der diesjährigen Naturforscher- and 
Aerzteversammlung zn Cöln und den hierbei geflogenen Sectionsverhand- 
lungen. Von den Ausstellungsgegenständen, welche nach ärztlichen Er¬ 
messen dem Wohle der leidenden Menschheit einen ganz besondereu Vortheil 
darzubieten scheinen, dürften folgende hervorgehoben werden. 

1. Krankenheber mit Strecker von Bein- und Armbrüchen, ein Appa¬ 
rat, durch dessen praktische Einrichtung selbst der schwerste Kranke in eme 
dem leidenden Zustande durchaus entsprechende Lage gebracht und vom Bett 
in die Höhe gehoben werden kann, sodass alle möglichen Manipulationen mit 
ihm vorgenommen werden können, ohne seinen krankhaften Zustand zu ver¬ 
schlimmern. Die Entleerung der Excremente desselben ist ohne Verunreinigung 
des Bettes und der etwaigen angelegten Verbände zu ermöglichen, dasBett 
selbst kann öfters umgelegt, gelüftet und eventuell desinficirt werden. Dieser 
Apparat mit allem Zubehör ist für die privatärztliche Thätigkeit zwar weniger 
anwendbar, eignet sich aber besonders für Krankenanstalten. Derselbe ist her¬ 
gestellt von C. Klaes, Instrumcntenverfertiger in Cöln. 

2. Diesem Ausstellungsgegenstand reiht sich in würdiger Weise das Hil¬ 
desheimer Universal-Patent-Bett, construirt von August Feise in Hildesheim, an, 
welches als gewöhnliches Bett, als Schlaf-, Lehn- und Rohrsessel mit selbst¬ 
ständiger Veränderung der Lage hergerichtet werden kann und dem Kranken 
und Reconvalescenten die denkbar grössten Erleichterungen gewährt. Diese 
Betteinrichtung ist bereits bei der hygienischen Ausstellung in Berlin 1883 
durch Preiszuerkennung der silbernen Medaille als höchst zweckmässige sani¬ 
täre Vorrichtung anerkannt worden. 

3. Recht praktisch und schön waren auch die in reichlicher Auswahl 
vorhandenen chirurgischen Ausstellungsgegenstände des Hoflieferanten Esch- 
baum in Bonn. Die Instrumente boten neben ihrer eleganten Ausführung auch 
eine äusserst solide Beschaffenheit in der Ausarbeitung dar. 

4. Als sehr zweckmässige und höchst billige, der Antisepsis ganz ent¬ 
sprechende Verbandmittel sind ferner die ausgeeteilten, verschiedenen Moos¬ 
formen von M. Marwede in Neustadt Ruebenberge rühmend hervorzuheben. 
Diese Moospräparate setzen den praktischen Arzt bei geringem Kostenaufwand 
und mit leichter Mühe in den Stand, in allen Fällen, welche das strengste 
antiseptische Verfahren erforderlich erscheinen lassen, hygienisch und heilend 
einzuwirken. 



Referate. 


376 


5. Auch die ausgestellten plastischen Verbandstoffe, bestehend aus Ver¬ 
bandfilzen, Normalfilzcorsetten und der Prof. Bruns’schen Verbandpappe er¬ 
schienen als praktische und schöne Ausstellungsgegenstände. 

Die Vorträge und Demonstrationen in den einzelnen Abtheilungen 
und Sectionen waren äusserst anregend und belehrend und boten mannigfache, 
sehr interessante Fortschritte auf den verschiedenen Gebieten des ärztlichen 
Wissens dar. Insbesondere zeigte sich dies in den Sectionen für Bacteriologie, 
Chirurgie und Gynäcologie. Von den in der zuletzt genannten Section gehal¬ 
tenen Vorträgen sind unter anderen die Demonstrationen über zweckmässiges 
und modificirtes Verfahren mittels Lappenbildung und besonderer Nähte bei 
grösseren Dammrissen zu erwähnen, wobei speciell seitlich vom Dammriss vor¬ 
zunehmende Einschnitte zur leichteren und sicheren Vereinigung und Vernar¬ 
bung des Dammrisses empfohlen wurden. — Ausserdem führte man schön ge¬ 
heilte Fälle von Vorfall und Ausbuchtung der hinteren Scheidenwand mit 
Senkung der Gebärmutter durch ovaläre Exstirpation eines Theils der Schleim¬ 
haut der genannten Scheidenpartie vor. — Ein Fall von Exstirpation eines 
festen Ovarialtumors von 1900 Gramm Gewicht, dessen mikroskopisches Ge¬ 
webe sich als Fibromyom ergeben hatte, erregte um so mehr Interesse, als 
die vorgeführte Patientin drei Wochen nach der Operation vollständig ge¬ 
heilt war. Die Operation heilte fast ganz per primam ohne jegliche Enterung 
und ohne irgendwelche entzündliche Erscheinungen des Peritoneums. Der Stiel 
des Tumor war durch viele starke Seidenfäden umnäht, vom Tumor sodann 
abgetrennt und gleich in die Bauchhöhle versenkt und demnächst die äussere 
Bauchwunde mit Seidenfäden und dazwischen gelegten Catgutnähten innig und 
fest vereinigt worden. Selbstredend hatte unmittelbar vor, während und nach 
der Operation das strengste antiseptische Verfahren Anwendung gefunden. 

Wiesemes (Solingen). 


Referate. 

Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von KaufTahrttefechiffen. 

Auf Veranlassung des Staatssecretärs des Innern bearbeitet im 
Kaiserlichen Gesundheitsamte. Berlin, 1888. Verlag von 
Julius Springer. 8°. 199 S. 1 Mk., geb. 1,50 Mk. 

Das vorliegende Buch ist in der Hauptsache von dem früher zum Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamte kommandirten Marinestabsarzte, jetzigen ordentlichen 
Professor der Hygiene zu Jena Dr. Gärtner ausgearbeitet und zwar in Folge 
von Verhandlungen, die das Reichsamt des Innern eingeleitet und in denen 
sowohl seitens des Kaiserlichen Gesundheitsamtes als seitens der technischen 
Kommission für Seeschifffahrt die Aufstellung einer den Verhältnissen der Deut¬ 
schen Handelsmarine angepassten Anleitung zur Gesundheitspflege und Kranken¬ 
behandlung an Bord von Kauffahrteischiffen für nothwendig erachtet wurde. 
Die Anleitung soll einerseits als Leitfaden beim Unterricht in Navigations¬ 
schulen, andererseits zum praktischen Gebrauche der Schiffsführer dienen und 
von den letzteren auf allen Seereisen mitgeführt werden*), um sie zu befähigen, 
mit Hülfe der in dem Buche gegebenen Rathschläge und auf Grund der in 
den Navigationsschulen erworbenen Vorkenntnisse, nicht nur die Entstehung 
von Krankheiten unter der Schiffsmannschaft zu verhüten, sondern auch bei 
Verletzungen und Erkrankungen derselben, falls geeignete ärztliche Hülfe nicht zur 
Verfügung steht, entsprechende Massnahmen zu treffen und folgenschwere Miss¬ 
griffe zu vermeiden. Diesem Zweck entspricht das Buch im vollsten Maasse 
und hat es der Bearbeiter desselben verstanden, das grosse Gebiet der Gesund- 
heits- und Krankenpflege in kurzen, scharfen Zügen und in überaus klarer, 
dem Laien leicht verständlicher Form darzustellen. 

Im ersten der Gesundheitspflege gewidmeten Theile werden zunächst 
einige praktische Rathschläge bezüglich der Beschaffenheit der Schiffsräume 
sowie bezüglich der Ausmusterung, Kleidung, Wäsche u. s. w. der Schiffs¬ 
mannschaft gegeben. Der nächstfolgende sehr eingehende Abschnitt über 
„Schiffskost* bringt höchst beachtenswerthe Vorschläge hinsichtlich einer mög- 

*) Vergleiche die bezügliche Polizeiverordnung des Ministers für Handel 
und Gewerbe vom 14. November 1888 S. 382 der heutigen Nummer, 



376 


Referate. 


liehst einheitlichen Regelung derselben, wobei auch diejenigen Lebensmittel 
ihre entsprechende Berücksichtigung finden, welche im Ausland als Ersatz für 
die einheimischen in Frage kommen. Wichtig ist die Vorschrift, auf längeren 
Seereisen Citronensaft mitzuführen und regelmässig zu verausgaben. Den 
Schluss des ersten Theils bilden die Massregeln zur Verhütung und Weiter¬ 
verbreitung einzelner den Seeleuten unterwegs bezw. in fremden Häfen beson¬ 
ders gefährlichen Krankheiten wie Scorbut, Gelbfieber, Pest, Ruhr, Malaria, 
Cholera u. s. w. 

Der zweite Theil behandelt die Krankenpflege und giebt in kurz ge¬ 
fassten Abschnitten dem SchifFsführer eine vorzügliche Anleitung für die Er¬ 
kennung und Behandlung der hauptsächlichsten Krankheiten und Verletzungen. 
In einem Anhänge sind endlich genaue Verzeichnisse über die von den Kauf¬ 
fahrteischiffen mitzuführenden Arzneien, Desinfections- und Verbandmitteln 
und sonstiger Gegenstände zur Krankenpflege sowie bestimmte Anweisungen 
für die Zubereitung von Arzneien, für einzelne Hülfsleistungen bei Kranken 
und für die Desinfection von Schiffen beigefügt. Auch die im Deutschen 
Reiche geltenden Bestimmungen betreffend die gesundheitspolizeiliche Controle 
der einen deutschen Hafen anlaufenden Seeschiffe haben an dieser Stelle Auf¬ 
nahme gefunden. 

Als zuverlässiger Rathgeber in allen Fragen der Gesundheit«- und Kran¬ 
kenpflege wird das Buch zweifellos in Seemannskreisen mit grosser Freude be- 
grüsst werden und sehr schnell die weiteste Verbreitung finden. Die Ausstat¬ 
tung desselben ist trotz des ungemein niedrigen Preises eine sehr gute; die 
beigegebenen Abbildungen sind klar und anschaulich. 

_ Rpd. 


Kaltenbach, R., Professor in Halle a/S. Dehnungsstreifen in 
der Halshaut des Foetus. Centralbl. f. Gynäcol. No. 31, 1888. 

Verf. berichtet über einen für die forensische Medicin nicht unwichtigen 
Befund. Bei einem Kinde, das in Schädellage bei maximaler Beugung 
des Schädels und mit auffallend starker Geburtsgeschwulst auf der Spitze 
des Hinterhauptes geboren wurde, bemerkte er auf dem Nacken „in querer 
Richtung eine Reihe theils parallel, theils in rhomboidalen Maschen angeord¬ 
neter, röthlicher Streifen, welche sich bis in den behaarten Theil des Schädels 
hineinerstreckten. Am folgenden Tage waren die Streifen stark abgeblasst 
und nach drei Tagen waren sie nahezu verschwunden; über denselben fand 
eine auffallend starke Abschilferung der ebenfalls querdurchrissenen Epider¬ 
mis statt/ 

Bei einem andern Kinde, das in Gesichtslage geboren wurde, fand 
Verf „ganz dieselben Streifen an der vorderen Seite des Halses, quer über 
Kehlkopf und Trachea verlaufend. Auch sie verschwanden nach 2—3 Tagen, 
nachdem sich ebenfalls die in der Richtung der Streifen durchrissene Epider¬ 
mis von den Rissrändern aus stärker abgeschilfert hatte/ 

Verf. fasst die Streifen als „Folgeerscheinungen stärkster Dehnung der 
Haut“ auf, bedingt durch die extreme Kopfhaltung bei der Geburt. l5a sie 
leicht zu Verwechselung mit Strangulationsmarken Veranlassung geben resp. 
für die Folgen äusserer Gewalteinwirkungen angesehen werden könnten, so ist 
ihre richtige Deutung für die forensische Medicin thatsächlich nicht zu unter¬ 
schätzen. F r e y e r (Stettin.) 


Dr. R. von Krafft-Ebing. Professor in Graz. Psychopathia 
sexualis mit besonderer Berücksichtigung der con- 
trären Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie. 
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Stuttgart. Verlag 
von Ferdinand Enke. 1887. 

Das Interesse, welches die Monographie über sexuelle Geisteskrankheit 
erweckt hat, hat bald das Erscheinen einer zweiten Auflage gefordert, und der 
Verfasser hat in letztere auch seine und fremde Erfahrungen neueren Datums 
niedergelegt. So hat namentlich die Lehre von der erworbenen conträren 
Sexualempfindung an Umfang und Tiefe gewonnen. 



Verordnungen und Verfügungen 


377 


Wir Gerichtsärzte würden dem Verfasser sehr dankbar sein, wenn er bei 
Gelegenheit der nächsten Bearbeitung der Nr. 2 in Abschnitt V, der Behand¬ 
lung der Unzucht mit Individuen unter vierzehn Jahren, eine weitere Berück¬ 
sichtigung widmen wollte, da insonderheit dieser Theil das allgemeine Interesse 
des Criminalforum8 in Anspruch nimmt und ein näheres Eingehen verdient. 
Uns will es nämlich auf Grund unserer Erfahrung und der an hiesigem Orte 

S eemächten Beobachtungen bedünken, als ob der Ausspruch: f Es ist psycho- 
ogisch undenkbar, dass der völlig potente und geistig intakte Erwachsene 
Gefallen an der Unzucht mit Kindern fände* nicht ganz in Uebereinstimmung 
stehe mit dem häutigen Vorkommen dieses Verbrechens in der Gressstadt. 

Wenn nach Lage der Sache es schon an und für sich für den Ge¬ 
richtsarzt, der sich über den Relativsatz des § 51 des Str.-Ges.-B. aussprechen 
soll, schwierig ist, zweifelhafte Geisteszustände dieser Verbrecher an der Hand 
dieses Paragraphen zu beurtheilen, so erschwert der obige Ausspruch des ge¬ 
wichtigsten forensischen Psychiaters die Situation noch mehr, denn seine Worte, 
im Munde der Verteidigung, haben ein grosses Gewicht, und das völlige In¬ 
taktsein einer Person aus dem Gewühle der Weltstadt mit der grossen Aus¬ 
wahl von belastenden Momenten, Lues, Alkohol, Kopfverletzung, Onanie etc. 
machen es dem Gerichtsarzte fast unmöglich, in concreten Fällen mit positiver 
Sicherheit das Vorhandensein einer degenerativen Eigenschaft auszuschlies- 
sen, und er kommt leicht damit zu dem Entschluss: in dubio pro reo und zur 
Veranlassung der Freisprechung. 

Damit aber wird diesem Verbrechen Thür und Thor geöffnet. 
Wenngleich Verfasser in der Folge seinen Ausspruch modificirt, so hebt 
doch diese Modifikation die Wirkung der obigen Worte nicht auf. 

Wir dürfen wohl darauf rechnen, dass von Krafft seine Studie, welche 
gegenwärtig das Urtheil über die sexuellen Verbrecher und Irren leitet, nach 
dieser Richtung hin vertiefen und in der dritten Auflage neues Licht über 
diesen noch immer dunklen Punkt der forensischen Psychiatrie verbreiten 
wird. Seinen gewichtigen Worten hierüber sehen wir mit Spannung entgegen. 

Mittenzweig. 


Dr. C. Lange, Prof, der Medicin in Kopenhagen. Ueber Gemüths- 
bewegungen. Eine psycho-physiologische Studie. Ueberaetzt 
von Kurella, Leipzig 1887. Verlag von Th. Thomas. 

Die Beziehungen der Leidenschaften zu den körperlichen Erscheinungen 
bilden eins der lohnendsten und interessantesten Kapitel jenes Gebietes, auf 
welchem sich. Philosophie und Medicin gemeinschaftlich bewegen. Dass 
Darwin, Bell und anderseits Spinoza, Kant, von vielen andern zu schweigen 
das Thema nicht erschöpft haben, liegt einfach darin, dass es unerschöpflich 
ist Zu dem haben aber die Versuche du Cheune’s über die künstliche Er¬ 
zeugung des Ausdrucks von Affekten durch Electricität, die Untersuchungen 
von Wundt u. a., vor allem die fortschreitende Erkenntniss des Verlaufes der 
Nerven im Gehirn den Weg besser kennen gelehrt, auf dem die Eindrücke zu 
willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen Anlass geben. Der Leser wird 
daher Belehrung in dieser kleinen Schrift finden, deren nicht geringsten Vor¬ 
zug die von aller Trockenheit freie lebendige Schreibweise bildet. Bezüglich 
der von L. urgirten Bedeutung des vasomotorischen Systems werden allerdings 
Viele anderer Ansicht sein.*) Kornfeld. 


Verordnungen und Verfügungen. 

Formulare für Leichenpässe. Circular-Erlass des Ministers für geist¬ 
liche etc. Angelegenheiten (gez. in Vertr. Nasse) M. No. 7822 und des 
Innern (gez. Herrfurth) M. d. I. II. No. 8649 vom 23. September 1888 
an sämmtliche Königl. Regierungspräsidenten. 

Das in der Circular-Verfügung der damaligen Herren Minister der geist¬ 
lichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten und des Innern vom 


*) Die betr. Capitol in Tuke: Geist und Körper, übersetzt von dem 
Referenten 1888. 



878 


Verordnungen und Verfügungen. 


19. December 1857 für Leichenpässe angeordnete Schema diente, in Ermange¬ 
lung eines besonderen Formulars für Transporte auf Eisenbahnen, bisher zu¬ 
gleich als der im § 84 des Eisenbahn-Betriebs-Reglements vom 11. Mai 1874 
für solche Transporte erforderte Leichenpass. Nach der Bestimmung unter 
No. 8 des laut Bekanntmachung des Herrn Reichskanzlers vom 14. December 
v. J. neugefassten § 34 1. c. ist für diese Transporte ein anderes Leichenpass- 
Formular vorgeschrieben, ohne dass jedoch dadurch die frühere Vorschrift in 
dem Erlasse vom 19. December 1857 hinsichtlich des dort vorgesehenen For¬ 
mulars aufgehoben wäre. Da somit der Fall eintreten kann, dass beim Trans¬ 
port einer Leiche, welcher theils auf der Eisenbahn, theils auf Landwegen 
stattfindet, zweierlei Leichenpässe ausgestellt werden müssten, so bestimmen 
wir im Interesse eines einfachen und sicheren Geschäftsganges hiermit, dass 
das von dem Herrn Reichskanzler in dem erwähnten § 34 des Eisenbahn-Be¬ 
triebs-Reglements für die Beförderung von Leichen auf Eisenbahnen vorge¬ 
schriebene Leichenpass-Formular, künftighin auch für den Transport von Lei¬ 
chen auf Landwegen Anwendung findet, wobei selbstverständlich, falls der 
Transport auf keiner Strecke mittelst Eisenbahn geschieht, im Passformular 
die Worte * mittelst Eisenbahn“ zu streichen sind. 

Ferner ist in weiterer Abänderung der Bestimmungen des Erlasses vom 
19. December 1857 die Ertheilung von Leichenpässen zukünftig abhängig zu 
machen von der Vorlegung einer von einem beamteten Arzte ausgestellten 
Bescheinigung über die Todesursache, sowie darüber, dass seiner Ueberzeugung 
nach der Beförderung der Leiche gesundheitliche Bedenken nicht entgegen¬ 
stehen. 

Schliesslich kommt die zeitliche Beschränkung der Gültigkeit des Passes 
in Fortfall. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuchen wir ergebenst, die hiernach in Betracht 
kommenden Behörden mit der erforderlichen Anweisung zu versehen und diese 
sofort in Kraft tretenden Bestimmungen durch das dortige Amtsblatt zu ver¬ 
öffentlichen. 


Gebühren für die Ansstellnng von Gutachten über die Heilbarkeit der den 
Provinzial - Irrenanstalten aus Strafanstalten überwiesenen geisteskranken 
Gefangenen« Erlass des Ministers des Innern (gez. Herrfurth) vom 
9. November 1888, H 8. I. No. 2603 an den Königl. Regierungspräsidenten 
zu N. N. und sämmtlichen Königl. Regierungspräsidenten zur gleichmäßigen 

Nachahmung mitgetheilt. 

Ew. Hochwohlgeboren gefälliger Bericht vom 13. Juni d. J. I. E. 697 
hat mir Anlass gegeben, mit dem Herrn Minister der geistlichen etc. Ange¬ 
legenheiten wegen der Gebühren in Benehmen zu treten, welche die Directoren 
der Provinzial-Irrenanstalten für die Ausstellung von Gutachten über die Heil¬ 
barkeit der ihnen aus Strafanstalten überwiesenen geisteskranken Gefangenen 
zuzubilligen sind. 

Aus der mir durch den Herrn Minister gewordenen Erwiderung entnehme 
ich, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Provinzial-Irrenanstalten (nämlich 
in denen der Provinzen Westpreussen, Brandenburg, Posen, Sachsen, Hannover, 
Westfalen und Hessen-Nassau) für die in Rede stehenden gutachtlichen Aeusse- 
rungen niemals Gebühren gefordert, in den Provinzen Schlesien, Schleswig und 
der Rheinprovinz jene Atteste und ärztlichen Berichte, auch wenn sie gutacht¬ 
licher Natur waren, unentgeltlich erstattet und nur für schwierigere, umfang¬ 
reiche und wissenschaftlich begründete Gutachten Gebühren nach Massgabe 
des § 3. Ziffer 6 und § 7 des Gesetzes vom 9. März 1872 liquidirt worden sind. 

Ich kann nicht umhin, die Liquidationen in den letztgedachten Fällen, 
in Uebereinstimmung mit dem Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und 
Medicinal-Angelegenheiten als berechtigt anzuerkennen, es werden aber der¬ 
gleichen ausführliche wissenschaftliche Gutachten zur Erreichung der Zwecke, 
welche der Erlass meines Herrn Amtsvorgängers vom 3. August 1886, H S. I. 
1959 verfolgt, d. h. zur Feststellung der Frage, ob der betreffende geisteskranke 
Sträfling sich zur Entlassung eignet, nur selten erforderlich sein. Es bedarf 
zu diesem Behufe nur der in jenem Erlass vorgeschriebenen „gutachtlichen 
Aeusserung“ der Direction der Irrenanstalt, „ob der Kranke an Geistesstörung 
ohne Aussicht auf Heilung oder auch nur erhebliche Besserung leidet* und 



Verordnungen und Verfügungen. 


379 


wenn zugleich eine nähere Darstellung „des Krankheitsfalles* erfordert wird, 
so würde sich die gewünschte Mittheilung dadurch noch immer nicht zu einem 
ausführlichen, wissenschaftlich begründeten Gutachten gestalten. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, die Strafanstaltsdirectionen 
des dortigen Bezirkes gefälligst, dem Vorstehenden entsprechend, mit Anwei¬ 
sung zu versehen und gleichzeitig anzuordnen, dass zur Vermeidung von 
Weiterungen die in Rede stehenden gutachtlichen Aeusserungen stets durch den 
Landesdirector zu erfordern sind. 


Nene Geschäftsanweisung für die wissenschaftliche Deputation für das 
Medicinalwesen. Erlass des Ministers der geistlichen etc. Angelegen¬ 
heiten vom 9. October 1888 (gez. von Gossler) an den Director der 
Königl. Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen Wirkl. Geh. Rath 

Herrn Dr. Sydow, Excellenz. 

Durch Allerhöchsten Erlass vom 22. September d. J. ist eine Sr. Ma¬ 
jestät dem Kaiser und König von mir vorgelegte neue Geschäftsanweisung für 
die Wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen genehmigt worden, 
dieselbe tritt von jetzt ab an die Stelle der Instruction vom 23. Januar 1817. 

Ew. pp. übersende ich anliegend zwei Druckexemplare dieser Dienstan¬ 
weisung mit dem ganz ergebensten Ersuchen, die Leitung der Geschäfte der 
Wissenschaftlichen Deputation den hierüber in derselben enthaltenen Bestim¬ 
mungen gemäss fortan zu besorgen. 

Die ferner beiliegenden 25 Druckexemplare gebe ich ganz ergebenst an¬ 
heim, den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Deputation gefälligst zu über¬ 
reichen. 

Geschäftsanweisung für die Wissenschaftliche Deputation für das 

Medicinalwesen. 

g 1. Die Wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen ist eine 
berathende wissenschaftliche Behörde. Sie hat die Aufgabe, der Medicinalver- 
waltung für ihre Zwecke die Benutzung der zu jeder gegebenen Zeit durch die 
Entwicklung der medicinischen Wissenschaft gelieferten Ergebnisse zu erleich¬ 
tern und als oberste sachverständige Fachbehörde in gerichtlich medicinischen 
Angelegenheiten thätig zu sein. 

Die Wissenschaftliche Deputation hat demgemäss: 

1. über alle ihr vom Minister der Medicinalangelegenheiten zur Begut¬ 
achtung vorgelegten Verhandlungen, Vorschläge oder Fragen sich 
vom Standpunkt der medicinischen Wissenschart zu äussem, und ins¬ 
besondere die vom Minister ihr auf Ersuchen der Gerichtsbehörden 
aufgetragenen gerichtlich-medicinischen Obergutachten zu erstatten; 

2. aus eigenem Antrieb dem Minister der Medicinalangelegenheiten 
Vorschläge zur Abstellung von Mängeln zu machen, welche nach 
ihrer Ansicht bei vorhandenen Einrichtungen für die Zwecke der 
öffentlichen Gesundheitspflege bestehen, auch neue Massnahmen in 
Anregung zu bringen, welche ihr geeignet erscheinen, die Zwecke 
der Medicinalverwaltung zu fördern. 

§ 2. Ausserdem hat die Wissenschaftliche Deputation die Prüfungen 
der Aerzte behufs Erlangung der Befähigung zur Anstellung als MedicinaJbe- 
amte gemäss den bestehenden Vorschriften auszuführen. 

Bis auf Weiteres bewendet es in dieser Beziehung bei dem Regulativ für 
die Prüfung behufs Erlangung der Befähigung zur Anstellung als Kreisphysikus 
vom 10. Mai 1875 und dessen Ergänzungen. 

§ 8. Die Deputation besteht: 

1. aus einem Director, 

2. aus ordentlichen Mitgliedern, 

3. aus ausserordentlichen Mitgliedern. 

(Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai 1887, betreffend die Einrichtung einer 

ärztlichen Standesvertretung.) 

Der Director und die ordentlichen Mitglieder werden bei ihrer Einfüh¬ 
rung mit Verweisung auf die sonst schon geleisteten Amtseide durch Hand* 



380 


Vorordnungen und Verfügungen. 


schlag auf die Erfüllung ihrer Amtspflichten, insbesondere auf die Pflicht der 
Amtsverschwiegenheit verpflichtet. 

Auf .diese Pflicht sind auch die ausserordentlichen Mitglieder hei ihrem 
Eintritt ausdrücklich hinzuweisen. 

Im Falle des Bedürfnisses können von dem Minister der Medicinalange- 
legenheiten zur Entlastung der ordentlichen Mitglieder Hülfsarbeiter einberufen 
werden, welchen der Director die Erledigung solcher Arbeiten, zu denen sie 
besonders geeignet sind, auftrügt. 

Zu einzelnen Berathungen dürfen nach erfolgter Genehmigung des 
Ministers von dem Director besondere Sachverständige (Gelehrte, Techniker) 
hinzugezogen werden, von deren Betheiligung eine förderliche Information der 
Deputation über den zur Berathung stehenden Gegenstand zu erwarten ist. 

§ 4. Der Director regelt den Geschäftsgang in der Deputation. Er hat 
dabei die von dem Minister der Medicinalangelegenlieiten getroffenen Bestim¬ 
mungen genau zu beachten. In Verhinderungsfällen wird er durch das an¬ 
wesende dienstälteste Mitglied vertreten, sofern seitens des Ministers nicht 
anderweite Verfügung getroffen wird. Alle Anträge auf Erstattung von Gut¬ 
achten oder auf Aeusserungen über zweifelhafte Fragen, welche von anderen 
Behörden oder von Privatpersonen an die Deputation oder den Director ge¬ 
langen, sind dem Minister zur Verfügung vorzulegen. 

§ 5. Die Aufträge, welche der Minister der Deputation ertheilt, werden 
an den Director abgegeben. 

Der Director überträgt die Bearbeitung einzelnen Mitgliedern und sorgt 
für die schleunige Erledigung. 

§ 6. Für die Bearbeitung aller wichtigeren Sachen, zu denen die gericht- 
lich-medicinischen Obergutachten in Strafsachen stets zu rechnen sind, hat der 
Director ausser einem Referenten einen oder mehrere Correferenten zu er¬ 
nennen. 

Es bleibt ihm jedoch überlassen, für die Bearbeitung derartiger Gut¬ 
achten, wenn er denselben eine besondere Wichtigkeit beilegt, zwei Referenten 
zu ernennen, von denen jeder unabhängig von dem anderen ein besonderes 
Gutachten auszuarbeiten und dem Director versiegelt einzureichon hat. Zur 
Verminderung der Schreibarbeit ist dem zweiten Referenten jedoch das Ent¬ 
werfen einer Geschichtserzählung in der Regel zu erlassen. 

g 7. In den g 6 bezeichneten Sachen hat der Referent eine vollständige, 
übersichtliche und zusammenhängende, dem Acteninhalt entsprechende Dar¬ 
stellung des Thatbestandes auszuarbeiten, insofern eine solche nicht bereits in 
einem der Vorgutachten enthalten ist und auf diese Darstellung Bezug genom¬ 
men werden kann. Diesem Referate (Geschichtserzählung) hat er sein schrift¬ 
liches Votum unter eingehender auch für Nicht-Mediciner verständlicher Aus¬ 
führung der Gründe anzufügen und am Schluss das Gutachten und die Antwort 
auf die gestellten Fragen in bestimmter Fassung in Vorschlag zu bringen. 
Dem Referenten steht frei, Referat und Votum in der Form auszuarbeiten, dass 
die Arbeit als Entwurf für das Gutachten des Collegiums benutzt werden kann. 

Referat und Votum werden den Correferenten mit den Vorverhandlungen 
zugestellt. Die Correferenten unterziehen die letzteren, sowie Referat und Vo¬ 
tum ihrer eingehenden Prüfung. Im Fall vollständigen Einverständnisses ge¬ 
nügt ihre Mitvollziehung der Arbeit des Referenten. Fassungsänderungen oder 
Aenderungen, welche zwar sachlicher Art aber von geringerer Erheblichkeit 
sind, können von den Correferenten am Rande des Referates vorgeschlagen 
werden. Stimmen die Correferenten dem vom Referenten vorgeschlagenen Gut¬ 
achten aber nicht bei, oder halten sie erhebliche Aenderungen in der Begrün¬ 
dung für erforderlich, so haben sie ihre Aenderungsvorschläge in einem beson¬ 
deren Schriftsätze (Correferat) eingehend darzulegen und zu begründen. Nach 
der Bearbeitung durch die Correferenten ist die Sache mit den Acten der 
Geheimen Medicinal-Registratur des Ministeriums (unter Adresse der Wissen¬ 
schaftlichen Deputation) zuzustellen, welche sie dem Director vorlegt. 

In der Sitzung tragen der Referent das von ihm abgefasste Referat und 
Votum mit den von den Correferenten dazu gemachten Randbemerkungen und 
die Correferenten, falls sie eingehendere Aenderungsvorschläge zu machen ge¬ 
habt haben, diese in der Regel selbst vor. 



Verordnungen und Verfügungen. 


881 


§ 8. In Fällen, in denen nur ein Referent ernannt worden ist, findet 
der erste Absatz des § 7 entsprechende Anwendung. Ohne schriftliches Vo¬ 
tum und Vortrag in der Sitzung darf kein erfordertes Gutachten abgegeben 
werden. 

§ 9. Die Aufgaben zu den schriftlichen Prüfungsarbeiten (§ 2) werden 
von einem Referenten entworfen und vorgetragen; die Censuren über die Arbei¬ 
ten von einem Referenten mit eingehender Begutachtung schriftlich entworfen, 
einem Correferenten zur Prüfung und Aeusserung vorgelegt und sodann dem 
Collegium in der Sitzung mitgetheilt. Falls nicht beide Censoren der Arbeit 
mindestens das Prädicat * genügend 4 ertheilen, bedarf es auch einer Vorlesung 
der ausgearbeiteten Gründe. Die Examinatoren für den praktischen und den 
mündlichen Prüfungsabschnitt ernennt der Director. 

§ 10. Zu den Sitzungen der wissenschaftlichen Deputation, welche in der 
Regel an einem bestimmten Wochentage je *nach Bedarf stattfinden, werden 
die ordentlichen Mitglieder durch den Director besonders eingeladen. Das 
Nichterscheinen eines Mitgliedes bedarf einer Entschuldigung mit Angabe des 
Behinderungsgrundes. 

§ 11. In der Regel einmal jährlich erfolgt nach Bestimmung des Mi¬ 
nisters der Medicinal- Angelegenheiten auf Vorschlag der Wissenschaftlichen 
Deputation der Zusammentritt des durch Einberufung der ausserordentlichen 
Mitglieder (§ 3) erweiterten Collegiums. 

§ 12. Die Wissenschaftliche Deputation hat zur Ausführung des § 11 
bis zum 1. März jedes Jahres dem Minister einen bezüglichen Vorschlag unter 
Mittheilung der Tagesordnung zu machen. 

Bei dem Vorschläge der Zeit für den Zusammentritt des erweiterten Col¬ 
legiums ist zu beachten, dass derselbe thunlichst nicht in den Universitätsferien 
erfolgen soll. 

Was die in die vorzuschlagende Tagesordnung aufzunehmenden Gegen¬ 
stände betrifft, so ergiebt sich im Allgemeinen die Art derselben aus § 3 
Abs. 1 der Allerhöchsten Verordnung vom 25. Mai 1887. 

§ 13. Sofern im Laufe des Jahres der Wissenschaftlichen Deputation 
Sachen zur gutachtlichen Aeusserung zugehen, für welche dem Referenten oder 
einem anderen Mitglied die Erörterung in dem erweiterten Collegium empfeh- 
lenswerth erscheint, ist zunächst darüber Beschluss zu fassen, ob dieser An¬ 
sicht beigetreten wird; bejahendenfalls ob die specielle Sache den dadurch ent¬ 
stehenden Aufschub gestattet. Trifft auch dies nach dem Beschlüsse zu, so ist 
die Sache alsbald mit dem entsprechenden Anträge dem Minister der Medicinal- 
angelegenheiten vorläufig unerledigt zurückzureichen. 

Bei eiligeren, aber besonders wichtigen Sachen dieser Art hat die Depu¬ 
tation die Einberufung der Vertreter der Aerztekammern zu einer ausserordent¬ 
lichen Sitzung zu beantragen. Andrerseits wird auch der Minister der Medi- 
cinalangelegenheiten im Laufe des Jahres zur Vorlage gelangte Sachen, deren 
Erörterung in dem erweiterten Collegium ihm erspriesslich erscheint, der Wis¬ 
senschaftlichen Deputation zur Kenntnissnahme und Benutzung bei der Auf¬ 
stellung des Entwurfs der Tagesordnung zugehen lassen. 

§ 14. Bei Ueberreichung des Entwurfs zur Tagesordnung ist von der 
Wissenschaftlichen Deputation für jeden einzelnen Gegenstand derselben eine 
besondere Vorlage beizufügen, welche, nachdem der Minister die Tagesordnung 
genehmigt hat, vervielfältigt und sämmtlichen Mitgliedern der Deputation vor 
der Sitzung zugestellt wird. 

§ 15. Ueber die Verhandlungen in den Sitzungen des erweiterten Col¬ 
legiums ist ein Protokoll zu führen. Dasselbe muss den wesentlichen Inhalt 
der Berathungen und die gefassten Beschlüsse nach ihrem Wortlaute enthal¬ 
ten. Das Protokoll ist zu verlesen und von dem Director und dem Protokoll¬ 
führer zu unterschreiben. 

§ 16. Nach Abschluss der Verhandlungen des erweiterten Collegiums 
überreicht der Director mittelst Berichts dem Minister die beschlossenen Gut¬ 
achten und Anträge nebst den Protokollen. 

§ 17. Die Beschlüsse der Wissenschaftlichen Deputation werden durch 
Stimmenmehrheit gefasst. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des 
Directors. 



382 


Verordnungen und Verfügungen. 


Die ausserordentlichen Mitglieder, sowie die Hfllfsarbeiter und die ge- 
mJLss des § 8 zu einzelnen Beratnungen etwa hinzugezogenen Personen haben 
eine berathende Stimme. 

§ 18. Der Abstimmung unterliegen nicht nur die Endergebnisse der 
Gutachten und Beschlüsse, sondern auch die Begründungen in der von dem 
Referenten vorgeschlagenen Fassung. Sind bei Ausführung der Gründe von 
einander abweichende Ansichten zu Tage getreten, so kann die Minderheit 
verlangen, dass ihre Ansicht in der Ausführung zu entsprechendem Ausdruck 
gelange. Dem Director liegt es ob, insbesondere auf die Uebereinstimmung 
der thatsächlichen Angaben in den Gutachten mit den actenmässigen Unter¬ 
lagen, auf die Beachtung der in Betracht kommenden Gesetze und auf die 
Genauigkeit der Redaction das Augenmerk zu richten. 

§ 19. Die in Strafsachen auf den Vortrag eines Referenten und eines 
oder mehrerer Correferenten erstatteten Gutachten, sowie die über wichtigere 
administrative oder wissenschaftliche Fragen abgegebenen gutachtlichen 
Aeusserungen sind von dem Director und sämmtlichen bei der Verhandlung 
der Sache in der Sitzung anwesenden Mitgliedern zu unterschreiben. 

Für andere Beschlüsse und Berichte, insbesondere für die auf den Vor¬ 
trag nur eines Referenten erstatteten Gutachten, für die Superrevisions-Be¬ 
merkungen zu den Obductionsverhandlungen, für die Aufgaben zu den schrift¬ 
lichen Prüfungsarbeiten (§ 2) und für die Censuren dieser Arbeiten genügt die 
Unterschrift des Directors und der betreffenden Referenten bezw. Correferenten. 

§ 20. Welche Sachen der Director ihrer Wichtigkeit wegen etwa vor 
dem Vortrage bei allen Mitgliedern circuliren lassen will, hängt von seinem 
Ermessen ab. 


Die Gesundheitspflege an Bord der Kauffahrteischiffe; PolizeiverOrd¬ 
nung des H. Ministers für Handel und Gewerbe (gez. in Vertr. Mag¬ 
deburg) am 14. Novbr. 1888. 

Auf Grund der Bestimmungen des § 136 des Gesetzes über die allgemeine 
Landesverwaltung vom 30. Juli 1888 (Ges.-Samml. S. 195) schreibe ich hier¬ 
durch für alle in einer der Provinzen Ostpreussen, Westpreussen, Pommern, 
Hannover oder in der Rheinprovinz heimathlichen Kauffahrteischiffe vor: 

1. auf allen Seereisen die Mitnahme mindestens eines Abdrucks der auf 
Veranlassung des Herrn Staatssecretärs des Innern im Kaiserlichen Ge¬ 
sundheitsamte bearbeiteten „ Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord 
von Kauffahrteischiffen* (Verlag von Julius Springer in Benin);*) 

2. auf allen Seereisen, welche Über die Ostsee, den 61. Grad nördlicher 
Breite in der Nordsee und den Englischen Kanal hinausgehen, die Mit¬ 
nahme der in den Listen H, 1H und IV in Anlage 1 zu der vorgenann¬ 
ten „Anleitung zur Gesundheitspflege etc.“ angegebenen Arznei- und 
sonstigen Mittel und Gegenstände zur Krankenbehandlung und Ver¬ 
pflegung mit der Massgabe, dass es auf Reisen, welche nur Europäische 
oder Häfen des Mittelländischen, Schwarzen und Asow'schen Meeres 
berühren, der Mitnahme des in Liste IV angegebenen Bier’s und Wein’s 
nicht bedarf; 

3. auf allen Seereisen, welche entweder über die Ostsee, den 61. Grad nörd¬ 
licher Breite in der Nordsee und den Englischen Kanal hinausgehen 
oder innerhalb dieser Meerestheile mit Schiffen von 400 Kubikmeter oder 
mehr Brutto-Raumgehalt vorgenommen werden, in beiden Fällen mit 
Ausnahme derjenigen, welche nur Europäische oder Häfen des Mittel¬ 
ländischen, Schwarzen und Asow’schen Meeres berühren, sowie der- 

. ienigen zwischen Europäischen und den nördlich vom 35. Grade nörd¬ 
licher Breite gelegenen Atlantischen Häfen und Inseln, die im § 9 der 
vorgenannten „Anleitung zur Gesundheitspflege etc.“ aufgestellte Speise¬ 
rolle, sowie die Mitnahme und Vertheilung von Citronensaft gemäss 
§ 22 dieser „Anleitung* mit der Massgabe, dass es in Spalte 9 der 
Speiserolle, unter gleichzeitigem Wegfall des zweiten Satzes in Spalte 
12, zu heissen hat „225 gr, sofern und so lange neben Kaffee aber noch 
Bier gegeben wird, nur 150 g.“ 


*) Siehe das Referat auf S. 374. 



Personalien. 


383 . 


Die Nichtbetolgnng vorstehender Vorschriften wird mit Geldstrafe 
bis 100 Mk. bestraft. 

Gegenwärtige Polizeiverordnung tritt für diejenigen Schiffe, welche wäh¬ 
rend der ganzen Zeit nach Veröffentlichung der ersteren bis Ende Februar 
1889 einen Preussischen Hafen nicht besuchen, vier Wochen nach der ersten 
Ankunft in einem solchen jedenfalls aber am 1. April 1890, für alle anderen 
Schiffe am 1. April 1889 in Kraft. 


Vereidigung der Apotheker; Erlass des Ministers der geistlichen etc. 
Angelegenheiten (gez. v. Gossler) vom 15. November 1888. M. N. 7444 
an den Königlichen Polizei-Präsidenten zu Berlin und sämmtlichen Königlichen 
Regierungs-Präsidenten zur gefälligen Kenntnissnahme und Nachachtung mit- 

getheilt. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich auf den gefälligen Bericht vom 
29. August <L J. — LA. 2877 —, unter Abänderung der in der Verfilmung 
vom 18. Juli 1840 — M. 3907 — angegebenen Eidesnorm ergebenst, bei der 
Vereidigung der approbirten Apotheker fortan folgende Form zur Anwendung 
zu bringen: 

.Ich N. N. schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, 
dass, nachdem mir die Approbation zum selbstständigen Betriebe einer 
Apotheke im Gebiete des Deutschen Reiches ertheilt worden ist, ich alle 
mir vermöge meines Berufes obliegenden Pflichten nach den darüber be¬ 
stehenden oder noch ergehenden Verordnungen, auch sonst nach meinem 
besten Wissen und Gewissen genau erfüllen will. So wahr mir Gott 
helfe!« 

Dem Schwörenden bleibt es überlassen, diesen Eidesworten die seinem 
religiösen Bekenntnisse entsprechende Bekräftigungsformel beizufügen. 


Oeffentliche Ankündigung von Gehelmmitteln. In das Verzeichniss der¬ 
jenigen Geheimmittel, deren öffentliche Ankündigung in Berlin verboten ist 
(siehe Nr. 1 S. 29 dieser Zeitschrift), sind laut Bekanntmachung des 
Königl. Polizeipräsidenten in Berlin, vom 24. und 28. October d. J. 
mit Rücksicht auf bezügliche Entscheidungen des Königl. Kammergerichtes 
aufgenommen: .Hamburger Thee, A. Brandt's verbesserte Schwei¬ 
zerpillen, Königstrank von H. Gerting und Apotheker Dr. Born’s 
PectoraL 


Personalien. 

Auszeichnungen: 

Verliehen: Der Charakter als Geheimer Medicinalrath: dem 
Professor Dr. Hitzig zu Halle a/S.; Der Charakter als Professor: dem 
Privatdocent in der medicinischen Fakultät Dr. Meschede zu Königsberg i/Pr.; 
als Geheimer Sanitätsrath: den praktischen Aerzten und Sanitätsräthen 
Dr. Staub sen. in Trier und Dr. Haffner in Bischofstein; als Sanitätsrath: 
den praktischen Aerzten Dr. Esberg und Dr. Georg Fischer in Hannover, 
sowie Dr. Mühsam und Dr. Paprosch in Berlin. — Der Rothe Adlerorden 
UL Classe mit der Schleife: dem Geheimen Sanitätsrath Dr. Koch zu Frei¬ 
burg in Baden; der Rothe Adlerorden IV. Classe: dem Oberstabsarzt a. D. 
Dr. Karpinski in Berlin, dem Marinestabsarzt Sander I, dem Geh. Sanitätsrath 
Dr. Pfeifer in Düsseldorf und dem praktischen Arzt Dr. Decker zu Frechen. 
— Der Kronenorden IL Klasse: dem Generalarzt a. D. Dr. Schmundt in 
Guhrau; der Kronenorden Hl. Classe: dem Oberstabsarzt a. D. Dr. Nie¬ 
ter in Berlin. 

Die Erlaubniss ertheilt zur Anlegung: des Comthur- 
kreuzes des Grossherzogi. Sächsischen Ordens zum weissen Fal¬ 
ken mit dem Stern: dem Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Bergmann in Berlin; 
des Kaiserl. Russischen St. Annen-Ordens III. Classe: dem praktischen 
Arzt San.-Rath Dr. Cohn in Wiesbaden und dem dirig. Arzt der Maison de 
sant§ zu Schöneberg Dr. Jastrowitz zu Berlin; des Ritterkreuzes 1. CL 



384 


Personalien. 


des Grossherzogi. Hessischen Verdienstordens Philipp des Gross- 
müthigen: dem Stabs- und Bataillonsarzt Dr. Martin in Darmstadt. 

Ernennungen und Versetzungen: 

Ernannt: der ordentliche Professor der Hygiene Dr. Gaffky zu 
Giessen zum ausserordentlichen Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes auf 
die Zeit bis zum Ablauf des Jahres 1891; der bisherige commissarische Verwal¬ 
ter des Physikats des Kreises Schmiegel Stabsarzt a. D. Dr. Doepner zu 
Schmiegel definitiv zum Kreisphysikus des genannten Kreises; der praktische 
Arzt Dr. Massmann in Görlitz zum Kreisphysikus des Kreises Saarbrücken. 

Versetzt: der Kreisphysikus Dr. Schüller in Münsterberg in gleicher 
Eigenschaft in den Kreis Wehlau; der Kreisphysikus des Kreises Geestemünde 
Dr. Herwig in Lehe in gleicher Eigenschaft in den Kreis Lehe der bisherige 
Kreisphysikus Dr. Schwienhorst zu Laasphe als Kreis Wundarzt in den Kreis 
Kempen mit dem Wohnsitz in Süchteln und der Kreisphysikus Dr. Wied her 
in Königsberg i/N.-M. in gleicher Eigenschaft in den Stadtkreis Kottbus. 

Verstorben sind: 

Die Aerzte: Geh. Med.- u. Reg.-Rath Dr. Gemmel in Posen, Reg.- u. 
Med.-Rath Dr. Reiche in Marienwerder, die Kreisphysiker Sanitätsrath Dr. 
Simon in Merseburg, Sanitätsrath Dr. Seifert in Lahgensalza, Dr. Meyer in 
Liebenwerda und Sanitätsrath Dr. Tobias in Saarlouis; die Kreiswundärzte Dr. 
Zacharias in Garnsee, Dr. Klay in Rahden und Dr. Blechschmidt in 
Rehden W/Pr.; die Geh. Sanitätsräthe Dr. E. Cohn und Dr. Paul Gumbinner, 
sowie Dr. F. Klee in Berlin, Oberarzt a. D. Dr. Lappe in Stade, Dr. Linter- 
mann in Ronsdorf, Sanitätsrath Dr. Kühnardt in Pakosch, Dr. Emandts in 
Much, Sanitätsrath Dr. Bart sch er in Osnabrück, der Director des Kinderhospifces 
in Norderney Dr. Lorent in San Remo, Dr. Juliusberg in Breslau, Dr. Meye 
in Gilgenburg, Dr. Staschek in Oberglogau, Dr. Heimbs in Zinten, Dr. 
Hackethal in Treffurt, Oberstabsarzt a. D. Dr. de Grousilliers in Bernstein, 
Dr. Pickert in Wies-Thale, Dr. Stein in Carolinensiel, Dr. Hirsch in Kor- 
tau, Dr. Gauwerky in Soest, Dr. Herrn. Eymann in Ankum, Dr. (N.) Neuber 
in Meldorf, Dr. Vollmer in Bentschen und Dr. Simonsohn in Friednchsfelde, 
Sanitätsrath Dr. Arntz in Rindern, Dr. Horr6 in Calcar und Dr. Huf er in 
Frankfurt a/M. 

Vakante Stellen: 

Kreisnhysikate: Johannisburg, Insterburg, Putzig, Filehne, Witkowo, 
Koschmin, Neutomischel, Schildberg, Münsterberg, Lüben, Sagan, Merseburg, 
Liebenwerda, Langensalza, Eckartsberga, Geestemünde, Soltau, Hümmling, Ade¬ 
nau, Daun, Stadtkreis Elberfeld, Lennep, Saarlouis und Oberamt Gammertingen. 

Kreiswundarztstellen: Fischhausen, Labiau, Mohrungen, Darkehmen, 
Heiligenbeil, Heydekrug, Oletzko, Tilsit, Karthaus, Loebau, Marienwerder, 
Marienburg, Tuchei, Graudenz, Schubin, Angermünde, Templin, Friedeberg, 
Landsberg a. W., Ost- und West-Sternberg, Regenwalde, Bütow, Dramburg, 
Greifenhagen, Schievelbein, Bomst, Meseritz, Schroda, Wreschen, Strehlen, Ohlau, 
Hoyerswerda, Reichenbach, Falkenberg o./Schl., Grünberg, Grottkau, Oschers- 
leben, Wanzleben, Wernigerode, Saalkreis, Naumburg a. 8., Worbis, Koesfeldt, 
Recklinghausen Steinfurt, Warendorf, Höxter, Lübbecke, Warburg, Lippstadt, 
Meschede, Fulda, Hanau, Hünfeld, Zell, Kleve, Bergheim, Rheinbach, Wipper¬ 
fürth, St. Wendel und Haigerloch. 


Diesem Hefte Ist der offlcleUe Bericht über die sechste Hauptver¬ 
sammlung des Pren8sl8chen Medicinalbeamtenvereins beigegeben. 
Ausserdem liegt diesem Hefte Titel und Inhaltsverselcbnlss bei. 


Verantwortlicher Redacteur: Dr. H. Mittenzweig, Berlin, Winterfeldtstr. 3. 

Druck der Fürstl. prlv. Hofbuohdruekerel F. AUtzleff), Budolstadt. 





Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 

- 4 - 

Offieieller Bericht 

aber die 

Sechste Hauptversammlung 

ZW 

BERLIN 

am 26. und 27. September 1888. 



Berlin 1888. 

FISCHER’S MEDICINISCHE BUCHHANDLUNG. 

fl« Kornfeld« 




Inhalt. 


Erster Sitzungstag. 

Seit«. 


1. Eröffnung der Versammlung. 1 

2. Geschäfts- und Kassenbericht. Wahl der Kassenrevisoren ... 2 

8. Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf die jetzige Unfallver¬ 
sicherungs-Gesetzgebung (Bezirksphysikus Dr. Becker in Berlin) 4 

4. Der Entwickelungsgang im Preussischen Medicinalwesen. 

L Apothekenwesen, Apothekengesetzgebung (Regierungs- und 
Medicinalrath Dr. Wernich in Cöslin).16 

5. Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter) 

in einzelnen Theilen der Provinzen Brandenburg und Schlesien 
(Kreisphysikus Dr. Schmidt in Steinau a. 0.).81 

6. Ueber einzelne Bestimmungen des Gesetzes vom 9. März 1872, 

betreffend die Gebühren der Medicinalbeamten (Kreisphysikus 
und Sanitätsrath Dr. Wallichs in Altona) ....... 46 

7. Besichtigungen.51 


Zweiter Sitzungstag. 

1. Der Hypnotismus unter besonderer Berücksichtigung der gericht¬ 

lichen Medicin (praktischer Arzt Dr. Moll in Berlin) ... 52 

2. Die Constatirung ansteckender Krankheiten mit Bezug auf die 

g§ 9 und 10 des Regulativs vom 8. August 1835 (Regierungs¬ 


und Medicinalrath Dr. Peters in Bromberg).69 

3. Vorstands wähl. Bericht der Kassenrevisoren ........ 90 

4. Ueber einige den Medicinalbeamten abzunehmende Geschäfte 

(Kreisphysikus Professor Dr. Falk in Berlin).91 

5. Besichtigungen.99 


Mitgliederverzeichniss 


100 














Erster Sitzungstag, 


Mittwoch, den 26. September, Vormittags 9 1 /« Uhr 

im grossen Hörsaale des Hygienischen Instituts. 

I. Eröfftiung' der Versammlung. 

H. Geh. Med.- und Reg.-Rath Dr. Kanzow (Potsdam) Vor¬ 
sitzender: Hochgeehrte Herren! Wir haben unsere Jahresver¬ 
sammlung stets damit begonnen, dass wir der pietätvollen Erin¬ 
nerung an diejenigen Männer Ausdruck gegeben haben, welche 
im Laufe des verflossenen Jahres unserem Vereine durch den Tod 
entrissen worden sind. Heute aber wird unsere Brust tiefer be¬ 
wegt durch die schmerzvolle Erinnerung an den Hintritt unserer 
grossen Kaiser Wilhelm I. und Friedrich HI. (Die Anwesenden 
erheben sich.) Wie ihr Ruhm auf den Tafeln der Geschichte glanz¬ 
voll strahlt, so wird ihr Andenken mit Verehrung und Liebe in der 
innersten Tiefe des Herzens eines jeden deutschen Mannes unauslösch¬ 
lich bewahrt bleiben. Lassen Sie uns dafür Zcugniss geben durch 
das Gelöbniss, dass wir mit derselben Zuversicht und Treue, welche 
uns für diese unvergesslichen Herrscher beseelt hat, auch allezeit 
stehen werden zu dem Sohne und Enkel, unserem jetzigen Kaiser¬ 
lichen und Königlichen Herrn, welcher die Tugenden der Ahnen 
auf sein Panier geschrieben hat. Als Ausdruck solcher Gesinnung 
bitte ich Sie einzustimmen in den Ruf: 

Seine Majestät unser Kaiser und König Wilhelm H. 

lebe hoch! 

(Die Versammlung stimmt begeistert in das dreimalige 
Hoch ein.) 

M. H.! Lassen Sie uns nunmehr derjenigen Vereinsmit¬ 
glieder gedenken, welche der Tod in dem verflossenen Jahre 
aus unserer Mitte gerissen hat, es sind dies: 

Dr. Duprö, Sanitätsrath und Kreisphysikus in Ahaus, 

Dr. Hecht, Sanitätsrath und Kreisphysikus in Neiden- 
burg und 

Dr. Lorentzen, Kreisphysikus in Sclileusingen. 

Zum Zeichen, dass das Andenken dieser Männer bei uns in 
Ehren bleiben wird, bitte ich Sie, sich von Ihren Sitzen zu er¬ 
heben. (Geschieht.) 



2 


6. Hauptversammlung d. Preuss. Medicinalbeamten-Vereins. 


M. H.! Ich habe sodann die angenehme Pflicht, noch folgen¬ 
des von Herrn Geh. Obermedicinalrath Dr. Kersandt soeben 
erhaltene Schreiben Ihnen mitzutheilen: 

„Sr. Excellenz der Herr Minister hat mich beauf¬ 
tragt, sein lebhaftes Bedauern darüber auszudrücken, dass 
er wegen seiner Abwesenheit vom Orte verhindert ist, 
der Versammlung seine Theilnahme zu bezeigen und die 
besten Wünsche für eine gedeihliche Fortentwicklung der 
Arbeiten des Vereins auszusprechen.“ 

Für diese vom Herrn Minister geäusserten Wünsche hin¬ 
sichtlich der gedeihlichen Fortentwicklung unsres Vereins sind 
wir demselben zum grössten Danke verpflichtet. 

Ich gestatte mir nunmehr, Herrn Unterstaatssekretär Nasse, 
der uns heute zum ersten Male die Ehre seiner Anwesenheit giebt, 
im Namen des Vereins achtungsvoll zu begrüssen. (Die Anwesen¬ 
den erheben sich.) Gleichzeitig spreche ich auch den H. Geh. 
Obermedicinalräthen Dr. Kersandt und Dr. Skrzeczka den 
Dank der Versammlung aus, dass sie durch ihr Erscheinen ihr 
fortdauerndes Interesse dem Verein so freundlich bezeugen. (Die 
Anwesenden erheben sich nochmals.) 


II. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der 
Kassenrevisoren. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Aurich) Schriftführer: 
M. H.! Was zunächst die finanziellen Verhältnisse unseres 
Vereins betrifft, so sind dieselben auch im letzten Jahre durch¬ 
aus günstige gewesen und schliesst die Kasse trotz der erhöhten 
Ausgaben für das Abonnement der Zeitschrift für Medicinalbeamte 
mit einem Ueberschuss ab. Es haben nämlich betragen: 

Die Einnahmen: 1. Beiträge .... 2225 Mk. — Pf. 

2. Zinsen.... . 35 , — . 

Summa 2260 Mk. — Pf. 

Die Ausgaben. . 1397 . 95 , 

Es verbleibt demnach ein Ueberschuss von 862 Mk. 5 Pf. 

Dieser Ueberschuss verringert sich allerdings noch ungefähr 
um die Summe von 700 Mark, welche für das Zeitungsabonnement 
pro 2. Semester zu zahlen ist, immerhin hat sich aber die vom 
Vorstande in seinem Rundschreiben vom December v. J. ausge¬ 
sprochene Ansicht bestätigt, dass nämlich die Vereinskasse auch 
ohne Erhöhung des bisherigen Beitrages in der Lage sei, die 
erhebliche Mehrausgabe für die Zeitung zu decken. 

Das Kapitalvermögen des Vereins beträgt zur Zeit 2807 Mark, 
wovon 2000 Mark auf der Sparkasse zinslich belegt sind. 

M. H.! Nach unseren Statuten muss der jährliche Beitrag von 
der Generalversammlung jedesmal festgesetzt werden, Sie sind 





Geschäfts* und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren. 


3 


wohl damit einverstanden, dass derselbe auch für das nächste 
Jahr die Höhe von 5 Mark beibehält. (Die Versammlung stimmt 
auf Befragen des Vorsitzenden zu.) 

Die Zahl der Vereinsmitglieder hat im vergangenen 
Jahre in recht erfreulicher Weise zugenommen, denn trotz des 
Abgangs verschiedener Collegen ist der Verein um 32 neue Mit¬ 
glieder gewachsen, so dass er jetzt 432 Mitglieder zählt. 

M. H.! Das letzte Vereinsjahr ist für den Verein insofern 
ein bedeutungsvolles gewesen, als derselbe mit Ihrer Zustimmung 
ein eignes Vereinsorgan, die Zeitschrift für Medicinalbeamte, er¬ 
halten hat. Im Namen des Vorstands darf ich wohl die Bitte 
aussprechen, etwaige Wünsche betreffs der Zeitschrift zu äussem 
und daran gleichzeitig seitens der Redaktion die Bitte anknüpfen, 
durch recht rege Theilnahme an unserer Arbeit, durch Einsendung 
kleinerer Mittheilungen aus Ihrer amtlichen Thätigkeit u. s. w. 
das Wachsen und Gedeihen der Zeitschrift möglichst zu fordern 
und zu sichern. 


Discuss i on: 

Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Wallichs (Altona): M. H.! Es ist schon in unse¬ 
rem Vereinsblatte die Frage aufgeworfen worden, ob sich nicht ein anderer 
Zeitpunkt für unsere Versammlungen empfiehlt, und da möchte ich auch hier 
einmal zur Sprache bringen, ob wir nicht lieber statt des September, in dem 
so viele ärztlichen Versammlungen stattfinden, das Frühjahr, etwa den April, 
für unsere Versammlung wählen wollen. Im nächsten Jahre findet hier aller¬ 
dings eine grosse Ausstellung für Unfallverhütung statt, von der ich freilich 
nicht genau weiss, wie lange sie bestehen wird. Auf alle Fälle würde es aber 
wünschenswcrth sein, wenn die Versammlung des MedicinalbeamtenVereins in 
die Periode dieser Ausstellung Rillt, weil die dort ausgestellten Gegenstände 
für die meisten von uns erhebliches Interesse haben werden, auch wenn wir 
nicht mehr viel mit den Gewerben zu thun haben. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Nötzel (Colberg): Ich möchte doch bitten, die 
Anlehnung an die grossen medicinischen Versammlungen im Herbst, nament¬ 
lich an die Naturforschervorsammlung, nicht so ganz aufzugeben. Ich sehe 
eine ganze Anzahl von Kollegen hier, die mit mir in Köln gewesen sind, und 
deren Wunsch es vielleicht nur gewesen wäre, noch ein paar Tage dazwischen 
sich einer beschaulichen Lebensweise hingeben zu können, um mit neuen Kräf¬ 
ten hier einzutretfen. Aber die Anlehnung ist für uns sehr werthvoll. Ich 
glaube, der Besuch der Versammlung, der doch in erstor Reihe ^ngestrebt 
werden muss, wird ein viel schwächerer werden, wenn wir nur zu dieser einen 
Versammlung im Frühjahr uns auf den Weg machen sollen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Landsberg (Ostrowo); Ich möchte auch betonen, dass 
im Frühjahr das Impfgeschäft jedenfalls einen grösseren Theil der Herren von 
der Theilnahme an der Versammlung der preussischen Medicinalbeamten ab¬ 
halten dürfte. (Zustimmung.) 

H. Kr.-Phys. Dr. Schmidt (Steinau a. 0): Ich glaube, dass das Impfge¬ 
schäft uns wohl nicht hindern dürfte, einer im April hier abzuhaltenden Ver¬ 
sammlung beizuwohnen. Wir fangen gewöhnlich doch erst Mitte Mai an zu 
impfen. Dagegen glaube ich, dass man der Macht der Gewohnheit Folge 
leisten muss. Wie ich sehe, ist der Besuch ohnehin heute kein sehr grosser, 
und durch die in Anregung gebrachte Aonderung würde vielleicht eine noch 
geringere Betheiligung eintroten. 

Vorsitzender: Die Meinung scheint also dahin zu gehen, dass 
die Versammlung zeitlich immer möglichst in die Nähe der son¬ 
stigen ähnlichen Versammlungen gelegt wird, wie dies bisher 
immer der Fall gewesen. (Zustimmung.) 



4 


6 Hauptversammlung des Preussischen Medicmalbeamtcnvereins. 


Ich schlage nunmehr die H. Kr.-Phys. Dr. Pippow (Eisleben) 
und Dr. Jaenicke (Templin) als Kassenrevisoren vor und frage 
die Verammlung, ob dieselbe mit der Wahl dieser Herren ein¬ 
verstanden ist. (Die Versammlung stimmt zu.) 


III. Die Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf 
die jetzige Unfallversicherungs-Gesetzgebung. 

Herr Bezirksphysikus Dr. Becker (Berlin): M. H.! Das Unfall¬ 
versicherungs-Gesetz vom 6. Juli 1884 hat den Zweck, den Arbeiter 
gegen die Folgen der Unfälle zu versichern, welche er bei der 
Arbeit erleidet. Das Gesetz regelt somit die Haftpflicht der 
Unternehmer industrieller Betriebe gegenüber ihren Arbeitern 
durch eine öffentlich-rechtliche allgemeine Unfallversicherung. 

Damit Sie nun eine Vorstellung erhalten von der Gross¬ 
artigkeit dieses Apparates und dem Wirkungskreis, den das 
Gesetz umfasst, theile ich Ihnen folgende Zahlen mit: 

Am Schlüsse des Jahres 1887 gab es 111 Berufsgenossen¬ 
schaften mit nahe an 4 Millionen versicherter Arbeiter. Im Jahre 
1887 betrug nach einer vorläufigen Ermittelung die Zahl aller 
zur Anmeldung gekommener Unfälle 113594, die der entschädigten 
Unfälle: 17142, von denen 

2586 eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als 13 Wochen bis 
zu 6 Monaten, 

7985 eine dauernde theilweise Erwerbsunfähigkeit, 

3303 eine dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit und 

3268 den Tod zur Folge hatten. 

Wie gross diese Zahlen sind, lehrt ein Vergleich mit der 
Militär-Statistik: Es kamen danach in dem einen Jahre 1887 
in runder Summe 27000 Unfälle mehr vor, als in dem ganzen 
Kriege 70/71 Verwundungen vorfielen; und die in dem einen 
Jahre 1887 erfolgten Unfall-Entschädigungen erreichten die 
Hälfte aller Invalidisirungen, die in Folge der Verwundungen 
des grossen Krieges 70/71 eintraten. Die im Jahre 1887 ge¬ 
zahlten Entschädigungen (Renten u. s. w.) betrugen nach einer 
vorläufigen Festsetzung nahe an 6 Millionen Mark. Schon in 
diesem Jahre werden die land- und forstwirthschaftlichen Arbeiter 
und noch andere Kategorien in den Kreis der Unfall-Versicherung 
gezogen, sodass sich die genannten Zahlen in nächster Zeit ver¬ 
doppeln, vielleicht verdreifachen werden. M. H.! Sie sehen daraus, 
welch’ ein umfangreiches Gebiet des modernen sozialen Lebens 
durch die Unfall-Versicherung der Arbeiter umfasst wird. 

Das Verfahren bei der Feststellung der Entschädigungen 
wickelt sich derartig ab, dass dem verletzten Arbeiter für den 
Verlust seiner Erwerbsfälligkeit vom Vorstande seiner Berufs- 



Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf d. jetzige Unfallgesetzgebung. 5 

genossenschaft eine bestimmte Rente bewilligt wird, je nach der 
Einbusse, welche er durch die Folgen des Unfalls an seiner Er¬ 
werbsfähigkeit erlitten. Giebt der Beschädigte sich damit zu¬ 
frieden, so ist die Sache erledigt; ist er nicht damit zufrieden, 
so kann er an ein Schiedsgericht appelliren, welches für jede 
Berufsgenossenschaft existirt, und aus einem Vorsitzenden (meist 
einem Richter oder Verwaltungsbeamtcn) und je 2 Vertretern der 
Arbeiter und der Arbeitgeber besteht. Gegen die Entscheidung 
dieses Schiedsgerichts giebt es noch eine Berufung an das Reichs- 
Versicherungsamt. Das ist dann die oberste Rekurs-Instanz und 
entscheidet definitiv. 

Bei allen diesen Entschädigungen der durch einen Unfall 
Verletzten, es sei denn, dass sie weniger als 13 Wochen krank 
gewesen sind, oder dass durch den Unfall gleich der Tod ver¬ 
ursacht wurde, handelt es sich immer um das Maass der Ein¬ 
busse an Erwerbsfähigkeit, welche der Verletzte durch 
den Unfall erlitten hat. 

Nach dem § 5 des U.-V.-G. erhält nämlich jeder im Betriebe 
verletzte Arbeiter oder Betriebsbeamte: 

a) im Falle völliger Erwerbsunfähigkeit für die Dauer 
derselben 66 3 /„ Procent des Arbeitsverdienstes und 

b) im Falle theilweiser Erwerbsunfähigkeit für die 
Dauer derselben einen Bruchtheil der Rente unter a, 
welcher nach dem Maasse der verbliebenen Er¬ 
werbsfähigkeit zu bemessen ist. 

Wir wollen nun näher auf den Begriff der Erwerbs¬ 
unfähigkeit eingchen, wie er sich für die Unfallversicherungs- 
Gesetzgebung ergiebt. M. H.! Sie wissen, dass ein alter Zwiespalt 
bei der Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit besteht: Die Einen 
wollen nur allein Rücksicht nehmen auf die bisherige Beschäf¬ 
tigung des Verletzten, ob er ein gewöhnlicher Arbeiter oder 
Schneider oder Maschinentechniker u. s. w. ist, und danach die 
demselben nach seiner Verletzung verbliebene Erwerbsunfähigkeit 
bemessen, während die Anderen die frühere Beschäftigung des 
Verletzten wenig oder gar nicht berücksichtigen wollen, sondern 
eine gewisse Erwerbsfähigkeit im Allgemeinen annehmen. 
M. H.! Das Richtige liegt meiner Ansicht nach in einem zwischen 
diesen beiden Ansichten vermittelnden Standpunkt, und von 
diesem Standpunkt aus giebt auch das Reichs-Versicherungsamt 
in einer Rekurs-Entscheidung vom 26. November 1887 eine sehr 
sachgemässe Erklärung dessen, was man unter Erwerbsfähigkeit 
zu verstehen hat. Es sagt nämlich darin: 

„Bei der Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit eines 
Verletzten im Allgemeinen darf nicht lediglich das bis¬ 
herige Arbeitsfeld des zu Enfschädigenden, und der Ver¬ 
dienst, welchen er etwa nach der Verletzung noch hat, 
in Rücksicht gezogen werden. Vielmehr ist einerseits 
der körperliche und geistige Zustand in Verbindung mit 
der Vorbildung desselben zu berücksichtigen, und anderer- 



6 


6 . Hauptversammlung des Preußischen Medicinalbeamtenvereins. 


seits zu erwägen, welche „Fähigkeit“ ihm zuzumessen 
sei, auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens sich 
einen „Erwerb“ zu verschaffen („Erwerbsfähigkeit“). Es 
soll ihm nach dem Gesetze deijenige wirtschaftliche 
Schaden, welcher ihm durch die Verletzung zugefugt 
worden, ersetzt werden, und dieser Schaden besteht in 
der Einschränkung der dem Verletzten nach seinen 
gesammten Kenntnissen und körperlichen wie 
geistigen Fähigkeiten auf dem ganzen wirt¬ 
schaftlichen Gebiet sich darbietenden Arbeits¬ 
gelegenheiten.“ 

Nach dieser Erklärung des R.-V.-Amtes muss man also bei 
der Beurteilung des einzelnen Falles nicht nur allein die bis¬ 
herige Berufstätigkeit des Verletzten, sondern auch alle dieser 
ähnlichen oder entsprechenden Berufsarten in Betracht ziehen. 
Zu dem Zweck thut man gut sich gewisse Kategorien von 
gleichartigen Beschäftigungen zu koustruiren. Dabei genügt es 
denn allerdings nicht, nur den „gewöhnlichen Arbeiter“ gegenüber 
denjenigen Personen aufzustellen, welche eine sog. „höhere Aus¬ 
bildung“ besitzen. Denn welch’ eine lange Stufenleiter der Ent¬ 
wickelung werktätiger Arbeit liegt nicht zwischen dem gewöhn¬ 
lichen Arbeiter, der Holz hackt oder Steine klopft, und den bei 
komplizirten Betriebsvorrichtungen Angestellten Werkmeistern, 
wie sie die Entwickelung der heutigen Maschinentechnik verlangt 
und bei denen nicht nur ein hohes Mass körperlicher Geschick¬ 
lichkeit, sondern auch ein bedeutender Grad geistiger Regsamkeit 
und Intelligenz vorhanden sein muss! 

Man muss aber nach dieser eben angeführten, äusserst um¬ 
sichtigen Erklärung des R.-V.-Amtes bei der Abschätzung der 
Erwerbsfähigkeit auch nicht lediglich den Verdienst, welchen 
der Beschädigte etwa nach der Verletzung noch hat, in Rücksicht 
ziehen! Das ist sehr wichtig! Man begegnet nämlich bei der 
Beurtheilung der Erwerbsunfähigheit sehr oft dem Einspruch der 
Vorstände der Berufsgenossenschaften, dass der Beschädigte ja 
nach seiner Verletzung gar keine Einbusse an Erwerbsfähigkeit 
erlitten habe, weil er, wie das in der That manchmal vorkommt, 
ja nach Heilung seiner Verletzung denselben Lohn in seiner 
früheren Stellung beziehe, wie vorher. M. H.! Nehmen wir ein¬ 
mal zur Erläuterung dieses Verhältnisses ein markantes Beispiel: 
Der Schlosser X. verliert durch das Hineinfliegen eines Eisen¬ 
splitters ein Auge. Danach behält er durch das Wohlwollen 
seines Arbeitgebers seine frühere Stellung und seinen früheren 
Lohn. Nach der Auffassung mancher Leute soll nun dieser Mann 
gar keine Entschädigung erhalten. Es wird einem entgegen¬ 
gehalten, „der Mann bekäme ja mit einer Entschädigung mehr 
als er vorher gehabt hätte,“ und dieser Einwurf kann auf einen 
Unkundigen geradezu verblüffend wirken. Wie steht es dann 
aber um diesen Verletzten, wenn das Wohlwollen seines Arbeit¬ 
gebers auf hört, oder wenn die Fabrik fallirt, oder wenn in Folge 
irgend welcher sonstiger Verhältnisse sich der Verletzte nach 



Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf d. jetzige Unfallgesetzgebung. 7 


anderer Arbeitsgelegenheit umselien muss? Wer wird dann den 
Einäugigen mit vollem Arbeitslohn annehmen? 

In weiser Berücksichtigung dieser Fälle und in sacligemässer 
Auslegung des Gesetzes sagt daher die angeführte Erklärung 
des R.-V.-Amtes, dass der Verdienst, den der Beschädigte nach 
der Verletzung noch hat, nicht lediglich in Rücksicht zu 
nehmen, sondern vielmehr der wirthschaftliche Schaden, 
welcher besteht in der Beschränkung der sich ihm nunmehr 
nach seiner Verletzung auf dem ganzen wirtschaftlichen 
Gebiete darbietenden Arbeitsgelegenheiten. Und — das ist 
der Sinn des Gesetzes — dieser wirthschaftliche Schaden 
soll 'dem durch einen Betriebsunfall Beschädigten nicht durch ein 
jeweiliges unsicheres Wohlwollen seines Arbeitgebers ersetzt 
werden, sondern durch geschriebenes, öffentliches Recht, 
wie es im U.-V.-Gesetz enthalten ist. 

Um sich diesen Begriff des wirthschaftliehen Schadens 
klar zu machen, dazu gehört allerdings ein gewisses abstraktes 
Denken, was nicht Jedermanns Sache ist. Und deshalb rühmt 
der Geschäftsbericht des R.-V.-Amtes als einen glücklichen Ge¬ 
danken die Vereinigung von Männern, welche den verschiedensten 
Lebenskreisen angehören, insbesondere die Vereinigung von ab¬ 
strakten und konkreten Denkern zu einem Spruchkollegium, wie 
es bei den Schiedsgerichten und den Spruchsenaten des R.-V.-Amtes 
der Fall ist. 

Verhältnissmässig leicht zu beurtheilen sind jene Fälle, in 
welchen durch die Verletzung gänzliche Erwerbsunfähigkeit 
verursacht wird. Es müssen als völlig erwerbsunfähig diejenigen 
Verletzten erachtet werden, welche an solchen bedeutenden, 
inneren oder äusseren Uebeln leiden, die jede, auch nur mit ge¬ 
ringer Anstrengung verknüpfte Arbeit unzulässig machen. Aber 
Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit darf nicht mit 
einander verwechselt werden! So darf z. B. ein Kutscher, dem 
ein Bein araputirt worden, und der nunmehr natürlich keine 
Arbeit als Kutscher findet, nicht als völlig erwerbsunfähig an¬ 
gesehen werden; er kann ja immerhin noch durch seiner Hände 
Arbeit sich einen gewissen Verdienst, einen Erwerb sich ver¬ 
schaffen. Völlig erwerbsunfähig ist nach einer Erklärung 
des R.-V.-Amtes nur derjenige, welcher unter Berücksichtigung 
der besonderen Umstände des Falles, der genossenen Vorbildung, 
und seiner körperlichen und geistigen Kräfte für ausser Stande 
erachtet werden muss, sich durch Arbeit noch einen Verdienst zu 
verschaffen. 

Bei völliger Erwerbsunfähigkeit erhält der verletzte 
Arbeiter eine Entschädigung von 66 2 /,°/ 0 seines bisherigen Arbeits¬ 
verdienstes. Es ist hier nicht der Ort die sozialen Motive des 
Gesetzgebers für diese Abmessung einer Besprechung zu unter¬ 
ziehen. Es ist aber Pflicht der Humanität daraufhinzuweisen, 
dass ein Verletzter auch einen noch erheblich grösseren 
materiellen Schaden erleiden kann als den gänzlichen Verlust 



8 


6. Hauptversam m lun g des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


seiner Arbeitsfähigkeit. Das Militär-Invaliden-Gesetz berück¬ 
sichtigt denselben sehr wohl und statuirt auch noch einen Zu¬ 
stand der Hülflosigkeit, welcher den völlig arbeitsunfähigen 
Verletzten fremder Wartung und Pflege bedürftig macht. Ein 
solcher Zustand ist bei Verlust beider Augen, beider Arme, beider 
Beine, gemeingefährlicher Geisteskrankheit u. s. w. vorhanden. 
Es ist vom Standpunkte der Humanität daher wünschenswerth, 
dass diese Zustände bei einer eventuellen Aenderung des U.-V.- 
Gesetzes ihre Berücksichtigung finden mögen. 

Die schweren Verletzungen mit folgender gänzlicher Erwerbs¬ 
unfähigkeit bilden aber nur den kleineren Theil aller Unfälle. 
Sehr viel zahlreicher sind jene Verletzungen, welche nur eine 
theilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben, und gerade 
diese Verletzungen geben am meisten zu Differenzen zwischen 
Versicherten und Berufsgenossenschaften Veranlassung, und er¬ 
fordern deshalb eine besonders sorgfältige Abwägung aller Um¬ 
stände, welche die Erwerbsfähigkeit beeinflussen. Hier ist nun 
die Fragestellung seitens der Berufsgenossenschaften eine viel 
präcisere, als sie seitens der Gerichte geschieht. Da, wie schon 
bemerkt, der verletzte Arbeiter im Falle theilweiser Erwerbs¬ 
unfähigkeit die Entschädigung nach dem Maasse der ihm ver¬ 
bliebenen Erwerbsfähigkeit erhält, so wird dem begut¬ 
achtenden Arzte die Frage vorgelegt: „ob, bezw. in welchem 
Grade durch die Folgen des Unfalls die Erwerbsfähigkeit des 
Verletzten verringert worden ist, ausgedrückt in Procenten 
der früheren Arbeitsfähigkeit.“ 

Man hat nun in den einzelnen Berufsgenossenschaften ähnlich 
wie bei den privaten Versicherungs-Gesellschaften versucht sog. 
Entschädigungs-Tarife aufzustellen, wonach der Grad der 
Einbusse an Arbeitsfähigkeit und die dafür zu zahlende Ent¬ 
schädigung zu bemessen ist. So vergütet die Kölnische Ver¬ 
sicherungs-Gesellschaft: 

für den Verlust eines Auges Procent. 

„ „ „ des rechten Armes 60 „ 

„ „ „ des linken Armes 40 „ 

„ „ „ eines Beines oder Fusses 50 „ 

„ „ „ des rechten Daumens bis zu 22 „ 

„ * „des linken Daumens bis zu 14 „ 

Auf einer in Berlin abgehaltenen Konferenz von Eisenbalin- 
Aerzten wurde folgendes Schema zur Beurtheilung der Erwerbs¬ 
unfähigkeit verletzter Arbeiter aufgestellt: 

Völlige Erwerbsunfähigkeit bei Verlust beider 
Augen, beider Arme oder Hände, beider Beine oder Füsse, 
je eines Armes und eines Fusses, 


60°/ ft Einbusse bei Verlust der rechten Hand, 

50»/ o 

Vf 

„ eines Fusses, 

40»/,, 


„ der linken Hand, 

33 >/„•/„ „ 


,. des rechten Daumens, 

22°/ 0 

V 

,, eines Auges, 



Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf d. jetzige Unfallgesetzgebung. 9 


14 °/ 0 Einbußse bei Verlust des Daumens oder Zeigefingers 

der linken Hand, 

6 °/ 0 Einbnsse bei Verlust eines Fingers der rechten 

Hand und 

4 °/ 0 Einbusse bei Verlust eines Fingers der linken Hand. 

Die meisten Berufsgenossenschaften haben diese oder ähnliche 
Tarife auf Tafeln in ihren Bureaus hängen. 

M. H.! Es fragt sich nun, ob derartige Tarife ausreichend 
sind für die Abschätzung der Einbusse an Erwerbsfähigkeit nach 
einem Unfälle. Meiner Ansicht nach keineswegs! Denn 
zunächst ist es doch von wesentlicher Bedeutung, wie z. B. der 
Stumpf eines verloren gegangenen Gliedes beschaffen ist, ob er 
gut verheilt, fest und unempfindlich ist, oder ob durch chronische 
Eiterung oder schlimme Nervenzustände, die vom Stumpf aus¬ 
gehen, die Umgebung desselben in Mitleidenschaft gezogen ist, 
oder gar das ganze Allgemeinbefinden des Verletzten leidet. 
Diese Zustände bilden bekanntlich ein ziemlich häufiges Vor¬ 
kommnis nach Absetzung der Glieder oder einzelner Theile der¬ 
selben, und sie vermehren selbstverständlich die durch den Ver¬ 
lust des Theils an und für sich schon bedingte Einbusse an 
Arbeite- und Erwerbsfälligkeit. Ausserdem aber sind alle jene 
Verletzungen, welche in ihren Folgen nicht gerade den Verlust 
einzelner Körpertheile, wohl aber Funktionsstörungen ver¬ 
schiedenen Grades, Steifigkeiten und Unbeweglichkeit der Ge¬ 
lenke in ihren mannigfaltigen Variationen, in jenen Tarifen gar 
nicht erwähnt. Und endlich giebt es noch eine ganze Reihe von 
Verletzungen und Funktionsstörungen innerer Organe, des 
Gehirns und des Rückenmarks, sowie der Brust- und Bauch¬ 
organe, welche ebenfalls in jenen Tarifen überhaupt gar nicht 
genannt sind. Deshalb können solche Tarife, wie sie oben an¬ 
geführt sind, vielleicht als ungefähre allgemeine Anhaltspunkte 
dienen für einzelne, öfters wiederkehrende Fälle von Verletzungen 
und deren Folgen; ausreichend zur Beurtheilung für alle 
Fälle werden sie selbst nach mehrfacher Ergänzung nicht sein 
können und zwar aus dem Grunde, weil nie ein Fall dem anderen 
gleicht, weil jeder Fall besondere Verhältnisse, besondere Eigen¬ 
tümlichkeiten schafft. 

Herr Dr. Busch (Crefeld), der sich durch seine Referate auf 
dem Deutschen Aerztetage grosse Verdienste um die Klärung des 
Verhältnisses der Aerzte zu der Unfall-Versicherung erworben 
hat, stellt in seinem Formular folgenden Satz auf: „Der Grad 
der theilweisen Erwerbsunfähigkeit ist danach zu bemessen, wie 
viel Stunden des Tages über der Verletzte seine Thätigkeit (Be¬ 
aufsichtigung, mündliche und schriftliche Dispositionen u. s. w.) 
wieder versehen kann.“ Auch diese Bemessung der theilweisen 
Erwerbsunfähigkeit nach der Zeit ist meiner Ansicht nach 
nicht zutreffend, denn es ist doch ein grosser Unterschied, ob 
Jemand die gleiche Zeit mühsam und unvollkommen oder leicht 
und glatt arbeiten kann; es kommt eben nicht nur auf die 



10 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


Quantität, sondern vielleicht mehr noch auf die Qualität der 
Arbeit an. 

Man soll daher bei der Beurtheilung der Erwerbsunfähigkeit 
nach einem Unfall alle Schablonen und Schemata über Bord 
werfen, und dem konkreten Falle sein Recht einräumen. 

Erwägungen dieser Art haben wohl auch dazu geführt, dass 
auf der vorjährigen Versammlung des ersten Deutschen Berufs¬ 
genossenschaftstages die Aufstellung einer allgemeinen Invalidi¬ 
tätsskala für undurchführbar erklärt wurde. Und auch das 
Reichs-Versicherungs-Amt selbst hat in seinen Rekurs-Ent¬ 
scheidungen Folgerungen allgemeiner Bedeutung aus einer Mehr¬ 
heit von anscheinend ähnlichen Fällen ftir bedenklich erklärt; 
ja, diese Behörde, die oberste Rekurs-Instanz in Unfall-Ver¬ 
sicherungs-Angelegenheiten, will selbst ihren eigenen Ent¬ 
scheidungen keine prinzipielle Bedeutung beigelegt wissen, sondern 
behält sich ausdrücklich volle Freiheit der Prüfung von Fall zu 
Fall unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes 
einzelnen Falles für die Bemessung der zu gewährenden Ent¬ 
schädigung vor. 

M. H.! Ich habe nun in meinem Buche über „die Bestimmung 
der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nach Verletzungen*) es 
unternommen, die hauptsächlichsten für die Arbeitsfähigkeit in 
Frage kommenden Krankheitszustände nach Körpertheilen gruppen¬ 
weise geordnet aufzuführen und zu besprechen, und dabei immer 
diejenigen eigenartigen Gesichtspunkte hervorgehoben, welche für 
die Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit besonders in Betracht 
kommen, und berücksichtigt werden müssen. Selbstverständlich 
kann eine solche Abhandlung nichts Erschöpfendes bieten. Die 
vorkommenden Beschädigungen sind eben zu mannigfaltig, und 
selten stimmt ein Fall mit dem andern völlig überein; wohl aber 
wird man die Analogie ähnlicher Fälle zur Beurtheilung eines 
vorliegenden Einzelfalles verwerthen können. Das R.-V.-Amt 
hat in einem Rundschreiben die von mir verfasste Anleitung 
empfohlen, und zu meiner grossen Freude hat das Buch unter 
den Kollegen so viel Beachtung gefunden, dass dieselben in ihren 
Gutachten in zahlreichen Fällen auf die von mir aufgestellten 
Schätzungen sich bezogen haben, wie mir im R.-V.-Amt mitge- 
theilt wurde. 

Ausser dem Grade, dem Maasse der Arbeits- und Erwerbs¬ 
fähigkeit unterliegt nun auch der ärztlichen Begutachtung die 
unter Umständen sehr wichtige Frage des Zusammenhanges 
der resultirenden Erwerbsunfähigkeit mit der bei dem 
Unfall erlittenen Verletzung. 

Nicht immer ist dieser Zusammenhang ganz einfach und ohne 
Weiteres ersichtlich. Es kommen Fälle vor, in denen nach an¬ 
scheinend kleinen Verletzungen unverhältnissmässig grosse Be- 

*) Anleitung z. Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit mich 
Verletzungen, von Dr. L. Becker, Kgl. Bez.-Physikus und Stabsarzt a. D. 
Berlin, 1888 (Enslin, R. Schütz). 



Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf d. jetzige Unfallgesetzgebung. 11 

einträchtigungen der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit resultiren. 
Anfangs unscheinbare Verwundungen der Gliedmassen können zu 
umfangreichen Zerstörungen der umgebenden Theile fuhren, oder 
gar zu Amputationen der Glieder Veranlassung gehen. Ein 
kleines Eisensplitterchen, ins Auge geschleudert, verursacht 
anfangs nur leichten Schmerz und veranlasst den Arbeiter viel¬ 
leicht gar nicht einmal seine Thätigkeit einzustellen, bis es nach 
Tagen zu schwerer Entzündung des Augapfels und Verlust des 
Sehvermögens führt. Gewalteinwirkungen durch Stoss oder Er¬ 
schütterung, welche anfangs keine sichtbaren Beschädigungen 
verursachten, können schwere Affektionen innerer Organe hervor¬ 
bringen, welche in ihrem Verlaufe zu dauerndem Siechthum 
führen. Ich erinnere Sie nur an die nach Kopfverletzungen erst 
spät auftretenden geistigen Störungen und besonders an die Un- 
scheinbarkeit der ersten Krankheitserscheinungen bei jenen 
schweren Kückenmarksleiden, w r ie sie nach Erschütterungen des 
ganzen Körpers ohne sichtbare äusserliche Verletzungen entstehen. 
Aus dieser Unscheinbarkeit der ersten Anfänge des Leidens nach 
der Verletzung wird dann von Laien oft das Argument dafür 
genommen, dass der ganze Zusammenhang mit dem Unfall simulirt 
sei. Erst der Arzt kann an der Hand seiner Kenntnisse und 
Erfahrungen den Zusammenhang klar stellen. 

Nachdem ich im Bisherigen die bei der Beurtheilung der 
Arbeitsunfähigkeit nach einem Unfall in Betracht kommenden 
Verhältnisse im Allgemeinen besprochen, kann ich jetzt auf die 
Frage der Kompetenz der Beurtheilung eingehen. M. H.! 
In dieser hochgeehrten Versammlung dürfte wohl Niemand daran 
zweifeln, dass der sachverständige Arzt der kompetenteste Be- 
urtheiler sowohl des Grades der Erwerbsunfähigkeit eines Ver¬ 
letzten als des Zusammenhanges mit der Verletzung sei. Anders 
wird diese Frage beantwortet im praktischen Leben, wo der 
Kampf der gegenseitigen materiellen Interessen waltet. Nirgends 
mehr als in ärztlichen Dingen glaubt ja der Laie heutzutage seit 
der sog. Popularisirung der medicinischen Wissenschaft des sach¬ 
verständigen ärztlichen Urtheils entbehren zu können. Und so 
ist es denn auch bei der berufsgenosseuschaftlichen Unfall-Ver¬ 
sicherung nichts Ungewöhnliches, dass ein Vorstandsmitglied einer 
Berufsgenossenschaft die Arbeitsfähigkeit eines Verletzten viel 
besser beurtheilen zu können glaubt als der ärztliche Sachver¬ 
ständige. Ja, auch unter , den Mitgliedern der Schiedsgerichte 
und selbst des Reichs-Versicherungs-Amtes giebt es wohl Persön¬ 
lichkeiten, welche durch eine im Bewusstsein ihrer amtlichen 
oder gesellschaftlichen Autorität mit volltönender Stimme ausge¬ 
sprochene, aber thatsächlich vielleicht völlig unmotivirte Be¬ 
hauptung den Ausschlag für die Entscheidung eines streitigen 
Falles geben möchten. 

Es ist sehr interessant, die Ansichten der Vertreter der 
Berufsgenossenschaften, wie sie auf dem diesjährigen Verbands¬ 
tage zu Köln hervorgetreten sind, näher kennen zu lernen. Die 
Ansichten dieser Herren über den Werth der ärztlichen Gut- 



12 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicmalbeamtenvereins. 


achten waren sehr auseinandergehend. Die Einen hielten es für 
ein Bedtirfhiss und für eine Nothwendigkeit, dass schon durch 
den Arzt — mit richtiger, sachverständiger Beurtheilung der 
Unfall-Versicherungs-Gesetzgebung — annähernd procentualiter 
der Grad der Erwerbsunfähigkeit bestimmt würde. Ein Vertreter 
erklärte dabei, er möchte nicht ohne eine Darlegung seitens des 
Arztes eine Renten-Festsetzung vornehmen, und hob sehr richtig 
hervor, dass es eine ganze Reihe von Festsetzungen gäbe, die der 
Arzt nur allein besorgen könne, z. B. wenn es sich um eine 
innere Verletzung handele. Gegenüber diesen sehr zutreffenden 
Ansichten machte sich aber eine gegentheilige Strömung bemerk¬ 
bar. Die Anhänger derselben meinten, dass der Arzt sich darauf 
beschränken müsse zu begutachten, wie weit ein Verletzter zu 
gewissen Verrichtungen noch fähig sei, und wie weit nicht mehr; 
das Uebrige könnten sie selbst besser beurtheilen als der Arzt. 
Deshalb sollte auch die zahlenmässige Schätzung der Einbusse 
an Erwerbsfähigkeit in den ärztlichen Attesten ganz fortfallen: 
„das schaffe nur ein Präjudiz für die anderen Begutachter“! Ja, 
einer dieser Herren ging sogar so weit, sich darüber zu beklagen, 
„dass die Juristen im R.-V.-Amt. immer sehr geneigt wären, auf 
die Angaben des sachverständigen Arztes besonderes Gewicht 
zu legen.“ 

Nun, m. H., aus den Ansichten der letzteren Herren spricht 
einmal das Gefühl des Unbehagens, andererseits aber auch das 
klagende Zugeständnis des moralischen Gewichts der ärztlichen 
Gutachten. Diese Herren möchten den unbequemen Sachver¬ 
ständigen gern bei Seit« schieben. Man wird uns aber aus dieser 
Begutachtung der Erwerbsfähigkeit nicht herausdrängen können, 
denn wir Aerzte sind dabei unentbehrlich! 

Es muss zunächst bestritten werden, dass die Vorstände der 
Berufsgenossenschaften das Maass der Erwerbsfähigkeit besser zu 
beurtheilen verstehen als der ärztliche Sachverständige; denn die 
Kenntniss der in den einzelnen Handwerken und industriellen 
Betrieben erforderlichen Verrichtungen, Handreichungen und 
sonstigen manuellen und anderen Fertigkeiten, — worüber sich ja 
auch Jeder im Einzelfalle leicht orientiren kann, — ist allein nicht 
ausreichend für die Beurtheilung der Erwerbsunfähigkeit. Den 
Vertrauensmännern der Berufsgenossenschaften ist ferner nur 
das bezügliche, beschränkte Gebiet ihres eigenen Industriezweiges 
geläufig. Das ganze wirtschaftliche Gebiet, worauf es hier an¬ 
kommt, beherrschen sie nicht! Aber abgesehen davon, so wird 
sich die Entscheidung, ob nach einer bestimmten Verletzung die 
Fähigkeit zur Ausübung gewisser Handwerke oder Betriebe noch 
vorhanden oder verloren gegangen ist, doch immer wesentlich 
auf die anatomische und funktionelle Beschaffenheit der verletzten 
Körperteile gründen, wie sie als Folge der Verletzung zurück¬ 
geblieben. 

Diese Feststellung der anatomischen und funktionei¬ 
len Beschaffenheit der verletzten Theile kann aber doch 
nur allein durch den Arzt geschehen; nur er kann die Summe 



Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf d. jetzige Unfallgesetzgebung. 13 

der geistigen und körperlichen Fähigkeiten, wie sie vor dem 
Unfall bestanden, und wie sie nun durch dessen Folgen ver¬ 
mindert sind, gegen einander abwägen, und dadurch auch den 
wirthschaftlichen Schaden abschätzen, der dem Verletzten zuge¬ 
fügt ist. Die wirtschaftliche Kraft und Leistungsfähigkeit des 
Arbeiters deckt sich gewissermassen mit seiner körperlichen und 
geistigen Kraft und Leistungsfähigkeit. Dies Verhältniss liegt 
in der Logik der Thatsachen. Daran ist nichts zu ändern. 

Nun, m. H., ich habe die Hoffnung, dass das Gefühl nicht 
nur der Unentbehrlichkeit, sondern auch der Nützlichkeit 
der ärztlichen Atteste bei denjenigen Vorständen der Berufs¬ 
genossenschaften durchdringen wird, die uns heute noch ab¬ 
wehrend gegenüberstehen. Wenn erst die Kenntniss der Unfall¬ 
versicherungs-Gesetzgebung in weitere Kreise gedrungen sein 
wird, und wenn auch die Aerzte sich allgemeiner mit den bezüg¬ 
lichen Begriffen und Bestimmungen vertraut gemacht haben 
werden, und wenn dann die Berufsgenossenschaften und Behörden 
sachverständige Gutachten erhalten, durch welche in jedem ein¬ 
zelnen Falle in klarer, bündiger Kürze alle diejenigen Einzeln- 
heiten hervorgehoben und zu praktischen Schlüssen verwerthet 
werden, welche das Maass der Erwerbsfähigkeit beeinflussen, dann 
werden auch jene Herren unsere Betheiligung an diesem grossen 
Werke der sozialen Gesetzgebung nicht als ein nothwendiges 
Uebel, sondern als eine gerngesehene, hülfreiche Unterstützung 
ansehen lernen. 

Freilich muss man da den guten Willen seitens aller Be¬ 
theiligten voraussetzen, und leider sind auch FäHe vorgekommen, 
dass Aerzte sich geweigert haben, die Erwerbsunfähigkeit eines 
Verletzten zu begutachten, weil das, wie sie meinten, nicht ihre 
Sache wäre. Ja, m. H., das ist wieder jene Scheu vor bestimmter 
Ausdrucksweise, jene Aengstlichkeit des Gelehrten, der sich eher 
dazu aufschwingt, eine nutzlose, wenn auch höchst geistreiche 
Theorie aufzustellen, als seine Kenntnisse und Erfahrungen zu 
einer consequenten Schlussfolgerung für das praktische Leben 
unmittelbar zu verwerthen. Wenn sich der ärztliche Stand in 
solcher Weise den Anforderungen des praktischen Lebens ent¬ 
ziehen wollte, dann könnte es ihm leicht passiren, dass er seitens 
des Publikums auf das Piedestal des Inner-Afrikanischen Medicin- 
Mannes gestellt würde, von dem man nur noch Zaubersprüche 
zur Bannung des Teufels verlangt. Dazu ist ja auch im grossen 
Publikum unseres Erdtheils unzweifelhaft eine gewisse natur¬ 
historische Anlage vorhanden. 

Allerdings ist ärztliche Begutachtung der Invalidität 
der Arbeiter eine recht schwierige und verantwortliche Thätigkeit. 
Aber wir wollen uns doch nicht durch diese Scheu vor Verant¬ 
wortung auch aus diesem Felde unserer Thätigkeit herausdrängen 
lassen, wie man es mit uns schon bei der Fabrikgesetzgebung 
gemacht hat. M. H.! Mir ist neulich gelegentlich ein Fall be¬ 
kannt geworden, wo ein Fabrikinspektor schlankweg begutachtete, 



14 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinal beamten Vereins. 

dass (es handelte sich um eine Messing-Giesserei) die Einathmung 
von Zinkdämpfen der Gesundheit nicht so schädlich sei, als ein 
etwaiger, erkältender Zugwind, wie er durch Ventilations-Vor¬ 
richtungen hervorgebracht würde, welche diese Dämpfe nach 
aussen beförderten! Ich führe diesen Fall nur an, um zu beweisen, 
wie andere Leute sich die Begutachtung von Dingen anmaassen, 
welche doch so recht eigentlich und allein vor unser Forum ge¬ 
hören. Und wir sollten uns aus reiner Bescheidenheit vor Be¬ 
gutachtungen zurückziehen, die nur durch unsere Mitwirkung 
ausgeführt werden können? 

So viel über das Verhältniss der Aerzte zu den berufsge¬ 
nossenschaftlichen Organen. Wie sind nun aber unsere Be¬ 
ziehungen zu dem Reichs-Versicherungs-Amt, der obersten ent¬ 
scheidenden und leitenden Behörde für die ganze Unfall-Ver¬ 
sicherungs-Gesetzgebung der Arbeiter? 

Eine Kommission des Deutschen Aerzte-Tages ersuchte im 
Jahre 1886 das R.-V.-Amt ihr Rathschläge zu ertheilen, welcher 
Weg zu beschreiten sei, um die Stellung der Aerzte zu den 
Berufsgenossenschaften einheitlich zu regeln. Darauf hat das 
R.-V.-Amt erwiedert, dass es die Feststellung der ärztlichen Be¬ 
scheinigung der freien Vereinbarung der Aerzte mit den betheilig¬ 
ten Berufsgenossenschaften überlassen müsse, und dass es der 
Kommission des Aerzte-Tages anheimgebe, sich dieserhalb mit 
den Genossenschafts-Vorständen in unmittelbare Verbindung zu 
setzen. Es sei auch den Berufsgenossenschaften überlassen, ob 
sie beamtete oder nichtbeamtete Aerzte zu den Gutachten 
requiriren wollten. Eine ärztliche Appell-Instanz sei im Gesetze 
nicht vorgesehen. Das R.-V.-Amt lehnte die Einladung, sich an 
einer gemeinsamen Berathung mit den Berufsgenossenschaften 
über diesen Gegenstand zu betheiligen, dankend ab, weil, wie 
der Ausdruck lautete „es grundsätzlich vermeiden wollte, in die 
freie Selbstverwaltung der BerufsgenosseDschaften einzugreifen“. 
Diese Antwort ist sehr bemerkenswertli, denn sie kennzeichnet 
deutlich den Standpunkt des R.-V-Amtes gegenüber der ärztlichen 
Mitwirkung bei der Unfall-Versicherungs-Gesetzgebung: Während 
für die ärztliche Begutachtung vor den ordentlichen Gerichten 
doch immer noch die offizielle medicinische Wissenschaft mit 
ihrem Instanzenzuge, Medicinal-Collegium, wissenschaftliche 
Deputation, zur Geltung kommt, so befinden wir uns also hier 
bei diesen Begutachtungen der Erwerbsunfähigkeit für die Unfall¬ 
versicherungs-Gesetzgebung eigentlich mehr, ich möchte sagen, 
auf dem Boden absoluter medicinischer Gewerbefreiheit 
Das R.-V.-Amt überlässt die Beibringung ärztlicher Gutachten 
durchaus den Berufsgenossenschaften und Schiedsgerichten. Keine 
behördliche Bestimmung macht die Heranziehung des 
berufenen Sachverständigen obligatorisch. Es ist das 
derselbe Standpunkt, der auch in dem U.-V.-Gesetz selbst zu 
Tage tritt, wie es von der Reichs-Regierung vorgelegt wurde; 
denn da wird in den Bestimmungen über die Feststellung des 
Unfalls gar nicht erwähnt, dass ein Arzt die Art der vorge- 



Erwerbsunfähigkeit mit Rücksicht auf d. jetzige Unfallgesetzgebung. 15 


kommenen Verletzungen feststellen soll, sondern nur beiläufig 
bemerkt: „Ausserdem sind, soweit thunlich, die sonstigen Be¬ 
theiligten und auf Antrag und Kosten der Genossenschaft Sach¬ 
verständige zuzuziehen“. Der Reichstags-Abgeordnete Dr. Buhl 
und Genossen hatte folgende Fassung vorgeschlagen: „Ausserdem 
sind bei der Untersuchung des Unfalls u. s. w. technische und 
ärztliche Sachverständige zuzuziehen“, die jedoch nicht ange¬ 
nommen wurde! 

Artikel 16 des der französischen Kammer vorgelegten Ge¬ 
setzentwurfes von Leon Peulevey sagt dagegen über denselben 
Gegenstand: „Ohne Rücksicht auf die Ursachen des Unfalls u. s. w. 
stellt der untersuchende Beamte nach dem Gutachten des den 
Beschädigten behandelnden Arztes eine vollstreckbare Unter¬ 
stützungs-Anweisung aus.“ 

Nun, m. H., aus der Differenz dieser Bestimmungen in den 
betreffenden Gesetzentwürfen ist eine gewisse Verschiedenheit der 
Ansichten über die Kompetenz der massgebenden Unterlagen für 
die Beurtheilung des Einzelfalles ersichtlich. Unser Unfall-Ver¬ 
sicherungsgesetz legt befremdlicherweise viel weniger als der 
französische Gesetz-Entwurf Werth auf die ärztliche Begutach¬ 
tung des einzelnen Falles, w’elche doch hier gerade unentbehr¬ 
lich ist. 

Es drängt sich uns bei dieser Gelegenheit unwillkürlich der 
Vergleich mit den ähnlichen Verhältnissen der Militär-Inva¬ 
liden auf: Da heisst es im Invaliden-Gesetz v. 27. Juni 1871, § 62: 
„Die Invalidität und der Grad derselben werden sowohl für sich 
als in ihrem ursächlichen Zusammenhang mit der erlittenen Dienst¬ 
beschädigung auf Grund militärärztlicher Bescheinigung 
durch die dazu verordneten Militärbehörden festgestellt“ Und 
die Instruktion v. 26. Juni 1877 bestimmt im § 8: „Das Vorhanden¬ 
sein der Dienstunbrauchbarkeit u. s. w. sowie ihre Entstehung 
und ihr Zusammenhang mit der attestirten Dienstbeschädigung 
wird durch militärärztliches Gutachten festgestellt“ 

M. H.! So spielen sich diese Vorgänge in dem meisterhaft 
gefügten und bewährten Räderwerk unserer militärischen Organi¬ 
sation ab! Ich meine, dieselben Prinzipien sollten auch für die 
Mitwirkung der Aerzte bei der Unfallversicherung der Arbeiter 
Geltung finden. Man wird mir hier entgegenhalten, dass die 
Militärverwaltung ihre besonders eingeschulten Militärärzte für 
die Begutachtung ihrer Invaliden hat. Ja, stehen denn den 
Reichs- und Staatsbehörden nicht auch die Bezirksärzte, die Phy¬ 
siker und die andern Medizinalbeamten zu freier Verfügung? 
Weshalb macht man seitens unserer höchsten Reichs- und Staats¬ 
behörden die Mitwirkung der Medizinalbeamten bei der Ausfüh¬ 
rung der Unfallversicherung nicht obligatorisch? Wenn auch 
vielleicht die beschäftigten praktischen Aerzte wegen der Uebung 
und des Zeitaufwandes, welchen diese Gutachten erfordern, nicht 
allzu gern sich denselben unterziehen, wie das auf dem von mir 
eben erwähnten Verbandstage der Berufsgenossenschaften zur 



16 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

Sprache kam, die Medizinalbeamten sind doch auf solche geschult 
und eingearbeitet wie die Militärärzte auf Invalidensachen! 

Auch bei der neuen Gesetzesvorlage der Alters- und Inva¬ 
liden- Versicherung der Arbeiter ist wieder die Mitwirkung der 
Aerzte ignorirt; es wird da nur ganz kurz die Erwerbsunfähig- 
keit im Allgemeinen erwähnt Und doch wird gerade auch auf 
diesem Gebiete nothwendigerweise die theilweise Erwerbsunfähig- 
keit in ihren verschiedenen Abstufungen eine ganz besondere 
Rolle spielen. 

M. H.! Ich komme zum Schluss! Wir Aerzte und besonders 
wir Medizinalbeamte haben in der Bestimmung der Arbeite- und 
Erwerbsunfähigkeit nach Unfällen, deren Feststellung ohne uns 
unmöglich ist, ein mächtiges Werkzeug thätiger Mitarbeit an der 
grossen Aufgabe der sozialen Frage. Benutzen wir es unter Be¬ 
tonung unseres Rechtes als berufene Sachverständige im Sinne 
und im Geiste der Humanität, deren besondere Vertreter wir sind! 

Vorsitzender: Ich eröffne die Discussion. Da sich Niemand 
zum Worte meldet, schliesse ich dieselbe und spreche dem H. Re¬ 
ferenten im Namen der Versammlung den herzlichsten Dank aus. 


IV. Der Entwicklungsgang im Preussischen 
Medicinalwesen. 

I. Apothekenwesen, Apothekengesetzgebung. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich (Cöslin): Sehr geehrte 
Herren! Es geschieht weder nach meinem Wollen, noch als Er¬ 
gebnis eines wohl vorbereiteten Vorsatzes von meiner Seite, son¬ 
dern es ist der erst am 10. April d. J. mir zugegangene Wunsch 
Ihres Vorstandes, heute hier in ihrer Mitte das Thema der vater¬ 
ländischen Apothekengesetzgebung verhandelt zu wissen, — also 
keineswegs den entwickeltsten Gegenstand im preussischen Medi¬ 
cinalwesen, wohl aber den verwickelsten. Gerade während jener 
Tage, als Ihr Vorstand seine vorbereitende Sitzung hielt, brannte 
wieder einmal die sogenannte Apothekenfrage; auch das an mich 
gerichtete Schreiben spielt auf diesen Zustand der Frage an. 
Trotzdem glaubte ich anfänglich jenen an mich herangetretenen 
Wunsch richtiger so zu verstehen, dass ich für unsere Besprech¬ 
ung nicht dem Zündstoff hier nähertreten sollte, der sich von 
Zeit zu Zeit, und so auch gelegentlich der neuesten vor die ge¬ 
setzgebenden Körperschaften getragenen Petitionen, an gewissen 
Schutzwehren des deutschen Apothekerstandes anhäufte und der 
einer weit verbreiteten Anschauung zufolge Explosivkraft genug 
besitzt, um bei richtig fallendem Funken ungeheure Vermögens- 
werthe und die bedächtige Gesetzesarbeit von Jahrhunderten in 
die Luft zu sprengen. 

Von solchen Minen hält selbst die bescheidene Lichtquelle 
entwicklungsgeschichtlicher Forschung sich gern aus dem Grunde 



Apotheken wesen, Apothekengesetzgebung. 


17 


fern, weil ja auch aus der vorsichtigsten Beleuchtung so heikler 
Fragen immerhin ein nicht beabsichtigter Funke abspringen 
könnte. Bei näherer Untersuchung indess werden Sie vielleicht, 
ebenso wie Ihr Referent, den durch die Agitation künstlich pous- 
sirten Vergleich der Apothekenfrage mit einem offenen Pulver¬ 
fass fallen lassen und in ihr vielmehr einen übel verschlungenen 
Knäuel alter patriarchalischer Einrichtungen, unbeholfener Ge¬ 
werbeordnungsversuche, wohlwollender, kluger, medicinalpolizei- 
licher Casuistik, durchwirrt mit den krausen Linien phantastischer 
Angriftsprojecte gegen die Pflichten und Rechte des Staates, und 
eines bisweilen etwas cynischen Merkantilismus erblicken, welcher 
jeder Entwirrung zu spotten scheint. Wo immer Sie einen Faden 
frei zu machen suchen, er verliert sich zunächst in Verknotungen 
fremdester Interessen, mögen seine Anfänge sich noch so unzwei¬ 
deutig mit den unseligen, mit den Aufgaben der Medicinalpolizei, 
zu decken scheinen. 

Dagegen ist eine gewisse Möglichkeit des Ueberblickes ge¬ 
geben, wenn diejenigen Theilstücke der preussischen Apotheken¬ 
gesetzgebung sofort ausgeschieden und undiscutirt bei Seite ge¬ 
stellt werden, welche das Deutsche Reich bereitwillig gleichsam 
als Erbschaften übernommen und ohne andere als rein weiter 
entwickelnde Veränderungen seinem Gesetzesschatz einverleibt 
hat: Die Vorbildung der Apotheker bis zur vollendeten 
Qualification und das Arzeneibuch, die Pharmacopöe. Es ge¬ 
währt einen literarischen Genuss, das Heranwachsen dieser bei¬ 
den wesentlichen Grundpfeiler des Apothekenwesens in Quellen¬ 
werken zu verfolgen, wie Schritt für Schritt die Anforderungen 
an die wissenschaftliche Befähigung im preussischen Landrecht, 
im Reglement vom 1. Februar 1798, in den §§ 7—24 der revidir- 
ten Apothekenordnung vom 11. October 1801, und nicht weniger 
in den Bestimmungen von 1825 und 1864/65 in Einklang mit den 
Bedürfnissen des Wissens der Zeiten gesetzt werden, so dass nach 
einer kurzen Uebergangsfrist — bereits im September 1869 — 
das deutsche Reglement für die Prüfung der Apotheker vom 
Bundesrath festgestellt werden kann, an welches sich dann später 
die Prüfungsanforderungen vom 4. März und 13. November 1875 
zwangslos anschliessen. — Eine ähnliche Continuität der Ausbil¬ 
dung zeigt sich zwischen der frühesten preussischen Landesphar- 
makopöe von 1726, deren verschiedenen Umarbeitungen, so 1781, 
1799, 1815,1827 etc., mit der ersten deutschen Pharmacopöe des 
Jahres 1867, welche die Apothekervereine von Nord- und Süd¬ 
deutschland bearbeiteten und veranstalteten. Wenn sich die 
Frucht dieser Bestrebungen in Form der officiellen deutschen 
Pharmacopöe erst 1872 als für die Oeffentlichkeit gereift dar¬ 
stellte, so lag der Grund zu dieser Zögerung weniger in inneren 
Schwierigkeiten, die preussische und die deutschen Pharmacopöen 
im Sinne neuester eingeholter Gutachten zu überarbeiten, als viel¬ 
mehr in der Unterbrechung des Unternehmens durch die kriegeri¬ 
schen Ereignisse, welche den im Mai 1869 zusammengetretenen 
Redactionsausschuss auf lösten und erst im April 1871 einen neuen 



18 6. Hauptversammlung dos Preußischen Medicinalboamtonveroms. 


Auftrag an die kenntnissreichsten und erfahrensten Fachmänner 
Deutschlands gelangen Hessen. 

Auch hinsichtlich der gesetzlichen Bestimmungen für den 
Giftverkehr, für das Revisionswesen und für die Grundsätze der 
Arzeneitaxen führen sich die festesten Anknüpfimgen auf Direc- 
tiven zurück, welche in der preussischen Medicinalgesetzgebung 
vergleichsweise bereits ungemein früh zu einer solchen Sicherheit 
und Klarheit durchgebildet sind, dass sie bald nach der Einigung 
Deutschlands nicht verfehlten, einen rückläufigen Einfluss auf die 
Gift- und Arzeneimittelpolizei der anderen deutschen Staa¬ 
ten auszuüben, dass sie noch gegenwärtig beispielgebend und trei¬ 
bend auf die bezüglichen Verordnungen mancher deutschen Län¬ 
der einwirken. Mit dem Revisionswesen einerseits hängen 
aber aufs innigste die Anschauungen über die zweckmässigsten 
Einrichtungen der Apotheken zusammen, und auch in Bezug 
auf diese Anschauungen hat mancher früher specifisch preussisclie 
Ideengang noch nachträglich eine weitere Verbreitung und damit 
gewissermassen eine geschichtliche Bestätigung gefunden. Gehen 
wir noch einige Schritte weiter und vergleichen wir Zug um Zug 
selbst die verhältnissmässig neuerlichst concipirten und original¬ 
sten, jetzt deutschen Bestimmungen in der Zoll- und Steuergesetz¬ 
gebung, im Handelsrecht, die bezügUchen Theile des Mass- und 
Gewichtswesens, ja selbst des heutigen Strafrechts, mit den ehe¬ 
maligen preussischen Bestimmungen, so dürfte es ohne weiteres 
einleuchten, dass trotz aller augenblicklichen Verwickelung, trotz 
einer vielbeklagten Stagnation im preussischen Entwickelungsgange 
noch mancher gesunde Keim auch der noch schwebenden Fragen 
zu suchen sein wird. 

Der besondere Schutz in Gestalt eines für ein Apothekenge¬ 
schäft geographisch und nach der Wahrscheinlichkeit des Arzenei- 
consums abgegrenzten Absatzgebietes oder der entsprechenden 
Einkommensgarantie, wie ihn unter den osteuropäischen Staaten 
auch Preussen gewährt, beansprucht als Gegenleistung die Ge¬ 
wissheit, dass der Apothekenbetrieb in besonders zuverlässiger 
Weise vor sich gehe. Der Staat darf und muss verlangen, dass 
der Besitzer der Apotheke persönlich für die Interessen thätig 
sei, denen er den besonderen Schutz seines Geschäfts zu verdan¬ 
ken hat. Den Werth dieses Schutzes selbst zu gemessen, das 
Wirken für jene Interessen aber anderen zu überlassen, erscheint 
als ein widerspruchsvolles Verhältnis, welches mit der Zeit dem 
öffentlichen Wohle nachtheüig wird. Wo die Gesetzgebung ein 
solches Verhältnis bisher vielfach geduldet hat, da waren für 
sie Rücksichten gegen die Apothekenbesitzer massgebend. Es ist 
aber nicht zu verkennen, dass diese Rücksichten gegen den be¬ 
sitzenden Theil der Apotheker die ebenso berechtigten Interessen 
des nicht besitzenden Theiles verletzen. Wenn nach dem Tode 
des Apothekenbesitzers den Erben, insbesondere der Wittw r e und 
den Kindern, obwohl dieselben in der Lage sind, ihr Vermögen 
aus dem Apothekengeschäfte herauszuziehen, noch auf längere Zeit 
die Rente des vom Staate in besonderer Weise geschützen Ge- 



Apothekenwesen, Apothekengesetzgebung. 


19 


schäfts gewahrt bleibt, so ist dieses eine Begünstigung auf Kosten 
derjenigen, welche das Geschäft erwerben können und selbst be¬ 
treiben wollen. Wenn gar der Besitzer, dem Neigung oder Fähig¬ 
keit zur Fortsetzung des Geschäftsbetriebes fehlt, durch die Ad¬ 
ministration oder Verpachtung der Apotheke die Rente aus dem 
Betriebe gleichwohl noch fortbezieht, so wild die Wirkung des 
Apothekenschutzes dem allgemeinen Wohl überhaupt nicht mehr 
zu gute kommen. 

Aus diesen Gesichtspunkten ergiebt sich klar, dass sich das 
Aufsichtsreclit des Staates mit der blossen Revision und Controle 
des Apothekenbetriebes, auch mit einer mühsamen Erkäinpfung 
seiner ihm gebührenden Gegenleistung durch Haftbarkeit und Stra¬ 
fen keineswegs deckt. — Wenn er von jeher mit den Schwierig¬ 
keiten des Besitzüberganges zu kämpfen genöthigt war, so 
erwächst ihm eine neue mächtige Schwierigkeit aus dem Keim 
der kaufmännischen Interessen, welcher schon früh in die 
Apothekerkunst liineinwucherte, dessen jüngste gigantische Ent¬ 
wicklung indes den alten preussischen Anschauungen geradezu 
in’s Gesicht zu schlagen scheint. 

Die so schwierige Frage des Besitzrechtes knüpft sich 
bald nach der Entstehung der Apotheken bei uns, zu Ende des 
15. Jahrhunderts, an. Als wirksamen Schutz gewährte Preussen, 
wie andere deutsche Staaten, den Apothekern landesherrliche 
Privilegien, doch wurden selbst die Exclusivprivilegien (mit Hilfe 
der Clausula rebus sic stantibus) daliin ausgelegt, dass der Staat 
dadurch nicht gehindert wurde, bei Zunahme der Bevölkerung, 
Einrichtung einer Universität etc. die Anlage neuer Apotheken zu 
gestatten. Die älteren Gewerbsprivilegien der Apotheker waren 
entweder (wie die Gewerbsberechtigungen des alten Deutschen 
Reiches überhaupt) personal gewerbliche (diese hiessen gerade 
Privilegien), welche einer Person nur für ihre Lebensdauer ver¬ 
liehen wurden — und Real gewerbsberechtigungen, welche in der 
Art verliehen wurden, dass sie der Familie vererblich und ver- 
äusserlich zustanden, für die Familie also Gegenstände des Ver¬ 
kehrs, der Veräusserung und der Verpfändung waren. Practisch 
waren die Verschiedenheiten nicht von erheblichem Einfluss, denn 
wiewohl das Privilegium auch nur auf die Person lautete, so 
wurde doch dem neuen Erwerber der Apotheke die Uebertragung 
des Privilegiums niemals verweigert, wenn auch eine Gebühr für 
die Erneuerung entrichtet werden musste. 

Dies sind denn nun die „Privilegien“, von denen das Allge¬ 
meine Landrecht im VI. Abschnitt Titel 8 Theil II im § 462 
sagt: „Nach den Vorschriften der „Privilegien“ sind „dergleichen 
neue „Concessionen“ zu beurtheilen“, — als der Ausdruck „Apo- 
thekenconcession“ zuerst auf tauchte. 

In der preussischen Gewerbegesetzgebung vom 7. September 
1811 und vom 20. Januar 1818 ist auch anerkannt, dass es gar 
nicht Absicht des Gesetzgebers sei, Privatgerechtsame, welche mit 
und neben der Gewerbefreiheit bestehen konnten, zu zerstören, 
und dass durch diese nur alle Zwangs- und Bannrechte auf- 



20 6. Hauptve rsammlung des Preussisöben Medicinalbeamtenvereins. 


gehoben seien. Ueber diese Absicht der älteren Gewerbegesetz- 
gebung griff nun das Staatsexperiment des Jahres 1842 weit hin¬ 
aus, als die Königliche Cabinetsordre vom 8. März dieses Jahres 
bei Besitzveränderungen jedem neuconcessionirten Apotheker die 
Verpflichtung auferlegte, die zur Einrichtung und zum Betriebe 
der Officin seines Vorgängers gehörigen, noch in gutem Zustande 
befindlichen und für den Geschäftsbetrieb brauchbaren Geräth- 
schaften, Gefässe und Waarenvorräthe zu übernehmen, wenn 
nöthig, laut einer Taxirung, — und als gar die Eichhom’sche 
ministerielle Rundverfügung vom 13. August 1842 die Regierungen 
anwies, bei allen Besitzveränderungen — ausgenommen einige be¬ 
stimmte Erbfälle — um die zur Besitzübernahme präsentirte 
Persönlichkeit, auch wenn diese ein approbirter Apotheker war, 
sich principiell nicht zu kümmern, sondern stets die Neuverleihong 
der Concession öffentlich auszuschreiben. Es sollte dann die Be¬ 
leihung mit der vacant gewordenen Concession an einen solchen 
Pharmaceuten geschehen, „der sich dazu durch den Grad seiner 
in der Staatsqrüfung bewiesenen Ausbildung, durch die verlaufene 
längere Zeit seit seiner erhaltenen Approbation, durch bewährte 
Tüchtigkeit im pharmaceutischen Geschäft und die sonstige Art 
seines Verhaltens am vorzüglichsten eignete.“ 

Die nächste unüberwindliche Schwierigkeit für diese Absicht, 
die schon damals so genannte Personalconcession einzuführen, lag 
in der Mannigfaltigkeit der Besitzveränderungen. Man 
scheint nicht gegenwärtig gehabt zu haben, dass, abgesehen von 
der Neuerrichtung, der Verlegung, der Einziehung und Resorption, 
der Subhastation und einfachen Verfassung einer Apotheke, dem 
Tode des Besitzers ohne Erben — noch dreizehn Arten des Erb¬ 
ganges und fünf Modulationen des freihändigen Verkaufes mit und 
ohne Grundstück möglich waren, dass, wenn auch nicht die Ver¬ 
pachtung, so doch (bis 1850) die Vererbpachtung eine weitere 
Reihe von BesitzVeränderungen begründete, dass die 'Errichtung 
von Zweiggeschäften eine besondere Regelung erforderte und dass 
bei all’ diesen Veränderungen doch eine gewisse Continuität der 
Geschäftsführung der Apotheken aufrecht erhalten werden musste, 
sollten dieselben ihrem medicinalpolizeilichen Beruf noch ent¬ 
sprechen. So erscheint es glaubwürdig, was mehrfach behauptet 
worden ist, dass unter 45 Fällen, in denen während der vier kri¬ 
tischen Jahre von 1842 ab Apotheken Besitzübergänge durch¬ 
machten, 41 dem Ministerium selbst behufs Ausnahmeentschei¬ 
dung vorgelegt werden mussten. 

Dazu gesellte sich als zweite grosse Schwierigkeit die Ver¬ 
mischung der Betriebsconcession für die Apotheke als ge¬ 
werbliche Anlage und der persönlichen Gewerbeberech¬ 
tigung, des Gewerbescheines für den Menschen, den approbirten 
Apotheker. Mochte man den Gewerbeschein so persönlich wie 
möglich halten, als erneuertes, durch besondere Verdienste modi- 
flcirbares Fähigkeitsdocument, als vorzudatirendes Patent im Sinne 
der Militärpatente: je persönlicher er verliehen wurde, desto 
weniger war er im Stande, gleichzeitig als Betriebsconcession für 



Apotheken wesen, Apothekengesetzgebung. 


21 


die Sache, für die Anlage zu dienen. Jedenfalls durfte auch nicht 
bei den Apotheken plötzlich der Satz in’s Leben gerufen werden, 
als habe der Entstehungsgrund des Besitzes einen entscheidend 
beschränkenden Einfluss auf das Verfügungsrecht. Schon in dem 
Zwange, eine alte Einrichtung kaufen zu müssen, lag eine harte 
Belastung, eine fremdartige Bedingung der Personalconcessionirung, 
— dass aber in Bezug auf die Berechtigung des Eigentümers, 
die ihm concessionirte und von ihm erworbene Anlage als einen 
Theil und Gegenstand seines Vermögens ansehen zu dürfen, — 
dass in Bezug auf diesen Anspruch die Apotheken noch ein zwei¬ 
tes Mal mit allen anderen der gewerblichen Concession unterlie¬ 
genden Anlagen in Gegensatz gebracht wurden, liess sich von 
Rechtswegen und nach juristischen Grundsätzen nicht rechtfer¬ 
tigen. 

Drittens entbehrt die Rundverfügung vom 13. August 1842 
sowohl einer Ausführungsinstruction als der so notwendigen 
Uebergangsbestimmungen. Auf welche Weise die Regie¬ 
rungen ihre Candidaten, die Gegencandidaten der Besitzvor¬ 
gänger, rangiren sollten, — wie Scheinkäufe verhindert, Leicht¬ 
fertigkeiten seitens unvermögender Käufer vorgebeugt werden 
sollten, darüber findet sich für die Regierungen gar keine Anwei¬ 
sung. Ja, es besteht in einem wichtigen medicinalpolizeilichen 
Punkt — vielleicht war dies die für die Praxis grösste Schwierig¬ 
keit — eine Art Gegensatz zwischen der Tendenz der beiden Er¬ 
lasse. Unzweifelhaft begünstigt die königliche Cabinetsordre die 
Continuität der Geschäftsführung, des Offenhaltens der Apotheke 
als Medicinalanstalt durch die Vorschrift des Zwangskaufs: es 
war sofort wieder ein Weiterbetrieb möglich. Die Ministerialver- 
fügung schiebt dagegen umständliche verantwortliche Personal¬ 
ermittlungen zwischen den Abgang des Vorbesitzers und die 
Wiedereröffnung ein. 

Ein wahrer, ein eigentlicher medicinalpolizeilicher Zweck er¬ 
scheint also durch diesen Circularerlass anderen Rücksichten ge¬ 
opfert. Was aber noch weit schlimmer war: die Besitzfrage, 
welche die Cabinetsordre eben nur als eine Voraussetzung der 
continuirlichen Fortführung allgemein geordnet hatte, nimmt der 
Erlass nunmehr, wie er es ausdrücklich ausspricht, als vollkom¬ 
men durch die staatliche Oberaufsicht geregelt an, „nachdem 
hierdurch“, wie es heisst, „dem billigen Interesse der abgehenden 
Besitzer concessionirter Apotheken oder ihrer Erben in dem¬ 
jenigen Maasse vorgesehen ist, wie die Qualität der Apothekencon- 
cessionen als persönlicher Gewerbsberechtigungen dies gestattet.“ 
Die sich nun entwickelnden Thatsachen sprachen dem Vornehmen, 
das billige Interesse der Vorbesitzer zu schützen, ja zu begünsti¬ 
gen, einfach Hohn: Grosse Capitalkündigungen waren die erste 
Folge, eine Reihe von Apotheken erklärte sich zur Deckung ihrer 
Verpflichtungen ausser Stande, andere suchten die Unterstützung 
des Staates nach, und die altprivilegirten Apotheken stiegen ganz 
enorm im Preise. Heftige Angriffe auf die Ministerialverfügung, 
in welchen dieselbe als ein Fehler in der Medicinalverwaltung 



22 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereinn. 


bezeichnet wurde 1 ), wechselten mit Vorschlägen, nach deren An¬ 
leitung die concessionirten Apotheken frei verkäufliches Eigen¬ 
genthum werden sollten. 2 ) Die Privilegienfrage wurde neu erör¬ 
tert, 8 ) eine Reduction der Arzeneitaxe zwecks schrittweiser Her¬ 
absetzung der Apothekenpreise als gerechtester Ausweg vorge¬ 
schlagen und 1845 in einem besonderes Aufsehen erregenden 
Schriftchen 4 ) die Härte der Verfügung gegenüber den Apotheken 
im rheinischen und westfälischen Gebiet beleuchtet, für welches 
zwar, wie es auch als die Ansicht vieler Obergerichtshöfe erhellte, 
während der Fremdherrschaft die Privilegien wohl als Verbie- 
tungsrechte, aber nimmermehr, wie es ministeriellerseits ausge¬ 
sprochen wurde, als veräusserliche Besitzrechte aufgehoben waren 5 ). 

Nun wurden zahlreiche Bittschriften der geschädigten Con- 
cessionarien, aber auch eine gleichsinnige von 200 nicht ansässigen 
Apothekergehilfen beim Ministerium eingelegt, zahlreiche Mög¬ 
lichkeiten erwogen, aber vom Könige zum Theil direct abgelehnt, 
so die Erneuerung eines älteren Decrets, wonach dem abgehenden 
Apotheker ausser dem taxirten Werth seiner mobilen Einrichtung 
noch eine Zulage für die von ihm dem Geschäft erworbene Kund¬ 
schaft®) bewilligt werden sollte. Von allen Seiten ward schliess¬ 
lich übereinstimmend die Bitte ausgesprochen, das Apotheken¬ 
wesen durch ein Gesetz zu ordnen. Auf Grund der Beratliungen 
einer im Januar und Februar nach Berlin berufenen Commission 
entstand ein neuer Gesetzentwurf, welcher dem Könige durch den 
Minister Eichhorn vorgelegt wurde. Erstem* verwarf den Ent¬ 
wurf mit Hinweis auf die neue. Gewerbeordnung von 1845, wel¬ 
cher letzteren die unglücklicherweise in den Entwurf ausdrück¬ 
lich aufgenommene Bestimmung, dass die Vererblichkeit und Ver- 
äusserlichkeit der Concessionen gesetzlich ausgesprochen werden 
sollte, direct zuwiderlief: denn diese konnte ebensowenig oder 
noch weniger als die älteren Gewerbeordnungen plötzlich wieder 
substantiirte Real-Gewerbeberechtigungen einzuführen categorisch 
unternehmen. 

Die Nothstände, wie sie oben an gedeutet wurden, hat ten sich 
aber inzwischen zu der Höhe entwickelt, dass bereits am 5. Octo- 
ber 1846 eine (übrigens nie publicirte) Königl. Cabinetsordre den 
Minister Eichhorn ermächtigte, die bis 1842 geübte oder gedul¬ 
dete Praxis wieder ein treten zu lassen. Damit schliesst die Vor¬ 
geschichte der langen Ministerial-Rundverfügung vom 21. October 
1846, welche darlegt, dass „die an sich und im allgemeinen 
richtige Voraussetzung“ der Verordnungen von 1842 „im Leben 


*) Krause, Ein Sendschreiben etc. Landsberg 1844. 

2 ) Beinert, Die Lebensfrage der Apotheker. 1844. 

3 ) S. Ofswald, Die Privilegienfrage der Apotheker. Breslau 1844. 

4 ) Die Pharmacie am Niederrhein. 

6 ) Man hatte lediglich während der allg. Gewerbefreiheit jedem Approl». 
das Recht zum Gewerbebetrieb ertheilt und dadurch die Privil. zwar erschiU- 
tert, aber nicht aufgehoben. Reg. zu Merseburg (1. Mai 1833), O.-L.-Ger. Hnl- 
berstadt, Naumburg, Magdeburg, Paderborn. 

6 ) Ofr. Hartmann’sche Non real Werth, p. 46. 



Apothekenwesen, Apothokengesetzgobung. 


23 


wirklich sich nicht bestätiget“ und die Regierungen anweist: 
„Beim Ausscheiden eines nicht privilegirten Apotheker’s aus sei¬ 
nem Geschäft die Concession dem von dem abgehenden Apotheker 
oder dessen Erben präsentirten Geschäftsnachfolger, sofern der¬ 
selbe vorschriftsmässig qualificirt ist, jedoch immer nur für seine 
Person und unter ausdrücklichem Vorbehalt der Wiedereinziehung 
der Concession bei seinem dereinstigen Abgänge, zu ertheilen“ — 
eine Anweisung, nach deren Wortlaut wir noch jetzt verfahren. 

Es sollten nun den Provinziallandtagen Gesetzesvorlagen ge¬ 
macht werden. Der vereinigte Landtag trat zusammen, es folgte 
das Jahr 1848. Die Apothekenfrage blieb ungelöst; wie es fast 
40 Jahre Regel geworden war, im Käufer der Apotheke, sofern 
er qualificirt war, auch den geborenen Concessionarius zu sehen, 
dem die persönliche Gewerbeberechtigung rein pro forma ausge¬ 
schrieben wurde, so blieb es weitere 40 Jahre und jede neube¬ 
gründete sogenannte Personalconcession würde sofort sich via facti 
bereits durch die blosse Behändigung noch heute in eine Real- 
concession umwandeln, wenn nicht seit dem 21. Juli 1886 dieses 
entgegenkommende Verhalten der oberen Verwaltungsbehörden 
nur unter der Bedingung als zulässig erachtet wäre, dass eine 
zehnjährige Frist seit Ertheilung der Urconcession verlaufen ist. 

In diesem schwebenden Zustande die Apothekenbesitzfrage 
zum Gegenstände des Austrages zu machen, hat sich noch kein 
norddeutsches oder deutsches Parlament bewogen gefunden, trotz 
des unablässigen Drängens der Interessenten, trotz der Reichs¬ 
verfassung, nach deren Bestimmung Artikel IV, Ziffer 1 und 15, 
die Regelung des Apothekenwesens Reichssache geworden ist, 
trotz der Ankündigungen von Specialgesetzen in den Motiven zu 
§ 6 des Gewerbeordnungs-Entwurfs vom 7. April 1868 und der 
dazu gehörigen Resolutionen und Berathungen im Mai 1869. Am 
7. Mai 1871 war auf die Eugen Richter’sche Interpellation seitens 
des Reichskanzleramtes zwar die Erklärung gefolgt, „dass das 
Bedürfniss der einheitlichen Regelung des Apothekergewerbes im 
Sinne der Gewerbeordnung anzuerkennen sei — nach anderen 
Versionen, dass diese Regelung erfolgen werde.“ Der „Deutsche 
Apotheker-Verein“ entstand und überreichte dem Reichskanzler¬ 
amt im Februar 1873 eine Bittschrift um Berufung von Sachver¬ 
ständigen für die geplanten Reformen; der Bundesrathsausschuss 
für Handel und Gewerbe setzte seine Anträge gegen die Nieder¬ 
lassungsfreiheit und für das Princip der Ertheilung rein persön¬ 
licher Concessionen beim Plenum des Bundesrathes durch am 
22. Februar 1876. Widersacher fand der letztere dieser leiten¬ 
den Grundsätze zahlreich auf der Hamburger und auf der Leip¬ 
ziger Generalversammlung des Deutschen Apotheker-Vereins 
(1875 und 1877), — einen weit mächtigeren aber in der Denk¬ 
schrift des Reichskanzleramtes vom 28. Mai 1877, welche das in 
ihr verarbeitete Material dahin verwerthete, dass sie sich für 
„Realconcessionen“ aussprach. Da aber für diese in der bestehen¬ 
den Gewerbeordnung kein Platz war (§ 10), auch in der Novelle 
vom 1. Juli 1883 dafür keiner erobert wurde, kamen diese Aus- 



24 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

fuhrungen in ihrer Bedeutung einer schlichten Absage gleich, das 
Erbe dieser Apothekenfrage anzutreten; die letztere kam speciell 
für Preussen — abgerechnet die schon berührten Ausnahmen — 
legislatorisch zum Stehen und hat seit 1878 einer wirklichen 
Wiederbelebung — wie auch die verschieden gruppirten Agita¬ 
tionen an ihr rütteln mochten — bis zum Beginn dieses Jahres 
getrotzt. 

Die Aufgabe, von dem verunglückten Experiment der Jahre 
1842 bis 1846 zu lernen und selbst die sich aus diesem Versuch 
darbietenden Folgerungen für alle Experimente der Zukunft zu 
ziehen, kann also unser engeres vaterländisches Medicinalwesen 
nicht auf das Reich abwälzen; sio scheint mit dem Entwick¬ 
lungsgänge im preussischen Medicinalwesen organisch nnd un¬ 
lösbar verknüpft bleiben zu sollen. Aus diesem Grunde, meine 
sehr geehrten Herren, habe ich Sie mit einer so ermüdenden 
Auseinanderlegung des geschichtlichen Ablaufes jenes Experiments 
bemühen müssen, und aus diesem Grunde wollen Sie sich die 
vielleicht jetzt etwas glatter liegenden Verhältnisse über die 
monopolisirte Berechtigung mit und ohne Verbietungsrecht (bis 
1811), die Besitzübergänge von einem bloss qualificirten Apothe¬ 
ker auf den anderen ohne staatliche Beschränkungen, dann diese 
nämlichen unter Einwirkung staatlicher Eingriffe von 1842 
bis 1846 und seit 1886 (Verbot vorzeitiger Verkäufe und der 
Verpachtung) erörterten Thatsachen, endlich auch die Aufgaben, 
welche sich an die Ausdrücke: persönlicher Gewerbeberechtigungs¬ 
schein und Erlaubniss zur Neuanlage einer Apotheke (statt beide 
Male zu sagen: Concession) knüpfen, gütigst vergegenwärtigen. 
Die Grundsätze, wie die Entwicklungsphasen der staatlichen Ein¬ 
kommensgewähr und des Limitirungsprincips schliessen sich dann 
dem bisherigen Ideengange um so verständlicher an. 

Vorher indes werden wir nicht umhin können, uns mit der 
Bedeutung des merkantilen Elements etw'as zu beschäftigen. Mit 
der ersten Medicinal- und Apothekerordnung, welche Kurbran¬ 
denburg im Jahre 1693 erhielt, nahm bei uns die Apotheken- 
tiberwachung der Staat in die Hand. Die Grundlage einer staat¬ 
lichen Beaufsichtigung des Apothekenwesens beruhte schon da¬ 
mals auf der Voraussetzung, dass der Staat durch allgemeine 
Einrichtungen für das Vorhandensein und für die Güte der Heil¬ 
mittel zu sorgen verpflichtet sei, welche den Aerzten für die 
Erfolge ihrer Thätigkeit nöthig sind. Aus diesem Hauptgesichts¬ 
punkt schienen sich die Anforderungen, welche an eine gute 
Medicinalpolizei in betreff des Apothekenwesens zu stellen waren, 
zu ergeben; ältere Werke folgern aus jenem Hauptgesichtspmikt 
für die organischen Gesetze auf diesem Gebiet ohne weitere 
Zwischenfragen: Das „Apothekerwesen“ sei sonach nicht nach den 
allgemeinen Gewerbegesetzen zu beurtheilen, da theils von den 
Kenntnissen der in den Apotheken Beschäftigten das Leben der 
Bürger unmittelbar abhänge; theils eine freie Concurrenz den 
reichlichen Ertrag einer einzelnen Apotheke verhindere und diese 
somit ausser Stand Retzen würde, die sämmtlichen Arzeneimittel 



Apothekenwesen, Apothekengesetzgebung. 


25 


jederzeit in gehöriger Menge und Güte vorräthig zu haben. Die 
ganze Schlussfolgerung trifft jedoch nur zu für die Eeceptur in 
den Apotheken und allenfalls noch für den Giftverkehr. Alles 
was sonst noch in den Bereich des Handverkaufs füllt, nicht bloss 
die Industriebedürfnisse oder Gewürze und Näschereien 
oder gar die Patentmedicinen und Geheimmittel, sondern 
selbst die auf eigene Wissenschaft seitens des Publikums abge¬ 
langten Hausmittel haben mit besonderen Kenntnissen, mit der 
medicinalpolizeilichen Verantwortung und mit dem Staatsschutz 
eigentlich nicht das Geringste zu schaffen. Der Handverkauf ist 
ein Geschäft neben der staatlich geschützten Eeceptur — er mag 
ja immerhin ein natürliches, ein selbstverständliches Nebenge¬ 
schäft sein. Aber ist er denn in unseren Tagen noch wirklich 
„Nebengeschäft“ ? 

Ein grelles, aber an dieser Stelle nicht entbehrliches Licht 
wirft auf den zur Zeit erreichten Punkt in diesem Entwicklungs¬ 
gänge die folgende Gegenüberstellung der beiden Theilgebiete 7 ): 
„Eeceptur und Handverkauf haben in den meisten Geschäften 
etwa gleichen Antheil am Zustandekommen des Umsatzes. Dies 
hat sich auch in der neueren Zeit nicht geändert, trotz der be¬ 
deutenden Umwälzungen, welche das Apothekergeschäft erfahren 
hat. Trifft man eine Apotheke, bei welcher der Handverkauf 
die Eeceptur überwiegt, so kann man überzeugt sein, dass ausser- 
gewöhnliche Geschäftstüchtigkeit des Besitzers dieses Ueberwiegen 
verursacht hat. Denn während die Eeceptur bei sonst tüchtiger 
Führung der Apotheke von der Lage abhängig ist und nur in 
den seltensten Fällen sich steigern lässt, so ist dies beim Hand¬ 
verkauf leichter ausführbar, wenn auch durchaus nicht so leicht, 
wie dies manche junge Kollegen glauben.“ — Apotheken mit 
wenig Eeceptur und viel Handverkauf sind „wiederum noch sol¬ 
chen vorzuziehen, deren Umsatz namentlich aus Eeceptur besteht. 
Dies klingt paradox. Darum ist es nicht minder wahr, dass eine 
reichliche Eeceptur mit allen dadurch bedingten Eücksichten den 
Besitzer von der Einsetzung seiner vollen Kraft zur Entwicklung 
seines Geschäfts in kaufmännischer Hinsicht zurückhält. Dieser 
Umstand ist es einzig und allein, welcher uns den Drogenhand¬ 
lungen gegenüber immer den Kürzeren ziehen lässt und verhin¬ 
dert, dass die Apotheker wirkliche Geschäftsleute werden. Viele 
bringen es zu keinem rechten geschäftlichen Aufschwung aus 
Angst. Wo wenig Eeceptur bei viel Handverkauf ist, da erfreut 
sich der Geschäftsinhaber weit grösserer Freiheit für sein Han¬ 
deln. Wirkliche Geschäftstüchtigkeit, Fleiss und kaufmännisches 
Geschick wird daher viel besser in einer Apotheke gedeihen und 
Erfolge haben, in der die Eeceptur verhältnissmässig gering ist.“ 

Dass hier der Merkantilismus dem Kunstgewerbe und der 
treuen Ausübung der Kunst bei weitem den Kang abgelaufen hat, 
ist eine Entdeckung, welche verschiedenen Artikeln in pharma- 
ceutischen Fachzeitschriften mit Leichtigkeit gelungen ist. Jedoch 


7 ) Mylius, Kleiner Rathgebor für den Apothekenkauf, S. 35, 



26 6. HaupLvcmimmlung des Preußischen Medicinalbeamtenvereins. 


mögen diese und ähnliche offene Geständnisse der Apothekenbe¬ 
wegung nur an denjenigen massgebenden Stellen zum Schaden 
gereichen, an denen die Möglichkeit und Nothwendigkeit der Er¬ 
werbsgarantie in amtliche Erwägung gezogen werden muss nnd 
im übrigen in der durch die Verhältnisse geschaffenen Nothwen¬ 
digkeit gerechtfertigt erscheinen. 

Cynischer Merkantilismus verdient aber das Treiben der 
Apothekenagenten genannt zu werden, welches ein anderer 
Schriftsteller unter den vier Mühlsteinen, zwischen denen die 
deutsche Pharmacie zermalmt werde, zuerst aufzählt®): schlimmer 
als Winkel-Drogistenthum, als die immer selbstständiger sich voll¬ 
ziehende Loslösung der Chemie, als der Merkantilismus an sich, 
schlimmer als diese alle zermalmt den Bestand der deutschen 
Pharmacie das Unwesen der Apothekenagenturen. Zum Beweise 
dienen folgende, das Treiben dieser Geschäfte kennzeichnende 
Stellen: „Unter heutigen, allgemach ganz ungesund gewordenen, 
Verhältnissen wird man, wenn man kaufen will, kaum umhin 
können, sich der Agenten zu bedienen. Nicht als ob deren Bei¬ 
hilfe zum Kauf der Sache noch wirklich nothwendig wäre — 
ganz und gar nicht. Dieselben unterhandeln nicht für den Käu¬ 
fer oder Verkäufer, sie machen vielmehr an beide Theile nur 
Mittheilungen, für welche sie sich bei stattfindendem Kaufe be¬ 
zahlen lassen. Allein sie haben jetzt einen anderen Zweck, 
nämlich den, Apotheken überhaupt verkäuflich zu machen. Im 
Anfänge der siebziger Jahre noch war es für Verkäufer von 
Apotheken schwer, einen zahlungsfähigen Käufer zu finden, weil 
alles Kapital Neigung hatte, der Industrie zuzufliessen. Die An¬ 
lage werthe unter den Werth papieren, die Hypotheken und die 
vom allgemeinen Aufschwünge wenig gewinnenden Apotheken 
waren wenig gefragt. Dies änderte sich allgemach nach dem 
Krach von 1874 75 mit dem Niedergange der Iudustrie. An der 
Börse wurden die Industriepapiere mehr vernachlässigt, das 
Kapital verdiente wenig und wurde billiger, indem der Zinsfuss 
sank, Anlagewerthe jeder Art, wurden gesucht und stiegen immer 
mehr im Preise, es wurde schwer, Kapital auf Hypotheken unter¬ 
zubringen und das früher schwierig zu bekommende Geld wurde 
flüssiger. Davon musste die not-h'wendige Folge sein, dass die 
Apotheken als wahre Anlage-Objecte im Preise stiegen und dass 
die geforderten Anzahlungen eine immer grössere Höhe erreich¬ 
ten. Die Apotheke wurde — indem sie das frühere Schicksal 
der Landgüter und Hausgrundstücke zu theilen begann — aus 
einer Erwerbsquelle für die Besitzer in ein Object umgewandelt, 
um Kapitalien mit einiger Sicherheit und zu verhältnissmässig 
hohem Zinsfuss anzulegen.“ Daher die unablässigen Bemühungen 
der Agenturen, in den Besitzern den Gedanken zum Verkauf an¬ 
zuregen. ..Tn der Timt ist die Lage jetzt, so, dass selten ein 
Besitzer aus freien Stücken darauf kommt, zu verkaufen. Fast 


') Schneider, Sprottau, „Apotheker-Zeitung“ 1888, S, 411. 



Apothekenwegen, Apothekengesetzgebung. 


27 


alle Verkäufer sind zu dem bezüglichen Entschluss nur dadurch 
gelangt, dass die Agenten sie jahraus jahrein mit Anträgen be¬ 
stürmt haben, doch durch sie verkaufen zu lassen, indem die 
jetzigen hohen Apothekenpreise für den Verkauf so ausserordent¬ 
lich günstig seien.“ „Jeder von dem halben Dutzend der in 
Deutschland wohnenden Agenten sucht für sich Geschäfte „lose“ 
zu machen und von Besitzern Aufträge zum Verkauf zu erhalten. 
Hat er einen Auftrag, so zeigt er die betreffende Apotheke als 
verkäuflich an. Da aber nun jeder nur 2 bis 3 wirkliche Ver¬ 
kaufsaufträge, dagegen vielleicht 20 Käufer an der Hand hat, so 
genügt sein eigener Vorrath an ersteren bei weitem nicht. Des¬ 
halb plündert er seine Kollegen. Er erschleicht (durch ein ein¬ 
faches Verfahren) die Mittheilnngen über den verkäuflichen Ge¬ 
genstand und eilt mit demselben zu den Käufern, welche ihm 
1 / 9 Proc. Provision für den Fall versprochen haben, dass sie eine 
von ihm zuerst nachgewiesene Apotheke kaufen. Daher kommt 
es, dass man von dem halben Dutzend Agenten immer dieselben 
Apotheken angeboten bekommt.“ Bei der Regulirung sind dann 
heillose Verwirrungen an der Tagesordnung und Anlässe zu 
Rechtsstreitigkeiten nicht selten. 

Trotzdem prosperiren die rein als parasitäre Existenzen mit 
durchgebrachten Agenturen vortrefflich und vermehren sich un¬ 
ausgesetzt. Das Kapital kann eben seiner Strömung und seinem 
Drange nicht gebieten, da es stets halb unbewussten Impulsen, 
lediglich Vermuthungen und höchstens Wahrscheinlichkeitsrech¬ 
nungen nachlebt. Auf die beste Lösung, diesen Drang für ein 
grösseres Experiment zum Zweck der Ermittelung der Absatzge¬ 
biete zu verwerthen, wird in diesem Zusammenhänge nicht einzu¬ 
gehen sein. 

Den Agenturen aber könnte ihr Treiben leicht gelegt oder 
doch beschränkt werden, wenn bestimmt würde, dass, so oft eine 
Apotheke durch Kauf, Erbschaft, Tausch oder was immer für 
einen Titel von einem auf den anderen übertragen werde, beide 
Contrahenten davon den Verwaltungsbehörden Anzeige zu erstat¬ 
ten hätten, — und diese dem Uebemehmer, Käufer etc. nach 
einem Schema alle erhältliche Auskunft über die Anstalt ertheil- 
ten. Eine Abschrift der Revisionsbescheide, sonstige Auszüge aus 
den Protocollen, eine Uebersicht der letzten Verkaufspreise, des 
Inventars, der Räume, des ganzen Habitus — all’ dieses wäre 
aus dem Revisionsraaterial mit leichter Mühe herzustellen und 
würde die Agenturen bald paralysiren, — um so mehr, als die 
Agenten ja gegenwärtig gar nicht mehr wirklich unterhandeln, 
sondern nur naehweisen und den für den Käufer nothwendigen 
Honig zurechtmachen, damit diese zugreifen. 

Eine grosse Unvollkommenheit unseres * Concessionswesens, 
gleichzeitig das schwierigste Problem, welches die Verordnung 
vom 24. October 1811 und die Rundverfügung vom 13. Juli 1840 
den Regierungen und Obeipräsidien stellen, besteht in der Apo¬ 
thekengeographie, der Vorherbestimmung und Umgrenzung des 
Absatzgebietes auf theoretischem Wege. Denn realiter zu be- 



28 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


stimmende Grössen sind es nicht, welche diese Bestimmungen der 
Verwaltung als Maassstäbe an die Hand geben, abgesehen von der 
nackten Zahl der Volksvermehrung. Aber auch bei dieser ist in 
der Erläuterung: „eine bedeutende Vermehrung der Volks¬ 
menge“ ein arbiträres Moment eingefügt. Noch weit schwieriger 
bleibt zu bestimmen, worin eine bedeutende Erhöhung des 
Wohlstandes bestehe. Nun sollen auch noch die Coramunications- 
schwierigkeiten in Betracht gezogen werden und unglücklicher¬ 
weise wird auch noch wieder ein Rest des Verbietungsrechtes 
der Apotheker restituirt, da die „vorhandenen Apotheker zuvör¬ 
derst“ — nicht etwa mit Gründen, — sondern „mit ihren da¬ 
gegen zu machenden Widersprüchen zu hören“ sein sollen. 

An den Grundlagen, welche für eine gerechtere Vertheilung 
der Apotheken — immer unter gleichzeitiger Tendenz einer Ver¬ 
mehrung — zu gewinnen wären, haben sich besonders Pappen¬ 
heim und Pistor mit Vorschlägen versucht. Nach dem ersteren 
würde von der Voraussetzung ausgegangen werden müssen, dass 
die Apothekerarbeit sorgenfrei sei und dass den Apothekern 
mindestens das Einkommen zugewiesen werde, welches das Arzenei- 
wesen des Landes gewähren kann. 

Um die Zinsen für ein gewisses Anlagekapital, auch für ein 
gewisses Betriebskapital, einen Zuschuss zum Abschreibekapital 
und die Entschädigung für eine bestimmte Arbeitsleistung zu 
decken, daneben die Subsistenz des Producenten zu bestreiten, 
müssen genug zahlende Consumenten vorhanden sein. 9 ) 

Man würde also mit folgenden Grössen zu operiren haben: 
Arzeneiverbrauchzahl der Gegend pro Kopf; Einwohnerzahl, die 
einen Bezirk um eine neu zu errichtende Apotheke bilden würde; 
Höhe der Brutto-Einnahme, die bei der bestehenden Apotheke 
zur Subsistenz des Besitzers und etwaigen Personals nöthig ist. 
Für diese Punkte sind theils ältere Voranschläge vorhanden, 
theils sollen sie auf geographischem und rechnerischem Wege ge¬ 
funden werden, und zwar die Apothekenbezirke auf ersterem, die 
Arzeneiverbrauchssumme unter Zuhilfenahme der Steuerkraft. Hat 
man den durchschnittlichen jährlichen Arzeneiverbrauchswerth 
der Gegend pro Kopf, so wären, um auch den Einsprachen der 
umliegenden Apotheker gerecht werden zu können, noch zu er¬ 
mitteln: die Brutto-Einnahmen sämmtlicher Apotheken, die durch 
den projectirten Bezirk Einbusse erleiden würden, und die Ein¬ 
wohnerzahl des Theilbezirkes, welchen jede einzelne der inter- 
essirten Apotheken abzutreten voraussichtslich gezwungen sein 
würde. 

Pistor geht von folgenden Voraussetzungen aus: Mit der 
Wohlhabenheit dei« Bevölkerung wächst die Neigung, das gefähr¬ 
dete Leben zu erhalten, und somit der Bedarf an Aerzten und 
Apotheken. Die Dichtigkeit der Bevölkerung trägt aber, während 
sie auf der einen Seite nur mit der Wohlhabenheit parallel geht, 


*) Reichskanzler-Entwurf, Röttgor 148, 155, 164, 172. 



Apothekenwesen, Apothekengesetzgebung. 


29 


wenigstens mit der vermehrten Gelegenheit zum Erwerb, anderer¬ 
seits auch durch sehr schwer zu beseitigende Missstände zur ver¬ 
mehrten Erzeugung von Krankheiten bei: sonach „je wohlhaben¬ 
der, je dichter bevölkert, d. h. je höher die Kopfsteuer nach 
Staatssteuem berechnet ist, je mehr Menschen auf einer Raum¬ 
einheit zusammengedrängt wohnen, desto mehr Apotheken können 
bestehen, sind daher nöthig.“ Kopfsteuer und Volksdichtigkeit 
sind umgekehrt proportionirt der Zahl der Einwohner, welche 
fftr den Bestand einer Apotheke nothwendig ist. Man kann also 
einen schlecht versehenen oder unter Missständen leidenden Lan- 
destheil mit der richtigen Zahl von Apotheken versehen, wenn 
man seine Einwohnerzahl als gesuchte Grösse mit der eines wohl- 
geordneten Landestheiles als ein Glied einer Proportion und die 
beiderseitigen Kopfsteuerziffern als das andere setzt Die ge¬ 
fundene Zahl soll, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, immer 
nur als eine annähernde gelten, wenngleich die mittlere Kopf¬ 
steuer mit 2,8 Mk. und die mittlere Volksdichtigkeit mit 3722 
Bewohnern bekannte Grössen wären. Als Correctivziffer wäre 
noch die Höhe des Arzeneiconsums, in Geld ausgedrückt, heran¬ 
zuziehen. — Als Durchschnitt für den preussischen Staat berech¬ 
net Pistor hiernach 8000 Seelen für eine Apotheke, lässt aber 
Schwankungen zu zwischen 5000 und 12 000 Seelen. Bei einem 
voraussichtlichen Umschläge von 6000 Mk. jährlich könne auf dem 
Lande und in kleinen Ackerstädten schon eine Neuanlage heraus¬ 
gelassen werden; in industriellen Gegenden bei 8000 Mk.; bis 
zur städtischen Einwohnerzahl von 15 000 Einwohnern reicht ein 
muthmasslicher Umschlag von 10—12 Mille, bis zu 50 000 Ein¬ 
wohnern ein solcher von 13—20 Mille Mark; 30 000 Mk. Um¬ 
schlag dürfte für die Grossstädte als existenzgewährender Min¬ 
destumsatz anzunehmen sein. Soll nun auf Grund dieser Berech¬ 
nungen uud Anschläge an einem Ort, der bereits mehrere 
Apotheken zählt, eine Neuanlage geschaffen werden, so steht 
deren Besitzern das Recht zu, glaubwürdig nachzuweisen, dass 
die Annahme der Ueberschreitung des Durchschnittsumsatzes um 
so viel, dass die Neuanlage bestehen kann, unbegründet sei. Auf 
die etwa gezahlten zu hohen Kaufpreise hat die Behörde keine 
Rücksicht zu nehmen. 

Wer die frische Bewegung im Berliner Apotheken wesen von 
1884 bis zu der in diesem Monat erfolgten Concessionirung der 
100. Apotheke verfolgt hat, dürfte in derselben die oben in Kürze 
zusammengefassten Principien leicht wieder zu erkennen im Stande 
sein; beispielgebend im Allgemeinen ist indes dieser Versuch 
nicht; von ganz grossen Plätzen abgesehen, lassen sich wohl 
selbst seine Voraussetzungen nur unter vorsichtiger Beschränkung 
und indem man Schritt für Schritt individualisirt, verwerthen. 

Ungleich höher in seiner allgemeinen Bedeutung steht der 
dritte practische Staatsversuch da, welchen wir für preussische 
Verhältnisse verwerthen dürfen, ob er gleich auf einem Boden 
unseres weiteren Vaterlandes sich abgespielt hat. Als grösster 
Uebelstand unseres Limitirungssystems ist die Thatsache erkannt 



30 6. Hauptversammlung des Preussisclien Modicinalbeamtcnvereins. 


und anerkannt, dass nur ein gewisser Theil der mit dem Be¬ 
fähigungsnachweise ausgerüsteten Apotheker zur legalen Nieder¬ 
lassung gelangen kann. Die diesjährige Apothekerversammlung 
hier in Berlin konnte unter den zahlreichen Allheilmitteln gegen 
diesen Zustand ganz wohl einmal wieder zu dem Vorschläge 
greifen, dem Zudrang durch gesteigerte Ansprüche an die wissen¬ 
schaftliche Vorbildung entgegen zu wirken. Ja sie hatte in der 
That nur eine beschränkte Auswahl an VerbesserungsVorschlägen, 
wenn sie nicht auf die Niederlassungsfreiheit zurückgreifen wollte. 
Die Wortführer derselben wären allenfalls zu haben gewesen mit 
ihren Staatsentschädigungsplänen und hätten nach altem Schema 
wieder einmal behauptet, dass eine möglichst grosse Concurrenz 
die Arzeneien verbilligen und gleiclizeitig eine derart erhebliche 
Vermehrung der Arzeneibereitungsstätten herbeiführen werde, dass 
jeder Kranke sich auf die schleunigste Weise seine Arzenei be¬ 
schaffen könnte. Noch bis vor zehn Jahren mussten denn die 
Vertheidiger des Staatsliraitirungsprincips sich auf einen Kampf 
mittelst Gründen einlassen: nicht die Schnelligkeit oder die Bil¬ 
ligkeit, sondern richtige Vorschrift und die Zuverlässigkeit 
bedingt die Wirkung der Arzenei — Concurrenz und Unterbie¬ 
tung erzeugen neben Billigkeit auch Schlechtigkeit —, die 
Concurrenz würde über die richtige Vertheilung im Lande 
schnell zur Tagesordnung und zu einem schonungslosen Existenz¬ 
kampf in den grossen Städten übergehen. Heute können prak¬ 
tische Erfahrungen in diese Wagschale gelegt werden. Die 
Gegner dürfen nicht mehr, wie sie es im Jahre 1872 wörtlich 
aussprachen, triumphirend behaupten, dass „in Elsass-Lothringen 
die Gewerbefreiheit für Apotheker seit aller Zeit zu allgemeiner 
Zufriedenheit bestehe“, — sondern es sind jetzt ganz im gegen¬ 
teiligen Sinne jene Erfahrungen von entscheidendem Gewicht, 
die man von 1872 bis 1877, im Zeitraum von nicht ganz fünf 
Jahren, über Freigebung dieses Kunstgewerbes gemacht und an 
denen Elsass-Lothringen noch jetzt, nach wieder verflossenen 
zehn Jahren — und nicht am wenigsten die Apotheker selbst — 
sehr schwer zu büssen und zu laboriren hat, nachdem sich bereits 
im Jahre 1873 der unerträgliche Zustand herangebildet hatte, 
dass im Eisass in den grossen Städten eine Apotheke bereits auf 
3906, in Metz gar auf 2610 Consumenten kam, während in den 
ländlichen Bezirken so wenig Niederlassungen auf Grund der 
Freigebung erfolgten, dass im Eisass je 10757, in den lothringi¬ 
schen Plattlandbezirken aber 13 579 Arzeneiconsumenten sich mit 
einer Apotheke behelfen mussten. 10 ) 

Es giebt, wie auf dem naturwissenschaftlichen, so auf dem 
administrativen und wirthschaftlichen Gebiet Experimente, die 
wiederholt und vervollständigt werden müssen, neben solchen, 
deren Wiederholung unnöthig oder gar unstatthaft ist. Zu den 
ersteren rechne ich das Vorgehen, welches ich mir kurz als das 


u> ) Haitmann, S. 38. 



Bemerkungen über die Lago der fremden Erntearbeiter etc. 


31 


Berliner Experiment zu bezeichnen erlaubte, zu der zweiten Ca- 
tegorie der mehrfacher Wiederholungen nicht bonöthigenden Ver¬ 
suche die Erfahrung aus den Reichslanden, zur dritten den ver¬ 
fehlten Schlag von 1842. * 

Meine Herren! Wir haben noch sehr viele praktische Er¬ 
fahrungen in deutschen und ausserdeutschen Ländern, von denen 
wir geleint haben und leimen werden, — allein unsere heutige 
Aufgabe endigt hier. Aus dem Rahmen eines simplen Referats 
fallen alle Reformideen, Verbesserungsvorschläge oder wie diese 
Dinge sonst heissen mögen, selbstverständlich heraus. Bin ich 
unvorsichtig genug gewesen, sie gelegentlich des Parasitenthums 
der Agenturen, der Trennung der Personalconcessionirung von 
der Anlagebetriebsconcession zu streifen, so wollen Sie dies mit 
dem Eifer, in welchen man nun doch hineingeräth, auch bei den 
trockensten Dingen, nachsichtig entschuldigen. Was sich aber aus 
der Sachlage noch ergiebt für die Ausbildung der Personalconces¬ 
sionirung durch die Staatsaufsichtsbehörden, für die Ueberweisung 
der Initiative zur Prüfung des Bedürfnisses von Neuanlagen an 
die Selbstverwaltung, an modificirte Bezirksausschüsse, — für die 
so wünschenswerte Weiterentwicklung unseres etwas rostig ge¬ 
wordenen Revisionswesens, das gehört nicht mehr hierher. Die 
erspriesslichen Gedanken nach diesen Richtungen werden wohl, 
so verschieden wir über einzelne Perioden des überschauten Ent¬ 
wicklungsganges gedacht haben oder noch augenblicklich denken 
mögen, bei vielen von uns gemeinsame oder doch wenigstens über¬ 
einstimmende sein. 

Vorsitzender: Ich frage, ob Jemand das Wort zu dem Vor¬ 
trage wünscht? — Wenn Niemand das Wort ergreift, so spreche 
ich dem Herrn Referenten noch unseren besonderen Dank aus, 
der ihm von der Versammlung bereits so lebhaft kundgegeben 
worden ist. 

(Pause.) 


V. Bemerkungen über die Lage der fremden 
Erntearbeiter (Sehnitter) in einzelnen Theilen 
der Provinzen Brandenburg und Schlesien. 

H. Kreisphysikus Dr. Schmidt (Steinau a. 0.) M. H.! Was 
ich Ihnen heute in Kürze mitzutheilen beabsichtige, beruht zu¬ 
meist auf eigenen Beobachtungen, die ich während meiner Wirk¬ 
samkeit als Physikus des Kreises Soldin, Regierungsbezirk Frank¬ 
furt, in den Jahren 1879 bis 1885, sowie von genannter Zeit ab 
in dem im Regierungsbezirk Breslau gelegenen Kreise Steinau, 
in welchem ich vordem sieben Jahre als Kreiswundarzt fungirte, 
gemacht habe. 

Wenn ich über die Lage der fremden Erntearbeiter in ein¬ 
zelnen Theilen der Provinzen Brandenburg und Schlesien referiren 



32 6. Hauptversammlung des Preussiscben Medicinalbeamtenvereins. 


will, so ist es wohl selbstredend, dass iu einer Versammlung wie 
der heutigen, die Lage dieser Arbeiter in gesundheitlicher 
Beziehung zu besprechen sein wird. Hierbei würde es jedoch 
kaum vermeidbar seit, andere, die wirthschaftliche Lage und die 
sittlichen Zustände betreffende Gebiete zu streifen, da die ge¬ 
nannten drei Momente innig Zusammenhängen, bezw. sich gegen¬ 
seitig bedingen. 

Der nach der ehemaligen Residenzstadt der Neumark, jetzigen 
Kreisstadt Soldin, benannte, zwischen Oder und Warthe gelegene, 
nach Norden an den Regierungsbezirk Stettin anstossende, im 
Uebrigen von den Kreisen Königsberg N/M., Sternberg, Lands¬ 
berg a./W., Friedeberg und Arnswalde begrenzte, auf einer Boden¬ 
fläche von 1145 QKilometer nur 49000 meist wohlhabende Ein¬ 
wohner zählende, also ziemlich dünn bevölkerte Kreis Soldin, 
ist ein fast ausschliesslich ackerbautreibender. Bei meinem Amte¬ 
eintritt existirte keine Eisenbahn; die von der im Westen ge¬ 
legenen Kreisstadt mehr als sechs Meileu entfernte Ostgrenze 
wurde fast nur auf Landwegen erreicht. Epidemie-Reisen kamen 
in den ersten Jahren überhaupt nicht vor und da meine ausser- 
amtliche, obschon umfangreiche Thätigkeit mich mit den auf den 
grösseren, bis zu 12000 Morgen aufweisenden Rittergütern be¬ 
schäftigten arbeitenden Klasso anfänglich nur wenig in Berührung 
brachte, so bedurfte es geraume Zeit, bevor sich Gelegenheit 
fand, in die Verhältnisse der fremden Erntearbeiter, die jedem 
Einheimischen klar auf der Hand lagen, einen Einblick zu ge¬ 
winnen. Meine ersten beiden Beobachtungen, welche mich mit 
den mir bis dahin ganz unbekannten Zuständen bekannt machten, 
sind mir, obschon acht Jalire darüber vergangen sind, noch ganz 
genau in ihren Hauptzügen erinnerlich. 

Ich wurde zu einem auf dem 1 j i Meile von der Kreisstadt 
gelegenen Rittergut L. beschäftigten Arbeiter gerufen; derselbe 
lag in einem massiven Gebäude unter dem Ziegeldach auf Stroh 
und litt an heftiger Lungenentzündung. Neben seinem Lager 
fanden sich zahlreiche andere, dicht aneinander gereiht, theils 
unmittelbar unter dem Dach, theils an den Giebelwandseiten; zur 
Bedeckung dienten wollene Decken. In diesem relativ grossen 
Raume herrschte, — es war im Hochsommer, — eine so kolos¬ 
sale Hitze, dass ich es kaum aushalten konnte und von Schweiss 
durchnässt, nachdem ich meine ärztlichen Verordnungen getroffen, 
das Haus verliess. Ich ermittelte, dass dieses Haus das soge¬ 
nannte Schnitterhaus sei, dass die Arbeiter aus anderen Kreisen 
zugezogen seien, im Erdgeschoss wohnten und sämmtlich, Männer, 
Frauen, junge Burschen und Mädchen, da oben, wo sich der 
Kranke befand, schliefen. 

Meine zweite Beobachtung war folgende: Ich wurde in 
das Schnitterhaus eines durch einen Administrator bewirthschaf- 
teten Rittergutes gerufen; das Haus war aus Holz und Lehm er¬ 
baut; aus demselben klang mir tobender Lärm und Gesang ent¬ 
gegen. Es war gegen Abend und ich trat in ein durch eine 
blakende, frei brennende kleine Petroleumlampe sehr mangelhaft 



Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter). 33 

beleuchtetes, von Ofeurauch und Menschen dicht erfülltes, ziem¬ 
lich kleines Zimmer mit zwei kleinen Fenstern, dessen defekte 
Scheiben stellenweise mit Papier verklebt waren. Die Leute 
kochten zur Zeit in demselben Raume und verzehrten ihr Abend¬ 
brot. In einer anstossenden Kammer, welche, da eine Thür fehlte, 
gleichfalls von Rauch und von übelriechender Luft erfüllt war, 
fand ich an der Erde, auf Stroh liegend, den Kranken. Derselbe 
litt, wie der oben erwähnte, an Lungenentzündung. Bei dem 
Niederknieen neben den- Kranken bemerkte ich, dass der Fuss- 
boden nicht gedielt und feucht war. Später stellte ich übrigens 
gelegentlich des Ausbruches des Typhus fest, dass ein Abort 
fehlte und Dunghaufen und Kothanhäufungen dieses von mehr als 
20 Menschen beiderlei Geschlechtes bewohnte Gebäude umsäumten. 

Die betreffenden Zustände machten auf mich einen Abscheu 
erregenden Eindruck und die armen Kranken thaten mir in der 
Seele leid; es lag nicht in meiner Hand Abhülfe zu schaffen, denn 
andere Räume waren an Ort und Stelle nicht frei und ein Kreis- 
Krankenhaus oder eine ähnliche Humanitäts - Anstalt war nicht 
vorhanden. Meine Bemühungen waren von jetzt ab auf weitere 
Untersuchungen über die Lage dieser Arbeiter gerichtet und als 
sich ergab, dass in dieser Beziehung ein weitverbreiteter Miss¬ 
stand im Kreise vorlag, berichtete ich im nächstfälligen Quartal- 
Sanitätsbericht an die Königliche Regierung. Hier waren inzwi¬ 
schen Personal-Veränderungen vorgegangen, die dem Medizinal¬ 
beamten durch Erlass wichtiger Verfügungen über das Anzeige¬ 
wesen bei ansteckenden Krankheiten und deren Konstatirung, über 
das Kirchhofs-, das Kost- und Quartiergängerwesen u. a., so zu 
sagen, erst den Zweck seines Daseins vor Augen führten, Die 
beabsichtigte Wirkung blieb nicht aus: Unter dem 28. Mai 1881 
erging nachstehende Regierungs-Präsidial-Verfügung an sämmt- 
liche H. Landräthe und Kreisphysiker: 

,Es ist von einem der Herren Medicinalbeamten darauf hinge- 
wieson worden, dass die fremden Schnitter, welche von den Guts¬ 
herrschaften zur Bewältigung der Erntearbeit aus der Ferne heran¬ 
gezogen werden, in den meisten Fällen ganz ungenügend und ohne 
Rücksicht auf eine Trennung der Geschlechter dicht zusammenge¬ 
pfercht untergebracht werden. Da hierdurch nicht allein die indivi¬ 
duelle Gesundheit der Schnitter und Schnitterinnen in Gefahr kommt, 
und den Gesetzen der Sittlichkeit, Hohn gesprochen wird, sondern 
auch durch die Begünstigung der Entstehung und Verbreitung an¬ 
steckender Krankheiten die allgemeine Wohlfahrt bedroht wird, so 
veranlasse ich die Herren Landräthe und Kreisphysiker, zumal zur 
Zeit der Flecktyphus sich in den verschiedensten Theilen des Bezirks 
zeigt, sich binnen 4 Wochen eingehend zur Sache zu äussern und 
event. Vorschläge zur Abhülfe des qu. Uebelstandes zu machen.* 

Zur spezielleren Charakterisirung der in Rede stehenden 
Verhältnisse erlaube ich mir aus dem damals von mir erstatteten 
Bericht einiges vorzutragen: 

„Das Schnitterwesen im Kreise ist sehr ausgedehnt. Bauern oder 
kleinere Eigenthümer halten keine Schnitter, dagegen sind auf der 
überwiegenden Mehrzahl der mir bekannten grösseren Güter und 
Rittergüter solche vorhanden. Die Schnitter für den hiesigen Kreis 
kamen vorwiegend aus den diesseitigen Dörfern N. und F., sowie 



34 6. Hauptversammlung des Preußischen Medicinalbeamtenvereins. 


aus den Kreisen Landsberg und Sternberg. Die Schnitter gehen im 
Frühjahr „auf den Schnitt“ und kehren im October oder November 
in ihre Heimath zurück. Während dieser Zeit stehen sie unter einem 
Vorschnitter. Letzterer hat in der Regel einen besonderen Wohn- 
raum zu seiner Verfügung. Die eigentlichen Schnitter dagegen woh¬ 
nen in einem oder zwei Zimmern und ßchiafen zumeist auf einem 
Bodenraum. Hier liegen Männer, Frauen, Mädchen und junge Bur¬ 
schen, ausnahmsweise auch Kinder, alle zusammen auf Stroh, mit 
Betten oder Decken zugedeckt, in der Regel ohne Trennung der Ge¬ 
schlechter, dicht neben einander wie die Heringe, oder aber sie 
schlafen in dem oder in den Wohnräumen. Letzteres ist selten. 
Meist existirt ein gemeinschaftlicher Kochherd. Die Schnitter essen 
im Ganzen schlecht, zumeist Kartoffeln, Brod, Speck u. dergleichen, 
da ihr Hauptziel darauf hinausgeht, im Sommer viel zu verdienen, 
um im Winter von den Ersparnissen zu leben; dagegen trinken die 
Männer viel Branntwein. Die Schnitter sind den ganzen Tag auf 
dem Felde, nur kurz vor dem Ausziehen des Morgens und einige 
Stunden nach Sonnenuntergang halten sie sich — an den Wochen¬ 
tagen — in ihren Wohnräumen auf. Des Sonntags sind sie auf Letz¬ 
tere angewiesen. 

Abtritte trifft man selten, weshalb es in der Nähe der Schnitter¬ 
wohnung bezw. des Schnitterhauses in der Regel recht unsauber 
aussieht. 

Im Allgemeinen stehen die Schnitter in einem schlechten Ruf; 
sie gelten als roh. Völlerei in Getränken, Schlägereien und Unzucht 
sind bei ihnen zu Hause, wie Jedermann weiss, der mit ihnen in Be¬ 
rührung kommt. Die Geistlichen, deren ich viele gesprochen, klagen 
besonders, dass die Schnitter und Schnitterinnen das charakterlose 
und irreligiöse Element ihrer Gemeinden bilden und dass die Sess¬ 
haften durch die zurückgekehrten Schnitter im Winter demoralisirt 
würden. — „Auf dem Schnitt werden die Ehen gestiftet und ge¬ 
brochen,“ so äusserte sich ein Standesbeamter, welcher Gutsbesitzer, 
jetzt ohne Schnitter, der Frage unparteiisch gegenüber steht. „Die 
sittlichen Schäden“ führte er aus, „seien grauenerregend; es sei Tbat- 
sache, dass die jungen Mädchen, welche ein Mal auf dem Schnitt 
gewesen, für immer sittlich verdorben seien, dass sie sehr häufig 
schwanger nach Hause kämen, dass diese Mädchen, wenn verheirathet, 
sich Jedem Preis gäben; dass ferner nicht selten die Männer ver¬ 
gessen, dass die Schwester ihrer Frau nicht ihre Frau sei und der¬ 
gleichen.“ Dass die Auffassungen über Moral unter diesen Leuten 
höchst laxe sind bezw. geworden sind, geht aus folgender mir von 
einem Prediger mitgetheilten Aeusserung einer Frau seines Dorfes 
hervor, deren verheirathete Tochter erkrankt war und deren Schwie¬ 
gersohn in Folge dessen mit einer anderen, unverheiratheten Toch¬ 
ter auf den Schnitt ging. Die Mutter gab denselben zur nächtlichen 
Bedeckung nur ein Oberbett mit auf den Weg mit den Worten: 
„Sie würden wohl Beide darunter Platz haben.“ — Ein anderer Geist¬ 
licher berichtete mir, dass er bei einem zu seinem Kirchspiel gehö¬ 
rigen Gutsbesitzer erst nach wiederholten Bemühungen es habe durch¬ 
setzen können, dass die Schnitter Schlafräume mit Geschlechter - 
Trennung erhielten. Von anderer Seite wurde „freie Liebe“ als die 
Schnitterparole bezeichnet. 

Hin und wieder befinden sich Kinder unter den Erwachsenen 
und zwar nicht allein Säuglinge. Wenn Jemand erkrankt, ist ge¬ 
wöhnlich kein besonderes Lokal für ihn vorhanden u. s. w.“ 

Diesen mehr die wirtschaftliche Lage, die Wohnungs- und 
Sittlichkeitszustände berührenden Bemerkungen habe ich heut 
noch hinzuzufügen, dass durch die aus dem Kreise Soldin nach 
Norden, nach Pommern, vorwiegend in die Kreise Pyritz und 
Greiffenhagen ausgezogenen Erntearbeiter alljährlich der Ty¬ 
phus in meinen Kreis eingeschleppt wurde und dass sich 



Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter). 35 


von den, in der Regel ohne besondere Umstände bezw, ohne poli¬ 
zeiliche Anzeige an die Kreisbehörde, durch die Gutsbesitzer in 
ihreHeimath abgeschobenen Typhuskranken aus nicht selten grössere 
oder kleinere Epidemien entwickelten. 

Vor Absendung meines Berichtes an die Königliche Regie¬ 
rung wurde mir übrigens bereitwilligst Gelegenheit geboten, den 
Seitens des Herrn Landraths erstatteten Bericht einzusehen. Der¬ 
selbe differirte von dem meinigsn einigermassen, unter Anderem 
auch betreffs meiner Ansichten über die Nothwendigkeit besonde¬ 
rer Aborte und der Bemessung eines genügend grossen Luftraumes 
für die Schlafzeit*). 

Die bei der Königlichen Regierung eingegangenen Berichte 
scheinen indessen die Ueberzeugung von dem Vorhandensein eines 
öffentlichen Missstandes bezüglich der Wohnungs- und Lebens¬ 
verhältnisse der fremden Erntearbeiter erbracht zu haben. Denn 
es erging an eine Anzahl von Landrathsämtern eine diese Frage 
regelnde Verfügung'; derselben war als Direktive eine das Kost- 
und Quartiergängerwesen betreffende Regierungs-Präsidial-Ver¬ 
fügung beigegeben, in welcher zunächst auf die bekannte Verord- 


*) Die von mir in dieser Hinsicht gemachten Vorschläge ergeben sich 
aus nachfolgender damals von mir ausgearbeiteten und der Königlichen 
Regierung in Frankfurt a./O. eingereichten Polizei-Verordnung: 

§ 1. Es sind für die Schnitter und Schnitterinnen mindestens zwei 
Wohnräume erforderlich; von diesen ist der eine ausschliesslich für die 
Mädchen bestimmt. 

§ 2. Die Wohnräume sind nicht zugleich als Schlafräume zu benützen, 
es sei denn, dass sie den an die Schlairäume zu stellenden Anforderungen 
(s. §§ 3 u. 4) entsprechen. 

§ 3. Es müssen zwei gesonderte Schlafräume vorhanden sein und zwar 
einer für die Mädchen, der andere für die Männer und Frauen; in letzterem 
ist eine Vorkehrung (z. B. durch Ziehen einer Bretter- oder Lattenwand) dafür 
zu treffen, dass die ledigen Männer von den Eheleuten getrennt schlafen. 

§ 4. Die Schlafräume erhalten eine feste Aufschrift mit Bezeichnung des 
Cubikraumes und der Ziffer der für die Schlafzeit aufzunehmenden Personen 
mit der Massgabe, dass auf jeden Schnitter 2 1 / 2 Q Meter Bodenfläche und 
mindestens 8 Cubikmeter Luftraum kommen. 

§ 5. Es sind zwei getrennte Aborte, für Männer und Frauen, zu errichten. 

§ 6. Die Schnitter stehen unter einem Vorschnitter, welcher für Auf¬ 
rechthaltung der Ordnung unter den Schnittern contractlich zu verpflichten ist. 

§ 7. Der Vorschnitter hat ein Schnitterbuch zu führen, in welchem die 
Namen der Schnitter mit Angabe des Alters und des Personenstandes einzu¬ 
tragen sind. Dasselbe ist den revidirenden Beamten auf Verlangen vorzulegen. 

§ 8. Schulpflichtige Kinder dürfen nicht unter den Schnittern sein. 

§ 9. Für Krankheits- oder Entbindungsfälle ist ein besonderer Kranken- 
Raum erforderlich; derselbe darf ausserhalb des Schnitterhauses liegen. 

§ 10. Die Schnitterwohnungen stehen betreffs ihrer baulichen Einrich¬ 
tungen unter den Beaufsichtigungen des Kreisbaubeamten, in gesundheitlicher 
Hinsicht unter der des Kreis-Physikus. 

§ 11. Es erscheint nothwendig, dass die Qensdarmen die Schnitter* 
Wohnungen, so lange sie bewohnt sind, monatlich mindestens ein Mal revidiren, 
den Revisionsvermerk in das Schnitterbuch eintragen und Uebertretungen der 
Polizei-Verordnung zur Anzeige bringen. 


3 * 




86 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


nung des Berliner Polizei-Präsidiums vom 17. December 1880*) 
über das Schlafstellenwesen hingewiesen und demnächst anheim¬ 
gestellt wurde, nachfolgende Bestimmungen hinzuzufügen. 

a. Jedem Quartiernelimer muss ein Stroh sack, eine starke wollene Decke, 
ein Handtuch und Waschgeräth geliefert werden. 

b. Der Quartiergeber ist verpflichtet, für tägliche Reinigung des Quar¬ 
tiers zu Borgen und mindestens alle 3 Monate das Bettstroh zu er¬ 
neuern. Letzteres muss nach jedem Fall einer Erkrankung für die 
betreffende Lagerstelle stattfinden. 

c. Dem Quartiergeber liegt die Verpflichtung ob zur Anzeige vom Auf¬ 
treten ansteckender Krankheiten nach Massgabe des § 9 des Ge¬ 
setzes vom 8. August 1835. 


*) Die Polizeiverordnung lautet: 

§ 1. Niemand darf in den von ihm und seinen Familienangehörigen 
benutzten Wohnräumen Anderen gegen Entgelt Schlafstelle gewähren, wenn 
nicht die von ihm selbst, seinen Familienangehörigen und den Scblafleuten zu 
benutzenden Schlafräumlichkeiten folgenden Anforderungen entsprechen: 
a) Jeder Schlafraum muss für diejenigen Personen, welche derselbe für die 
Schlafzeit aufhehmen soll, mindestens je drei Quadratmeter Boden fläche 
und je zehn Kubikmeter Luftraum auf den Kopf enthalten. Für 
Kinder unter sechs Jahren genügt ein Drittel, für Kinder von sechs bis zu 
vierzehn Jahren genügen zwei Drittel jener Maasse. b) Kein Schlafraum darf 
mit Abtritten in offener Verbindung stehen. 

§ 2. Schlafleute dürfen, soweit nicht das Verhältniss von Eheleuten 
oder von Eltern und Kindern vorliegt, nur in solchen Räumen zum Schlafen 
untergebracht werden, welche nicht zugleich für Personen des andern Ge¬ 
schlechts zum Schlafen dienen. 

§ 8. Wer Schlafleute aufnimmt (§ 1), ist verpflichtet, innerhalb sechs 
Tagen nach der Aufnahme des ersten auf dem Bureau desjenigen Polizei- 
Reviers, in welchem die Wohnung belegen ist, eine schriftliche, wahrheits¬ 
getreue Anzeige nach Maassgabe des beifolgenden Musters (in der Grösse von 
einem Viertelbogen gewöhnlichen Schreibpapiers) niederzulegen. Die Polizei¬ 
behörde ertheilt hierauf dem Wohnungsinhaber nach Prüfung der von dem¬ 
selben vorzuweisenden Schlafräume und soweit die Aufnahme der Schlafleute 
nach dieser Polizei-Verordnung zulässig ist, eine Bescheinigung, welche in der 
Wohnung aufzubewahren und auf polizeiliches Erfordern jedesmal sofort vor¬ 
zuzeigen ist. In gleicher Weise muss der Wohnungsinhaber die Namen seiner 
Familien-Angehörigen, wie auch seiner Schlafleute auf polizeiliches Erfordern 

1 ’ederzeit angeben. Sind den Bestimmungen der §§ 1 und 2 zuwider Schlaf- 
eute aufgenommen, so ordnet die Polizeibehörde deren Entlassung mit sechs- 
tägiger Frist an. Tritt später eine Vermehrung in dem Familienstande des 
Wohnungsinhabers oder in der durch die polizeiliche Bescheinigung für zu¬ 
lässig erklärten Zahl der Schlaf leute ein, oder werden die angezeigten Schlaf¬ 
räume wenn auch nur theilweise verringert, so ist eine neue Anzeige unter 
Beifügung der früheren polizeilichen Bescheinigung erforderlich, auf welche 
ebenso, wie auf das weitere Verfahren, die Bestimmungen des vorigen Ab¬ 
satzes Anwendung finden. Formulare für die Anzeigen werden zum Zwecke 
der sofortigen Benutzung auf den Polizeirevier-Bureaus imentgeltlich verabfolgt. 

§ 4 . Mit Geldstrafe bis zu 30 Mark oder, im Falle des Unvermögens, 
mit verhältnissmässiger Haft wird bestraft, wer den in § 3 bezeichneten 
Pflichten zuwiderhandelt oder den in Gemässheit des § 3 ergehenden polizei¬ 
lichen Anordnungen und Aufforderungen Folge zu leisten unterlässt, desgleichen 
wer Schlaf leute der Bestimmung des § 2 zuwider unterbringt. Diese Straf¬ 
bestimmungen finden auch auf Denjenigen Anwendung, welcher mit oder ohne 
Auftrag des Wohnungsinhabers als dessen Vertreter handelt, oder welcher in 
Abwesenheit des Wohnungsinhabers als dessen Stellvertreter zu betrachten ist. 



Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter). 87 


Die betreffende Verfügung des Regierungspräsidenten an die 
Königl. H. Landräthe zu Königsberg i./M., Landsberg a./W., Sol¬ 
din, Zielenzig und Züllichau lautete: 

«Abschrift vorstehender Verfügung theile ich Euer Hochwohl¬ 
geboren ergebenst zur gefälligen Kenntnissnahme und unter dem 
Anheimstellen mit, hiernach mntatis mutandis gegen die Uebelstände 
welche das Herbeiziehen fremder Schnitter zu den Erntearbeiten 
etwa im Gefolge hat, baldgefälligst durch Erlass einer entsprechen¬ 
den Verordnung einschreiten zu wollen und mich unter Beifügung 
eines Abdruckes davon in Eenntniss zu setzen. 

M. H. Sie werden sich das Gefühl der Genugthuung vor¬ 
stellen können, als ich mich am Ziele meiner Bestrebungen in 
dieser Frage angelangt sah. Und was glauben Sie wohl, 
was nun geschah? — Nichts. — 

Auch die im Laufe dieses Sommers eingezogenen Nachrichten 
bestätigen, dass in den Kreisen Soldin, Zielenzig und Königs¬ 
berg i./M., Landsberg a./W. keine, das Schnitterwesen regelnde 
Polizeiverordnung erlassen wurde. 

Man kann auch hier sagen: „Einer Epikrise bedarf es nicht.“ 

Bezüglich der Verhältnisse der fremden Erntearbeiter im 
Kreise Steinau kann ich mich wesentlich kürzer fassen. Da 
derselbe nur 25000 Einwohner zählt und die Bodenfläche nur 
418 qkm beträgt, sind die Zustände leichter übersehbar. Hierzu 
kommt, dass in zwei in der Kreisstadt befindlichen Krankenhäu¬ 
sern, dem „Kloster der barmherzigen Brüder“ mit 70 Betten und 
der Diakonissen-Kranken-Anstalt „Bethanien“ mit 50 Betten ein 
grosses Krankenmaterial zusammenfliesst, welches, da es aus den 
Regierungsbezirken Breslau, Liegnitz und Posen sich rekrutirt, 
mir als den behandelnden Arzte einen Einblick in die Verhält¬ 
nisse vieler benachbarter Kreise gewährt. — Im Kreise Steinau 
sind auf der überwiegenden Mehrzahl der Rittergüter fremde Ar¬ 
beiter. Nach Aussage eines im Kreise Steinau und Glogau be¬ 
güterten Herrn dürfte in letzterem, — derselbe zählt 76000 Ein¬ 
wohner — kaum ein einziges, nur mit sesshaften Leuten die 
Erntearbeit bewältigendes grösseres Gut vorhanden sein, auch im 
benachbarten Kreise Lüben sind ähnliche Einrichtungen. Ferner 
habe ich im Mai und Juni d. Js. die Kreise Neumarkt, Wohlau 
und Guhrau gelegentlich der Ausführung von Apotheken-Revi¬ 
sionen bereist und auch hier das Vorhandensein der fremden 
Erntearbeiter festgestellt. Man erkennt die letzteren schon von 
Weitem an ihrer buntfarbigen Kleidung; denn es sind durchweg 
Polen, zumeist aus Oberschlesien, zum Theil aus der Provinz Po¬ 
sen, besonders aus dem Kreise Rawitzsch; hin und wieder finden 
sich auch Leute aus Russisch-Polen bei den Oberschlesiern. Sie 
werden durch Agenten engagirt und ziehen schon Mitte März und 
Anfang April, von den Balmhöfen abgeholt, 15 bis 20 Personen 
auf einem Leiterwagen, bunt bebändert, nach dem Dudelsack 
singend, an ihren Bestimmungsort, um im November oder An¬ 
fang Dezember in ihre Heimath zurückzukehren. Im Gegensatz 
zu meinen Beobachtungen in der Neumark, ist das weibliche Ge- 



38 6. Hauptversammlung des Preussiscben Medicinalbeamtenvereins. 


schlecht in Schlesien erheblich zahlreicher vertreten als das 
männliche. 

Aus einer mir von einem Gutsvorstelier gemachten Mitthei¬ 
lung führe ich über die ökonomischen Verhältnisse dieser 
Arbeiter Folgendes aus. Kontraktlich erhalten dort die Leute 
freien Arzt und Apotheke (excl. Syphilis- und Krätzkranke), freie 
Feuerung und Beleuchtung, Lagerstroh, ein Laken, eine wollene 
Decke und zur Selbstbeköstigung auf einem gemeinschaftlichen 
Heerd pro Woche und Kopf folgende Nahrungsmittel: 

VL Pfd. Brod, 

3 Pfd. Mehl, 

3 Pfd. Gersten-Graupe, 

1 l i Liter Salz, 

25 Pfd. Kartoffeln und 25 Pfg. (!) Fleischgeld. 

Da sie Mehl und Gekörne in ihre Heimath schicken, so leben 
sie eigentlich ausschliesslich von Brod, Salz und Kartoffeln. Die 
Mädchen erhalten 70, die Burschen und Männer 80 Pf. bis 1 Mk. 
Tagelohn, wovon ein grosser Theil in Schnaps angelegt wird. 

Da ich wiederholt die Beobachtung gemacht hatte, dass ge¬ 
rade unter diesen Polen gewisse Krankheitsformen, nament¬ 
lich Haut- und Augenkrankheiten, auch Abdominal-Ty- 
phus relativ häufig Vorkommen, — von einem Gut wurden 
mir u. A. einmal 20 Krätzkranke des Morgens in die Sprech¬ 
stunde geschickt, — ersuchte ich am 5. März d. Js. die Kreis¬ 
verwaltung, genaue Ermittelungen über die Lage der polnischen 
Arbeiter nach einem von mir entworfenen Schema anstellen zu 
wollen, da ich sie für den Jahres-Sanitätsbericht bedürfte: 

1. Name des Gutes, Besitzer, Bodenfläche: 

2. Zahl der fremden Emtearbeiter pro 1885—87, Personenstand (Zahl der 
Ehepaare, der ledigen Männer, der Mädchen, Kinder unter 14 Jahren): 

3. Zeit der Beschäftigung (Dienstantritt, Entlassungstermin): 

Tägliche Arbeitszeit, Dauer der Mittagspause: 

4. Zahl der Wohnräume, belogt mit wie viel Personen: 

Grösse der Wohnräume (Länge, Breite, Höhe genau nach Metermaass), Zahl 
der Fenster: 

Ob heizbar? Wo ist der Kochheerd? 

5. Schlafräume, Zahl, Lage, Grösse nach Metermaass: 

Einrichtung (Trennung der Geschlechter oder gemeinschaftlich; im ersteren 
Fall ob getrennte Schlafräume überhaupt oder ob Kammern oder Vor¬ 
schläge auf gemeinschaftlichem Schlafraum? 

Belegt mit je wieviel Personen und welchen Geschlechts? 

6. Beschreibung der die Wohn- bezw. Schlafräume enthaltenden Gebäude: 
(massiv, Fachwerk)? 

Sind dieselben von anderen Arbeitern mit bewohnt? 

NB. Die örtlichen Verhältnisse sind durch eine Punkt 4, 5 und 6 erläu¬ 
ternde einfache Handzeichnung mit namentlicher Bezeichnung der einzelnen 
Bäume zu veranschaulichen; Thören und Fenster sind einzuzeichnen. Bei 
Bodenschlafräumen ist Profil mit einzuzeichnen. 

7. Lagerstätten (ob Bettstellen, wieviele, oder gemeinschaftl. Strohlager, Art 
der Bedeckung etc.): 

8. Steht ein besonderer Raum für Kranke zur Verfügung? 



Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter). 39 


9. Art der Beköstigung (gemeinschaftlich oder dem Einzelnen überlassen; ist 
eine besondere Gesindeköchin vorhanden): 

Wird das Mittagebrod auf dem Felde oder im Wohnraum verzehrt und wo? 

10. Zahl und Lage der Aborte: 

11. Welche ansteckenden Krankheiten wurden im Jahre 1885, 86 und 87 be¬ 
obachtet (Typhus, Krätze, Syphilis, Augenentzündungen etc.) unter Angabe 
der Zahl der Fälle: 

12. Wer führt die Aufsicht (ein Vorschnitter, Vorschnitterin)? 

Trotz dieser Motivirung verzögerte sich die Antwort und da 
bisher noch nie ein von mir gestellter Antrag abgelehnt worden 
war, im Gegentheil meine amtliche Stellung im Kreise eine der 
Art auf Vertrauen basirte ist, dass ich z. B. ohne Requisition aus 
eigener Initiative im Falle der Anmeldung einer ansteckenden 
Krankheit mich an Ort und Stelle begebe, je nachdem ich es für 
nöthig halte, — so war ich einigermassen befremdet, als nach 
Ablauf eines Monates die Antwort einging, „dass genannte Behörde 
Bedenken getragen habe, ohne Anweisung des Herrn Regierungs¬ 
präsidenten die gewünschten detaillirten Auskünfte über die Ver¬ 
hältnisse der während der Erntezeit, im landwirthschaftlichen 
Betriebe beschäftigten fremden polnischen Arbeiter und Arbeiterin¬ 
nen zu erfordern.“ Infolgedessen habe ich mir das Material 
anderweitig, theils von den mir bekanntesten Amtsvorstehern, 
theils durch Vermittelung eines Kollegen aus dem Bereiche sei¬ 
ner Praxis verschafft. Letzterer erhielt nur von einem Gutsvor¬ 
steher keinen ablehnenden Bescheid, nachdem vorher die Ver¬ 
sicherung abgegeben war, dass von Kreiswegen eine Aenderung 
des Bestehenden nicht beabsichtigt sei. Aus den bei mir einge¬ 
gangenen Berichten etc. hebe ich nun vier wesentliche Punkte 
hervor. 

1. Es fehlt überall ein mit den nothdürftigsten Uten¬ 
silien ausgestattetes Krankenzimmer. Die Einrichtung eines 
solchen würde ich für alle grösseren Güter mit mehr als 20 Arbei¬ 
tern für erforderlich halten; denn nur wenige Kreise dürften mit 
so zahlreichen, die Kranken unentgeltlich verpflegenden Kranken¬ 
häusern ausgestattet sein, wie der Steinauer. Baldige Isolirung 
im Beginn einer Infektionskrankheit erscheint aber hier aus 
prophylaktischen Gesichtspunkten besonders nöthig. 

2. Nur auf einem Gute sind Bettstellen mit 1 Strohsack 
und 1 Kopfkissen vorhanden, auf den übrigen lagern die Leute 
auf Stroh unter einer Decke; einer der Gutsvorsteher nennt 
die Bedeckung ungenügend. Das Stroh wird nur ausnahms¬ 
weise während des Jahres einmal gewechselt. 

3. Besondere Schlafräume ausser den Wohnzimmern sind 
nur vereinzelt vorhanden, die für jeden Kopf während der Schlaf¬ 
zeit zu beanspruchenden 3 Quadratmeter Bodenfläche und 10 
Kubikmeter Luftraum nur theilweise; so beträgt an einer Stelle 
der Luftraum pro Kopf nur 4 1 /« Kubikmeter, auf einem 2. Gute 
die Bodenfläche l 8 /. bezw. 1 */ 5 Quadratmeter, der Luftraum 4 
Kubikmeter und aui einem 3. Gute sind 8 Personen (5 zum Theil 



6. Hauptversammlung des Preußischen Medicinalbeamten Vereins, 


verheirathete Männer und 3 Mädchen) in einer Dachkammer zu¬ 
sammengepfercht, welche nur 8,10 Quadratmeter Bodenfläche und 
nur 14 Kubikmeter Luftraum gewährt. 

4. Mit letzterem Beispiel ist schon angedeutet, dass die 
Trennung der Geschlechter nicht überall durcbgeführt 
ist; auf einem andern Gute sind 12 Mädchen und 5 Burschen 
auf 2 Zimmern der Art vertheilt, dass 7 Mädchen mit 2 Bur¬ 
schen und 5 Mädchen mit 3 Burschen je ein gemeinschaftliches 
Strohlager theilen. 

Dass hochgebildete Landwirthe solche unglaublichen Zustände 
unter ihren Augen zulassen, ist mir geradezu unverständlich; schon 
die Rücksicht auf ihre eigenen Kinder müsste sie zur Abstellung' 
nöthigen. Ein dritter Gutsbesitzer machte mir die mündliche 
Mittheilung, dass er erst auf ausdrücklichem Befehl an seinen In¬ 
spektor die Trennung der Geschlechter durchgesetzt habe. Ich 
bin nach Allem schliesslich zu der Ueberzeugung gelangt, dass 
die polnischen Arbeiter und Arbeiterinnen vielfach als eine min- 
derwerthige Klasse von Menschen angesehen werden, auf deren 
Existenzbedingungen ein grosses Gewicht nicht zu legen sei. 

Die in Folge der beschriebenen Zustände am häufigsten 
auftretenden, das Gemeinwohl berührenden Krankheiten sind 
Syphilis, Krätze, granulöse Augenentzündung (Trachom) 
und Unterleibs-Typhus. 

Auf die erstere Krankheit gehe ich hier nicht weiter ein. 

Der Typhus ist im Ganzen im Kreise eine nicht sehr häufige 
Krankheit, umsomehr ist sein öfteres Vorkommen unter den 
polnischen Arbeitern auf ihre Wohnungs- und Lebensverhältnisse 
zurückzuftthren. Von 5 im Jahre 1887 beobachteten kleinen 
Typhusherden waren zwei von polnischen Mädchen ausgegangen; 
in beiden Fällen waren die Wohnungen tief gelegen, feucht, 
überhaupt höchst ungesund. In einem dieser Quartiere, in welchem 
9 polnische Mädchen wohnten, in einem aus 3 Etagen bestehen¬ 
den Bettverschlage auf Stroh schliefen, wuschen und die Wäsche 
trockneten, war schon im Jahre 1886 der Typhus gleichfalls 
ausgebrochen. 

Von der Krätze kann sicher behauptet werden, dass die¬ 
selbe eine sehr starke, wachsende Verbreitung zeigt. Im Jahre 
1885 waren von 833 im Kloster der barmherzigen Brüder zu 
Steinau behandelten Männern 35 Krätzkranke, im Jahre 1887 
unter 932 Kranken allein 78 Krätzkranke. Nach dem Kranken¬ 
material, unter dem natürlich auch Einheimische sind, ist diese 
Zunahme ursächlich auf die unhygienischen Zustände unter den 
polnischen Ernte-Arbeitern zurückzuleiten. Diese Krankheit hat 
unter der sesshaften deutschen Bevölkerung eine früher nicht ge¬ 
kannte Ausdehnung erreicht. So wurden im Jahre 1886/87 im 
benachbarten Kreise Wohlau wirkliche Krätze-Epidemien 
beobachtet und der Physikus von Amtswegen durch den Landrath 
zur Feststellung und Bekämpfung dieser den Betrieb der Land- 
wirthschaft im hohen Grade störenden Arbeiter-Krankheit requirirt. 



Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter). 41 


Zum Schluss noch einige Worte über die granulöse Augen- 
Entzfindung. Dieselbe wird bekanntermassen im mittleren und 
westlichen Deutschland wenig beobachtet. Während eines mehr¬ 
wöchentlichen vorjährigen Besuches der Augenklinik des Professor 
Kuhnt in Jena konnte, soweit ich mich entsinnen kann, nur ein 
einziger Fall von acuter granulöser Augen-Entziindung demonstrirt 
werden; derselbe betraf einen niederländischen, anf den Kolonien 
inflcirten Hauptmann, der die Trachomkörner sogar auf der 
Schleimhaut des Augapfels trug. Bei uns im Osten liegt die 
Sache anders. Ich behaupte, dass die granulöse Augen- 
Entzündung — acute wie chronische, bezw. die eiternde und 
die reizlose Form, — relativ häufig unter den polnischen 
Arbeitern vorkommt und dass die acute Form eine Gefahr 
für unsere sesshafte Bevölkerung nicht allein vom Stand¬ 
punkte der Erhaltung der Erwerbsfähigkeit, sondern 
auch von dem der Landes-Vertheidigung involvirt. 

Für diese Behauptung ist mir so zu sagen, der Boden ent¬ 
zogen worden durch den wohl Ihnen allen bekannten Vortrag 
des Geheimen Medicinal-Rath Professor Dr. Foerster in Breslau 
über die pseudo-ägyptische Augen-Entzündung. Professor Foerster 
nennt darin das Trachom „eine sehr chronisch verlaufende, meist 
ungefährliche, nur bei Vernachlässigung schadenbringende, wenig 
ansteckende Krankheit, bei welcher nur durch Komplicationen, 
wie pannöse oder geschwürige Hornhaut-Entzündung das Seh¬ 
vermögen bis zur Erblindung leiden kann“; er erwähnt in zweiter 
Reihe sodann die häufige Verwechselung des Trachoms mit dem 
noch ungefährlicheren follikulären Katarrh. Dass letztere Ver¬ 
wechselung häufig vorkoramt, ist bekannt; wenn man sich mit 
dieser Sache indessen erst eingehend beschäftigt hat, erscheint 
ein dauernder Irrthum in der Diagnose ausgeschlossen. Der 
Widerspruch der Foerster’schen Behauptungen und der meinigen 
ist jedoch nur ein begrenzter. Foerster hat augenscheinlich 
betreffs der Ansteckungsfähigkeit nur von der chronischen Form 
der granulösen Augen-Entzündung gesprochen und im Uebrigen 
vom Standpunkte des Klinikers ganz Recht, wenn er behauptet, 
dass bei zweckentsprechender Behandlung diese Krankheit eine 
relativ ungefährliche sei. Foerster behauptet „in mehr als 
30 Jahren keinen einzigen Fall gesehen zu haben, in dem eine 
Ansteckung sicher anzunehmen gewesen sei“. Ich habe jedoch im 
Laufe dieses Sommer’s unter anderen 3 acute Fälle von granulöser 
Augenentzündung beobachtet, von denen der 2. und 3. Fall ganz 
sicher durch Ansteckung entstanden sind. Am 27. Mai präsentirte 
sich Katharina N. aus 0. (Kreis Rawitzsch), am 20. Juni deren 
Schwester Marianne, am 8. Juli Juliane 0. aus G. (Kreis Ra¬ 
witzsch). Alle drei schliefen in demselben Zimmer auf Stroh 
mit noch 2 Polinnen: nachdem sie einige Mal mit dem Kupfer¬ 
stift touchirt waren, kamen sie nicht wieder. Ich muss daher bei 
meiner ersten Behauptung, betreffs der Ansteckungsfähigkeit und 
Gefährlichkeit der acuten granulösen Augen-Entzündung stehen 
bleiben. 



42 


6. Hauptversammlung dos Preussischen Modi cinal beamten Vereins. 


Dass das Trachom aus Oberschlesien zu uns gebracht wird, 
hat mir übrigens auch gelegentlich des behaupteten Ausbruches 
der granulösen Augen-Entzündung in der Willert’schen Stiftung 
zu Herrnprotsch bei Breslau der dirigirende Arzt des Schlesischen 
Vereins zur Heilung armer Augenkranker H. Dr. Burchard 
bestätigt. Er schreibt u. a.: „Trachome haben wir sehr viele 
aus Oberschlesien, besonders aus niederer Schmutzbevölkerung.“ 
Ferner „hätte ich z. B. Ihre Aufgabe, die polnischen Arbeiter 
hygienisch zu versorgen, die viel Trachom haben werden, so 
würde ich „eiterige“ Trachome von den „trocknen“ (reizlosen) 
streng trennen, Trachome überhaupt zurückweisen. Ueberhaupt 
ist ja die Gefahr bei ländlichen, in Staub und Hitze arbeitenden 
Augenkranken viel grösser als bei Schulkindern in einer schat¬ 
tigen, luftigen, auf dem Lande gelegenen Muster-Anstalt.“ — 
Ich kann dem nur beistimmen, dass Trachome zurückzu weisen 
sind. Die polnischen Erntearbeiter müssten, bevor sie nach 
Niederschlesien oder Sachsen ziehen, von wirklich sachverständiger 
Seite auf . ihre Gesundheit untersucht werden. 

Inzwischen ist mir von anderer autoritativer Seite eine 
wichtige, meine Behauptung, dass unter den polnischen Ernte¬ 
arbeitern ausser dem follikulären Katarrh und dem chronischen 
reizlosem Trachom eine als acute granulöse Augenentzündung 
anzusprechende ansteckende Krankheit vorkommt, wesentlich 
unterstützende Mittheilung zugegangen, die Sie mir gestatten 
wollen, vorzulesen. Herr Professor Magnus in Breslau schreibt 
am 2. d. Mts: 

,Wa8 das Trachom in Schlesien anlangt, so haben wir hier in 
Breslau viel acute Trachome. Genau die SchÜderun^, welche Sie, ver¬ 
ehrter Herr Kollege, geben, trifft für diese Krankh oltsform zu. Unter 
heftigen acuten Erscheinungen setzt diese Krankheit ein; zuerst ist 
die Schwellung der Konjunctiva so gross, dass man glaubt, man 
habe es mit einer Blennorrhoe oder etwas Aehnlicliem zu thun; 
allein nach Ablauf der stürmischen Anfangs-Erscheinungen sieht man 
die Follikel, oder nennen Sie sie vielleicht lieber Granula, deutlich 
und zwar am oberen wie unteren Lid. Geht die Schwellung noch 
mehr zurück, so sieht ein solches Auge aus wie ein gewöhnliches 
Trachom, dass schon länger mit Cuprum touchirt worden ist. Ich 
halte diese Krankheit für eine pathologisch wohl begrenzte und 
glaube, dass es sich hier um einen specilischen Krankheits-Erreger 
handelt. An eine blennorrhoische Infection trachomatöser Augen, 
wie etliche Autoren diese acute Granulöse autfassen, glaube ich 
nicht, weil ich gesehen habe, dass auf vorher ganz gesunden Schleim¬ 
häuten die acute Granulöse plötzlich auftritt. Die Ansteckungs¬ 
fähigkeit ist bei dieser Erkrankung ganz eminent. Ich kann also 
Ihre Ansicht über die acute Granulöse nur theilen.“ 

Uebrigens will ich zum acuten Trachom noch bemerken, dass 
dasselbe mit dem sogen, folliculären Katarrh nichts zu thun hat. 
Derselbe tritt niemals mit den stürmischen Erscheinungen der acuten 
Granulöse auf, sondern hat immer einen ausgesprochen chronischen 
Character. Ich unterscheide also: 

1) Catarrhus follicularis; leicht catarrhalische Reizung 
der Conjunctive mit Stecknadelkopf kleinen Follikeln, nur in der 
unteren Uebergangsfalte, kaum oder doch nur sehr gering am 
oberen Lide. 



Bemerkungen über die Lage der fremden Emtearbeiter (Schnitter). 48 


2) Reizloses Trachom. Die bekannten grossen Trachom¬ 
körner in der nicht entzündeten Schleimhaut, mit besonderer Vor¬ 
liebe in der oberen Uebergangsfalte, auch in der unteren. 

8) Entzündliches Trachom (acute Granulöse); erscheint 
mit dem Bild der Blennorrhoe und zeigt schliesslich grosse in die 
Schleimhaut beider Lider eingelagerte Körner. 

Für jede der drei Formen nehme ich einen specifischen Krank¬ 
heitserreger an. 

M. H.! Es kommt nicht auf den Namen an; es ist gleich¬ 
gültig, ob wir diese von mir bei den polnischen Erntearbeitern 
häufig beobachtet« Krankheit als acute granulöse Augen-Ent- 
zündung oder als eiteriges Trachom, entzündliches Trachom oder 
acute Granulöse bezeichnen. Die Hauptsache ist, dass diese 
Krankheit existirt und dass sie im hohen Grade an¬ 
steckend ist. 

Auf die bacteriologische Seite dieser Frage gehe ich hier 
nicht ein; dieselbe steht nach Inhalt des Baum gar ten’sehen 
Jahresberichtes (1887) betreffs ihrer Lösung anscheinend noch in 
weiter Feme. 

M. H.! Ich überlasse es Ihrem Urtheil, inwieweit ich den 
Beweis geliefert habe, dass die Lage der fremden Emtearbeiter 
in den von mir beschriebenen Districten, besonders in gesund¬ 
heitlicher Beziehung, vielfach eine unhygienische und die öffent¬ 
liche Wohlfahrt gefährdende ist. Dass eine öffentliche Calamität 
vorliegt, zeigt ein Artikel der Schlesischen Zeitung über das 
„Sachsengehen“ vom 10. Mai 1888, No. 325, aus welchem ich 
nur die eine Zeile ausziehe, dass im laufenden Frühjahre bis zum 
19. April allein durch Breslau aus Schlesien nachweislich 12465 
Sachsengeher beiderlei Geschlechts gezogen sind, ferner dass 
diese Leute an ihren sommerlichen Arbeitsstätten in einer Weise 
untergebracht seien, welche allen Anforderungen der Sitte wie 
der Gesundheitspflege Hohn spreche. — Um den Arbeiter- 
Wanderungen aus Oberschlesien entgegenzuwirken, hat übrigens 
der Landrath des Kreises Oppeln im Februar d. J. 
folgende meine Darlegungen jedenfalls bestätigende Verfügung 
erlassen: 


„Der Umstand, dass in den letzten Jahren das Aufsuchen von 
Arbeit seitens der Arbeiterbevölkerung des Kreises in ferngelegenen 
Landestheilen in ausserordentlicher Weise sich gesteigert hat, hat 
eine Menge von Unzuträglichkeiten zur Folge gehabt. In erster 
Reihe sind seitens der Arbeiter hier vielfach Klagen darüber geführt 
worden, dass die von den Vermittlern gemachten Versprechungen 
bezüglich des Verdienstes sowohl als der gewährten Lebensmittel 
von den Arbeitgebern nicht erfüllt worden sind. Für die Gemeinden 
und Armenverbände sind in nicht seltenen Fällen grosse Opfer von 
Geld für Verpflegung und Transporte von Kranken aus weiten 
Fernen entstanden und endlich hat das von den Familien entfernte 
Leben und das Wohnen in Massenquartieren auch auf die Sittlichkeit 
nicht günstig gewirkt. Alle diese Gründe fordern zunächst die 
arbeitende Bevölkerung auf, bei der Annahme von auswärtigen 
Arbeitern sich vorher durch ausreichend bindende Verträge über Lohn, 
Kost, Reisekosten etc. zu sichern, sie müssen aber auch die Ge- 
moindevorstände sowohl, als besonders Eltern und Vormünder 
minderjähriger Arbeiter und Arbeiterinnen veranlassen, dass das 



44 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenverein«. 


Annehmen auswärtiger Arbeit nur Personen gestattet wird, die mit 
rüstiger Gesundheit ausgestattet, durch ihren Character die erforder¬ 
liche Garantie bieten, dass sie schädlichen Einflüssen unzugänglich 
sind u. 8. w.‘ 

Meine heutigen Bemerkungen sollen keinen Anspruch auf 
Vollständigkeit machen; ich wollte nur darlegen, wie schwer ein 
wahrheitsgetreues Material über die Sachlage für den einzelnen 
Medicinalbeamten zu beschaffen ist, ferner dass und weshalb eine 
Abhilfe nöthig ist, andererseits die Gründe anführen, weshalb 
man diese Materie den Kreisen zur selbsttätigen Regelung nicht 
überlassen kann. Inwieweit ferner eine Beaufsichtigung der 
Wohnungs- und GesundheitsVerhältnisse der fremden Ernte- 
Arbeiter nicht durch die bei der Frage persönlich interessirten 
Polizeiorgane, sondern etwa (vielleicht auch durch die den Land- 
räthen zur Verfügung stehenden Gensdarmen), durch die Kreis¬ 
bau- und Kreismedicinalbeamten nöthig und zweckdienlich sein 
möchte, lasse ich dahingestellt. Die aus Abänderung dieser Zu¬ 
stände erwachsenen Kosten würden für die Landwirtschaft, trotz 
der vorhandenen Notlage derselben, keine so erheblichen sein, 
dass sie nicht durch die Förderung der Gesundheit und Arbeits¬ 
kraft der fremden Arbeiter reichlich aufgewogen würden. 

Wird die Notwendigkeit einer Abhülfe anerkannt, so kann 
dieselbe meines Erachtens nur durch eine generelle Regelung der 
in Rede stehenden Zustände geschaffen werden und dürfte es 
keine besonderen Schwierigkeiten haben, eine den dringendsten 
sanitären Anforderungen genügende Polizei-Verordnung unter 
Zugrundelegung der hier dargelegten Gesichtspunkte für die bei 
der Frage der fremden Ernte-Arbeiter in Betracht kommenden 
Provinzen, zu denen ich Posen, Schlesien, Brandenburg, Pommern 
und Sachsen rechne, aufzustellen. 

Sollte es mir durch meine heutigen Bemerkungen gelingen, 
zur Lösung der von mir zum 2. Male angeregten Frage beizu¬ 
tragen, so würde ich für die auf die Beschaffung des Materials 
aufgewendete Zeit und Mühe in diesem Erfolge allein die aus¬ 
reichendste Befriedigung finden. 

D i s c u s s i o n. 

H. Kr.-Phy». Dr. Schroeder (Weissenfels): M. II.! Ich kann der Ansicht 
des Kollegen Schmidt, dass auch das chronische Trachom ansteckend ist, 
nur beistimmen und trete ganz bestimmt gegen Förster auf. Eiflo ziemlich 
reiche Erfahrung setzt mich in den Stand, diese Behauptung zu bestätigen. 
Ich kann mich aber auch der Fürst er'sehen Ansicht, dass das chronische 
Trachom nicht so gefährlich sei, nicht anschliessen; denn wenn man Fälle 
sieht, wo in Folge von Trachom ein totaler Pannus oder Geschwüre der 
Hornhaut auftreten, dass man hinterher mit Mühe und Noth durch Bildung 
einer Pupille ein noch leidliches Sehvermögen herzustellen im Stande ist — 
ich meine, wenn man bei chronischem Trachom einen Folgezustand, der das 
Augenlicht bedenklich in Gefahr setzt, auftreten sieht, so kann man nicht 
sagen, dass dies Leiden ohne Gefahr sei. 

H. Kr.-Phys. Dr. Comnick (Striegau): Ich habe auch einige Erfahrungen 
über die sanitären Bedingungen gesammelt, unter welchen die Erntearbeiter 
leben, denn in meinem Kreise ist Jahr aus Jalir ein eine allerdings mit j*dem 
Jahre sich vermindernde Anzahl von Erntearheitern beschäftigt, welche aus 
der Provinz Posen stammen. Dieselben werden jedoch bei uns nicht als 


Bemerkungen über die Lage der fremden Erntearbeiter (Schnitter). 46 


Schnitter beschäftigt, sondern lediglich zum Zwecke der Kultur der Zucker¬ 
rüben aus Posen durch Agenten besorgt. Sie kommen ungefähr Anfang Mai 
an und verlassen Anfang Oktober schon wieder ihren Sommeraufenthalt. 

Die sanitären Bedingungen, unter denen diese Arbeiter leben, sind aber 
doch erheblich besser, als es in den von Kollegen Schmidt beschriebenen 
Kreisen Steinau und Soldin der Fall ist. Sie werden erstens bei uns viel 
besser bezahlt, dann aber auch besser beköstigt und haben auch viel bessere 
Wohnungen, wie ich häufig Gelegenheit gehabt habe, mich durch den Augen¬ 
schein zu überzeugen. Ueberall haben dieselben gedielte Räume und logiren 
fast nie in Bodenräumen unter dem Dach, sondern zu ebener Erde oder doch 
in einem Raum im ersten Stockwerk. Auf Stroh sind sie allerdings alle ge¬ 
bettet und der Ucbelstand dass die Geschlechter nicht getrennt sind, herrscht 
bei uns ebenfalls. Diese Arbeiter stehen aber sittlich auf keinem hohen 
Niveau, wie überhaupt die Sittlichkeit gerade unter dem ländlichen Gesinde — 
ich weiss nicht, ob nur gerade bei uns — auf* einem so niedrigen Niveau 
steht, dass die Trennung der Geschlechter mir nicht von wesentlichem Ein¬ 
fluss zu sein scheint. Denn wenn auch thatsächlich für das ländliche Gesinde 
verschiedene Schlafstellen für Männer und Weiber vorhanden sind, so bewegt 
sich doch das verheirathete wie das unverheirathete Gesinde zur Schlafenszeit 
durchaus nicht auf den ihnen angewiesenen Schlafstätten, sondern wo es jedem 
passt und wo sie sich gerade zusammenfinden. Ich glaube, das werden die 
meisten Kollegen, die die Verhältnisse auf dem Lande kennen, mir wohl auch 
bestätigen müssen. 

H. Kr.-Wundarzt Dr. Pitschke (Gerbstädt): M. H.! Ich stamme aus 
einem Kreise, in dem viel grosse Güter sind, nämlich aus dem Mansfeldischen 
Seekreise, und habe auch Jahr aus Jahr ein gerade mit dieser Arbeiter¬ 
bevölkerung Fühlung, die bei uns nicht allein aus Posen stammt, sondern 
auch aus Pommern, aus dem Eichsfelde u. s. w., Gegenden, wo man eigentlich 
eine bessere Bevölkerung herbezieht als aus Posen. Ich kann nun keineswegs, 
wie der letzte Kollege behaupten, dass die Ernährungsverhältnisse dieser 
Arbeiter besser, als in Schlesien wären; im Gegentheil, die Leute werden bei 
uns gerade so beköstigt wie in Schlesien, bezw. sie beköstigen sich selbst, 
d. h. sie ernähren sich fast nur von Kartoffeln. 

Auch das Zusammenliegen der Personen ist bei uns nicht eine Probe 
anders. Ich habe fürchterliche Zustände gesehen. Der erste Eindruck, den 
ich bekam, war ungefähr ebenso, wie der des Kollegen Schmidt. Ich kam 
in ein Lokal, wo Männer, Frauen und Mädchen zusammen untergebracht 
waren und in welchem so viel Ungeziefer war, dass ich direkt nach Hause 
fahren musste, um mich umzuziehen. Ich habe damals eine Beschwerde ein¬ 
gereicht, resp. mich an den betreffenden Inspektor gewandt wegen eines 
typhuskranben Jungen, der förmlich von Flöhen aufgefressen war. Nun, 
m. H., ich kann nicht anders sagen, als dass diese Beschwerden bis jetzt ver¬ 
zweifelt wenig genutzt haben. Ich habe auch in den damals noch nöthigen 
Vierteljahrsberichten darüber berichtet, aber das Einzige, was ich als Folge 
davon gesehen habe, war, dass auf einem der Güter eine Trennung der Ge¬ 
schlechter vorgenommen wurde, jedoch nur insoweit, dass die circa 120 Leute 
nach den Geschlechtern getrennt in besonderen aber keineswegs verschliess- 
baren Räumen untergebracht waren, so dass die Männer und Weiber auch 
weiterhin ungehindert durcheinander verkehren konnten. An einer Stelle 
lagen 50—60 Mädchen auf einem Dachboden, und darunter fand ich gelegent¬ 
lich bei einem Besuch eine, die mit einem neugeborenen Kind im Bett lag. 
Derartige Zustände, m. H., sind meines Erachtens himmelschreiend; es müsste 
entschieden dagegen etwas gethan werden, und zwar um so mehr, da es recht 
gut geht, wenn man nur will. Auf anderen Domänen habe ich z. B. gefunden, 
dass Männer und Weiber in einem separaten Hause lagen und dass in beiden 
Häusern alles spiegelblank war. Auch, die Ansicht mancher Aufseher bezw. 
Gutsbesitzer, dass die Leute keine Ordnung hielten, ist nicht immer zutreffend, 
man muss nur nicht, wie das oft geschieht, verlangen, dass die Leute die 
Reinigung ihrer Wohnräume selbst besorgen, sondern der Gutsherr muss die¬ 
selbe besorgen lassen; wie dies auf jenen Domänen der Fall war. Von Leuten 
die von früh bis spät arbeiten, und schon des Morgens um 4 Uhr auf die 
Arbeit rücken, kann man eben unmöglich erwarten, dass sie sich erst hin- 



46 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


stellen und die ihnen angewiesenen Räume reinmachen, welche vielleicht seit 
Jahren keinen Kehrbesen gesehen haben. Ja, m. H., ich kann ihnen versichern, 
dass ich von einem dortigen Lokal, in welchem der Schmutz zolldick lag, 
festgestellt habe, dass es von einem zum andern Sommer niemals gereinigt 
und niemals gescheuert war, selbst nicht einmal in der Pause, wo die fremden 
Arbeiter fort gewesen waren. 

Also ich glaube, dass auch für die Provinz Sachsen ein ganz bedeutender 
Nothstand besteht, und unterschreibe wörtlich alles, was Kollege Schmidt 
sagt. Es sollte jedoch darauf gedrungen werden, nicht bloss lokal, an ein¬ 
zelnen Orten, sondern durch allgemeine Verfügung die Missstünde abzustellen, 
weil die Anzeige solcher Fälle durch einzelne Medicinalbeamten lediglich dazu 
führt, dass die letzteren in ihrer ärztlichen Thätigkeit Einbusse erleiden. Ich 
bin wenigstens seit der Zeit, wo ich die betretende Gutsverwaltung angezeigt 
habe, als Arzt ihrer Leute gestrichen und es werden wohl manche unter Ihnen 
sein, welche dieselbe oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben. 

H. Kr.-Phys. Dr. Wodtke (Dirschau): Auch im Kreise Marienburg, wo 
die Arbeiter zur Bearbeitung der Zuckerrüben massenhaft zuziehen, besteht 
die Einrichtung der Massenquartiere. Es ist auch in Folge der Uebelstände 
eine Polizeiverordnung dort erlassen worden, die ungefähr den von Kollegen 
Schmidt gestellten Anforderungen entspricht. Aber die Polizeiverordnung 
steht nur auf dem Papier, denn die Amtsvorsteher sind selbst ländliche Be¬ 
sitzer, welche kein Interesse daran haben, diese Massenquartiere in Ordnung 
zu halten, bezw. zu revidiren und die Medicinalbeamten sind meines Wissens 
in den 6 Jahren, seitdem die Polizeiverordnung besteht, noch niemals mit 
derartigen Revisionen beauftragt worden. Es ist eben wieder der alte wunde 
Punkt, dass die Medicinalbeamten zu den sanitätspolizeilichen Untersuchungen 
nicht herangezogen werden. (Zuruf: Und dass alles auf dem Papier bleibt!) 

Vorsitzender: Wünscht sonst noch jemand das Wort? 

Dann sage ich H. Kollegen Schmidt für diesen ausser¬ 
ordentlich anregenden und interessanten Vortrag den verbind¬ 
lichsten Dank. 


VI. Ueber einzelne Bestimmungen des Gesetzes 
vom 9. März 1872, betreffend die Gebühren der 

Medicinalbeamten. 

H. Kreisphysikus Sanitätsrath Dr. Wallichs (Altona). M. H.! 
Es ist weder meine Absicht, den Gegenstand erschöpfend zu 
behandeln, noch auch Vorschläge zu machen, in welcher Weise 
die von mir gerügten Mängel des Gesetzes, das nun 16 Jahre in 
Geltung ist und mit dem wir uns alle vielfach beschäftigen 
müssen, abzustellen sind. Ich will nur einiges hervorheben, was 
mir aufgestossen ist, die Discussion wird vielleicht weiteres 
Material dazu thun. Wären unsere Wünsche nach Medicinal- 
reform befriedigt oder auch nur nahe Aussicht dafür, dann hätte 
der Gegenstand überhaupt kaum berührt zu werden brauchen. 

Im § 1 des Gesetzes kommt der Absatz 2, nachdem uns die 
Begutachtung gewerblicher Anlagen entzogen worden, kaum noch 
in Anwendung. Der Absatz 3 giebt dagegen zu vieler Un- 
•horheit Anlass. Bei der Berathung des Gesetzes, welches den 



Das Gesetz über die Gebühren der Medicinalbeamten v. 9. März 1872. 47 


Landtag durch drei Sessionen hindurch beschäftigte, wurde in 
der letzten derselben im Abgeordnetenhause der Antrag gestellt, 
dass nur die Gemeinden, in denen eine Königliche Polizei nicht 
besteht, dem neuen Gesetze unterstellt würden, und dass die 
Zahlung der Gebühren nur dann erfolgen solle, wenn die Ge¬ 
meinde oder die Polizeibehörde die betreffende Verrichtung auch 
requirirt habe. Indess wurde dieser Antrag auf Widerspruch des 
Regierungs-Commissars abgelehnt. Da nun nach § 3 des Gesetzes 
vom 11. März 1850 über die örtliche Polizeiverwaltung die 
Kosten derselben (mit Ausnahme derjenigen für die nach § 2 
angestellten besonderen Beamten, zu denen die Physiker nicht 
gehören), von den Gemeinden zu bestreiten sind, so 1 kommt es 
für den Anspruch des Physikus auf Gebühr nicht darauf an, ob 
er etwa von einem Königlichen Beamten (Landrath, Polizei- 
director) requirirt ist, sondern nur ob das Geschäft im orts¬ 
polizeilichen Interesse verrichtet ist. Dazu gehört z. B. seine 
Thätigkeit in der Sittenpolizei (nach einem Urtheil des Ober¬ 
tribunals), nicht aber die Revision von Krankenhäusern. Im 
concreten Falle werden etwaige Zweifel von den Gerichten zu 
entscheiden sein. Ob, wie Virchow in der fraglichen Sitzung 
am 13. Februar 1872 behauptete, der Reg.-Commissar jedoch in 
Abrede stellte, die Berliner Bezirksphysiker' in dieser Hinsicht 
eine andere Stellung gegenüber der Gemeinde haben in Folge 
Vertrages, kann hier unerörtert bleiben. Jedenfalls ist es anzu- 
rathen, von dem Anspruch, den Absatz 3 des § 1 gewährt, vor¬ 
kommenden Falls energischen Gebrauch zu machen. 

Im § 2 des Gesetzes der durch die Verordnung vom 17. Sep¬ 
tember 1876 geändert, bezw. ersetzt worden ist, fällt die Be¬ 
stimmung auf, dass an Tagegeldern für gerichtsärztliche Geschäfte 
nur 9 Mark, in andern Fällen 12 Mark gefordert werden können. 
Zur Begründung dieses Unterschiedes ist geltend gemacht worden, 
dass die in gleichem Range stehenden Richter nur 9 Mark an 
Tagegeldern erhalten, dabei aber nicht beachtet, oder merk¬ 
würdiger Weise von ärztlicher Seite nicht mit Nachdruck hervor¬ 
gehoben worden, dass der Richter vom Staat auskömmlich be¬ 
soldet wird, der Physikus aber zu seinem Unterhalt auf Privat¬ 
praxis angewiesen ist, die er durch Dienstreisen oft schädigt. 

Bei § 3 des Gesetzes ist zunächst daran zu erinnern, dass 
die Vorschriften der Civil- wie der Strafprocessordnung über die 
Ernennung von Sachverständigen zum Nachtheil der Medicinal¬ 
beamten von den Richtern willkürlich gehandhabt werden. 

Die Sätze für die einzelnen Verrichtungen sind zum Theil 
nicht entsprechend. Derjenige für einen Termin ist nur dann 
genügend, wenn derselbe kurz ist. Ueberstunden werden dem 
Arzte, dessen Bildung höher, dessen Zeit kostbarer ist, schlechter 
honorirt als z. B. dem Chemiker. 

Wenn die Gebühr für eine gerichtliche Obduction schon an 
sich nicht hoch ist, so erweist sich als merkwürdig unvollständig 
die zusätzliche Bestimmung über die Verdoppelung derselben, die 



48 6. Hauptversammlung des Preußischen Medicinalbeamten Vereins. 


z. B. nicht ein tritt, wenn ein Leichnam wochenlang an der Loft 
gelegen hat. Es würde sich bei einer Abänderung empfehlen, 
nur den Grad der eingetretenen Verwesung als Maassstab za 
nehmen. 

Für den Obductionsbericht dürfen 6 bis 18 Mark berechnet 
werden. Es ist nün nicht wohl denkbar, dass gerade ftir dies 
Gutachten jemals der niedrigste Satz angemessen sein wird, und 
wenn man nicht für die dazu in der Regel beträchtliche nöthige 
Arbeit mehr als 18 Mark bewilligen wollte, so war hier ein ein¬ 
heitlicher Satz (18 Mark) gewiss am Platze. Es wird damit zu¬ 
gleich die doch unerfreuliche Anwendung des § 10 vermieden. 
Es giebt kaum ein Analogon dafür, dass ein Honorar für eine 
solche wissenschaftliche Arbeit von einem andern Sachverstän¬ 
digen willkürlich herabgesetzt werden kann; — denn so ist doch 
der Vorgang, da die Regierung stets der Ansicht ihres Techni¬ 
kers folgen wird, — und es wird den Medicinalbeamten dies 
Verfahren meistens ein peinliches sein. 

Diese Bemerkungen treffen natürlich auch die No. 6 des 
§ 3, obgleich in dieser eine Abstufung schwer zu entbehren 
sein wird. 

Der § 6 des Gesetzes (Vorbesuche), welcher früher zu einer 
sonderbaren Auslegung durch die Oberrechnungskammer geführt 
hatte, ist nunmehr durch eine Minist-Verf. (s. Eulenberg’s Viertel¬ 
jahrsschrift 1877, Bd. 26, S. 199) in diesem Punkt (dass nämlich 
jeder Vorbesuch bez. Besichtigung ausserhalb der Wohnung der 
Medicinalbeamten berechnet werden darf), befriedigend geordnet 
In einigem Widerspruch mit der verlangten Sorgfalt im Entmün- 
dungsverfahren steht in dem vor kurzen ergangenen Ministerial¬ 
erlass die Mahnung, thunlichst auf einen Vorbesuch sich zu be¬ 
schränken. Ein solcher dürfte dem gewissenhaften Arzte selten 
genügen. Beiläufig sei ferner erwähnt, dass der sachverständigen 
Thätigkeit des Medicinalbeamten durch diese Verfügung ein neuer 
Abbruch geschehen ist. 

Als minder bedeutend möge schliesslich noch angefügt werden, 
dass in dem Gesetz eine Bestimmung über Vergütung für das 
Studium der Acten in solchen Fällen, in denen ein schriftliches 
Gutachten nicht gefordert wird (aus Ersparungsrücksichten?), 
nöthig ist, desgleichen eine Bestimmung für Theilnahme des 
Medicinalbeamten an einer chemischen Untersuchung (§ 8), sowie 
eine Erhöhung des Ansatzes für Copialien, der in seiner jetzigen 
Gestalt bei umfangreicheren Arbeiten das spärliche Honorar nur 
noch zu vermindern geeignet ist. 

M. H.! Hiermit ist das Thema gewiss nicht erschöpft, aber 
die wichtigeren Punkte, die bei einer weitgehenden Abänderung 
des Gesetzes in Betracht zu ziehen sind, werden berührt sein. 

Discussion: 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich (Cöslin): M. H.! Ich möchte mir 
den Antrag erlauben, die Discussion über den Vortrag des Herrn Kollegen 
Wallichs, wenn möglich, auf morgen als ersten Gegenstand der Tages¬ 
ordnung zu verschieben. Ich will nur mit einem Wort den Grund dafür an- 


Das Gesetz über die Gebühren der Medicinalbeamten v. 9. März 1872. 49 

geben. Es ist sowohl Herrn Kollegen Wallichs, wie der Geschäftsleitung 
besonders zu gratuliren, dass die letztere eine Form gefunden hat, dass wir 
den eigentlichen Entstehungsgrund und Schöpfungsgrundsatz unseres Vereins, 
die Medicinalreforni, bei unseren Berathungen stets im Auge behalten. Das 
kann nun auf verschiedene Weise geschehen. Wie ich schon früher erwähnte, 
hat mein Vortrag „Der Entwicklungsgang im Preussischen Medicinalwesen* 
auf Wunsch des Vorstandes eine ganz andere Spitze, eine ganz andere 
Wendung bekommen, denn eigentlich war es meine Absicht, in erster Linie 
den Entwicklungsgang des Preussischen Medicinalwesens mit Rücksicht auf 
uns Aerzto und Medicinalbeamten zu erörtern und hierbei unsere Medicinal- 
reform zu besprechen. Da dies nun nicht geschehen ist, wir aber anderer¬ 
seits einen Gegenstand haben, der uns diese Reformangelegenheit wieder 
frisch aufs Tapet bringen hilft — es mag die Discussion nachher ergiebig oder 
weniger ergiebig sein — so möchte ich den Vorschlag machen, ob wir nicht 
die Discussion über den Vortrag des Herrn Kollegen Wallichs auf morgen 
verschieben wollen, wo uns mehr Zeit dazu als heute zur Verfügung stehen wird. 

H. Kr.-Phys. Sanitätsrath Dr. Meinhof (Pieschen): M. H.! Ich glaube 
nicht dass die Discussion eine sehr grosse Ausdehnung nehmen wird, da die 
Sache doch ziemlich klar ist. Ich bin daher dafür, dass wir dieselbe heute 
noch abmachen, weil sonst die Berathung derjenigen Gegenstände, die für 
morgen angesetzt sind, verkürzt wird. 

H. Stadtphysikus Dr. Mittenzweig (Berlin): M. H.! Wenn die Discussion 
auf morgen vertagt werden soll, dann möchte ich wenigstens bitten, dass erst 
der Vortrag von Herrn Moll stattfindet. 

Die Versammlung beschliesst hierauf, dass die Berathung 
über den Vortrag des Herrn Wallichs am nächsten Sitzungs¬ 
tage nach dem Vortrag des Herrn Dr. Moll stattfinden soll; des 
besseren Zusammenhanges wegen wird jedoch die am zweiten 
Tage stattgefundene Discussion hier gleich eingefügt: 

H. Kr.-Phys. Dr. Schroeder (Weissenfels): Es hat namentlich ein Punkt 
in dem gestrigen Vortrage des Herrn Kollegen Wallichs mich angesprochen, 
das ist die Missbilligung der verschiedenen Honorirung von seiten des Gerichts 
und von seiten der Staatskasse für physikatliche Amtsgeschäfte. Herr Kollege 
Wallichs hat als muthmasslichen Grund dafür angegeben, der Modicinal- 
beamte dürfe vor dem betreffenden Richter nichts voraus haben, da dieser auch 
nur 9 Mk. Tagegelder und 50 Pfg. pro km erhalte. Ich muss nun Kollege 
Wallichs durchaus beipflichten, wenn er diesen Grund für nicht stichhaltig 
hinstellt, denn der Richter steht in der That in einem ganz anderen Ver¬ 
hältnis», er gehört zu den Beamten, die ein auskömmliches Gehalt bekommen. 
Aber das trifft bei den Kreisphysikern nicht zu. Wir sind eben durch unser 
Gehalt gezwungon, uns mit andern Dingen auch noch zu beschäftigen. Es 
wäre sehr wünschenswerth, wenn wir auch von der Gerichtskasse 12 Mk. 
Tagegelder bekämen und 60 Pfg. pro km Landweg. 

H. Dr. Wallichs (Referent): Ja, m. H., ich habe, wie ich das gestern 
auch bei der Einleitung meiner Bemerkungen gesagt habe, nicht die Absicht 
gehabt, Ihnen formulirto Veränderungen des fraglichen Gesetzes vorzuschlagen, 
beziehungsweise etwas Bestimmtes in Anregung zu bringen, was an die Stelle 
der gerügten mangelhaften Bestimmungen treten könnte. Es fragt sich aber, 
ob man der Sache nicht einmal in der Weise näher treten könnte, dass, sei 
es von einem Einzelnen, sei es von einer Kommission, Vorschläge zu Ab¬ 
änderungen des Gesetzes gemacht würden. Das gebe ich Ihnen anheim. 

Was den von Herrn Schröder eben berührten Punkt betrifft, worin er 
mir ja durchaus beistimmt, so ist es nicht Sache des Vereins, bezw. hat es 
seine Bedenken, den Verein als solchen zu veranlassen, Anträge in der 
Richtung an die Staatsbehörde zu stellen. Es würde das auch betreffs eines 
einzelnen Punktes eine vielleicht nicht hinreichend dankbare Aufgabe sein. 
Es handelt sich ja dabei um Abänderung eines Gesetzes, nicht einer Ver¬ 
ordnung. Immerhin wird es dem Einzelnen unbenommen sein, sich wegen 
eines solchen Punktes, der ihm besonders am Herzen liegt, zu bemühen. Der 
Verein als solcher würde sich wohl nur mit einer Abänderung des ganzen 



50 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


Gesetzes, in dem nach meiner und auch nach Ihrer Meinung eine ganze Reihe 
von Punkten enthalten sind, die einer Verbesserung bedürften, befassen können. 

H. Kr.-Phys. u. Sanit.-Rath Dr. Nötzel (Dolberg): M. H.! Ich bedaure die 
Kirchhofsstille, die hier herrscht, statt einer lebhaften Discussion. Gestern 
haben wir das Gefühl gehabt, es wäre sehr wiinschenswerth, in eine Discussion 
über den Vortrag des Herrn Wallichs einzutreten. Ich bedaure, dass, wie es 
scheint, Niemand das Wort ergreifen will. Ich habe leider nicht die Zeit ge¬ 
habt, mich unmittelbar vor der Versammlung darauf vorzubereiten, wie es 
manchem von Ihnen vielleicht möglich gewesen ist, und doch habe ich den 
lebhaften Wunsch, dem Referenten Herrn Wall ichs zu erkennen zu geben, 
dass wir nicht bloss mit ihm einverstanden sind, sondern auch wünschen, dass 
seine Vorschläge nicht in's Wasser fallen und dass sie nicht ganz einfach von 
unserer Seite ohne jedes Zeichen der Zustimmung aufgenommen werden, son¬ 
dern ich möchte mir erlauben, den Antrag zu stellen, dass wir den Vorstand 
unseres Vereins ersuchen, wenn es möglich ist, der nächsten Versammlung ge¬ 
eignete Vorschläge zur Verbesserung dos in Rede stehenden Gesetzes zu unter¬ 
breiten. Ich glaube, dass das gerade eine Aufgabe ist, wie sie der Vorstand, 
der sich ja verstärken könnte, leisten kann und hoffentlich auch gern leisten 
wird. M. H.! Wir kommen auf diese Weise, glaube ich, nicht weiter, wenn 
wir nur hier zuhören, und dann nachher noch nicht einmal insoweit die Scheu, 
an die Oeffentlichkeit zu treten, überwinden, dass einer oder der andere auf¬ 
steht und sagt: ja, das ist aus unserem Herzen gesprochen, wir fühlen die 
Nothwendigkeit sehr lange und wir sind dem Redner, der das Odium — ein 
solches scheint es fast — auf sich genommen hat, den Mund hier aufzumachen, 
von Herzen dankbar und wollen seine Bestrebungen unterstützen. 

Also ich stelle hiermit den Antrag, es möge der Vorstand des Vereins 
von der Versammlung ersucht worden, bis zu unserer nächsten Versammlung 
geeignete Vorschläge, wenn nöthig, unter Hinzuziehung ihm geeignet erschei¬ 
nender Collegen zu machen. 

H. Reg.-und Med.-Rath Dr. Rapmund (Aurich): M. H.! Dem Vorschläge 
den Herr Vorredner eben gemacht hat, stimme ich vollständig bei. Kollege 
Wallichs hat das grosse Verdienst, dass er uns im allgemeinen die Schäden 
der Taxe vorgeführt hat. Nach meiner Meinung ist aber eine ausgiebige und 
erfolgreiche Diskussion über die fragliche Angelegenheit nur möglich, wenn 
uns bestimmte Vorschläge vorliegen, in der Weise, wie z. B. vor 2 Jahren bei 
Berathung der Medicinalreform. Ich bin fest überzeugt, dass der Vorstand 
gern die Arbeit übernehmen wird, Ihnen im nächsten Jahre derartige Ab¬ 
änderungsvorschläge zu unterbreiten und sich auch unter den Vereinsmit¬ 
gliedern eine Reihe finden werden, welche den Vorstand bei dieser Arbeit 
bereitwilligst unterstützen werden. Der so ausgearbeitete Entwurf kann dann 
vielleicht schon vor der Versammlung in der Medicinalbeamtenzeitung ver¬ 
öffentlicht werden und hier gleichsam eine Einleitung der Debatte stattfinden. 
Jedenfalls wird bei diesem Verfahren eine viel ausgiebigere Discussion als 
heute möglich sein, wo uns keine bestimmten Vorschläge gemacht sind. Ich 
8 chliesse mich also dem vom Herrn Vorredner ausgesprochenen Wunsche 
durchaus an. 

H. Kr.-Phys. Dr. Freyer (Stettin): Zu dem vom Collegen Nötzel ge¬ 
machten Vorschlag wollte ich nur das Amendement stellen, dass die Mit¬ 
glieder des Vereins aufgefordert werden, etwaige Punkte, die in dem Vortrage 
des H. Referenten nicht erwähnt worden sind, dem Vorstande mitzutheilen. 

H. Dr. Wallichs (Referent): Ich glaube nicht, dass ein derartiger Zusatz 
unbedingt nothwendig ist; denn es ist ja selbstverständlich, dass solche Mit¬ 
theilungen der etwa zu wählenden Kommission oder dem Vorstande nur 
äusserst erwünscht sein können und dass es im eigensten Interesse der Vereins¬ 
mitglieder liegt, mit ihren praktischen Erfahrungen in dieser Hinsicht nicht 
zurückzuhalten. 

Vorsitzender: Der von H. Nötzel mir schriftlich eingereichte 
Antrag lautet, wie folgt: 

„Der Vorstand wird ersucht, bis zur nächsten 
Jahresversammlung die nöthig erschein enden Ab- 



Das Gesetz über die Gebühren der Medieinalboamten v. 9. Mürz 1872. 51 


änderungsvorschläge zu dem Taxgesetze für 
Medicinalbeamten eventuell unter Hinzuziehung 
geeignet erscheinender Vereinsmitglieder vor- 
zuberathen und der Versammlung zur Beschluss¬ 
fassung vorzulegen.“ 

Da Niemand mehr das Wort ergreift, bringe jetzt den be¬ 
treffenden Antrag zur Abstimmung. 

Derselbe ist angenommen; nur ein Mitglied hat sich dagegen 
erklärt. Gleichzeitig darf ich wohl auf die allgemeine Zu¬ 
stimmung der Versammlung rechnen, wenn ich dem H. Kollegen 
Wallichs für seinen Vortrag unseren Dank ausspreche. (Zu¬ 
stimmung). 

(Schluss der Sitzung 2 x / 2 Uhr Nachmittags.) 


Nach Schluss der Sitzung (2 l / 2 Uhr Nachmittags) fand die 
Besichtigung des neuen Römerbades (verlängerte Zimmerstrasse 
No. 4/5) und des damit verbundenen Instituts für Medico-Mechanik 
unter sachkundiger Leitung des dirigirenden Arztes H. Dr. 
Bosenbaum statt und versammelte hierauf 4 Uhr Nachmittags 
ein Festmahl im „Englischen Hause“ den grossen Theil der an¬ 
wesenden Mitglieder zu mehrstündigen, frohbewegten Zusam¬ 
mensein. 

Abends 9 Uhr folgte dann eine zwanglose Vereinigung bei 
„Sedlmayer“ (Friedrichsstrasse No. 172). 


4 * 



Zweiter Sitzungstag. 


Donnerstag, den 27. September 1888 Vormittags 8 Uhr. 


I. Der Hypnotismus unter besonderer 
Berücksichtigung der gerichtlichen Medicin. 

Herr Dr. Moll (Berlin). M. H.! Trotz des Interesses, das 
der Hypnotismus bietet, ist derselbe nicht immer ein dankbares 
Demonstrationsobjekt. Dies kommt daher, dass wir es hier mit 
Zuständen zu thun haben, deren Echtheit gewöhnlich nicht durch 
einzelne objektive Symptome bewiesen, sondern nur nach dem Ge- 
sammtbilde vom erfahrenen Experimentator erkannt werden kann, 
so dass die Ueberzeugung, so zu sagen, meistens eine subjektive 
ist. Hinzu kommt, dass die meisten hypnotischen Zustände Zei¬ 
chen darbieten, die den Fernerstehenden als verdächtig erscheinen, 
und aus denen diese alsdann den falschen Schluss auf Simulation 
ziehen. Aus diesen Gründen betrachte ich meine Demonstrationen, 
die ich, Ihrer freundlichen Einladung folgend, hier mache, nicht 
als Beweismittel, sondern nur als eine Anregung für Sie zu eige¬ 
nen Versuchen, durch die Sie sich am leichtesten ein Urtheil 
bilden werden. 

Bevor ich zu den Experimenten komme, nenne ich Ihnen 
kurz die heutigen Hauptschulen des Hypnotismus. Auf Vollstän¬ 
digkeit müssen Sie hier ebenso verzichten, wie bei den Demon¬ 
strationen und bei der Erörterung der forensischen Fragen, da 
hierzu die Zeit nicht ausreicht. 

Ich beginne mit der Schule Charcot’s (der sogenannten 
Schule der Salpetriöre) die den Hypnotismus bei der grande hy- 
st6rie studirt hat. Charcot unterscheidet hier 3 Phasen des 
Hypnotismus: 

1) Die Katalepsie, in welcher die Versuchsperson 
jede beliebige Körperstellung längere Zeit beibehält; 

2) Die Lethargie, in der alle Glieder wie gelähmt 
erscheinen, und 

3) den Somnambulismus, ausgezeichnet durch die 
Suggestionen, d. h. die Beeinflussung der Versuchsperson 
durch Vorstellungen. 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtL Medicin. 


53 


C h a r c o t giebt ausserdem Unterschiede der neuromuskulären 
Erregbarkeit in den verschiedenen Phasen an. 

Die zweite Schule ist die Nancyer, deren Hauptver¬ 
treter, Liübeault, prakt. Arzt in Nancy, und Bernheim, Pro¬ 
fessor der Medicin daselbst sind. Sie hält die Charcot’schen 
Phasen für Kunstprodukte, die durch eine allmähliche Dressur 
hervorgebracht würden; sie bestreitet die Veränderungen der 
neuromuskulären Erregbarkeit, und führt besonders Bernheim 
alle Erscheinungen des Hypnotismus auf die Suggestion zurück. 

Die dritte Schule, die modernen Mesmeristen, wie Max 
Dessoir in seiner vorzüglichen Bibliographie sie nennt, hält fest 
an dem thierischen Magnetismus, der unabhängig vom Hypnotis¬ 
mus bestehe, und der sich in gewissen persönlichen Einflüssen 
eines Individuums auf ein anderes äussern solle. 

Genau genommen, bestehen zwischen diesen 3 Schulen keine 
Widersprüche, und es könnte jede Schule für besondere Fälle 
Recht haben. Eine Verallgemeinerung jedoch lassen nach 
meinen Erfahrungen nur die Lehren der Nancyer zu. 

Ich komme jetzt zu den Demonstrationen und spreche hierbei 
die Bitte aus, dass in Referaten über meinen Vortrag Namen von 
Versuchspersonen nicht genannt oder angedeutet werden. Ein 
Theil derselben, die mit grosser Liebenswürdigkeit sich heute zu 
meiner Verfügung stellten, gehört den besten Gesellschaftsklassen 
an und wünscht, dass Namen nicht genannt werden. 

Um die Hypnose zu erzeugen, haben wir zwei grosse Gruppen 
von Mitteln: 1. die sensoriellen und 2. die psychischen. 

Die ersteren bestehen darin, dass irgend ein Sinnesorgan 
einen gewissen Reiz erfährt. Das bekannteste Verfahren ist das 
Braid’sche, das nach dem verstorbenen Chirurgen Braid in 
Manchester so genannt wird. 

Eine Versuchsperson erhält einen glänzenden Knopf zur Fixation; durch 
sie wird die Hypnose nach Braid's Methode hervorgebracht. 

Die zweite Gruppe bilden die psychischen Mittel, wobei man 
die Hypnose gewöhnlich durch Worte erzeugt. 

Zu einer zweiten Versuchsperson: Sie werden spüren, wie allmählich Ihre 
Augen Ihnen ermüden, wie die Arme und die Beine, wie alle Glieder Ihnen 
schwerer werden, wie der Kopf dumpf wird. Im ganzen Körper entsteht eine 
Müdigkeit. Sie werden bald nicht mehr im Stande sein, das Auge offen za 
halten, es schliesst sich mehr und mehr, jetzt geht es nicht mehr auf, schlafen 
Sie! Versuchen Sie das Auge zu öffnen. (Zur Versammlung: Sie kann es nicht 
mehr öffnen.) 

Zu einer dritten Versuchsperson: Hören Sie genau auf die Uhr! 

Ebenso wie aufs Auge kann man auch aufs Gehör wirken. 

Nachdem hier durch Einwirkung auf das Gehör die Hypnose 
erzeugt ist, zeige ich Ihnen ein kombinirtes Verfahren, wo ich 
durch Fixation und gleichzeitige psychische Einwirkung den hyp¬ 
notischen Zustand hervorbringe: 

Zu einer vierten Versuchsperson: Junger Mann, sehen Sie nur auf meinen 
Fingor, denken Sie nur daran, dass Sie einschlafen, an nichts weiter. Sie wer¬ 
den spüren, wie eine Ermüdung im Auge eintritt, wie das Auge feuchter wird; 
es fängt an zu thränen, der Blick wird trüber, dos Bedürfniss, das Auge zu 



54 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenverems. 


schliessen, nimmt immer mehr zu. Jetzt schliesst es sich. An den Armen v 
an den Deinen, überall entsteht eine Erschlaffung. Sie können nicht mehr 
widerstehen, es ist Ihnen unmöglich, noch lange das Auge offen zu halten, 
die Schwere im Augenlid nimmt zu. Schlafen Sie! Gleich wird sich das 
Auge schliessen, der Kopf wird immer dumpfer, immer müder. Drücken Sie 
das Auge fest zu. Jetzt sind Sie nicht mehr im Stande, es zu öffnen. 

Ich möchte Ihnen noch ein Verfahren zeigen, m. H., das An¬ 
fangs einen etwas komischen Eindruck macht. Es sind die soge¬ 
nannten Mesmerischen Striche. Die Art der Wirksamkeit ist noch 
lange nicht festgestellt. Ich will mich mit der Thatsache be¬ 
gnügen, dass dieselben mitunter hypnotisirend wirken. (Vortragen¬ 
der macht den Versuch bei einer fünften Versuchsperson.) Jeden¬ 
falls hat das Verfahren eine sehr grosse historische Bedeutung, 
da es ja mehrere Jahrzehnte hindurch, am Anfang dieses Jahr¬ 
hunderts fast ausschliesslich angewandt wurde. 

Der Vortragende macht Handbewegungen vor dem Gesicht der Versuchs¬ 
person und frügt diese sodann: Schlafen Sie? (Antwort: Ja!) Fest? (Ant¬ 
wort: Ja!). 

Die Erscheinungen der Hypnose sind sehr wechselnd, so wech¬ 
selnd sogar, dass eine allseitig befriedigende Definition noch nicht 
existirt. Eines indess findet man überall: eine Herabsetzung der 
Willensthätigkeit. 

Ich erzeuge hier bei einer sechsten Versuchsperson die Hyp¬ 
nose durch mehrfache Striche auf den geschlossenen Augen. 

(Zu der Person: Versuchen Sie das Auge zu öfihen.) 

Es bleibt fest geschlossen. 

In den leichteren Graden der Hypnose findet sich nun gar 
nichts weiter, als dieser Augenschluss. Es ist nichts weiter zu 
konstatiren, höchstens noch manchmal ein subjektives Müdigkeits¬ 
gefühl. Sie sehen, die Arme dieser Versuchsperson können voll¬ 
ständig frei bewegt werden. 

Zu der Person: Versuchen Sie das Auge zu öffnen. (Das Auge bleibt ge¬ 
schlossen.) Bei »Drei“ können Sie die Augen öffnen. Eins, zwei, drei! (Die 
Person öffnet die Augen.) 

Das Erwecken führe ich immer auf die Weise herbei, dass 
ich den Personen sage: wachen Sie auf, oder, wenn ich bis drei 
zähle, sind Sie munter oder auf ähnliche Weise. 

Ist die Hypnose etwas tiefer, so werden die willkürlichen 
Bewegungen auch in den Extremitäten und anderen Körpertheilen 
unmöglich. 

Zu der zweiten Person: Sie werden jetzt die linke Hand nicht mehr auf 
den Kopf hinauf bekommen können. Versuchen Sie es, handeln Sie nicht zu 
Gefallen, Fräulein. Jetzt werden die Arme stehen bleiben, wie ich sie stelle. 
Sie werden nicht im Stande sein, die Arme herunterzubringen. 

Sie sehen, m. H., dass mit der Zeit der Wille vollkommen 
erlahmt. Zuerst ist die Person noch im Stande, durch eine ge¬ 
wisse Anstrengung des Willens gegen den Willen des Hypnoti- 
sirenden zu handeln; allmählich aber erlahmt der eigne Wille. 

Hier ist ein 63jähriger Mann, (siebente Versuchsperson) und 
bemerke ich ausdrücklich, dass nach meinen Erfahrungen das Al¬ 
ter einen erheblichen Unterschied in der hypnotischen Empfang- 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtl. Medicin. 55 

lichkeit nicht macht. Ich habe bei alten Leuten, sogar von über 
70 Jahren ganz ebenso Hypnose erzielt wie bei 11 und ^jähri¬ 
gen Kindern. 

Zu dem Mann: Sehen Sie auf den Finder. Denken Sie an nichts weiter 
als daran, dass Sie einschlafen. Es wird Ihnen allmählich das Auge immer 
mehr müde werden. Schlafen Sie! Das Auge geht nicht mehr auf. Versuchen 
Sie es. Glauben Sie nicht, mir einen Gefallen zu thun. Wie ist Ihr Name? 
(Die Person nennt ihren Namen.) Jetzt können Sie Ihren Namen nicht sprechen. 
Wie ist Ihr Name? (Der Gefragte schweigt.) Jetzt können Sie ihn sprechen. 
Wie ist Ihr Name? Handeln Sie nicht zu Gefallen. Jetzt können Sie sprechen. 
(Der Mann nennt wieder seinen Namen.) Bei «Drei* sind Sie munter. Zählen 
Sie bis drei! (Der Mann ist wieder munter.) 

Zur ersten Versuchsperson: Versuchen Sie Ihre Augen zu öffnen. (Die¬ 
selben sind fest geschlossen.) Sie werden nicht erwachen, als bis ich es Ihnen 
sage. Der Arm bleibt stehen, wie ich ihn gestellt habe. Versuchen Sie es, 
ihn krumm zu machen; Sie sind dazu nicht im Stande. Strecken Sie einmal 
stark (geschieht), noch stärker. So jetzt können Sie ihn nicht krumm machen. 
Handeln Sie nicht zu Gefallen. Versuchen Sie, Sie werden dazu nicht im 
Stande sein. (Der Betreffende macht vergebliche Bemühungen). Geht es nicht? 
(Nein!) Auch den anderen Arm können Sie nicht krumm machen. Das Bein 
können Sie auch nicht mehr herunter bekommen. Jetzt können Sie die Arme 
heruriternehmen und das Bein. (Geschieht.) Jetzt bleibt der Arm wieder steif 
stehen, Sie können ihn nicht krumm machen. (Geschieht.) 

Bei diesem Herrn, m. H., zeigt sich zuweilen eine sehr inter¬ 
essante Erscheinung, die ich nicht besser bezeichnen kann als 
einen Kampf seines Willens gegen den meinen. Er hatte die 
Liebenswürdigkeit, sich mir zur Verfügung zu stellen, und es ist 
merkwürdig, wie er manchmal auf meinen Befehl den grössten 
Unsinn macht, während er im nächsten Moment vollständig [im 
Stande ist, sich zu beherrschen und zu thun, was er will. 

Bei den meisten dieser Zustände, m. H., ist eine starke Be¬ 
wusstseinsstörung nicht vorhanden. Es besteht nach dem Er¬ 
wachen vollkommene Erinnerungsfähigkeit, und die Person giebt 
sich während der Hypnose vollkommen Auskunft über Alles, was 
mit ihr geschieht. Erst bei tieferen Zuständen treten stärkere 
Bewusstseinsstörungen ein. 

Zu einer achten Person: Schlafen Sie! Schlafen Sie schön? (Antwort: Ja!) 

M. H.! Sie sehen, es geht hier im Moment. Wenn man eine 
Person öfter hypnotisirt hat, kann man sie oft lediglich mit den 
Worten „Schlafen Sie!“ in Schlaf bringen. Der Herr, mit dem 
ich soeben den Versuch anstellte, ist pensionirter Offizier, und 
ist Simulation absolut ausgeschlossen. 

Erst in den tieferen Zuständen, die ich Ihnen jetzt zeigen 
werde, treten stärkere Bewusstseinsstörungen auf. 

Zu einer neunten Person: Denken Sie nur an den Schlaf, wie die Augen 
ermüden, wie der Kopf schwer wird und das Bedürfhiss zu schlafen zunimmt. 
Jetzt schliessen Sie die Augen; Sie können sie nicht mehr offen halten. Schla¬ 
fen Sie! Schlafen Sie schön? (Antwort: Ja!) Sie wissen genau, dass sie im 
Bette liegen, nicht wahr? Wo sind Sie? (Antwort: Im Bett!) Und jetzt sind 
Sie bei mir in der Wohnung, nicht wahr? (Antwort: Ja!) Wo sind Sie? 
(Antwort: Bei Herrn Dr. Moll!) Sie sehen hier meinen grossen Hund. Sie 
sehen ihn ganz deutlick Sie sehen auch, wie er jetzt auf Sie zuspringt. (Ant¬ 
wort: Ja; gestern war or auch schon da!) Schlafen Sie! 

Zu einer anderen Person: Sie schlafen schön? (Antwort: Ja'!) Wir wer¬ 
den jetzt einmal einen kleinen Spaziergang machen. Wir sind jetzt schon auf 
dem Tempelhofer Felde, Sie sehen hoch oben die Lerche fliegen? 



56 6. Hauptversammlung des Preusslschen Medicinalbeamtenvereins. 


M. H.! Es zeigt sich hier eine Erscheinung, worauf die 
Meisten, um Simulation auszuschliessen, grossen Werth legen, 
nämlich eine Verengerung der Pupille bei der Annäherung eines 
Objectes und Erweiterung bei der Entfernung desselben. Es hat 
dieses Zeichen aber auch nur einen relativen Werth. 

Zur Versuchsperson: Sie sehen hier oben die Lerche; jetzt kommt sie 
herunter. Sie erblirken sie jetzt unmittelbar vor den Augen. Jetzt fliegt sie 
ganz hoch oben. (Antwort: Hoch oben!) Jetzt kommt sie wieder herunter. 
Sehen Sie einmal, wie sie Ihnen dicht vor den Augen fliegt? 

Dies (auf die achte Versuchsperson deutend) ist ein Herr, der 
den deutsch-französischen Krieg mitgemacht hat. 

Wie alt sind Sie? (Antwort: 41!) Sie sind ja erst 23. Wie alt sind 
Sie? (Antwort: 23!) Sagen Sie es laut! (Antwort: 23!) Sie sind hier mitten 
in der Schlacht von Gravelotte. (Der Herr sieht sich um.) Sehen Sie nicht 
die Franzosen? (Er steht auf und kommandirt: Sechstes Geschütz! Feuer!) 
Sie sehen deutlich die Franzosen? (Antwort: Ja, eine französische Batterie!) 
Setzen Sie sich hin und schlafen Sie weiter. Jetzt sind Sie wieder 41 Jihre 
nicht wahr? (Antwort: Ja!) Wie alt sind Sie? (Antwort: 41!) 

Ich komme jetzt zur Erörterung einiger forensisch wichtiger 
Fragen: 

Zunächst berühre ich die Frage, ob der Hypnotismus ge¬ 
sundheitsschädlich ist. Ich leugne nicht, dass nach Hypno- 
tisirung mehrfach Erkrankungen vorgekommen sind. Ebenso wie 
Forel behaupte ich jedoch, dass nicht die Hypnose, sondern die 
fehlerhafte Hypnotisirung daran Schuld war. Die öffentlichen 
Magnetiseure, denen die meisten diesbezüglichen Fälle zur Last 
gelegt werden, gehen nicht immer mit der nöthigen Schonung vor. 
Theils die protrahirten sensoriellen Reize, theils psychisch er¬ 
regende Suggestionen, endlich das mangelhafte Erwecken tragen 
die Schuld bei den Erkrankungen. Ich verpflichte mich, in jedem 
konkreten Falle, wo nach Hypnotisirung eine Gesundheitsschä¬ 
digung auftrat, nachzuweisen, dass Fehler gemacht wurden. Diese 
zu unterlassen, muss unser Stieben ganz ebenso sein, wie wir 
beim Einfuhren des Katheters falsche Wege vermeiden müssen. 
Alles Gute kann bei falscher Anwendung schaden, Sagt doch 
Rust gerade mit Bezug auf den künstlichen Somnambulismus: 
„Das höchste Prädikat, welches man der Wirksamkeit eines Heil¬ 
mittels oder irgend einer Heilmethode beilegen kann, ist, dass sie 
auch zu schaden vermöge. Denn was nie positiv schaden kann, 
kann auch nie nützen.“ 

Ich bespreche jetzt das Verhältnis« vom Hypnotismus 
zum Verbrechen. Man unterscheidet hier Verbrechen, die an 
Hypnotisirten begangen werden, von denen, die durch Hyp- 
notisirte ausgeführt werden können. 

Was die ersteren betrifft, so sind bis jetzt fast nur Sittlich¬ 
keitsvergehen zur gerichtlichen Beurtheilung gekommen. Der 
§ 176, Abs. 2, resp. die §§ 177 lind 178 des Strafgesetzbuches, 
welche die Nothzucht an Willenlosen und Bewusstlosen betreffen, 
würden hier eventuell in Betracht kommen. 

Von sonstigen Verbrechen, deren Opfer Hypnotisirte sein 
können, erwähne ich absichtliche Gesundheitsschädigungen, die 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtl. Medicin. 


57 


man durch posthypnotische Suggestion herbeiführen könnte, d. h. 
durch eine Suggestion, die während der Hypnose gemacht, sich 
erst nach dem Erwachen realisirt. 

Ich werde Ihnen gleich ein Beispiel zeigen: 

Zu dem ehemaligen Offizier: Schlafen Sie schön? (Antwort: Ja!) Wo 
sind Sie hier? (Im hygienischen Institut!) Sprechen Sie deutlich; Sie können 
deutlich sprechen. Versuchen Sie einmal den linken Arm zu bewegen. Sie 
können ihn hoch heben. Nach dem Erwachen ist der linke Arm für Sie un¬ 
beweglich. Verstehen Sie, Sie werden ihn nicht mehr bewegen können. Es 
ist unmöglich: bei aller Willensanstrengung werden Sie nicht mehr im Stande 
sein, ihn zu bewegen. Zählen Sie einmal bis zehn; bei drei wachen Sie auf. 
(Der Herr zählt und wacht bei drei auf.) Haben Sie schön geschlafen? (Ja!) 
Geben Sie mir einmal die rechte Hand; drücken Sie sie, so stark Sie können. 
(Geschieht.) Nun geben Sie mir auch die andere Hand. (Der Herr kann den 
Arm nicht bewegen.) Sie schlafen doch nicht? (Nein!) Wenn Sie wach sind, 
werden Sie mir doch die Hand geben können. (Der Herr macht vergebliche 
Bemühungen.) Geht’s nicht? (Antwort: Nein!) 

Ich glaube jedoch nicht, dass ein derartiger Fall jemals foren¬ 
sische Bedeutung erlangen wird. Man kann genau auf dieselbe 
Weise die verschiedenartigsten Lähmungserscheinungen, partielle 
Amnesien, Pruritus cutaneus etc. erzeugen, wie ich mehrfach be¬ 
obachtet habe. 

Zu demselben Herrn: Wie ist Ihr Name? (Der Herr nennt seinen Namen.) 
Nach dem Aufwachen werden Sie Ihren Namen nicht wissen, so lange ich 
meine Hände aneinander halte. Es wird Ihnen unmöglich sein. Sie werden 
Bewegungen mit dem Munde machen können. Ihr Name wird Ihnen nicht 
einfallen. Erst mit dem Moment, wo ich meine Hände von einander entferne, 
fällt Ihnen der Name ein. (Erwachen.) Wie ist Ihr Name? (Der Gefragte 
schweigt.) Sie werden doch Ihren Namen wissen? Heissen Sie Schulz? 
(Antwort: Nein!) Müller? (Nein!) Moll? (Nein!) (Der Vortragende nimmt 
die Hände auseinander und fragt:) Wie heissen Sie? (Der Herr nennt seinen 
Namen.) Sagen Sie es noch einmal deutlich, ich habe ihn nicht verstanden. 
(Der Herr wiederholt den Namen.) Schlafen Sie! 

Ich erklärte schon eben, dass ich nicht glaube, dass ein sol¬ 
cher Fall jemals forensische Bedeutung erlangen sollte. Für 
noch unwahrscheinlicher halte ich die Annahme des französischen 
Kollegen Lafforgue, der in seiner Doctorthese die Möglichkeit 
betont, es könnte sich Jemand, um vom Militärdienst befreit zu 
werden, eine Krankheit suggeriren lassen. 

Endlich erwähne ich die Möglichkeit, dass einer hypnotisirten 
Person durch Suggestion Verpflichtungen auferlegt werden, z. B. 
durch Unterschrift von Schuldscheinen, oder dass die Hypnose be¬ 
nutzt wird, um durch Suggestion die Abfassung eines Testamentes 
zu beeinflussen. 

Wie ich von juristischer Seite hörte, würden derartige Akte 
stets ungültig sein, wenn der Thatbestand festgestellt ist; die 
Feststellung desselben kann allerdings ausserordentliche Schwierig¬ 
keiten bereiten. 

Dass z. B. einige von diesen Leuten in der Hypnose mir jeden 
Schuldschein unterschreiben würden, ist zweifellos. Ich will ver¬ 
suchen, dass dieser Herr (auf den früheren Offizier hinweisend) 
posthypnotisch eine Bescheinigung giebt. 

Zu dem Herrn: Schlafen Sie? (Antwort: Ja!) Kennen Sie den Preussi- 
ecben Medicinalbeamten verein? (Ja!) Würden Sie ihm vielleicht eine kleine 



58 6. Hauptversammlung des Preussiscben Medicinialbeamtenvereim. 


Schenkung machen? (Ich habe nichts zu schenken!) Sie werden [es schon 
thun, nicht wahr? Etwas werden Sie doch haben? (Ja!) Werden Sie es 
thun? (Ja!) Also Sie werden jetzt nach dem Aufwachen die Bescheinigung 
unterschreiben, dass Sie dem Preussiscben Medicinalbeamtenverein 100 Mk. 
schenken und werden natürlich hinzuschreiben, dass Sie mit vollkommen freiem 
Willen das unterschreiben. Wollen Sie das versprechen? (Ja!) Geben Sie mir 
Ihr Wort darauf. Geben Sie mir die Hand darauf; die linke können Sie jetzt 
wieder frei bewegen. Also Sie werden nach dem Erwachen unterschreiben: 
Ich verpflichte mich hierdurch, dem Preussischen Medicinalbeamtenverein inner¬ 
halb Monatsfrist 100 Mk. zu schenken, und bescheinige gleichzeitig, dass ich 
mit vollständig freiem Willen diese Unterschrift gebe, Namen und Datum? 
(Ja!) Wachen Sie auf. Sind Sie wach? (Ja!) Ganz wach? (Der Gefragte 
macht eine zustimmende Bewegung.) Möchten Sie nicht gern etwas machen? 
Thun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an. Thun Sie, was Sie wollen. Sie 
sind ganz wach? (Ja!) Sie schlafen nicht ein bischen? (Der Herr macht eine 
verneinende Bewegung und schreibt hierauf die Schenkungsurkunde wie ange¬ 
geben nieder.) Sie haben das ans eigenem Antriebe gethan? (Ja!) Es hat 
Sie Niemand dazu gezwungen? (Nein!) 

Von einigen Psychologen wird dieses Gefühl der Versuchs¬ 
personen, dass sie aus eigenem Antriebe handeln, in der letzten 
Zeit öfter herangezogen, um auf die Willensunfreiheit des Men¬ 
schen hinzuweisen. Ich glaube, man muss sich doch vor Verall¬ 
gemeinerungen in Acht nehmen, da die Hypnose meistens nur ein 
vorübergehender Zustand ist. Dieser Mann hat allerdings die 
feste Ueberzeugung, dass er dies mit freiem Willen unterschrieben 
hat, obwohl er sehr wohl ahnen kann, dass ich ihm die Eingebung 
in der Hypnose gemacht habe. 

Ebenso wie man Verbrechen an Hypnotisirten begeht, so 
kann man auch durch dieselben criminelle Handlungen ausführen 
lassen. Hier sind sicherlich Gefahren vorhanden, obwohl sie Gilles 
de la Tourette leugnet. 

Die meisten derartigen im Studirzimmer angestellten Experi¬ 
mente, z. B. Diebstähle, Mordversuche, beweisen allerdings Nichts, 
da die meisten auch in der tiefen Hypnose noch einen gewissen 
Grad von Erkenntniss haben, dass es sich um ein Experiment, 
nicht um ein ernstes Verbrechen handelt, sodass naturgemäss der 
Widerstand ein recht geringer ist. Einzelne Versuche jedoch 
hat Liegeois, Professor der Rechte in Nancy, mit allen äusseren 
Zeichen des Ernstes, sogar mit Theilnahme von Gerichtsbeamten 
allgestellt. Aus verschiedenen Gründen mache ich meinen Ver¬ 
suchspersonen nur sehr selten criminelle Suggestionen; auch heute 
werde ich Ihnen nur einzelne Handlungen zeigen, damit Sie die 
Art der Ausführung sehen. 

Eine gerichtliche Beurtheilung dieser snggerirten Verbrechen 
wäre nicht ganz einfach. Werden dieselben in der Hypnose selbst 
ansgeführt, so würde § 51 des Strafgesetzbuches ausreichen, wenn 
man mit Schwartzer unter Bewusstlosigkeit Bewusstseinsstörung 
versteht. 

Erfolgt aber die criminelle Handlung durch posthypnotische 
Suggestion, so liegt die Sache anders. Der Zustand, in welchem 
posthypnotische Suggestionen sich realisiren, kann nämlich ein 
verschiedener sein, wie der leider kürzlich verstorbene Gurney 
in den Abhandlungen der Society for Psychical Research ausfuhrt. 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtl. Medicin. 59 

Hier ist ein Freund und Verwandter von mir, der mir den 
Gefallen gethan hat, heute hierher zu kommen. Ich hypnotisire 
ihn heute zum dritten Male und die Hypnose ist ziemlich tief. 
Es ist ein hiesiger Student. 

Zu dem Betreffenden: Gieb mir die Hand und sieh’ in meine Augen! 
Schlafe. Schläfst Du? (Ja!) Schön? (Ja!) Schlafe weiter und Du wirst erst 
aufwachen, wenn ich es sage. (Ja!) 

Ich werde nun versuchen, Ihnen einige posthypnotische Sug¬ 
gestionen zu zeigen. 

Zu einer Person: Sie schlafen jetzt schön. Bei «drei* werden Sie auf- 
wachen, und zwar vollkommen erwachen, Sie werden ganz und gar munter 
sein; nicht die Spur von Schlaf wird in Ihnen Zurückbleiben. Sie werden 
aber eine Minute nach dem Erwachen die Glocke, die hier auf dem Tisch 
steht — Sie haben sie vielleicht vorhin gesehen — nehmen und aufs Fenster 
setzen. Verstehen Sie? Das wird eine Minute nach dem Erwachen geschehen. 
Sie werden vorher ganz und gar wach sein. 

Ich möchte gleichzeitig bemerken, dass derartige posthypno¬ 
tische Suggestionen auf sehr lange Zeit hinaus gemacht werden 
können. Ich habe selbst eine derartige posthypnotische Suggestion 
mit Erfolg gemacht, wo 4 Monate zwischen Befehl und Ausfüh¬ 
rung lagen. Ich habe sehr oft Personen gesagt: an dem und dem 
Tage, wo Sie zu mir in’s Zimmer treten, wird das und das ge¬ 
schehen; und es ist vollkommen eingetroffen. 

(Indessen hat der Betreffende obigen Befehl ausgeführt.) Zu der Person: 
Schlafen Sie? (Nein!) Sind Sie ganz wach? (Ja!) Was haben Sie eben gemacht? 
(Nichts!) Nichts? (Nein!) Haben Sie die Glocke in der Hand gehabt? (Nein!) 

Also, m. H., in diesem Falle tritt das ein, was Delboeuf, 
Prof, in Lüttich, verallgemeinert. Er sagt: eine posthypnotische 
Handlung suggeriren heisst soviel, wie den Befehl geben, zu der 
bestimmten Zeit in eine neue Hypnose zu kommen und in der 
neuen Hypnose die suggerirte Handlung auszuführen. Hier be¬ 
steht vollständige Amnesie. Die Amnesie allein würde allerdings 
nicht genügen, die neue Hypnose zu beweisen. Ich kann jedoch 
hier auf die Gründe nicht eingehen, weshalb ich annehme, dass 
der Mann in einer neuen Hypnose die Handlung ausgeführt hat. 
Es kommt das Aussehen in Betracht, die Art, wie die Idee auf¬ 
taucht u. s. w. Dass die Amnesie allein nicht genügt, geht dar¬ 
aus hervor, dass wir wachend im Leben viele Acte begehen, 
ohne uns später daran zu erinnern. Wenn wir z. B. eine Hand¬ 
lung regelmässig zur bestimmten Zeit machen, wird es manchmal 
schon kurze Zeit nachher gar nicht mehr in’s Bewusstsein kom¬ 
men, ob wir die Handlung ausgeführt haben oder nicht. Derar¬ 
tige automatische Acte werden häufig ohne Erinnerung gemacht. 

In anderen Fällen werden die posthypnotischen Suggestionen 
anders ausgeführt. 

Zu dem Verwandten: Schläfst Du? (Ja!) Eine Minute nach dem Auf¬ 
wachen wirst Du den Stuhl, der hier leer steht, wegnehmen und wirst ihn 
dort an’8 Ende des Saales tragen. Verstehst Du? (Ja!) Eine Minute nach 
dem Aufwachen. Bei „drei* wachst Du auf, bist natürlich ganz munter und 
machst genau nach einer Minute das, was ich gesagt habe. (Der junge Mann 
erwacht und führt die Weisung aus.) Schläfst Du oder bist Du wach? (Ganz 
wach!) Was hast Du gemacht? (Ich habe den Stuhl von der Wand genom- 



60 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereinß. 


men!) Ist Dir so, als ob Du das im Traume gemacht hast oder im wachen 
Zustande ? (Im Traum!) 

Es besteht hier also keine Amnesie und dennoch ist die 
Handlung nicht im ganz wachen Zustand ausgeführt worden. 

Ich will gleich bemerken, dass es gar nicht leicht ist, zu 
entscheiden, ob derartige Handlungen in der Hypnose oder in 
wachem Zustande gemacht werden. Ich möchte mich keineswegs 
verpflichten, das immer thun zu können. 

Zu dem Verwandten: Erinnere Dich aber genau, warum hast Du es ge¬ 
macht? (Ich konnte nicht anders!) 

Also es liegt hier eine Handlung rein impulsiver Art vor. 

Zu dem früheren Officier: Schlafen Sie? (Ja!) Sehr schön, nicht wahr? 
(Sehr schön!) Nach dem Aufwachen werden Sie den Stock, den Sie in der 
linken Hand halten, auf den Stuhl, der rechts von Ihnen steht, legen. Ver¬ 
stehen Sie? (Ja!) Und zwar sobald ich diese Handbewegung mache. Bei 
„drei“ wachen Sie auf. Eins, zwei, drei! (Bei der entsprechenden Bewegung 
des Redners führt der Herr den Auftrag aus.) Was haben Sie da eben ge¬ 
macht? (Ich habe meinen Stock auf den Stuhl gelegt!) Warum? (Ja, warum, 
dass weiss ich nicht. Mir ist so der Gedanke gekommen; ich habe den Im¬ 
puls dazu gehabt. Ich weiss es nicht!) Sie erinnern sich genau, dass Sie es 
gethan haben; Sie haben es in wachem Zustande gethan? (Ja!) 

Also hier liegt die Sache so, dass die Versuchsperson die 
posthypnotischen Suggestionen vollkommen wachend realisirt; 
wenigstens habe ich bei vielen Versuchen, die ich mit dem Herrn 
gemacht habe, gefunden, dass ich keine Hypnose nach weisen 
kann. Ich will nochmals darauf zurückkoramen, dass die post¬ 
hypnotischen Handlungen in verschiedener Weise vorgenommen 
werden und eventuell auch die posthypnotischen Verbrechen. 

In einem Theil der Fälle werden also die posthypnotischen 
Suggestionen in einer neuen Hypnose realisirt und hier würde 
der § 51 in Betracht kommen. 

In anderen Fällen jedoch werden die posthypnotischen Sug¬ 
gestionen in anscheinend normalem Zustand verwirklicht; § 51 
des Straf-Ges.-B. würde hier nicht ausreichen. Ob es möglich ist, 
§ 52 des Straf-Ges.-B. anzuwenden, dass Handlungen für nicht 
strafbar erklärt werden, wenn der Thäter durch unwiderstehliche 
Gewalt dazu genöthigt worden ist, die Entscheidung hierüber 
überlasse ich den Juristen, 

Desjardins ist übrigens der Meinung, dass jeder Hypnoti- 
sirte bei Ausführung von suggerirten Verbrechen bestraft werden 
solle, da er die Möglichkeit einer derartigen Suggestion habe 
voraussehen müssen. 

Jedenfalls würde der Schutz des § 51 nicht jedem Hypnoti- 
sirten zu Theil werden, da nicht immer die Hypnose tief genug 
ist, um die freie Willensbestimmung auszuschliessen. 

Derjenige, der die criminelle Handlung suggerirt, ist even¬ 
tuell als Anstifter zu beurtheilen. 


Ich komme jetzt zu einem der interessantesten Capitel, der 
retroactiven Suggestion, d. h. der künstlichen Erinnerungs¬ 
fälschung. Aus einem Beispiele werden Sie dieselbe kennen 
lernen. 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtl. Medicin. 61 

Zu dem ehemaligen Officier: Wann sind Sie heute hergekommen? (Um 
l / 2 9 Uhr!) Und wie sind Sie heraufgekommen? Erinnern Sie sich, ich habe 
Ihnen unten ein Glas Wein gegeben. Denken Sie einmal nach, ich gab Ihnen 
ein Glas Wein. Nicht wahr, es wird Ihnen jetzt einfallen. Jetzt wissen Sie 
es ganz genau? (Ja!) Es war ein bischen herb. Und Sie haben es nachher 
ganz ausgetrunken und fühlten sich nachher so ganz erfrischt? 

Ich bemerke vorweg, dass ich natürlich nichts gegeben habe. 

Sie werden nach dem Aufwachen sich ganz genau dessen erinnern, dass 
ich Ihnen heute ein Glas Ungarwein hier gegeben habe, und zwar bevor Sie 
herauf kamen, unten an der Thür, damit Sie die Treppen besser gehen könn¬ 
ten. Also wie ist das mit dem Ungarwein? Erzählen Sie mir das noch ein¬ 
mal! (Ja, ich kam um */ a 9 Uhr hierher mit der Droschke, stieg aus, da kamen 
Sie die Treppe herunter, empfingen mich und offerirten mir ein Glas Wein, 
damit ich kräftiger und besser die Treppen in die Höhe käme!) Das wissen 
Sie ganz genau, und beim Erwachen werden Sie das ganz genau wissen? 
(Dann bin ich die Treppe in die Höhe gegangen!) Sie werden, wenn Sie jetzt 
aufwachen, sich ganz genau dessen erinnern. Auf .drei“ wachen Sie auf und 
erinnern sich ganz genau des Glases Wein. EinB, zwei, drei! Sind Sie ganz 
wach? (Ja!) Wann sind Sie heute hierhergekommen? (Um */*'9 Uhr!) Fühl¬ 
ten Sie sich nicht etwas schwach, als Sie aus der Droschke stiegen? (Ja!) 
Wieso ging es so gut die Treppe herauf? (Sie haben mir ja ein Glas Wein 
gegeben!) Das wissen Sie ganz genau? (Ja!) Was war es denn? (Es war 
etwas herber Wein!) Den haben Sie vollständig ausgetrunken? (Ja!) 

Diese retroactiven Suggestionen können eine practische Be¬ 
deutung durch Beeinflussung von Zeugen vor Gericht erhalten. 

Gerade hier ist die Analogie von hypnotischer und nichthyp¬ 
notischer Suggestion sehr gross. Lilienthal, Bernheim, Mo- 
tet bestehen darauf, dass manche Zeugenaussagen vor Gericht 
durch Suggestion ohne Hypnose zu Stande kommen. Mir haben 
Juristen erzählt, dass nicht selten 2 Parteien vor Gericht bereit 
sind, im besten Glauben absolut Entgegengesetztes zu beschwören. 
Es ist auch nicht eine blosse Redensart, dass Mancher eine Lüge 
so oft sage, bis er sie selbst glaube. Die häufige Vorstellung 
nicht erlebter Dinge kann gelegentlich auch ohne Hypnose das 
Gedächtniss so beeinflussen, dass man nicht immer im Stande ist, 
das Vorgestellte vom Thatsächlichen zu unterscheiden. 

Einige Rathschläge, die Prof. Bernheim im Anschluss an 
diese retroactiven Suggestionen giebt, und die sich auf gericht¬ 
liche Vernehmungen von Zeugen beziehen, haben nicht bloss eine 
theoretische Bedeutung; Bernheim giebt vielmehr einige An¬ 
haltspunkte an, die dazu dienen sollen, ein Hineinexaminiren von 
Antworten in gerichtliche Zeugen zu vermeiden. 

Ich will Ihnen hier noch ein Beispiel zeigen. 

Zu dem früheren Officier: Schlafen Sie! Sie haben doch gesehen, wie der 
Herr mit dem blonden Bart, mit dem ich zusammen am Fenster stand, mein 
Portemonnaie herauszog. Er suchte gerade noch das Gespräch auf jede Weise 
abzulenken. (Das versuchte er!) Und wie er das glaubte, erreicht zu haben, 
da fasste er mir in die Tasche. Ist es so? Denken Sie einmal nach. Wir 
sassen da, und er suchte das Gespräch auf alles mögliche Andere zu bringen, 
und während ich noch so sass, ging er mit seiner linken Hand in meine rechte 
Hosentasche. Jetzt fällt es Ihnen ein? (Ja!) Und das wird Ihnen auch nach 
dem Erwachen ganz genau in Erinnerung sein. Stellen Sie es sich noch ein¬ 
mal vor. Wir unterhielten uns, da führte er seine linke Hand in meine 
rechte Hosentasche, holte mein Portemonnaie heraus und steckte es ein. 
Ich habe mein Portemonnaie noch nicht wieder. Jetzt wissen Sie es genau? 
(Ja!) Sie werden es auch nach dem Erwachen wissen und es eventuell vor 



62 6. Hauptversammlung des Preussischon Medioinalbeamtenveroinä. 


Gericht bestätigen? (Ja!) Denn das muss man doch schliesslich zur Anzeme 
bringen. Bei «drei* wachen Sie auf. Eins, zwei, drei! Sagen Sie, wie Sie 
heute hier hereinkamen, setzten wir uns hier an's Fenster und unterhielten uns. 
Was ging da vor, worüber sprachen wir, was geschah da? (Eb war ein Herr 
mit einem blonden Vollbart, ein kleiner Herr, da. Der stellte sich uns vor. 
Es wurde über alles Mögliche gesprochen und geredet, und der kleine Herr 
redete allerlei und vielos durcheinander. Ich weiss nicht, was er dabei für 
einen besonderen Zweck hatte, aber nachher wurde mir die Sache klar. Er 
machte so verdächtige Bewegungen mit der linken Hand nach Ihrer rechten 
Hosentasche und da hat er das Portemonnaie herausgezogen.) Haben Sie das 
ganz genau gesehen? (Ja!) Das würden Sie vor Gericht beschwören können? 
(Ja!) Sie würden es gleich schriftlich geben können, damit ich damit zum 
Anwalt gehen kann? (Ja, wenn Ihnen das nutzt!) Also Sie würden es 
thun? (Ja!) 

Ich bemerke, dass ich doch beobachtet habe, dass diese re- 
troactiven Suggestionen häufig nach einiger Zeit nicht mehr so 
lebhaft in der Erinnerung sind; dass der Betreffende am folgen¬ 
den Tag manchmal keine Ahnung mehr davon hat, obwohl sich 
der Zustand unmittelbar nach dem Erwachen vom normalen Zu¬ 
stande nicht unterscheidet. 

Ich möchte nun noch einmal eine Handlung zeigen, die ganz 
interessant ist, gerade in Bezug auf die Willensfreiheit. 

Zu dem pens. Officier: Jetzt nach dem Erwachen wird die erste Hand¬ 
lung, die Sie begehen, die sein, dass Sie den Bleistift vom Tisch nehmen und 
hinter Ihr linkes Ohr stecken. Es wird Ihnen unmöglich sein, etwas Anderes 
zu machen, verstehen Sie? (Ja!) Bei »drei“ wachen Sie auf. (Der Herr er¬ 
wacht und führt die Handlung aus). Was haben Sie eben gemacht? (Ich 
habe den Bleistift genommen!) Warum haben Sie das gemacht? (Das weiss 
ich nicht!) Haben Sie es aus freien Stücken gethan oder trieb es Sie dazu? 
(Ich hatte den Drang, es zu thun, durch irgend etwas!) Jetzt sind Sie ganz 
wach. Sagen Sie mir einmal, bitte, irgend eine Handlung, von der Sie glau¬ 
ben, dass Sie sie nicht ausführen würden, die aber physisch möglich ist und 
die Sie nicht zu sehr anstrengt, da Sie nur schwer gehen können. Sagen Sie 
mir einmal irgend eine Handlung, von der Sie glauben, dass Sie sie nicht aus¬ 
führen würden. (Z. B. das Wasser auf den Tisch zu giessen!) Schlafen Sie! 
Sie werden jetzt nach dem Aufwachen nicht anders handeln können, als das 
Glas Wasser auf den Tisch zu giessen. Es wird Ihnen unmöglich sein, etwas 
Anderes zu machen. Sie werden das Glas Wasser nehmen müssen und es auf 
den Tisch giessen müssen. (Der Herr thut es nach dem Erwachen.) Was 
haben Sie da gemacht? (Ich habe Wasser ausgegossen!) Warum haben Sie 
das gethan? (Es kribbelte mir so in den Händen, ich musste es thun, warum, 
weiss ich nicht!) 

M. H.! Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, dass, 
wenn die Versuche öfter gemacht worden sind, die Personen 
meistenteils sagen: es trieb mich dazu, ich konnte nicht anders. 
Hingegen glauben sie in der ersten Zeit, aus freien Stücken 
zu handeln und haben fast immer das Bedürfniss, Motive zu fin¬ 
den; das vermeintliche Motiv kann noch so lächerlich sein, sie 
geben gewöhnlich eins an. Z. B. hypnotisirte ich einmal einen 
Herrn, als ich ihn besuchte und sagte ihm: nennen Sie mir eine 
Handlung, die so lächerlich wäre, dass Sie sie nie ausführen wür¬ 
den. Da sagte er: ich würde niemals das Plaid nehmen und da¬ 
mit den Rauchtisch einwickeln. Ich suggerirte es ihm nun in der 
Hypnose und als er aufwachte, sagte er: „es müsste doch ganz 
komisch und nett aussehen, wenn ich den Rauchtisch in das Plaid 



Öer Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtl. Medicin. 63 


einwickelte.“ Er hatte auch vollkommen die Ueberzeugung, dass 
er aus freien Stücken handle und so führte er auch die sugge- 
rirte Handlung vollkommen aus. Mehrfach habe ich auch den 
Versuch gemacht, und es ist dies immer sehr interessant, dass ich 
irgend eine Handlung suggerirte und nach dem Aufwachen sagte 
ich der Versuchsperson, sie sollte thun was sie wolle; gleichzeitig 
gab ich ihr einen zusammengefalteten Zettel, auf dem ich auf¬ 
schrieb, was sie thun würde. Ich habe das öfter gemacht. Es 
ist in der That ganz merkwürdig, das verblüffte Gesicht zu sehen, 
welches die Personen machen, wenn sie sehen, dass die Handlung 
bereits vorher festgestellt war, die sie nach ihrer Meinung frei 
ausgeführt haben. 

Kann man Jemanden ohne oder gegen seinen Willen 
hypnotisiren? Wir müssen hier unterscheiden, ob die Person 
trotz des Willens, nicht in Hypnose zu kommen, die [gestellten 
Bedingungen erfüllt, z. B. fest fixirt oder ob die Person die Be¬ 
dingungen nicht erfüllt. 

Bei Erfüllung der Bedingungen sah ich selbst beim ersten 
Versuch mehrfach Hypnose eintreten gegen den Willen der Ver¬ 
suchsperson. Bei Nichterfüllung der Bedingungen konnte ich 
gegen den Willen der Versuchsperson nur dann eine Hypnose er¬ 
zielen, wenn bereits mehrfache hypnotische Versuche vorausge¬ 
gangen waren. 

Dass übrigens der Wille nicht absolut nöthig ist, geht schon 
daraus hervor, dass es gelingt, Personen aus dem Schlafe gelegent¬ 
lich in die Hypnose überzuführen. Ich habe erst einmal dazu 
Gelegenheit gehabt. Es war dieser Herr (auf den Officier deu¬ 
tend), den ich im Nachmittagsschlaf antraf. Ich sagte ihm nur: 
„schlafen Sie weiter“ und sofort war er vollständig mit mir in 
Kapport. 

Als letzte Möglichkeit erwähne ich noch die, dass die nöthi- 
gen Bedingungen vorhanden sind, ohne dass die Versuchsperson 
deren Vorhandensein ahnt, so dass der Wille weder pro noch 
contra betheiligt ist. Es tritt dies am leichtesten bei den plötz¬ 
lich wirkenden Hypnotisirungsmitteln ein, wie man sie in der 
Salpetrige in Paris benutzt, um die Katalepsie hervorzurufen. 
Dass man auf diese Weise eine Hypnose, wenigstens bei öfter 
hypnotisirten Personen, erzeugen kann, ist sicher. Interessant ist 
ein derartiger Fall aus der Salpetrige: Eine der dortigen Ver¬ 
suchspersonen ging einmal an einen Tisch, um sich aus dessen 
Schublade einige Photographieen anzueignen. Während der Aus¬ 
führung des Diebstahls wurde sie unerwartet durch den Schlag 
eines Gong in Katalepsie versetzt und blieb festgebannt stehen. 
Hack Tuke in London bedauert es, dass es nicht möglich ist, 
alle Diebe so bequem zu entdecken. 

Ich wende mich jetzt zur Frage einer Hypnotisirung zu 
forensischen Zwecken, eine Frage, die heute, wo der Hypno¬ 
tismus eine so grosse Verbreitung gefunden hat, jeden Augenblick 
practische Bedeutung erlangen kann. 



64 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


Ich übergehe ganz die Hypnotisirung von Zeugen und Ange¬ 
klagten, die den Zweck hätte, Auskunft zu erhalten, die jene im 
normalen Zustande nicht geben wollen, weil gesetzlich heute dies 
unzulässig ist. Ich erwähne nur, dass dies practisch auch nicht 
die Bedeutung hat, wie einige glauben, da die unsinnigsten Lügen 
im hypnotischen Zustande gesagt werden. 

„Eine zweite Möglichkeit, den Hypnotismus forensich zu ver- 
werthen, beruht darauf, dass Hypnotisirte in zukünftigen Hyp¬ 
nosen alles dessen sich meistens entsinnen, was in früheren 
Hypnosen vorgegangen ist.“ 

Ich will Ihnen gleich ein Beispiel zeigen: 

Zu einer Person: Schlafen Sie! Sie sehen, wie zwei Hunde aufeinander 
kommen? (Ja!) Wie sie sich mit einander beissen? (Ich sehe sie ganz deut¬ 
lich, ein grosser und ein kleiner. Jetzt ist der kleine todt!) Schade, nicht 
wahr? (Ja, es ist ganz grässlich!) Bei „drei“ wachen Sie auf und sind voll¬ 
kommen munter. Eins, zwei, drei! Haben Sie fest geschlafen? (Ja!) Erin¬ 
nern Sie sich an etwas? (Nein!) An gar nichts? (Nein!) Haben Sie viel¬ 
leicht eine Katze, einen Tiger, einen Hund oder so etwas gesehen? (Nein, gar 
nichts!) Setzen Sie sich einmal her. Sehen Sie auf den Finger! Schlafen Sie! 
Erinnern Sie sich, dass Sie vor kurzem einmal eine Katze, einen Hund oder 
einen Tiger gasehen haben? (Ja, eben vor ein paar Minuten biss der grosse 
Hund den kleinen todt.) 

Also, m. H., das ist das Gewöhnliche, aber keine absolute 
Regel. Dass übrigens derartige Dinge, die in der Hypnose vor¬ 
gegangen sind, selbst auf viele Jahre hinaus noch in das Ge¬ 
dächtnis zurückgerufen werden können, wenn eine neue Hypnose 
eintritt, ist sicher. 

Liegt nun der Verdacht vor, dass Jemand früher in der Hyp¬ 
nose das Opfer oder das Werkzeug eines Verbrechens geworden 
ist, während im wachen Zustand jedes Bewusstsein davon fehlt, 
dann liegt eine forensische Hypnotisirung sicherlich sehr nahe. 
Es hat auch in der That eine derartige Hypnotisirung bereits 
mehrfach practische Bedeutung gehabt. Hier hält Lilienthal 
eine Hypnotisirung für erlaubt — wenigstens mit Einwilligung 
der betreffenden Person — aber auch dann nur, um die Hypno- 
tisirbarkeit festzustellen, nicht um Aussagen in der Hypnose zu 
erhalten. Ohne über die Rechtsfrage ein Urtheil zu fällen, so 
könnte nach meiner Ansicht eine vorsichtige Vernehmung in der 
Hypnose wichtige Anhaltspunkte geben. Allerdings würde auch 
sie einen sicheren Beweis schwerlich liefern; denn einmal können 
durch frühere hypnotische Suggestionen die Aussagen auch in 
späteren Hypnosen gefälscht werden, dann aber kann der Hypno- 
tisirende in der Hypnose leicht die Antworten durch die Frage¬ 
stellung beeinflussen; ferner kommen Lügen auch in der Hypnose 
vor. Endlich erwähne ich noch die Möglichkeit, dass durch 
frühere hypnotische Suggestionen eine spätere Hypnotisirung ver¬ 
hindert werden kann. 

Ich will Ihnen gleich an einem Beispiele zeigen, in welcher 
Weise man durch Suggestionen die späteren Aussagen beeinflus¬ 
sen kann: 

Zu der letzten Person: Schlafen Sie? (Ja!) Fest? (Ja!) Sie erinnern 
sich ganz genau, dass Sie gesehen haben, wie der grosse Hund den kleinen 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der gerichtl. Medicin. 


65 


todt gebissen hat? (Ja!) Sie haben dies ganz genau gesehen? (Ja!) Sio 
werden nachher, so oft Sie danach gefragt werden, sich nicht mehr daran er¬ 
innern. (Ja!) Das heisst, Sie werden nur noch wissen, dass eine Katze mit 
einem Hund sich herumgebissen hat, nicht ein zweiter Hund. (Ja!) Und so 
oft Sie auch in diesen hypnotischen Schlaf kommen, Sio worden sich immer 
erinnern, dass es eine Katze war. (Ja!) Bei „drei* wachen Sie auf. Eins, 
zwei, droi! Sind Sie wach? (Ja!) Ganz wach? (Ja!) Erinnern Sie sich an 
etwas, ob Sio einen Tiger, oine Katze, einen Kanarienvogel oder so etwas ge¬ 
sehen haben. (Der Genügte schweigt und macht eine verneinende Bewegung.) 
Ist es Ihnen nicht mehr erinnerlich? (Er schweigt. Der Yortragendo schlä¬ 
fert ihn wieder ein.) Haben Sio heute irgend etwas hier erlebt? Haben Sie 
gesehen, dass ein Paar Thiore hier waren? (Ja, ein grosser Hund, er biss eine 
kleine Katze todt!) Haben Sie das ganz genau gesehen? (Ja, eine schwarze 
Katze war es. Es war noch das Blut zu schon!) 

M. H.! Das ist sehr oft zu erreichen. In dieser Weise 
kann jede spätere Aussage beeinflusst werden. Ja, m. H., man 
ist, wie gesagt, im Stande, durch die Suggestion, dass die Person 
nicht mehr hypnotisirbar sei, eine spätere Hypnotisirung wenig¬ 
stens auf längere Zeit zu verhindern. Ich habe selbst gesehen, 
dass ein Herr, der eine Versuchsperson öfter hypnotisirt hatte, 
nicht mehr im Stande dazu war, nachdem der Versuchsperson von 
einem Anderen die Suggestion gegeben war, sich von dem 
Ersteren überhaupt nicht mehr hypnotisiren zu lassen. 

Der Vortragende giebt dom pons. Officier in der Hypnose ein, dass er 
nur bei den Worten .Palme“ oder „Schlaf“ wieder zu hypnotisiren sein werde 
und bestätigt dies durch den Versuch. 

Zum Schluss erwähne ich noch einige Vorschläge, deren 
Zweck es ist, den Gefahren des Hypnotismus zu begegnen. Wie 
Delacroix in Frankreich, so verlangeu auch bei uns Einige, dass 
der Hypnotismus zum Privilegium der Aerzte gemacht werde. 
Ich kann mich dieser Forderung nicht anschliessen, weil auch 
andere Wissenschaften als die Medicin ein Interesse am Studium 
des Hypnotismus haben. Behauptet doch Beaunis, Professor 
der Physiologie in Nancy, geradezu, dass das hypnotische Experi¬ 
ment für den Psychologen das sei, was für den Physiologen die 
Vivisection bedeute und verdankt doch der Hypnotismus vielen 
Nichtärzten, z. B. Delboeuf und Liegeois, hochwichtige Bei¬ 
träge. 

Ich möchte vielmehr, um die Vortheile, welche der Hypnotis¬ 
mus bietet, nicht zu vermindern und doch die Gefahren womög¬ 
lich zu beschränken, einige Vorschläge zur Discussion stellen, 
theilweise im Anschluss an den verstorbenen Prof. Dr. Fried¬ 
berg. M. H.! Ich bin mir wohl bewusst, mit diesen Vorschlägen 
nichts Fertiges zu bieten; indessen scheinen mir bei einer even¬ 
tuellen gesetzlichen Regelung diese Punkte als beachtenswerte 
Die Schwierigkeit entsprechender Gesetze ist ja gewiss ausser¬ 
ordentlich und wird nicht am wenigsten durch den unbestimmten 
Begriff „Hypnotismus“ bewirkt. 

Also meine Vorschläge sind: 

1) In Anbetracht des Umstandes, dass von hervorragenden 
Aerzten beständig Erfolge von der hypnotischen Therapie 
berichtet werden, sowie in Anbetracht des Umstandes, 
dass nach Ansicht dieser Aerzte die Gefahren des Hypno- 



6f> 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


tismus bei richtiger Methode vermieden werden können, ist 
eine fernere gewissenhafte und unparteiische Prüfung der 
hypnotischen Behandlung seitens der Aerzte durchaus an¬ 
gezeigt. 

2) Da auch andere Wissenschaften als die Medicin vom 
Hypnotismus Vorth eile erwarten können, ist das Hypno- 
tisiren nicht allein auf die Behandlung von Krankheiten 
zu beschränken. 

3) In Anbetracht des Umstandes, dass hypnotische Versuche 
bei unzweckmässiger Anordnung nicht frei sind von Ge¬ 
fahren für die Gesundheit, darf Niemand hypnotische Ver¬ 
suche an Anderen ohne Aufsicht von Aerzten anstellen, 
die mit dem Hypnotismus genügend vertraut sind. Aus¬ 
nahmen wären unter gewissen Bedingungen, etwa durch 
Autorisation von Seiten der Kegierung, zulässig. Insbe¬ 
sondere sollen aber unter No. 3 fallen die hypnotischen 
und magnetischen Manipulationen der sog. Heilmagneti¬ 
seure und anderer Personen, die ohne ärztliche Approba¬ 
tion gewerbsmässig Krankheiten behandeln. 

4) Bei allen hypnotischen Versuchen ist die Anwesenheit 
mindestens einer dritten erwachsenen Person nothwendig. 

5) Das Verbot öffentlicher hypnotischer Schaustellungen ist 
jetzt, wo der Hypnotismus sich in w issenschaftlichen Bah¬ 
nen befindet, aufrecht zu erhalten nicht nur aus gesund¬ 
heitlichen, sondern ganz besonders aus sittlichen Gründen. 

Discussion. 

H. Reg.-u. Med.-Rath Dr. Wernich (Cöslin): Ich möchte mir den Antrag 
erlauben, dass die Versuchspersonen abtreten, während hier discutirt wird. 

(Die Personen gehen hinaus.) 

H. Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. WalHchs (Altona): Ich möchte den Herrn 
Vortragenden fragen, ob er selbst von der Hypnose zu therapeutischen Zwecken 
Gebrauch gemacht hat und ob er geneigt ist, darüber Auskunft zu geben? 

H. Dr. Moll (Referent): Ich habe eine ganze Reihe von Versuchen ge¬ 
macht, die Hypnose in der Therapie zu verwerthen und ich glaube, dass, wenn 
es gelingt, die Hypnose bis zu den Hallucinationen zu bringen, vielleicht kaum 
irgend ein Medicament dasselbe leistet bei functionellen Erkrankungen, wie 
die hypnotische und posthypnotische Suggestion. Ich habe eine ganze Reihe 
von Fällen gesehen, die nur durch die hypnotische Suggestion gebessert wer¬ 
den konnten, Fälle von Schlaflosigkeit, Pruritus cutaneus, verschiedene Chorea¬ 
formen, hysterische Anfälle, Neuralgien u. s. w. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Peters (Bromberg): M. H.! Ich wollte mir 
erlauben, einen Fall mitzutheilen, wo der Heileffect des Hypnotismus ein ganz 
erheblicher gewesen ist. Ich habe ihn allerdings nicht selbst erlebt, aber eine 
Patientin, die ich nach Cudowa geschickt habe, hat ihn mir erzählt. Es han¬ 
delte sich um eine anämische Dame, welche an hysterischen Krämpfen der er¬ 
heblichsten Art litt, die sich nicht auf Stunden beschränkten, sondern Tage 
lang andauerten. Sobald ein solcher Anfall sich in Scene setzte, zog sich die 
Sache 2—8 Tage lang hin, ehe die Krämpfe vollständig nachliessen. Ein der¬ 
artiger Anfall trat auch in Cudowa auf, und der behandelnde Arzt machte alle 
möglichen Versuche, um die Krämpfe zum Stillstand zu bringen; es gelang 
ihm jedoch nicht. Da wurde noch ein älterer College hinzugezogen, welcher 
die betreffende Dame dadurch in hypnotischen Schlaf versetzte, dass er sie 
streichelte und ansah und Bewegungen nach der Thür machte, als ob die 
Krämpfe dort hinausgingen. Bald darauf hörten die Krämpfe auf und sind 
nicht wieder gekommen. 



Der Hypnotismus unter Berücksichtigung der geriohtl. Medicin. 


67 


Ein Mitglied aus der Versammlung fragt, ob auch bei Schreibkrampf der 
Hypnotismus angewandt ist? 

H. Dr Moll (Referent): Ich behandle eben den ersten bezüglichen Fall 
und habe auch schon einigen Erfolg erreicht. Aber ich will den Fall nicht 
als beweisend hinstellen, da ich erst dreimal hypnotisirt habe. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Wernlch (Cöslin): Ich wollte keine Frage an 
den Herrn Vortragenden richten, sondern ihm dafür danken, dass er wenigstens 
mich von dem Alp, den die hypnotische Litteratur über uns Alle auszubreiten 
beflissen ist, vollkommen befreit hat. Ich habe 1878 bei Westphal Hypno¬ 
tische gesehen, die nach Art des Phonographen eingerichtet waren: was man 
in sie hineinsprach, das gaben sie echoartig wieder. Ich habe auch alle die 
hier vorgeführten Kunststücke vor 10 Jahren bereits produciren gesehen, und 
ich freue mich, dass Herr Dr. Moll einer so umfangreichen Versammlung von 
Sachverständigenlklar’ gemacht, dass der Hypnotismus absolut nichts weiter 
ist als eine dialektische Spielerei mit den Worten „ Wille - , „Schlaf“, „Vor¬ 
stellung“ und noch einigen anderen. Nennen Sie das „Schlaf“, wenn jemand 
alles hört, im Schlaf allerlei erwidert, im Schlafe verschiedene kleine Thor- 
heiten macht? Nennen Sie das „Katalepsie“, wenn der junge Mann, der dort 
am Fenster: gesessen hat, sich immer alle 3—4 Minuten wieder den Arm 
stützt, ihn sinken sieht und ihn wieder etwas in die Höhe hebt, um ihn 
wieder zu stützen? Nennen Sie das „Wille“, was hier an so armen unglück¬ 
lichen neuropathischen Individuen in die Erscheinung tritt, zu denen irgend 
ein beliebiger Mensch treten kann, der ihnen als Arzt imponirt und sagen 
kann: machen Sie das, sehen Sie dort einen Hund, sehen Sie hier eine 
Katze u. s. w. Das ist der Vorgang aus Hamlet: jetzt eine Wolke, jetzt ein 
Kameel! Das ist doch kein Wille mehr. Vorstellung und Wille sind doch 
Produkte aus höheren Geistesthätigkeiten, mindestens aus Sinneseindrücken 
oder aus anderweitig aufgenommenen und verarbeiteten Voraussetzungen. 
Wenn also diese verschiedenen Voraussetzungen einfach dadurch ersetzt 
werden, dass Jemand kommt und sagt: Schlafen Sie, — sehen Sie das oder 
machen Sie das! — dann bedaure ich lediglich die Kranken, die dergleichen 
mit sich ausführen lassen. 

Ich will ja eine Berechtigung der Experimente nicht bestreiten, und 
Aerzten nicht verschränken, dergleichen an Kranken zu machen; aber ich 
möchte von meinem Standpunkt aus mit aller Sicherheit betonen, dass der 
Hypnotismus jene 5 Fragen, die zur Discussion gestellt sind, absolut nicht 
verdient, dass er sich gründet auf den Zerrüttungszustand kranker Nerven¬ 
systeme, in welchen der durch die Erziehung mit Mühe erzielte, gedeihliche 
Ablauf der Geistesthätigkeiten gestört ist, und Zwecks deren Production ganze 
Reihen hochstehender philosophischer Begritfe mittelst einer fratzenhaften 
Terminologie plötzlich escamotirt und abgesetzt werden sollen. Dass endlich 
der „Hypnotismus“ der 70er und 80er Jahre ganz genau denselben nahezu 
unfruchtbaren Verlauf für die Wissenschaft nehmen wird, wie der „Mesmeris¬ 
mus 4 * und „Somnambulismus 41 vor jetzt 60 Jahren, das ist meine Ueborzeugung, 
und dieser Ausdruck zu geben halte ich mich für verpflichtet. 

H. Dr. Moll (Referent): Ich möchte mir doch einige Bemerkungen darauf 
erlauben. Erstens kann auch ein Schlaf bestehen, trotzdem jemand spricht. 
Ich habe eine Reine von Personen kennen gelernt, die Nachts in ganz ge¬ 
wöhnlichem Schlafe sprechen, ja sogar Auskünfte geben, wenn sie etwas 
gefragt werden, vollständige Gespräche im Schlafe führen. Ich habe zweitens 
nicht von Katalepsie bei irgend einer Versuchsperson gesprochen. (H. Wer- 
nich: Doch!) Ich glaube doch, dass dies ein Irrthum ist. Ich habe nur bei 
dem Namen von C har cot gesagt, dass er die Katalepsie als eine Phase an- 
niu.mt, dagegen habe ich bei meinem Versuchen nicht von Katalepsie ge¬ 
sprochen*). Der Name Katalepsie würde für diese Zustände oft nicht passen. 
Es ist aber sicherlich ein Zustand, in dem der Wille der Personen herabgesetzt 


*) Die Durchsicht des unveränderten stenographischen Berichtes sowie 
meines Originals zeigt mir, dass ich in der That nur im Anschluss an Charcot 
die Katalepsie genannt und ber meinen Versuchen, nirgends diesen Namen 
erwähnt habe. Mithin beruht der entsprechende Einwurf des H. Reg.- u. Med.- 
Rath Dr. Wernich auf einer irrigen Voraussetzung. 



68 6. Hauptversammlung des Preussischen Medieinalbeamtenvereins. 

ist. Dass die Person den Arm trotzdem bewegt , hat damit gar nichts zu 
thun. Ich habe Personen gesehen und sehr zuverlässige, die in dem Moment, 
wo eine Fliege in das Gesicht kam, sofort über das Gesicht griffen, und trotz¬ 
dem war der Arm unbeweglich, so lange sie daran dachten, dass der Befehl 
ihnen ertheilt war. 

Was das Weitere betrifft, so bemerke ich, dass ich ausdrücklich gesagt 
habe, in allen hypnotischen Zuständen findet sich eine Willensherabsetzung. 
In den leichteren findet sich eine tiefere Bewusstseinsstörung nicht; diese zeigt 
sich erst in den tieferen Hypnosen. 

Dass ich den Leuten hier Hallucinationen gegeben habe, habe ich nicht 
der Therapie wegen gethan, sondern um Ihnen zu zeigen, in welcher Weise 
derartige Personen zu beeinflussen sind. Hätte ich gewusst, dass sich hier 
daran eine Discussion knüpfen würde, so hätte ich den Leuten keinerlei Hallu- 
cinationen gegeben. Ich hielt es aber für nothwendig, das zu thun, da sie 
die tiefe Hypnose kennzeichnen. Wie ich sonst dieselbe demonstriren könnte, 
weise ich nicht. 

Wenn der Herr Vorredner ferner sagt: der Hypnotismus ist eine Ver¬ 
kehrung der Begriffe, so ist mir das nicht ganz klar, wie ich offen sagen 
muss. Was den „Schlaff 4 betrifft, so ist ja der Hypnotismus nicht dasselbe, 
was der gewöhnliche Schlaf ist; wenn Einige behaupten, dass es dasselbe sei, 
so glaube ich im Gegentheil, dass die Zustände nicht mit dem gewöhnlichen 
Schlaf identificirt werden können. Die tieferen Zustände erinnern allerdings 
ganz ungemein an den Schlaf, ohne dass sie desswegen genau dasselbe sind. 

Dass der Hypnotismus jetzt denselben Verlauf* nehmen wird, wie s. Z. der 
Mesmerismus, glaube ich nicht. Ich möchte mich keineswegs der Prognose 
des Herrn Vorredners anschliessen und möchte bloss bemerken, dass es nöthig 
ist, vorurtheilsfrei an die Frage heranzugehen und, obwohl der Hypnotismus 
nicht immer in der besten Gesellschaft angetroffen wird, ihn ebenso vor¬ 
urteilslos zu prüfen, wie irgend eine andere Sache. Ich glaube, dass die 
Herren in Nancy und Andere mehr geleistet haben, als diejenigen, die ihn — 
ich will nicht sagen skeptisch — sondern aphoristisch zurückweisen. 

Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. Walllchs (Altona): Ich glaube, wir haben 
doch Ursache, dem Herrn Vortragenden dankbar zu sein, dass er uns hier 
diese überaus lehrreiche Demonstration vorgeführt hat. Das Urtheil über die 
Erklärung dieser Erscheinungen kann und wird natürlich ein sehr verschieden¬ 
artiges sein. Ich habe, wie diese Sache wieder auf kam, den bekannten Mag¬ 
netiseur Hansen in Hamburg Vorstellungen geben sehen, und damals waren 
viele von uns Aerzten sehr zweifelhaft, ob es sich nicht um einen Betrug 
handelte, weil Personen dort vorgeführt wurden, von denen man nicht wusste, 
inwiefern sie von dem Vorführenden vorher dafür instruirt seien. Gewiss 
darf man hier doch mit Bestimmtheit aussprechen, dass Herr Dr. Moll sich 
von aller Zuthat, die den Eindruck des Wunderbaren zu erhöhen diente oder 
als tadelnswerth angesehen werden könnte, frei gehalten und versucht hat, 
uns von diesen doch sehr wichtigen Erscheinungen eine klare Vorstellung zu 
geben. Die meisten von uns werden dergleichen doch noch nicht in dieser 
Ansdehnung gesehen haben, und ich möchte mir deshalb gestatten, ihm 
meinerseits dafür Dank auszusprechen. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Peters (Bromberg): Ich habe vor 7 Jahren 
einer Demonstration des verstorbenen Prof. Berger in Breslau beigewohnt, 
wo auch derartige Experimente gemacht wurden. Dort sind jedoch mehrere 
vorgeführt worden, die ich heute vermisse, namentlich Experimente bezüglich 
der gesteigerten Fertigkeit, irgend etwas im hypnotischen Zustande zu thun, 
was man im nicht hypnotisirten Zustande zu thun ausser Stande ist. So 
wurde uns ein Tabetiker vorgeführt mit dem bekannten schleudernden Gange; 
es war ein Krankheitsprozess, der sicher schon Jahre lang gedauert hatte. 
Der Mann wurde hypnotisirt, und wie die Hypnose fertig war, ging der Be¬ 
treffende wie ein anderer Mensch. Es wurde ihm ein Stuhl hingestellt und 
er ging ganz gemüthlich auf den Stuhl hinauf. Nachher, als die Hypnose zu 
Ende war, konnte er das natürlich wieder nicht. Ein zweiter Fall wurde uns 
vorgeführt in einem ganz gewöhnlichen Arbeiter, der kaum lesen und schreiben 
konnte, jedoch diese Fertigkeit in hypnotiairtem Zustande in ganz auffallenden 
Maasse darbot. Es wurden ihm z. B. im hypnotischen Zustande griechische 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


69 


Lettern vorgeschrieben und er schrieb dieselben mit einer kolossalen Fertig¬ 
keit nach, ganze Worte, ganz schön und viel besser geschrieben, als er sonst 
schreiben konnte, trotzdem er früher nie eine Ahnung von einem griechischen 
Buchstaben gehabt hatte. Dann erinnere ich mich noch eines Falles: Eine 
Patientin aus dem dortigen Krankenhause wurde hypnotisirt und verrieth 
sämmtliche Geheimnisse, die in dem Krankenzimmer während der letzten Zeit 
vorgefallen waren. War also die Ordnung im Krankenzimmer von Seiten der 
Patienten überschritten oder irgend ein Verbot von Einzelnen unbeachtet ge¬ 
blieben und wurde dann diese Patientin hypnotisirt und von Prof. Berger 
gefragt: was ist an dem und dem Tage geschehen, sind die und die Vor¬ 
schriften beobachtet, wer hat sie nicht beobachtet? so erzählte sie genau: 
der und der hat das gethan, oder nicht gethan und durch Nachforschungen 
wurde später festgestellt, dass das thatsächlich der Fall gewesen war. 

Diese 3 Fälle habe ich damals gesehen, und ich würde dem Herrn Vor¬ 
tragenden sehr dankbar sein, wenn er uns vielleicht über diese Punkte noch 
einige Auskunft geben könnte. 

H. Dr. Moll (Referent): Was die Aufhebung der Schwankungen bei Tabes 
betrifft, so habe ich das auch bemerkt. Ich war im Stande, durch Suggestion 
Schwankungen zu verhindern; ja noch mehr, ich habe noch durch posthypno¬ 
tische Suggestion, wenn ich tiefe Hypnose erreicht hatte, auf 5—10 Minuten 
die Schwankungen beseitigen können. 

Was den Fall mit dem Geheimnissverrathen betrifft, so muss ich be¬ 
merken, dass ich diese Versuche fast nie gemacht habe. Ich habe sie nur der 
Wissenschaft halber mit einer Person angestellt, die mir vorher aus rein 
wissenschaftlichem Interesse dazu die Erlaubniss gab. Diese Person verrieth, 
trotz aller Suggestionen kein Geheimniss, wenigstens nicht durch Worte. 
Hingegen — vielleicht interessirt es die Herren — habe ich mit Erfolg eine 
Reihe von Versuchen gemacht , zu denen ich speziell durch die automatischen 
Schreibversuche des Herrn Max Dessoir veranlasst wurde. Hier fand ich, 
dass jene Person, die keine Geheimnisse ausplauderte, durch das automatische 
Schreiben die tiefsten Geheimnisse preis gab. Ich habe nur bei einer Dame 
den Versuch gemacht. Was aber weiter die erhöhte Fertigkeit in der Hyp¬ 
nose betrifft, so ist das gewöhnlich eine Folge von Dressur. Die Echolalie, 
die Prof. Westphal und Berger gezeigt haben, ist im grossen ganzen eine 
Dressur, und so ist es mit den meisten Fertigkeiten in der Hypnose. Ich habe 
jedoch gelegentlich ganz kataleptische oder kataleptiforme Zustände beobachtet, 
die ich im wachen Zustande nicht erzielen konnte. Ich wollte auch Muskel¬ 
kurven feststellen; leider wurde mir das nöthige Institut nicht zur Verfügung 
gestellt. Also man ist im Stande, Fertigkeiten zu erhöhen; aber es ist meistens 
Sache der Uebung. Jedenfalls ist die Messung der psychischen Vorgänge 
heute noch lange nicht exakt genug, um sagen zu können: wir sind ohne 
weiteres im Stande, mit dem Apparat die Veränderungen in der Hypnose auf¬ 
zuzeichnen. 

Vorsitzender: Wenn sich Niemand mehr zum Worte meldet, 
dann sage ich Herrn Dr. Moll im Namen des Vereins unseren 
verbindlichsten Dank für den interessanten Vortrag und die 
damit verbundenen Demonstrationei}. 


II. Die Constatirung ansteckender Krankheiten 
mit Bezug auf die §§ 9 und 10 des Regulativs 
vom 8. August 1835. 

H. Regierungs- und Medicinalrath Dr. Peters (Bromberg): 
M. H.! Ich hatte bereite im vergangenen Jahre einen ähnlichen 
Vortrag angektindigt, war jedoch durch meine kurz vor Abhai- 



70 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


tung der Versammlung erfolgte Versetzung nach Bromberg daran 
verhindert. Ich habe inzwischen weitere Erfahrungen gesammelt 
und zwar in einer Provinz, in der das Verfahren bei der Con- 
statirung ansteckender Krankheiten nach anderen Maximen ge¬ 
ordnet ist als in den sog. Kreisordnungs-Provinzen, auch habe 
ich in der jetzigen Stellung, in der mir das zur Beurtheilung 
nothwendige Material in reichlicherem Maasse zu Gebote steht, 
meinen Gesichtskreis in der Beurtheilung des Nothwendigen und 
Zweckmässigen zu erweitern mich bemüht, was dem Vortrag viel¬ 
leicht zu gute kommen wird. 

M. H.! Die §§ 9 und 10 des Regulativs handeln, wie Ihnen 
bekannt ist, von der Anzeige und Constatirung ansteckender 
Krankheiten, sie bilden gleichsam den Gipfel und Angelpunkt 
des ganzen Regulativs, so weit dasselbe von der Unterdrückung 
der Infectionskrankheiten handelt. Sie sind die Grundpfeiler des 
ganzen sanitätspolizeilichen prophylactischen Apparats, dessen 
Stabilität und zweckmässige Functionirung wesentlich davon ab¬ 
hängt, in welcher Weise die Anzeige und Constatirung in der 
Praxis zur Ausführung gelangt. Es hiesse Eulen nach Athen 
tragen, wollte ich in dieser Versammlung von der hohen Be¬ 
deutung einer rechtzeitigen Anzeige und der zweckentsprechenden 
Constatirung der Infectionskrankheiten im Allgemeinen sprechen, 
darüber ist des Guten hier und in den Zeitschriften so viel ver¬ 
handelt worden, dass Jeder Gelegenheit gehabt hat, sich auf 
diesem Gebiete zu orientiren. Meine Aufgabe wird vielmehr 
darin bestehen, Ihnen an der Hand einer langjährigen amtlichen 
Praxis, die ich in 3 verschiedenen Provinzen ausgeübt, meine 
Erfahrungen darüber mitzutheilen, in welcher Weise diese beiden 
§§ in der Praxis des Lebens functioniren. Nun könnte mir ent¬ 
gegen gehalten werden, dass es ja eigentlich überflüssig sei, über 
das alte Regulativ noch zu sprechen, dass dasselbe sich längst 
überlebt hätte und bald zu Grabe getragen werden würde. Sollte 
dies der Fall sein, so wollen wir ihm ein ehrenvolles Geleit 
geben in der Erinnerung daran, dass es seiner Zeit unzweifelhaft 
eine Leistung ersten Ranges war, dessen allgemeiner Abschnitt 
sogar heute zum Theil noch musterhaft genannt werden kann. 
Zur Zeit ist dasselbe jedoch noch für uns Gesetz, wir wissen 
nicht, wann die seit Jahrzehnten geplante Reorganisation Fleisch 
und Blut annehmen wird. Die Hoffnung auf die endliche Reali- 
sirung der für die öffentliche Gesundheitspflege absolut noth- 
wendigen Reorganisation werden wir uns allerdings nicht nehmen 
lassen, trotzdem bei Vielen, die die Botschaft so oft und gerne 
gehört haben, der Glaube daran anfangt wankend zu werden. 
Viele von uns haben inzwischen die Augen darüber zugedrückt 
und noch mancher wird in das kühle Grab sinken, ohne den 
Messias gesehen zu haben. Es wird daher unsere Pflicht sein 
müssen, in dem alten, wenn auch schon sehr baufälligem Hause, 
weiter zu arbeiten und uns Mühe zu geben, es so einzurichten, 
dass es für uns, wenn es sein muss, noch eine Reihe von Jahren 
bewohnbar bleibt und dass wir den Muth finden, selbst unter 



Die Gonstatirung ansteckender Krankheiten. 


71 


dein Wanken und Krachen des morschen Gebälkes Stand zu 
halten. 

Wenden wir uns zunächst zu den im § 9 gegebenen Be¬ 
stimmungen der Anzeigepflicht ansteckender Krankheiten. 
Derselbe schreibt vor, „dass alle Familienhäupter, Haus- und 
Gastwirthe und Medicinal-Personen schuldig sind, nach Massgabe 
der in dem II. Theile des Regulativs enthaltenen näheren Be¬ 
stimmungen, Fälle von wichtigen und dem Gemeinwesen Gefahr 
bringenden ansteckenden Krankheiten der Polizeibehörde anzu¬ 
zeigen.“ In dem II. Theile sind dann als solche der Anzeige¬ 
pflicht unterliegenden Krankheiten speciell benannt: Cholera, 
Typhus, Pocken, Weichselzopf, Tollwuth, Milzbrand und Rotz. 
Diese Krankheiten sollen unter allen Umständen angezeigt 
werden, während die Anzeigepflicht bei den übrigen Infections- 
krankheiten nur eine beschränkte ist, abhängig von der Zahl der 
Erkrankungen und der Bösartigkeit des Auftretens (Masern, 
Scharlach, Ruhr u. dergl.). Jedoch auch für die zuletzt genann¬ 
ten, sogenannten weniger gefährlichen Krankheiten, kann durch 
eine besondere Aufforderung der Kreispolizei-Behörde eine allge¬ 
meine Anzeigepflicht festgesetzt ■werden. Die Unterlassung der 
vorgeschriebenen Anzeigen ist mit erheblichen Ordnungsstrafen 
von 2—5 Thalern bedroht. 

Bei der Fassung des § 9 kann man zunächst zweifelhaft 
sein, ob und welcher der dort genannten Personen die Anzeige¬ 
pflicht in erster, zweiter und dritter Reihe zukommt, oder ob 
dieselbe allen genannten gleichmässig auferlegt ist, so dass im 
Falle unterlassener Anzeige sowohl das Familienhaupt als auch 
der Hauswirth und selbst der behandelnde Arzt in Strafe fiele. 
Die Medicinal-Personen sind in der Reihe zuletzt aufgeführt, 
obwohl gerade sie in erster Reihe vermöge ihrer bessern Sach¬ 
kenntnis zur Anzeige verpflichtet sein müssten. Bei dieser Drei¬ 
teilung in der Anzeigepflicht liegt es nahe, dass sich einer auf 
den andern verlässt und es schliesslich dahin kommt, dass die 
fragliche Krankheit überhaupt nicht zur Anzeige gelangt.. Und 
so ist es in den meisten Fällen auch wirklich. An die Polizei¬ 
behörde gelangt die Kunde von dem Vorhandensein einer Infec- 
tionskrankheit in einem Dorfe oder einem Hause nicht durch die 
zur Anzeige Verpflichteten, sondern meist durch die Gensdarmen, 
Lehrer, Geistlichen oder durch Hörensagen, allerdings sehr häufig 
erst zu einer Zeit, wo es zu spät ist. Leider muss es an dieser 
Stelle gesagt werden, dass die Aerzte der ihnen gesetzlich auf¬ 
erlegten Pflicht zum grossen Theil nur sehr lässig nachkommen. 
Würde die Polizei- bezw. die Gerichtsbehörde in der Lage sein, 
die in Folge unterlassener Anzeigen verwirkten Strafen einzu¬ 
ziehen, so würde zweifellos dieser Straffonds eine solche Höhe 
erreichen, dass die Kosten der zur Unterdrückung der Infections- 
krankheiten nothwendigen Massregeln zum guten Theil davon 
bestritten werden könnten. Und was geschieht in Wirklichkeit? 
Es wird nicht angezeigt und es wird auch Niemand bestraft. 
Es ist mir kein Fall bekannt, dass eiu Arzt wegen unterlassener 



72 6. Hauptversammlung des Preussischon Medicinalbeamtenvereins, 


Anzeige bestraft ist, dagegen unzählige, wo der Arzt die Anzeige 
unterlassen hat. Und nun gar die armen Familienhäupter und 
Hauswirthe! Wie sollen die in der Lage sein, die in ihrer 
Familie oder ihrem Hause vorkommenden Fälle wichtiger und 
dem Gemeinwesen Gefahr bringender Krankheiten als solche 
heraus zu finden? Und wenn sie wirklich im Stande dazu ge¬ 
wesen sind, bleibt ihnen nachher bei Zustellung des Strafmandats 
immer das Entschuldigungsmittel, dass sie ja keine Aerzte seien 
und die Krankheit nicht erkennen könnten. Die Präsumption, 
dass sie die Krankheiten als solche erkannt haben, wird der 
Richter doch nur zur Zeit einer intensiven Epidemie annehmen 
können, wo die Häufigkeit der Erkrankungen unter denselben 
Symptomen auch dem Laien eine sichere Grundlage für die Be- 
urtheilung bietet. Die Anzeigepflicht für die Familienhäupter und 
Hauswirthe lässt sich meines Erachtens daher nur während der 
Zeit einer Epidemie gesetzlich erzwingen, wo dieselbe mehr 
einen statistischen Werth hat, zu Anfang derselben, wo derartige 
Anzeigen zur Verhütung der Weiterverbreitung am nothwendigsten 
sind, werden sie nie zu erreichen sein. Da es immer eine precäre 
Sache bleibt, Bestimmungen festzusetzen und Strafen anzudrohen, 
wenn man nicht in der Lage sich befindet, die Ausführung der 
Bestimmungen nöthigenfalls mit den vorgesehenen Strafmitteln 
zu erzwingen, so glaube ich, dass für gewöhnlich den Familien¬ 
häuptern und Hauswirthen die Anzeigepflicht erlassen werden 
könnte, zumal wenn die behandelnden Aerzte mehr als bisher 
sich derselben unterziehen möchten. In diesem Falle würde ein 
Hin- und Herschieben der Anzeigepflicht von dem Arzt auf das 
Familienhaupt und von diesem wieder auf den Arzt auch ver¬ 
mieden werden können. Man kann sich in der That auch vor¬ 
stellen, dass, wenn lediglich dem Arzte die Pflicht zur Anzeige 
obliegt, das Pflichtgefühl auch viel stärker bei ihm ausgeprägt 
sein wird, als wenn er es noch mit 2 oder 3 andern Personen 
zu theilen hat. Uebrigens würde die Polizei auch überlaufen 
werden, wenn die in dem § 9 genannten 3 Kategorien zu gleicher 
Zeit die Anzeige machten, wie es doch eigentlich vorgeschrieben 
ist, falls sie der angedrohten Strafe entgehen wollen. 

Der § 9 verlangt daher zu viel und weil das zu viele sich 
in der Praxis nicht erreichen lässt, wird auch das Mögliche 
ausser Acht gelassen und es geschieht im Grossen und Ganzen 
gar nichts, wie das häufig bei zu hoch gestellten Anforderungen 
geschieht. Nach meinen Erfahrungen kann die Prophylaxis der 
Infectionskrankbeiten auf die Anzeigepflicht der Haushaltungs¬ 
vorstände für gewöhnlich auch vollständig Veracht leisten. Kate¬ 
gorisch verlangen muss sie dieselbe jedoch von den Aerzten, die 
bei der heutigen Ausbreitung und der von Jahr zu Jahr zu¬ 
nehmenden Anzahl schon jetzt in das entlegenste Dorf geholt 
und bei weiterer Entwickelung des Krankenkassenwesens auch 
bald das platte Land bevölkern werden. Uebrigens ist durch 
Kabinetsordre vom 13. December 1847 bezw. durch den Minist..- 
Erlass vom 25. Februar 1848 die Anzeige bei Cholera bereits 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


73 


auf die Aerzte beschränkt worden. Wenn man bei dieser dem 
Gemeinwesen gewiss Gefahr bringenden Krankheit die Anzeige 
der Familienhänpter etc. entbehren kann, wird es bei den übrigen 
Infectionskrankheiten wohl auch gehen. 

Was die einzelnen Arten der Infectionskrankheiten anbetrifft, 
die bestimmungsgemäss der absoluten Anzeigepflicht zu unter¬ 
werfen sind, so könnte der Weichselzopf daraus gestrichen und 
dafür die Diphteritis und das Kindbettfieber eingeschoben werden, 
was ich als selbstverständlich nur beiläufig erwähnen möchte. 

Der § 10 handelt nun speciell von der Constatirung der 
ansteckenden Krankheiten durch die Polizeibehörde. Er 
besagt, dass die letztere auf die erhaltene Anzeige (§ 9) die 
ersten Fälle solcher Krankheiten ärztlich untersuchen lassen 
muss. In der Praxis gestaltet sich die Sache jedoch so, dass, 
wenn die Polizeibehörde von dem Auftreten der Krankheit 
Kenntniss erhalten hat, dieselben bereits ärztlich untersucht sind. 
Wenn es sich daher lediglich um die Constatirung handelte, so 
erschiene eine nochmalige Untersuchung ja eigentlich überflüssig 
und den Ortspolizeibehörden erscheint sie in der That auch 
überflüssig, da sie der ihnen auferlegten Pflicht der Constatirung 
fast nie nachkommen, und zwar um so mehr, als sie wissen 
müssen, dass trotz der ihrerseits angeordneten Constatirung später 
in der Regel doch noch durch den Landrath die Entsendung des 
Med.-Beamten erfolgt, damit dieser den Fall ätiologisch und local 
untersuche, um darnach die erforderlichen Massregeln anznordnen. 

M. H.! Es kann für mich keinem Zweifel unterliegen, dass 
bei Formulirung dieses Paragraphen die Gesetzgeber sich die 
Sache ganz anders gedacht haben, als sie sich in Wirklichkeit 
später herausgestellt hat. Man hat unzweifelhaft angenommen, 
dass auf Grund der erfolgten Constatirung die Ortspolizeibehörde 
nun auch sofort in der Lage sich befinden würde, die nöthigen 
Vorkehrungsraassregeln zu treffen und zwar auf Grund der all¬ 
gemeinen und speciellen Bestimmungen, wie sie in dem Regulativ 
bei den einzelnen Krankheiten angegeben sind. Vereinzelt 
kommen auch heute derartige Anschauungen von Seiten der 
Ortspolizei Verwaltungen zum Ausdruck. Es kommt vor, dass von 
Seiten der Amtsvorsteher bezw. der Ortspolizeiverwaltungen, 
namentlich in den Städten, wo die Träger der Polizeiverwaltung 
mit den gesetzlichen Bestimmungen ja im Allgemeinen vertrauter 
sind, Anzeigen an das Landrathsamt über das Auftreten irgend 
einer Infectionskrankheit ergehen mit dem Zusatz, dass die ge¬ 
setzlichen Anordnungen in Gemässheit des Regulativs getroffen 
sind. Wenn ich derartige Anzeigen in die Hände bekomme, so 
habe ich stets die persönliche Ueberzeugung, dass eigentlich 
Nichts angeordnet ist, wenigstens nicht Etwas, was auf die Unter¬ 
drückung der Infectionskrankheiten nach den heutigen An¬ 
schauungen von Einfluss sein könnte. Bei diesem schablonen¬ 
haften Verfahren wird sich auf dem Papier die Sache immer 
ganz gut ansehn, für die Sachkenner jedoch leider anders. Wir 
wissen ja, dass bei der Anordnung von Präventivmassregeln die 



74 6. Hauptversammlung des Preuasiscben Medicinalbeamtenvereins. 


Berücksichtigung der ätiologischen und localen Verhältnisse in 
erster Reihe massgebend sind und dass die Angaben über das 
Desinfectionsverfahren, wie sie in dem Regulativ niedergelegt 
sind, nach unserem augenblicklichen Wissen zum grossen Theil 
veraltet sind und zum Theil auch in der dort vorgeschlagenen 
Weise fast nie zur Ausführung gelangen können. Wenn die 
Polizeibehörden, denen ja in erster Reihe die Anordnung von 
Massregeln gesetzlich zusteht, hierbei schablonenhaft verfaliren, 
so kann man ihnen das ja nicht verargen, sie sind ja nicht Sach¬ 
verständige und müssen sich hierbei an die Paragraphen der 
Gesetze halten. Aber wenn bei der heutigen Anschauung von 
dem Wesen, dem Entstehen und der Verbreitung von Infections- 
krankheiten und bei unserm augenblicklichen Wissen über die 
Wirkung der Desinfectionsmittel es auch noch Medicinal-Beamte 
giebt, die um die Sache möglichst kurz abzufertigen, bei An¬ 
ordnung von Präventivmassregeln, namentlich aber bei der An¬ 
gabe der Desinfection lediglich die entsprechenden §§ des 
Regulativs oder das letztere blos im Allgemeinen citiren, so ist 
das eine tief traurige Sache, bei der mitunter die wunderbarsten 
Sachen unterlaufen, wie nachfolgender von mir in diesem Jahre 
erlebter Fall zeigt: Ein Physikus hatte die Angewohnheit, in 
seinem Constatirungsbericht bei Erwähnung der zu ergreifenden 
Massregeln auf das Regulativ zu verweisen, etwa in der Angabe: 
Bezüglich der Desinfectionsmassregeln genügen die Vorschriften 
des Regulativs vom 8. August 1835. Nun brach in einer Ort¬ 
schaft seines Kreises Diphteritis aus und der von ihm an das 
Landrathsamt erstattete Befundbericht besagte zum Schluss, dass 
die Desinfection, wie sie für Diphteritis in dem Regulativ vor¬ 
geschrieben sei, im vorliegenden Falle genüge. Das Landraths¬ 
amt berichtet an die Regierung, dass die Massregeln für Diphterie 
in Gemässheit des Regulativs angeordnet und zur Ausführung 
gebracht seien. In diesem Falle war nun allerdings dasjenige 
wirklich zur Ausführung gekommen, was in dem Regulativ für 
Diphteritis angeordnet war, nämlich gar nichts, da wie Ihnen 
bekannt sein wird, eine Krankheit „Diphteritis“ in dem Regulativ 
nicht existirt. 

Sie sehen, m. H., was bei solchem schablonenhaften Ver¬ 
fahren herauskommt. Doch wir wollen zu der Constatirung der 
ansteckenden Krankheiten zurückkehren. Dass dieselbe nicht 
genügt, um die Polizeibehörde in die Lage zu setzen, zweckent¬ 
sprechende Präventivmassregeln anzuordnen, ist ja klar. Die 
amtliche Constatirung kann selbstverständlich nur dann einen 
Zweck haben, wenn von dem untersuchenden Arzt nach Lage 
aller einschlägiger Verhältnisse, die ich speciell hier ja nicht 
anzuführen brauche, der Polizeiverwaltung auch gleichzeitig 
diejenigen Massnahmen angegeben werden, die zur Unterdrückung 
und zur Verhütung der Weiterverbreitung geeignet erscheinen, 
von denen das eigentliche Desinfectionsverfahren mitunter ja nur 
den weniger wichtigen Theil auszumachen pflegt. Und damit 
komme ich zu dem Punctum saliens meines heutigen Vortrags: 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 75 

* 

In der zeitlichen Trennung der Constatirung nnd der 
Anordnung von Massregeln liegt der wundeste Punkt 
unserer ganzen Sanitätspolizei bei der Unterdrückung 
von Infectionskrankheiten. So lange amtliche Constatirung 
und Anordnung von Massregeln nicht zu derselben Zeit in einem 
Zuge erfolgen, wird die geeignetste Zeit zum rechtzeitigen 
Handeln fast stets verloren gehen. Nun könnte mir eingewendet 
werden, dass es doch eigentlich selbstverständlich sei, dass der 
von der Polizeibehörde requirirte Arzt nun auch seine Unter¬ 
suchung so weit ansdehnt, dass er in der Lage wäre, der Polizei 
die entsprechenden Massregeln anzugeben. Theoretisch hört die 
Sache sich ganz gut an, in der Praxis ist die Durchführung 
gegenwärtig einfach absolut unmöglich. Nehmen wir also den 
Fall an, dass die Polizeiverwaltung einmal ex officio, was sie ja 
in der Regel nicht thut, eine Infectionskrankheit durch einen 
Arzt constatiren lässt und dieser gleich die ihm erforderlichen 
Massregeln vorschlägt und die Polizeiverwaltung dieselben zur 
Ausführung bringen lässt. Was kann da passiren? Gehört die 
Krankheit zu denjenigen, die der allgemeinen Anzeigepflicht 
unterliegen also Cholera, Pocken, Typhus, Rotz, Milzbrand, so 
sollen die Landrathsämter zufolge des Ministerial-Erlasses vom 
23. April 1884, der gewiss von uns Allen mit Freuden begrüsst 
worden ist, in der Regel den Physikus an Ort und Stelle senden, 
damit dieser unter Berücksichtigung der von ihm zu unter¬ 
suchenden örtlichen Verhältnisse und thunlichster Feststellung 
der Veranlassung zum Ausbruch der Krankheit sofort Vorschläge 
zu Massnahmen machen kann, die geeignet sind, der Weiterver¬ 
breitung der Krankheit entgegen zu wirken. Aus den in diesem 
Erlass aufgestellten Maximen, die zum Theil auch schon in den 
vierziger Jahren zur Geltung und in dem Ministerial-Erlass vom 
26. September 1842 zum Ausdruck gekommen waren, geht klar 
hervor, dass bei allen wichtigeren Krankheiten die Sachkenntniss 
des Medicinal-Beämten die Grundlage der zu ergreifenden Mass¬ 
regeln bilden soll. Aber nicht nur bei den der unbedingten 
Anzeigepflicht unterliegenden Krankheiten, sondern auch bei fast 
allen übrigen ist die Mitwirkung des Medicinal-Beamten durch 
den Ministerial-Erlass vom 14. Juli 1884 betr. die Schliessung 
von Schulen bei ansteckenden Krankheiten gesichert, so dass sehr 
häufig wegen Scharlach, Diphteritis und Ruhr, mitunter sogar 
wegen Masern und Keuchhusten der Medicinal-Beamte an den 
Ort der Epidemie zur Feststellung der NothWendigkeit der Schul¬ 
schliessung entsendet wird. Glauben Sie unter diesen Umständen 
wirklich, dass es viele Privatärzte geben wird, die sich herbei¬ 
lassen werden, der requirirenden Polizeiverwaltung Vorschläge 
zur Verhütung der Weiterverbreitung von Infectionskrankheiten 
zu machen, wenn sie sich sagen müssen, dass ihre Anordnungen 
möglicher Weise durch den Physikus kritisirt und umgestossen 
werden können? Unzweifelhaft wird der grösste Theil der Aerzte, 
falls wirklich einmal an sie eine Requisition zur Constatirung 
ansteckender Krankheiten ergehen sollte, sich lediglich auf die 



76 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

Constatirung beschränken, alles Uebrige aber dem Medicinal- 
Beamten überlassen. Ich für meine Person, wenn ich Privatarzt 
wäre, würde sicher so handeln lind ebenso denkt unzweifelhaft 
der grössere Theil der Aerzte. Die Erfahrungen meiner amt¬ 
lichen Praxis haben auch gezeigt, dass es für beide Theile, so¬ 
wohl für den Medicinal-Beamten, als auch für den Privatarzt, 
besser ist, wenn die letzteren mit allgemeinen Anordnungen 
möglichst zurückhaltend sich zeigen. Es macht immer einen 
schlechten Eindruck, wenn die von dem Privatärzte vorgeschlage¬ 
nen und von der Polizeibehörde bereits angeordneten Massregeln 
möglicher Weise von der Kreisbehörde wieder umgestossen werden 
müssen. Es kommen sowohl die Behörden, als derPhysikus und. 
der betreffende Privatarzt dadurch in eine schiefe Lage. Ich 
könnte Ihnen viele Fälle vorführen, die dies thatsächlich be¬ 
weisen; nur einen will ich kurz erwähnen: 

In einem Dorfe waren Masern in dem Schulhause ausgebro¬ 
chen. Der Amtsvorsteher schickt den benachbarten Arzt an Ort 
und Stelle, um die nöthigen Anordnungen bezüglich der Schule 
zu treffen. Derselbe ordnet an, dass die Ergreifung besonderer 
Massnahmen nicht nothwendig sei, da zwar die Krankheit epide¬ 
misch im Dorfe herrsche, jedoch gutartig sei. Auf die Frage des 
Lehrers, der selbst 5 Kinder besass, von denen 3 maserkrank 
waren, ob er die Schule weiter halten dürfe trotz des Mangels jeder 
Absperrung, wird ihm „ja“ geantwortet; auch die weitere Frage, ob 
die gesunden Kinder aus den inficirten Häusern zur Schule kom¬ 
men könnten, wird bejaht; die Masern wären eine unschuldige 
Kinderkrankheit, die jedes Kind so wie so bekäme. Ueber die 
Berechtigung einer derartigen Ansicht kann man ja verschiedener 
Meinung sein; der Privatarzt ist ja in der glücklichen Lage, mit 
einer gewissen Licenz seine Vorschläge den Behörden kund zu 
geben. Ganz anders der Medicinalbeamte. Selbst den Fall ge¬ 
setzt, dass derselbe den Standpunkt bezüglich der Masern voll¬ 
ständig getheilt hätte, durfte er nicht so handeln; er war ge¬ 
zwungen, seine Anordnungen innerhalb des gesetzlichen Rahmens 
zu treffen, im vorliegenden Falle unter Berücksichtigung des 
Minist.-Erlasses vom 14. Juli 1884. Dem betreffenden Lehrer, 
dem die eben genannte Minist.-Verfügung bekannt war, kamen 
die Anordnungen doch etwas eigentümlich vor, er berichtet« an 
das Landrathsamt und bat um Verhaltungsmassregeln, so dass ich 
als Physikus schliesslich hingeschickt wurde. Inzwischen war 
ein Kind des Lehrers verstorben, ein anderes schliesslich noch 
dazu erkrankt, die Epidemie hatte eine solche Ausdehnung ange¬ 
nommen, dass nur noch wenig Schulkinder zur Klasse kamen. 
Die Lehrerfamilie hatte eine ganz enge Wohnung; von einer Ab¬ 
sonderung war gar keine Rede, dieselbe konnte nach Lage der 
Verhältnisse überhaupt nicht ermöglicht werden, so dass ich die 
sofortige Schulschliessung anordnete. 

Im Grossen und Ganzen kann man annehmen, dass bei den 
Privatärzten keine grosse Neigung vorhanden ist, etwaigen an sie 
herantretenden Requisitionen wegen Anordnung von sanitätspoli- 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


77 


zeilichen Massregeln Folge zu gehen. Theilweise sind sie mit 
den bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen zu wenig bekannt, 
theilweise haben sie sich mit der Sache nicht mit derjenigen 
Tiefe beschäftigt, die allein ein zielbewusstes Handeln sichert. 
Es ist ihnen daraus ja selbstverständlich nicht der geringste Vor¬ 
wurf zu machen, sie sind ja nicht beamtete Aerzte, wollen es 
auch nicht sein und haben es daher auch nicht nötliig, sich mit 
diesen Dingen genau zu beschäftigen. 

Unter solchen Verhältnissen würde es ja nahe liegen, dass 
die Polizeiverwaltung gleich von vorn herein den amtlichen Arzt 
zur Constatirung zuzieht, damit Constatirung und Anordnung von 
Massregeln Hand in Hand gehen können. Nach den erlassenen 
Minist.-Verfügungen vom 9. April 1861 kann dieselbe jedoch nicht 
dazu gezwungen werden, da eine ärztliche Untersuchung durch 
Medicinalbeamte im § 10 nicht vorgeschrieben ist. Dem könnte 
vielleicht entgegen gehalten werden, dass das Regulativ von den 
Medicinalbeamten und der von ihnen auszuübenden Thätigkeit 
eigentlich nirgends spricht und dass die Zuziehung der Letzteren 
bei der Constatirung von Infektionskrankheiten lediglich durch 
Minist.-Erlasse geregelt ist, wozu die Berechtigung vielleicht aus 
dem Umstande hergeleitet ist, dass in dem Regulativ immer nur 
von ärztlichen Untersuchungen ganz im Allgemeinen die Rede ist, 
ohne nähere Präzisirung, ob diese Untersuchung eine amtsärzt¬ 
liche sein müsse. 

Bei den Infektionskrankheiten der Thiere ist in dem Seuchen¬ 
gesetz vom 23. Juni 1880 bezw. dem Ausführungsgesetz vom 
12. März 1881 bezüglich der Constatirung ein ganz anderes Prin¬ 
zip zum Ausdruck gekommen, als in den bisher erlassenen Minist.- 
Verfügungen bezüglich der ansteckenden Menschenkrankheiten. 
Da ist überall der Grundsatz aufgestellt, dass die Ortspolizei¬ 
verwaltung zur Constatirung von ansteckenden Viehkrankheiten 
stets den zuständigen Kreis-Thierarzt zu requiriren habe. Bei 
dieser Gewohnheit, bei Thierkrankheiten stets den Kreis-Thier¬ 
arzt zu requiriren, passirt es einen Amtsvorsteher wohl mitunter, 
dass er, unbekümmert um die Gesetze, lediglich seinem natür¬ 
lichen Menschenverstände folgend, auch mal bei ansteckenden 
Menschenkrankheiten sofort den Medicinalbeamten zur Feststel¬ 
lung und Anordnung von Massnahmen amtlich requirirt. Ich habe 
während der 7 Jahre, die ich in den Kreisordnungsprovinzen als 
Physikus fungirt habe, 5 mal eine derartige direkte Requisition 
von dem Amtsvorsteher erhalten. Die braven Leute thaten mir 
jedesmal leid, ich tröstete mich aber damit, dass sie es in ihrem 
Leben gewiss nicht wieder thun würden. Und so war es auch. 
Es waren Amtsvorsteher, die noch nicht durch die Erfahrung ge¬ 
lernt hatten, die noch nicht wussten, dass nicht der Staat, son¬ 
dern sie selbst die Kosten dieser Requisition tragen mussten. 
Nach der Einreichung meiner Liquidation entwickelte sich jedes¬ 
mal eine langwierige Schreiberei; anfänglich Erstaunen, wie ich 
überhaupt dazu käme, zu liquidiren, sodann über die Höhe der 
Liquidation u. s. w. In diesen 5 Fällen musste ich 2 mal die 



78 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenverelns. 

Hülfe des Landraths in Anspruch nehmen, um zu meinem Rechte 
zu kommen. 

Da wir nun bei dem Geldpunkte angelaDgt sind, so kann hier 
gleich erwähnt werden, dass, falls durch Minist.-Erlass den Po¬ 
lizeibehörden aufgegeben werden würde, bei der Constatirung 
von ansteckenden Krankheiten sich stets der Medicinalbeamten 
zu bedienen, der Sache selbst nicht gedient sein würde, so lange 
die Ortsbehörden auch die Kosten dieser Constatirungen tragen. 
In den Bureaus und in den Akten würden die ansteckenden 
Krankheiten in diesem Falle wohl mehr und mehr von der Bild¬ 
fläche verschwinden, d. h. insofern, als sie nur selten zur amt¬ 
lichen Cognition kommen würden, in der Wirklichkeit dagegen 
würden sie desto mehr floriren und nur die Kirchhöfe würden die 
Zahl der geforderten Opfer noch einigermassen illustriren. 

Diejenige Forderung, die die Prophylaxis der Infektions¬ 
krankheiten in erster Reihe immer und immer wieder stellen 
muss, ist die, dass bei der sofortigen amtsärztlichen Con¬ 
statirung auch der Staat die Kosten übernehmen muss, 
ohne diese Concession kommen wir über den Berg nicht hinüber. 
Sehen wir uns diesen Kostenpunkt einmal etwas genauer an, so 
werden wir finden, dass der Staat ja trotz des Verlangens, die 
ersten Fälle ansteckender Krankheiten durch die Polizeiverwal¬ 
tungen auf deren Kosten constatiren zu lassen, schliesslich doch 
die Constatirungskosten noch einmal tragen muss, da, wie wir 
hereits gesehen haben, fast sämmtliche Krankheiten in Folge der 
Minist.-Erlasse vom Jahre 1884 der Regel nach die Entsendung 
der Medicinalbeamten erforderlich machen. Es ist in der That 
schwer einzusehen, wesshalb unter diesen Umständen die amts¬ 
ärztliche Constatirung nicht schon von vorn herein, beim Auf¬ 
treten der ersten Fälle, zur Bedingung gemacht wird. Die beste 
Zeit des Einschreitens geht ja durch die zu späte Zuziehung der 
Medicinalbeamten verloren und an Geld wird nichts gespart. 

Den thatsächlichen Beweis, dass durch die sofortige Zu¬ 
ziehung der Medicinalbeamten auf Kosten des Staates dem 
letzteren keineswegs erheblich vermehrte Kosten erwachsen, liesse 
sich von den Centralbehörden bezw. von der Oberrechnungs¬ 
kammer erbringen, da wir ja eine Provinz besitzen, in der der 
Staat schon seit langer Zeit die Constatirungskosten übernimmt. 
Es ist dies die Provinz Posen, in der zu amtiren ich augen¬ 
blicklich den Vorzug habe, in welcher alle Infectionskrankheiten 
von vorn herein durch Medicinalbeamte festgestellt werden und 
in welcher der Staat auch die Kosten dafür trägt. Ich behaupte 
nun, dass in der Provinz Posen dem Staat zur Unterdrückung 
von Infectionskrankheiten verhältnissmässig nicht mehr Kosten 
erwachsen als in den sog. Kreisordnungsprovinzen, in denen der 
amtlichen Constatirung noch stets eine privatärztliche vorangehen 
soll. Und wenn vielleicht einzelne Kreise der Provinz, die un¬ 
mittelbar an der russischen Grenze liegen, hierin eine Ausnahme 
machen, so liegt der Grund hiervon nicht in der Constatirung 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


79 


der Krankheiten durch die Medicinalbeamten, sondern lediglich 
darin, dass hier die Sanitätspolizei etwas schärfer gehandhabt 
wird, da wir in den Grenzkreisen die Eingangspforten für viele 
ansteckende Krankheiten, namentlich Flecktyphus und Pocken, 
besitzen, Verhältnisse, wie sie in ähnlicher Weise ja auch in 
Oberschlesien bestehen. 

Man könnte ferner einwenden, dass doch wohl die Möglich¬ 
keit vorhanden sei, dass der Medicinalbeamte, falls er gleich zur 
Constatirung der ersten Verdächtigen herangezogen würde, er 
häufig bei seinem Eintreffen an Ort und Stelle die vermuthete 
Infectionskrankheit gar nicht vorfände und die Reise daher 
eigentlich umsonst gemacht habe; desswegen müsste die ver¬ 
muthete Krankheit erst anderweitig constatirt werden. Ein der¬ 
artiger Einwurf ist nur theoretisch construirt. Auf welche Weise 
die Polizeibehörde überhaupt von dem Auftreten einer Infections¬ 
krankheit Kenntniss bekommt und dass dann in der Regel 
bereits eine ärztliche Feststellung durch den behandelnden Arzt 
stattgefunden hat, habe ich bereits an einer andern Stelle hervor¬ 
gehoben. Die Furcht vor den zwecklosen Reisen ist vollständig 
unbegründet, den Beweis hierfür kann wiederum die Provinz 
Posen liefern. Mir gehen sämmtliche Constatirungsberichte der 
Medicinalbeamten durch die Finger und ich kann versichern, 
dass es äusserst selten vorkommt, dass die letzteren die bereits 
von der Polizeibehörde bezeichnete Krankheit nicht vorgefunden 
haben, jedenfalls nicht häufiger, als es auch in den Kreisordnungs¬ 
provinzen gelegentlich mal vorkommt. Eine Ersparniss für 
die Staatskasse wird also durch die zeitliche Trennung 
der Constatirung und der Anordnung von Massregeln 
keineswegs herbei geführt, sondern lediglich eine Ver¬ 
schleppung der nothwendigen Massregeln. 

Sie werden nun zum Schluss wahrscheinlich ein Lob- und 
Dankeslied für die Provinz Posen von mir erwarten, wo die von 
mir so perhorrescirte zeitliche Trennung der Constatirung und 
Anordnung von Massregeln ja gar nicht existirt. Sie werden 
sagen, nun weise doch an der Hand der dort bestehenden Zu¬ 
stände nach, wie prompt und um wie vieles besser der sanitäts¬ 
polizeiliche Apparat bei dir arbeitet als bei uns. Leider kann 
ich dies nicht mit dem Brustton der Ueberzeugung thun, sondern 
muss bescheiden eingestehen, dass selbst in der Provinz Posen 
nach dieser Richtung hin noch manches zu wünschen übrig bleibt. 
Es liegt dies zum Theil daran, dass die Ortspolizei-Behörden, 
also in den meisten Fällen die Distrikts-Commissare, den Medi¬ 
cinalbeamten nicht direct zur Feststellung der fraglichen Krank¬ 
heit requiriren, sondern zunächst an den Landrath darüber be¬ 
richtet, welcher demnächst in Erwägung zieht, ob die Ent¬ 
sendung des Medicinalbeamten nothwendig erscheint, event. auch 
vorher noch weiteren Bericht der Polizeiverwaltung abwartet. 
Auch dabei vergeht viel Zeit, mitunter sehr viel Zeit, so dass 
vor Ablauf von 1—2 Wochen der Physikus fast nie an Ort und 
Stelle erscheinen kann. Der Geschäftsgang der Behörden ist 



80 6. Hauptvorsammlung des Preussischen Medicinalboamtonverems. 


ziemlich complicirt, man muss denselben kennen, um zu verstehen, 
wie die einzelnen Sachen so lange liegen bleiben können. 

Ausser dieser durch den vorgeschriebenen Geschäftsgang 
bedingten zeitlichen Verzögerung vermisse ich häufig bei der 
Requisition der Medicinalbeamten ein einheitliches Princip. Mit¬ 
unter erfolgen die Requisitionen ganz unnöthiger Weise, wo durch 
Hinweisung auf erlassene Verfügungen die Sache abgemacht 
werden könnte, häufig erfolgen sie gar nicht, wo sie nothwendig 
sind, oder viel zu spät, nachdem der Commissar einen erneuten 
Bericht eingesandt hat. Ich habe noch in diesem Jahre einen 
Fall erlebt, wo seit März in einem Dorfe, welches noch zum 
Theil der Ueberschwemmung ausgesetzt gewesen, der Typhus 
herrschte und wo der Medicinalbeamte erst im Juli an den Ort 
der Epidemie gesandt wurde, nachdem inzwischen 5 Personen 
gestorben und 33 erkrankt waren. Durch Hin- und Herschreiben 
zwischen Commissarius und Landrath hatte sich die Sache so 
lange verzögert. Man kann den Landräthen daraus keinen so 
grossen Vorwurf machen, nichts liegt mir ferner als das, es ge¬ 
hört eben medicinisch-technisches Wissen dazu, um beurtheilen 
zu können, ob eine Untersuchung an Ort und Stelle nothwendig 
ist oder nicht. Viele Landräthe fühlen das selbst, dass sie zur 
Beurtheilung dieser Fragen zu wenig sachverständig sind und 
haben einen modus vivendi mit ihren Medicinalbeamten herge¬ 
stellt, der sehr zu empfehlen ist. So ist es mir aus der Zeit 
meiner Amtirung in Schlesien bekannt, dass manche Landräthe 
es dem Physikus vollständig überlassen, ob er an Ort und Stelle 
hinfahren wiH oder nicht; einige schreiben in ihnen zweifelhaften 
Fällen, „mit dem Anheimgeben, an Ort und Stelle die erforder¬ 
lichen Untersuchungen anzustellen“. Der grössere Theil verfährt 
jedoch bei den Requisitionen der Medicinalbeamten vollständig 
selbstständig, ohne sich vorher mit seinem Physikus in Ver¬ 
bindung zu setzen, die besonderen Vertrauensstellungen, in denen 
der letztere plein pouvoir hat, gehören zu den Seltenheiten. 

Wie kommt man nun aus diesem Dilemma heraus? Wie lässt 
sich eine Beschleunigung der Constatirung erreichen, event. wie 
eine überflüssige Reise vermeiden? Da giebt es nur einen Weg. 
Man gebe den Ortspolizeibebörden den Kreisphysikern gegenüber 
dieselbe Befugniss wie sie dieselbe den Kreisthierärzten gegen¬ 
über bereits längst haben, mit andern Worten, wir müssen ver¬ 
langen, dass die Constatirung der ansteckenden Krankheiten bei 
Menschen in derselben Weise erfolgt, wie diejenige beim Vieh, 
dass mithin die Ortspolizeibehörde nicht nur das Recht, sondern 
auch die Pflicht hat, dem Physikus direct die Anzeige zu zu¬ 
schicken, der pflichtmässig zu erwägen hat, ob sein sofortiges 
Erscheinen an Ort und Stelle nothwendig ist, oder ob er nach 
Lage der Sache die erforderlichen Massregeln auch ohne sofortige 
Lokaluntersuchung treffen kann. 

Bei einer derartigen Einrichtung würden sich häufig mehrere 
Reisen combiniren lassen, was jetzt eigentlich nie vorkommt; 
weniger wichtige Krankheiten könnten gelegentlich untersucht 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


81 


werden und die Staatskasse würde nicht ungehörig belastet 
werden. Die Medicinalbeamten in Preussen haben in dem letzten 
Jahrzehnt, trotzdem sie viel schlechter stehen als die Collegen 
in den andern deutschen Staaten, durch ihr eifriges Streben und 
ihre Leistungen gezeigt, dass sie die Pflichten ihres Amtes mit 
Ernst und Verständniss zu erfüllen vermögen, der Versuch, die¬ 
selben in ihrem Handeln mehr selbstständiger zu machen, könnte 
daher wohl gewagt werden. 

M. H.! Die Kreisthierärzte gemessen vor den Physikern den 
grossen Vorzug, dass sie nicht nur direct von den Ortspolizei¬ 
behörden auf Staatskosten zur Constatirung der Infectionskrank- 
heiten requirirt werden, sondern dass ihnen auch die Macht- 
befugniss zuertheilt ist, die erforderlichen Präventivmassregeln, 
namentlich so weit sich dieselben auf die Absonderung und die 
Desinfection erstrecken, sofort an Ort und Stelle anzuordnen. 
Dass sich diese Einrichtung in hohem Grade bewährt hat, darüber 
herrscht nur eine Stimme. Es kann gar keinem Zweifel unter¬ 
liegen, dass eine ähnliche Einrichtung zur Unterdrückung der 
menschlichen Infectionskrankheiten mindestens eben so nothwendig 
ist, nicht um den Medicinalbeamten dadurch eine bessere pecu- 
niäre Stellung zu geben, sondern lediglich um die Voraussetzungen 
zu schaffen, unter denen allein der prophylactische Apparat 
schnell, sicher und zielbewusst zu arbeiten im Stande ist. M. H.! 
dies ist der dringendste und nothwendigste Theil der erhofften 
Reorganisation, werden nach dieser Richtung die Forderungen 
der öffentlichen Gesundheitspflege erfüllt, dann können wir auch 
mit dem alten Regulativ noch weiter arbeiten und brauchen es 
nicht nothwendig schon jetzt zu Grabe geleiten. 

H. Kr.-Ph. Dr. Schroeder (Weissenfels): Ich bin ganz der Ansicht, dass 
die Anzeigepflicht — ich spreche zunächst zu § 9 — hauptsächlich auf die Aerzte 
beschränkt wird* Indessen, es hält nur schwer, dieselben heranzuziehen, weil 
sie glauben, sie schädigen sich durch die Anzeige in der Praxis. Ich habe 
nachgedacht: welches Mittel ist wohl das beste, um die nichtbeamteten Aerzte 
zur Anzeige zu veranlassen? Als ich als Kreisphysikus nach Weissenfels ver¬ 
setzt wurde, wurde gar nicht angezeigt, wenigstens von den Aerzten in der 
Stadt Weissenfels nicht; hier und dort zeigten dann die anderen Aerzte des 
Kreises an. Da bin ich darauf gekommen, dort einen ärztlichen Verein zu 
gründen. In diesem habe ich, allerdings mit Mühe und Noth, den Antrag auf 
allgemeine Anzeigepflicht durchgebracht. Es wird also jetzt im Allgemeinen 
jeder einzelne ansteckende Fall im Kreise angezei^t, also z. B. nicht etwa bloss 
ein bösartiger Diphtheritisfall, sondern jeder Diphtheritisfall. Leider kommt 
hier und da doch noch ein Arzt jenem einstimmig angenommenen Anträge 
nicht so nach, wie dies wtinschenswerth wäre. Ich habe da doch nicht so 
durchdringen können. Sie wissen ja, welche Schwierigkeiten es macht, eine 
grosse Anzahl von Aerzten zu einem einheitlichen Vorgehen zu veranlassen. 
Was die Anzeigepflicht bei Masern und die Anwendung von sanitätspolizeilichen 
Massregeln anbelangt, da möchte ich sagen, dass ich der Ansicht bin: eigent¬ 
lich sollte ein Schluss der Schule bei Masern nur dann erfolgen, wenn die 
Fälle sehr bösartig sind. Ich stehe mit dieser Ansicht nicht ganz allein. Die 
Aerztekammer in Magdeburg hat sich in diesem Sinne ausgelassen: „die Kinder 
gingen auf die Strasse und kämen dort erst recht in Berührung mit einander, 
sodass durch den Schluss der Schule eine Ausbreitung der Epidemie eher be¬ 
günstigt werde*. Ich habe auch von meinem Präsidenten ebenso wie meine 
beamteten Kollegen eine Verfügung erhalten, in diesem Sinne zu verfahren. 



82 


6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


H. Kr.-Ph. San.-Rath Dr. Wallichs (Altona): Ich möchte nicht, dass wir 
auf die Einzelheiten dieser Anzeigepflicht, soweit es die einzelnen Krankheiten 
betrifft, näher eingehen. Das würde uns sicherlich zu weit führen. Ich gestatte 
mir, darauf hinzuweisen, dass in meiner Heimathsprovinz eine auf dem Ver¬ 
ordnungswege herbeigeführte Anzeigepflicht aller Aerzte für alle ansteckenden 
Krankheiten schon seit längerer Zeit bestellt. Die Aerzte sind durch Polizei¬ 
verordnung verpflichtet, jede Woche auf einem Formular, das ihnen frankirt 
eingehändigt wird, die ansteckenden Krankheiten, die in ihre Behandlung ge¬ 
kommen sind, anzuzeigen. Es ist ihnen sogar auferlegt, Vakatanzeigen zu 
machen; sie sollen die Postkarte also auch dann einschicken, wenn sie keine an¬ 
steckenden Krankheiten behandelt haben. Falls die Aerzte dieser Pflicht 
nicht genügen, können sie dafür zur Verantwortung gezogen werden. Das 
geschieht natürlich nicht in jedem einzelnen Falle, sondern höchstens in Fällen 
anhaltender Renitenz und die Gerichte haben in solchen Fällen verurthoilt. 
Gewisse Krankheiten, wie Cholera, Pocken und Kindbettfieber, müssen übrigens 
unmittelbar angezeigt werden und nicht erst am Ende der Woche; denn es ist, 
was ich Ihnen nicht näher erst darzulegon brauche, von grosser Wichtigkeit-, 
dass der Physikus wo möglich an dem Tage, au welchem z. B. ein Pockenfall 
erkannt wird, auch davon erfahrt. Man ist dadurch in der Lage, wie ich 
glaube, das doch mehrfach in meinem Kreise beobachtet zu haben, die Ver¬ 
breitung der Krankeit verhindern zu können, eine Thätigkeit, die uns in sani¬ 
tärer Beziehung am allermeisten Befriedigung gewähren und in etwas für das 
entschädigen kann, was sonst in dieser Hinsicht zu wünschen übrig bleibt. 

Ich möchte dann nur noch zwei Worte sagen über die Ausdehnung der 
Anzeigepflicht auf andere Personen als die Aerzte. Die letzteren sind bei uns, 
wie gesagt, verpflichtet, jeden Fall von ansteckender Krankheit, und zwar jede 
Woche, anzuzeigen. Man könnte das für genügend halten, wenn wir nicht 
Kurpfuscher hätten, und das ist ein Punkt, der gegen die Freigebung der 
Praxis neben vielen anderen mit Recht geltend gemacht worden ist, nämlich 
dass die Konstatirung der ansteckenden Krankheiten durch die Verbreitung 
des Kurpfusclierthums ganz ausserordentlich behindert wird. Es ist deswegen 
nöthig, weil man doch nicht die Kurpfuscher anzeigepflichtig machen kann 
und will, in zweiter Linie die Familien- oder Haushaltungsvorstände anzeige¬ 
pflichtig zu machen. Natürlich können diese nicht über jeden Fall urtheilen, 
und ihre Mitwirkung würde nicht für jeden Fall nützlich sein, aber doch für 
gewisse Fälle; z. B. bei Cholera oder Pocken. Diese zu erkennen ist nicht 
allzu schwer, und es würde nicht ganz ohne Nutzen sein, auch die Anzeige¬ 
pflicht eines Laien für sie in Anspruch zu nehmen. 

H. Reg.- u. Med.-Ratli Dr. Rapmnnd (Aurich): Wenn Kollege Schröder 
sagt, dass man bezüglich der Anzeige ansteckender Krankheiten ganz gut vor¬ 
wärts kommen könnte, wenn die Aerzte durch ärztliche Vereinigungen bezw. 
Aerztevereine zur Anzeige verpflichtet würden, — also gleichsam eine frei¬ 
willige Anzeigepflicht — so stehe ich auf ganz entgegengesetztem Standpunkt : 
Meines Erachtens ist die Anzeigepflicht der Aerzte nicht durch derartige frei¬ 
willige Vereinbarungen, sondern nur durch bestimmte polizeiliche oder gesetz¬ 
liche Bestimmungen durchführbar. Sorgen dann die Polizeibehörden dafür, 
dass diese Bestimmungen wirklich beachtet werden und sind die Aerzte, wenn 
sie nicht anzeigen, erst einige Mal in Strafe genommen und die Strafen ent¬ 
sprechend gesteigert worden, dann kommen sie auch ihren Verpflichtungen 
meist nach, wie ich Ihnen aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Manche 
Aerzte sind allerdings in dieser Hinsicht ungemein hartnäckig und versuchen 
sich auf alle mögliche Weise um die Anzeigepflicht herumzudrücken, ja es geht 
so weit, dass sie z. B. absichtlich eklatante Diphtkeritisfalle für einfache Pha- 
ryngiten, Typliusorkrankungen für gastrische Fieber u. s. w. erklären, um die¬ 
selben nicht anzeigen zu brauchen. Die Aerzte thun dies eben t-heils, um der 
Ortspolizeibehörde oder insonderheit den Medieinalbeamten keinen Blick in ihre 
Praxis zu gewähren, tlieils aber auch aus Rücksicht gegen ihre Klienten, denen es, 
wie Kaufleuten, aus Geschäftsinteressen oft sehr unangenehm ist, wenn bekannt 
wird, dass in ihrem Hause irgend eine ansteckende Krankheit herrscht. Gegen 
diesen Uebelstand ist jedenfalls schwer anzukämpfen, aber immer noch eher 
durch Polizeistrafen als durch freie Vereinbarungen. 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


83 


In der Provinz Hannover ist das Regulativ vom 8. August 1835 nicht ein¬ 
geführt, jedoch bestehen in allen dortigen Regierungsbezirken Polizeiverord¬ 
nungen, durch welche nicht nur den Aerzten, sondern auch für diejenigen 
Fälle, wo überhaupt kein Arzt zugezogen ist — und das sind nicht wenige — 
den HaushaitungsVorständen bezw. Eltern die Verpflichtung zur Anzeige an¬ 
steckender Krankheiten auferlegt ist Die meisten von diesen Polizeiverord¬ 
nungen gehen auch etwas weiter als diejenige in Schleswig-Holstein, indem sie 
vorschreiben, dass bei allen anzeigepflichtigen ansteckenden Krankheiten und 
nicht nur bei Pocken, Cholera und Puerperalfieber sofort und zwar spätestens 
innerhalb der nächsten 24 Stunden nach dem Erkennen derselben der Orts¬ 
polizeibehörde Anzeige zu machen ist. Ich halte diese Bestimmung für durch¬ 
aus erforderlich, denn, um der Weiter Verbreitung einer ansteckenden Krank¬ 
heit mit Erfolg entgegentreten zu können, müssen die erforderlichen Vorsichts- 
massregeln so früh als möglich angeordnet werden und dies ist nur möglich, 
wenn sofort von Fall zu Fall an gezeigt werden muss. Die Landräthe bezw. 
Magistrate, welche die Anzeigen erhalten, sind daher auch verpflichtet, dieselben 
dem Physikus sofort zur Kenntnissnahme mitzutheilen und hat der letztere in 
den Fällen, wo es nothwendig erscheint, eine Untersuchung an Ort und Stelle 
vorzunehmen, dies dem Landratlie anzuzeigen, der ihn dann wohl auch aus¬ 
nahmslos requiriren wird. Uebrigens hat auch in der Provinz Hannover der 
Staat als Träger der Ortspolizeibehörde ebenso wie in der Provinz Posen die 
Kosten für die Konstatirung der ansteckenden Krankheiten zu tragen, ausge- 
genommen in denjenigen Städten, welchen nach der dortigen Kreisordnung die 
Verwaltung der Polizei verblieben ist In Folge dessen werden die Physiker 
vielleicht auch hier etwas häutiger requirirt als in den anderen Provinzen; 
dass aber derartige Requisitionen nicht allein von der Entscheidung der Land¬ 
räthe abhängig gemacht werden dürften und dem Physikus in dieser Hinsicht 
eine grössere Machtvollkommenheit als bisher gegeben werden müsste, darin 
stimme ich dem Herrn Referenten, der dies in sehr ausführlicher und treffen¬ 
der Weise erörtert hat, vollständig überein. Es lässt sich allerdings nicht 
läugnen, dass die Ministerialverfügung vom 14. Juli 1884 über die Schliessung 
von Schulen bei ansteckenden Krankheiten in dieser Beziehung unzweifelhaft 
sehr grossen und segensreichen Einfluss gehabt hat. Hier wird ja ausdrücklich 
vorgeschrieben, dass die Schule nicht eher geschlossen werden darf, als bis 
der Physikus gehört ist und wird z. B. in meinem Regierungsbezirk streng 
darauf geachtet, dass keine 8chulschliessung eher stattfindet, als bis der Physi¬ 
kus an Ort und Stelle gewesen ist. Wir haben mit diesem Verfahren auch 
den guten Erfolg gehabt, dass die Physiker bei derartigen Schulschliessungen 
gleichzeitig die gesundheitlichen Verhältnisse der Schule revidiren und darüber 
berichten; und hat die Erfahrung gezeigt, dass die Gemeinden zur Zeit des 
Ausbruchs einer ansteckenden Krankheit am allermeisten geneigt sind, die von 
dem Physikus hinsichtlich der hygienischen Verhältnisse der Schule gemachten 
Verbesserungsvorschläge auszuführen und sich in dieser Beziehung nicht auf 
die Hinterbeine zu stellen wie zu anderen Zeiten, wo sie erst durch besondere 
Massregeln dazu gezwungen werden mussten. 

H. Kr.-Phys. und San.-Rath Dr. Michelsen (Waldenburg): M. H.! Ich stehe 
ganz auf demselben Standpunkt, welchen Herr Medicinalrath Peters einge¬ 
nommen hat und bin in der glücklichen Lage, an der Hand der Erfahrungen 
in meinem eigenen Kreise Ihnen nachzuweisen, dass die Massregeln, die der¬ 
selbe vorschlägt, sich sehr wohl durchführen lassen, namentlich auch ohne dass 
dem Staat dadurch wesentlich höhere Kosten entstehen. Als ich das Physikat 
im Waldenburger Kreise im Jahre 1878 übernahm, waren kurze Zeit, nachdem 
ich eingetroffen war, mehrere Meldungen von Pockenerkrankungen aus einem 
unserer grösseren Fabrikdörfer eingebauten, die mir seitens des Landraths zur 
Kenntnissnahme zugesellickt wurden. Ich schrieb also: Nach erfolgter Kennt¬ 
nissnahme ganz ergebenst zurückgereicht u. s. w. Einige Zeit darauf erkun¬ 
digte sich der Landrath bei mir, wie es mit den Pocken in Wüstegiersdorf 
stände. Ich sagte, ich hätte keine Veranlassung gehabt, eigene Wahrnehmungen 
zu machen, da ich nicht zur Dienstreise aufgefordert sei, und da ersuchte er 
mich, doch gleich unsere Stellung in Bezug auf die Sanitätsaufgaben des Me- 
dicinalbeamten klar zu machen Wir wurden darüber einig, dass gerade in 
einem Kreise wie in dem meinigen, welcher so ausserordentlich gedrängte 

6* 



84 6. Hauptversammlung des Preußischen Medicinal beamten verein?. 


Wohnungsverhältnisse besitzt und wo ein so ausserordentlich mannhaftes Zu¬ 
sammenwohnen in den Häusern besteht nur ein rechtzeitiges Eingreifen, wie 
die Anordnung rascher, energischer Maßregeln wirk-am sein könnte, und wir 
beschlossen, dass jedem Amtsvorsteher aufzugeben sei. sobald eine ansteckende 
Krankheit bei ihm gemeldet würde, darüber sowohl dem Landrathsamte als 
auch direkt mir gleichzeitig eine Anzeige zugehen zu lassen, und dass mir be¬ 
züglich der zu ergreifenden Schritte freies Handeln ein für alle Mal vom Land¬ 
rath überlassen bleiben sollte. Ich war also bei jeder Meldung über das Auf¬ 
treten von ansteckenden Krankheiten in meinem Kreise berechtigt, zu thun 
und zu lassen, was ich wollte. Noblesse oblige, m. H.! Ich glaube, ich mache 
die wenigstens Dienstreisen von Ihnen, trotzdem ich in einem sehr grossen 
Kreise wohne, indem ich nur dann reise, wenn es sich um ein Dorf handelt, 
in dem die Einwohner besonders eng wohnen und wo ich ausserdem weiss, 
das« ich es mit einem unzuverlässigen Amtsvorsteher zu thun habe, der mir 
keine Garantie bietet, dass die ein für alle mal vereinbarten Schutzmassregeln 
ge^en Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten richtig und sorgfältig aus- 
pelührt werden. Wenn die Krankheitsfälle sich allerdings mehren, dann gehe 
ich stets hin, sonst besuche ich aber nur diejenigen Ortschaften, wo ich in 
Betreff der Zuverlässigkeit der Ausführung der Sanitätsmassregeln, über deren 
Nothwendigkeit alle Aerzte im Kreise einig sind, unsicher bin. Der Walden- 
burger Kreis war übrigens der erste in Schlesien, welcher eine Polizeiverord- 
nung erliess, wonach die Anzeige für Diphtheritis und Puerperalfieber inner¬ 
halb 24 Stunden nach Constatirung der Krankheit zur Pflicht gemacht wurde. 
Durch diese Massregeln sind wir, trotzdem dass wir thatsächlich sehr gedrängt 
und in hygienisch ungünstigen Verhältnissen leben, in die glückliche Lage 
versetzt worden, dass innerhalb der 10 Jahre, während welcher ich dort thätig 
bin, keine einzige ansteckende Krankheit in epidemischer Ausbreitung aufge¬ 
treten ist. Wir haben also in gesundheitlicher Beziehung alles Wünschens¬ 
wert he erreicht und gleichzeitig im Waldenburger Kreise praktisch bewiesen, 
dass die Befürchtungen, wir würden zu theuer arbeiten, wenn uns unbeschränkte 
Vollmacht gegeben wird, vollständig unbegründet sind. 

H. Kr.-Pbys. Dr. Gleitsmann (Belzig): Ich muss dem, was H. Medicinal- 
rath Rapmund gesagt hat, doch in einigen Punkten widersprechen. Er be¬ 
hauptet zunächst, es wäre unmöglich, dass aus freiwilligen Abmachungen 
der Aerzte auf längere Zeit etwas zu erreichen sei. In meinem Kreise besteht 
seit 1881 die Einrichtung, dass sämmtliche Aerzte des Kreises mit einer ein¬ 
zigen Ausnahme allmonatlich über alle Krankheiten ihrer Praxis an mich be¬ 
richten. Selbstverständlich fällen damit nicht die Anzeigen, die sie sofort an 
die Polizeibehörden zu machen haben, fort; aber ich habe die Kontrole in der 
Hand, ob die Anzeigen sämmtlich von ihnen eingegangen sind. Ich lege dar¬ 
auf ganz besonderes Gewicht, weil ich die Erfahrung gemacht zu haben glaube, 
dass man durch Strafen die Anzeigepflicht nicht erzwingen kann. Es sind mir 
2 Fälle bekannt, wo Aerzte von der Polizeibehörde mit Strafmandaten wegen 
unterlassener Anzeige belegt sind, dann auf richterliche Entscheidung ange¬ 
tragen haben, und beide Mal frei gesprochen sind. In dem einen handelte es 
sich um Puerperalfieber. Es besteht nämlich in der Provinz Brandenburg die 
Verfügung, dass alle Puerperalkraiikheiten sowie alle Erkrankungen die den 
Verdacht des Kindbettfiebers erwecken, sofort angezeigt werden müssen, also 
jedenfalls eine sehr weite Ausdehnung des Begriffs von Kindbettfieber. Trotz¬ 
dem erklärte der Arzt vor Gericht einfach, es wäre kein Kindbettfieber ge¬ 
wesen, er hätte es nicht dafür gehalten, und er wurde frei gesprochen, ln 
dem anderen Falle handelte es sich um Diphtheritis. Der Arzt erklärte, gleich¬ 
falls, er habe es nicht für Diphtheritis gehalten, sondern für eine nekrotisirende 
Entzündung der Rachenschleimhaut, und wurde ebenfalls freigesprochen. Un¬ 
ser Richter, mit dem ich befreundet war, hat mir gesagt, dass es nur in 
Ausnahmefällen möglich sein würde, den Arzt zu verurtheilen, sobald er er¬ 
klärt, er habe die Krankheit nicht für eine der Anzeigepflicht unterliegende 
gehalten. Ich glaube daher, dass man grosses Gewicht darauf legen muss, 
dass die Aerzte die Anzeigepflicht freiwillig erfüllen. 

Was die amtlichen Reisen betrifft, so darf ich wohl erwähnen, dass in 
meinem Kreise, der einer der grössten der Monarchie ist (35 Quadratmeilen), 
durchschnittlich im Jahre nur 5 Dienstreisen für mich verkommen, und zwar 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 


85 


meist nur solche, wo ich ausdrücklich dem Landrath noch sage: hier scheint 
eine Dienstreise nöthig. Ich muss betonen, dass ich mit dem Landrath auf 
durchaus freundlichem Fusse stehe — ich bin sein Hausarzt —, dass also keine 
persönlichen Gründe der Abhaltung vorliegen. Ich glaube, dass in einem so 
ausgedehnten Kreise von 35 Quadratmeilen 5 Dienstreisen absolut nicht genü¬ 
gen. Ich bin jetzt bei lOjiihriger Amtstätigkeit noch kaum in allen Theilen 
meines Kreises gewesen und würde denselben noch weniger kennen, wenn ich 
nicht bei dem Impfgeschäft und aus eigener Initiative gereist wäre. Dass 
unsere Hygiene dadurch sehr mangelhaft ist, habe ich u. A. daran ersehen 
müssen, dass die Diphtheritis in den letzten 5 Jahren in erschreckender Weise 
zugenommen hat. Während im Anfänge 100 Erkrankungen durch Anzeige 
konstatirt werden konnten, waren es im vorigen Jahre nahe an 1000. Es sind 
im Jahre 1887 über V., sämmtlicher Ortschaften des Kreises von der Diphthe¬ 
ritis befallen gewesen, und trotzdem habe ich nur an 4 Orten durch eigene 
Untersuchungen die Entstehung der Diphtheritis feststellen dürfen. Ich glaube, 
dass diese Zustände doch einer Aenderung dringend bedürfen, wenn wir die 
Freude an unserem Beruf und die Liebe zu der Thätigkeit eines Medicinal- 
bearaten behalten sollen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schmidt (Steinau): Ich wollte zu dem, was Kollege 
Michelsen aus Waldenburg erwähnt hat, aus Schlesien auch noch einen Bei¬ 
trag liefern, nämlich dafür, dass, wie ich schon gestern in meinem Vorträge 
erwähnt habe, es sehr wohl durchführbar ist, dass der Physikus plein pouvoir 
in seinem Kreise hat, wie das in dem meinigen der Fall ist. Ich habe die 
Beobachtung gemacht, dass die Dienstreisen dadurch nicht zu sehr anwachsen, 
denn es ist mir nie von der Vorgesetzten Behörde die Andeutung gemacht 
worden, dass meine Liquidationen irgend wie zu hoch seien. Ich betone also, 
dass man das Constatiren ansteckender Krankheiten ohne behördlichen Auftrag 
sehr wohl vertrauensvoll den Medicinalbeamten überlassen kann, obgleich das 
ja etwas ganz Neues zu sein scheint. Wir alle sind so anständige Leute, dass 
wir dem Staate nicht, um unsere Kasse zu bereichern, Schaden zufügen werden. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmund (Aurich): Wenn bei Polizeistrafen 
die Aerzte nachher von den Richtern freigesprochen werden, weil sie behaup¬ 
ten, dass die Krankheit keine ansteckende gewesen sei, so können derartige 
Freisprechungen mitunter auch recht unangenehme Nackenschläge für die Be¬ 
theiligten zur Folge haben. Ich erinnere mich eines Falles, den mir ein Land¬ 
gerichtspräsident aus seiner amtlichen Praxis mittheilte: Ein Physikus fand 
bei Revision eines Krankenhauses einen Fall von eklatantem Typhus, der nicht 
angezeigt war. Auf seine Anzeige wurde der betreffende Arzt von der Orts- 
polizeibehörde in Strafe genommen. Derselbe weigerte sich aber, die Strafe 
zu zahlen, indem er behauptete, dass der Kranke keinen Typhus, sondern nur 
gastrisches Fieber gehabt hätte. Vom Schöffengericht verurtheilt kam die 
Sache in der Berufungsinstanz vor das Landgericht und lautete das Urtheil 
des letzteren etwa folgendennassen: „Auf Grund der von den zugezogenen Sach¬ 
verständigen abgegebenen Gutachten stehe zweifellos fest, dass in dem frag¬ 
lichen Falle eine schwerere Typhuserkrankung vorgelogen habe, da aber das 
Gericht nicht annehmen könne, dass der angeklagte Arzt absichtlich die 
Unwahrheit sage, so müsse derselbe die Krankheit nicht erkannt haben und 
sei deshalb frei zu sprechen.“ Nun, m. H., ich glaube, solche den Arzt voll¬ 
ständig als Ignoranten blossstellende richterliche Freisprechungen müssen den¬ 
selben empfindlicher als alle Geldstrafen treffen und ihm für zukünftige Zeiten 
eine heilsame Lehre sein. 

H. Kr.-Phys. Dr. Wallichs (Altona): M. H! Ich möchte nur bemerken, 
insofern meine Aeusserung von vorhin einen Zweifel darüber gelassen haben 
sollte, dass mir nichts ferner liegt, als auf den guten Willen der Aerzte bei 
der Anzeigepflicht zu verzichten. Im Gegentheil, obgleich bei uns gesetzliche 
Anzeigepflicht besteht, glaube ich doch, dass derselben nicht vollständig nach¬ 
gelebt wird, wenn nicht der Physikus mit den Aerzten seines Kreises in freund¬ 
lichem Verbältniss steht. Man wird sie ja nicht zwingen können, jeden ein¬ 
zelnen Fall zu melden; man kann das ja nicht kontroliren. Also von dem 
guten Willen der Aerzte, meine ich, sind wir auch bei dieser Sache nicht un¬ 
abhängig und wollen es auch nicht sein. Ich halte es für sehr wichtig, dass 



86 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 

durch persönliches freundliches Verbal tniss und Vereinswesen unseren gesetz¬ 
lichen Bestimmungen zu Hilfe gekommen wird. 

H. Kr.-Phys. Dr. Philipp (Berlin): M. H! Ich will nur auf etwas hindeu¬ 
ten, was der Herr Vortragende auch besonders hervorgehoben hat, nämlich 
auf die lange Zeit, die häutig zwischen der Anmeldung und zwischen der even 
tuellen Requisition des Physikus vergeht. In dem Kreise, in dem icli die 
Ehre habe, zu wirken, der sich auch in anderer Beziehung noch durch seine 
Sanitätseinrichtungen auszeichnet, ist die Einrichtung getroffen, dass der Land¬ 
rath überhaupt von der Polizeibehörde direkt die Meldungen nicht bekommt, 
dieselben bekommt sofort der Physikus, welcher, dann dem Landrath berichtet 
nicht bloss über die Meldungen, sondern auch über das, was er gethan bat. 
Es ist so die ganze Sanitätspolizei in die Hände des Physikus gelegt. Das ist 
seiner Zeit unter meinem hochverehrten Vorgänger Boehr eingeführt und 
hat sich vorzüglich bewährt Es erspart dem Landrathsamt eine Schreibkraft. 
Der Physikus hat ja dadurch mehr zu thun, es ist ihm dafür auch vom Kreis¬ 
ausschuss ein Aequivalent bewilligt, für das er sich einen Schreiber halten 
kann. In der Durchführung haben sich absolut keine Schwierigkeiten heraus¬ 
gestellt. Der Amtsvorsteher berichtet mittelst Meldekarte direkt an den Phy¬ 
sikus, und wir haben so ein sehr gutes und vorzüglich funktionirendes Melde¬ 
wesen. Wir fürchten uns aber auch gar nicht, im verkommenden Falle gegen 
die nicht meldenden Personen einvuschreiten namentlich bei Kindbett¬ 
fieber, wo ja meines Erachtens nach dem Polizeierlass des Herrn Oberpräsi- 
denten der Provinz Brandenburg weder Physikus noch die bestrafende Behörde 
das Recht hat, bei unterlassener Meldung die Bestrafung niederzuschlagen, 
denn der Passus in dem Erlass lautet: „jede unterlassene Anmeldung zieht eine 
Strafe von 10 Mark nach sich.“ Deshalb gehen wir in jedem solchen Falle 
ganz scharf vor, und wenn der Betreffende die Meldung an den Amtsvorsteher 
gerichtet hat, anstatt wie in diesem Ausnahmefallc an den Physikus, bekommt 
er auch seine Strafe von 10 Mark. In ein paar Fällen haben sieb die Aerzte 
nicht damit beruhigt und auf richterliche Entscheidung angetragen; sie sind 
bis jetzt immer abgewiesen. 

H. Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. Nötzel (Colberg): Ich möchte noch ein paar 
kleine bescheidene Bemerkungen zu dem machen, was uns Kollege Peters 
hier vorgetragen hat. Wenn ich ihn recht verstanden habe und auch jenen 
Kollegen, der unmittelbar nach ihm sprach, den Kollegen Schröder, so hal¬ 
ten sie beide die Verpflichtung der Aerzte zur Anzeige ansteckender Krank¬ 
heiten für ausreichend. Dem möchte ich doch nach meiner Erfahrung wider¬ 
sprechen. Ich habe zwar nur eine ganz beschränkte Erfahrung, denn ich bin 
nicht in verschiedenen Provinzen gewesen und jeder weiss nur, was er eben 
selber erfahren hat, aber das, glaube ich, genügt auch für den Einzelnen, und 
was in meinem Kreise geschieht, wird wohl auch anderswo geschehen können 
und geschehen sein. Bei uns würde ich es für durchaus nicht ausreichend 
erklären müssen, die Anzeigepflicht nur auf die Aerzte zu übertragen; denn in 
sehr vielen, auch den schwersten und tödtlich verlaufenden Fällen kommt es 
noch bei uns vor, obgleich ärztliche Hilfe gar nicht so schwierig zu beschaffen 
ist, dass die ärmeren Leute auf dem Lande keinen Arzt heranziehen und die 
Meldung nur gelegentlich und oft erst nach langer Zeit kommt : Ja, da wären 
schon so und soviel Todesfälle vorgekommen, aber ärztlich constatirt wäre 
das nicht.“ Das wird wahrscheinlich in anderen Provinzen, auch in Posen — 
den Regierungsbezirk Bromberg kenne ich aus früherer Zeit noch ziemlich — 
nicht anders sein, und deshalb glaube ich, wir dürfen das hier nicht ohne 
Widerspruch hingehen lassen. Es würde so aussehen, als ob wir alle damit 
einverstanden wären und die Anzeigepflicht anderer Personen als der Aerzte 
nicht mehr für nöthig hielten. 

Das freiwillige Melden der Aerzte weiss ich auch zu schätzen. In meiner 
Stadt Colberg wird freiwillig gemeldet; aber man ist doch nicht sicher, dass 
nicht irgend ein — verzeihen Sie mir den Ausdruck — Querkopf aus irgend 
einem wunderlichen Grunde nun einmal die Meldung unterlässt. Also die Ver¬ 
pflichtung, die Zwangsverpflichtung und die Strafe, die für die Unterlassung 
angesetzt und auch nötigenfalls wirklich praktisch eingetrieben werden muss, 
werden wir, glaube ich, nicht entbehren können. 



Die Constatirung anlockender Krankheiten. 


87 


Dann halte ich es aber auch für meine Pflicht, hier noch zu konstatiren, 
dass die Ministerialerlasse nicht in allen Fällen ausgeführt werden, auch der 
Ministerialerlass, der sich auf die Schliessung der Schule bezieht. Ich habe 
oft genug in meinem bescheidenen Wirkungskreise erleben müssen, dass über 
den Schulschluss der Kreisphysikus nicht gehört wird. Gelegentlich erfährt 
er später einmal, dass Laien darüber faktisch bestimmt haben: der Herr Amts¬ 
vorsteher und der Herr Schulinspektor oder sonst irgend ein Beamter; und ich 
habe es dann für meine Pflicht gehalten, in jedem einzelnen Falle wieder dar¬ 
auf hinzuweisen. Noch viel weniger werden die früheren Ministerialerlasse 
im praktischen Leben befolgt, Während man, wenn man die Ministerialer¬ 
lasse liest, glauben sollte, es könnte niemals Vorkommen, dass eine grössere 
und schwerere Epidemie im Kreise von dem Kreisphysikus überhaupt nicht 
konstatirt würde, so ist das, soweit mir die Verhältnisse des praktischen Lebens 
bekannt geworden sind, doch sehr häufig der Fall, und es ist den Ortspolizei¬ 
behörden auch nicht zu verdenken, wenn sie die polizeiliche Constatirung unter¬ 
lassen, solange ihnen als Amtsvorstehern noch die Kosten für ihren Amtsbezirk 
auferlegt bleiben und ihnen sogar, wie ich es erlebt habe, mehrfach versehent¬ 
lich die Kosten dann noch auferlegt werden oder man den Versuch macht, 
sie ihnen aufzuerlegen, wenn unzweifelhaft der Staat nach den gesetzlichen 
Bestimmungen zum Tragen derselben verpflichtet ist. Auch solche Fälle kom¬ 
men vor, wenn auch der Irrthum später aufgeklärt und festgestellt wird. Aber 
am allerwenigsten werden sich die Ortspolizeibehörden freiwillig dazu ver¬ 
stehen, die höheren Gebühren des Medicinalbeamten zu tragen, wenn es ihnen 
überlassen ist, ob sie Privatärzte zur sogenannten polizeilichen Constatirung 
hinschicken wollen. 

Dann möchte ich auch auf den Uebelstand noch hinweisen, dass es viel¬ 
fach nicht als genügend, d. h., nicht als eine sogenannte polizeiliche Constati- 
rung angesehen wird, wenn ein Privatarzt schon erklärt und gemeldet hat, 
dass eine ansteckende Krankheit bestehe. Das, glaube ich, müssen die Behör¬ 
den als genügende Constatirung ansehen, und nicht, wenn dann der Kreisphy¬ 
sikus hinzugezogen wird, noch verlangen, es solle vorher noch einmal polizei¬ 
lich das Dasein der ansteckenden Krankheit constatirt werden, wie mir das 
auch vorgekommen ist. 

Ich glaube, dass diese Dinge rüchkaltlos hier zur Sprache gebracht wer¬ 
den müssen, wenn wir darauf hoffen wollen, dass diese Thatsachen in Zukunft 
Berücksichtigung finden. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schmidt (Steinau a/O.): Ich möchte zu § 9 eine ganz 
kurze Bemerkung machen. Kollege Wallichs hat vorhin die Kurpfuscher 
erwähnt, ich halte das Kapitel auch für sehr wichtig, f und es lässt sich, wenn 
der Paragraph einmal geändert wird, das auf sehr einfache Weise ergänzen, 
indem man einfach schreibt: „Jeder Arzt, sowie jeder, der sich mit der Be¬ 
handlung von Krankheiten befasst, ist zur Anzeige verpflichtet/ Wir haben 
dies bereits in bekannten Polizeiverordnungen, und es ist wohl eigentlich 
nichts Neues; ich wollte es aber nur zur Ergänzung beifügen. • 

H. Kr.-Phys. und San.-Rath Dr. Meinhof (Pieschen): M. H.! Durch den 
Vorschlag des H. Vorredners würde man nur die Kurpfuscher dem Arzt gleich¬ 
stellen und ihnen gleichsam eine Autorisation ertheilen. Ich würde Vorschlä¬ 
gen, dass vorweg die Aerzte und dann erst die Familienvorstände und Haus¬ 
haltungsvorstände zur Anzeige verpflichtet sind. Nur für den Fall, der ja auch 
in meinem Kreise so sehr häufig ist, dass selbst bei den schwersten und längst¬ 
dauernden ansteckenden Krankheiten kein Arzt geholt wird, und kein Arzt die 
Krankheit gesehen hat, muss dann der Familienvorstand oder in zweiter Reihe 
auch der Hausvorstand herangezogen werden. Ich wollte dazu noch bemerken, 
dass ich mich in meinem Kreise mit dem Landrath dahin geeinigt habe, dass 
die Schulzen für die Meldungen verantwortlich gemacht worden sind. Wir 
haben, da die Pocken dies Jahr wieder über die russische Grenze kamen und 
wir zum Einschreiten genötliigt waren, keine andere Möglichkeit gesehen, um 
irgend wie Kenntniss von den Pocken zu bekommen, als dass auf die aller¬ 
strengste Weise die Schulzen angehalten wurden, sofort jeden Ausschlag 
anzuzeigen. Damit wurde der Zweck erreicht. Es kam vor, dass unschuldige 
Ausschläge angezeigt wurden, aber wir haben dadurch doch wenigstens Kennt¬ 
niss bekommen von den meisten ansteckenden Krankheiten. Wenn man sich 



88 6. Hauptversammlung de« Preussischen Medieinalbeamtenvereins. 


bloss darauf hatte beschränken wollen, Aerzte oder andere Personen, welche 
die Kranken behandeln, zur Anzeige heranzuziehen, dann würden wohl die 
wenigsten Fälle zur Anzeige gekommen sein. 

H. Kr.-Phys. Dr. Plppow (Eisleben): Ich möchte nur in Bezug auf die 
Worte des Herrn Vorredners eines Falles gedenken, der ihm nicht Unrecht 
giebt. In meinem Kreise trat in einem von meinem Wohnort ziemlich ent¬ 
legenen Dorfe Diphtheritis auf, und zwar in dem Schulhause. Es erkrankten 
2 Kinder des Lehrers und das eine starb. Der Lehrer wandte sich an den 
Arzt mit der Frage, ob er diesen Fall zur Anzeige bringen müsse, worauf die¬ 
ser erklärte, es sei nicht nöthig, er solle mir desinficiren. Ich habe erst Jahre 
später von diesem Falle Kenntniss erhalten. Das beweist doch, dass wenig¬ 
stens der Lehrer soweit hätte die Vorschriften kennen müssen, um Anzeige zu 
machen, und ich möchte betonen, dass wenigstens den Lehrern die Pflicht auf¬ 
erlegt würde, in solchen Fällen dem Landrath Anzeige zu machen. 

H. Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. Meinhof (Pieschen): Nach dem mehrfach 
angezogenen Ministerialerlass von 1884 haben ja die Lehrer die bestimmte 
Verpflichtung, alles anzuzeigen. Ich wollte, anschliessend an diese Verfügung, 
noch bemerken, dass über die Gründe zur Schliessung von Schulen augen¬ 
blicklich glücklicherweise kein Zweifel sein kann; die sind ja in diesem Er¬ 
lass sehr klar und deutlich vorgeschrieben. Ich kann mich jedoch dem nicht 
anscliliessen, was vorhin gesagt wurde, dass es nämlich besonders darauf an¬ 
käme, ob die Epidemie eine bösartige sei, sondern meines Erachtens gilt als 
Hauptsache, dass, sowie die Erkrankung im Schulhause selbst stattfindet, 
die Schule geschlossen wird. Nur in den allerseltensten Fällen wird es sonst 
nöthig sein, eine Schule zu schliessen. Ich bemerke dabei, dass ja sehr häufig 
die Lehrer recht gern die Schule geschlossen haben. Sowie die Lehrer von 
irgend einer Krankheit Meldung gemacht haben, glauben sie, die Folge sei, 
dass die Schule geschlossen werden müsse, und sind sehr enttäuscht, wenn dies 
nicht geschieht. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Peters (Referent): Ich wollte nur College 
Nötzel gegenüber bemerken, dass ich nicht gesagt habe, dass bei der Pflicht 
zur Anzeige ansteckender Krankheiten überhaupt auf die Familien- und Haus- 
haltungsvorstämle verzichtet werden soll, sondern nur für gewöhnlich, d. h. in 
solchen die Regel bildenden Fällen, wo die betreffende Krankheit ärztlich be¬ 
handelt wird. Also meine'Ansicht ist die, dass die betreffenden Aerzte dafür ver¬ 
antwortlich gemacht werden müssen und auch das Gefühl der Verantwortung 
haben werden dadurch, dass betont wird, dass sie verantwortlich sind. Augen¬ 
blicklich stehen sie in der Reihe der als verantwortlich genannten ganz zu¬ 
letzt, man W'eiss nicht recht, wann sie anzeigen sollen. Deshalb habe ich nur 
gesagt r für gewöhnlich.“ In allen den Füllen, wo keine ärztliche Behand¬ 
lung stattfindet, — das ist doch entschieden die geringere Anzahl — mögen die 
Haushaltungsvorstände, eventuell in dritter Reihe die Hauswirthe melden, da 
habe ich nichts dagegen. 

Dann möchte ich mir nur erlauben zu dem, was der College aus Pieschen 
eben gesagt hat, zu bemerken, dass ich auch als Physikus keineswegs die 
Schule sofort geschlossen habe, w r onn Masern im Schulhause gewesen sind. Ich 
habe sehr häufig die Schule ruhig fortbestehen lassen, wenn ich die Ueber- 
zeugung hatte, dass der Lehrer einerseits den guten Willen haben würde, sich 
von seinem Haushalt fern zu halten, andererseits die Oertlichkeit derart war, 
dass ein besonderer Eingang vorhanden war und der Lehrer mir versprach, in 
die Oberstube oder in ein sonst abgelegenes Zimmer ziehen und sich nicht zu 
seiner Familie begeben zu wollen. Ich habe das speciell in solchen Fällen 
gethan, w r o die Krankheit leicht war, wo ich es dem Vaterherzen zumuthen 
konnte, dass er sich 14 Tage um seine Familie nicht kümmern dürfe. Wo die 
Krankheit schwerer ist, hört die Befugniss, die Schule weiter zu besuchen, 
natürlich sofort auf. Also man muss da nicht blos ärztlichen, sondern auch 
menschlichen Verhältnissen Rechnung tragen, und deshalb ist es immer gut, 
wenn der Mrdicinalbeamte an Ort und Stelle kommt, falls über die Frage des 
Schulschlusses zu entscheiden ist. 

H. Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. Meinhof (Pieschen): Ich möchte dagegen 
bemerken, dass nicht bloss die Oertlichkeit massgebend sein kann — in 



Die Constatirung ansteckender Krankheiten. 89 

seltenen Fällen wird ja eine solche Absperrung möglich sein — sondern dass 
die Person des Lehrers doch in solcher Weise betheiligt ist, dass ich nicht 
glaube es verantworten zu können, wenn in seiner Familie Scharlach oder Ma¬ 
sern sind, ihm Unterricht ertheilen zu lassen. In grösseren Schulen, wo 
mehrere Lehrer sind, wird ja der Lehrer vom Unterricht dispensirt, wenn in 
seiner Familie eine von den genannten Krankheiten ist. Also ich glaube, dass 
man auch in einklassigon Elementarschulen auf dem Lande die Person des 
Lehrers berücksichtigen muss und die Schule schliesst, wenn in der Familie des 
Lehrers sich eine ansteckende Krankheit findet. 

H. Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. Nötzel (Colberg): Ich stimme College 
Pippow voll und ganz bei, und füge aus meiner Erfahrung hinzu, dass die 
Lehrer den Ministerialerlass grösstentheils nicht kennen, wenigstens bei uns. 
Sie haben eine imbestimmte blasse Vorstellung, eine unklare Erinnerung da¬ 
von, dass ihnen einmal irgend ein Erlass derart zu Ohren gekommen ist; aber 
was darin steht, wissen die allerwenigsten und daher kann man es ihnen auch 
nicht übel nehmen, wenn sie also nicht der Anzeigepflicht genügend Folge 
leisten. Aber auch den Geistlichen geht es so; die Schulvorstände, die Schul¬ 
inspectoren kennen nicht die gesetzlichen Vorschriften, und das ist etwas, was 
nur durch wiederholtes Bekanntmachen derselben, glaube ich, zu erreichen ist. 
Deshalb habe ich in unserem Kreise auch beantragt, es möchte den Schulin- 
spectoren aufgegeben werden, jedem Lehrer ihres Bezirkes bei seiner Anstellung 
und sonst alljährlich diesen Erlass vorzulegen, denn das geschieht ja sehr viel¬ 
fach auf anderen Gebieten, dass solche Erlasse in Erinnerung gebracht werden 
und erscheint durchaus nicht überflüssig, so z. B. die Erlasse, welche die Miss¬ 
handlungen von Soldaten — um auf ein ganz abseitliegendes Gebiet zu exem- 
plificiren — mit Strafe bedrohen, die Bestimmung, dass dieser Erlass den Sol¬ 
daten immer wieder vorgelesen werden muss u. s. w. Das wäre also wohl 
nicht zu viel verlangt; und nützen würde es immerhin etwas, denn noch gar 
häufig passiren die allerwunderlichsten Dinge auf diesem Gebiete. 

H. Kr.-Phys. Dr. Pippow (Eisleben): Ich möchte nur einige Worte zu 
meiner Mittheilung hinzufügen. Ich habe in der letzten Zeit öfter Veranlas¬ 
sung genommen, wenn ich mit Lehrern zusammen kam, zu fragen, ob ihnen 
die betreffenden Ministerialerlasse bekannt seien. Bis jetzt hat sie noch keiner 
gekannt. Ich möchte deswegen darauf hin weisen, dass es gut wäre, die 
Herren darauf aufmerksam zu machen. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmund (Aurich): M. H.! Ich muss dem ent¬ 
schieden widersprechen. In meinem Regierungsbezirk sind den Lehrern die 
Bestimmungen, betreffs der Schulschliessungen bei ansteckenden Krankheiten 
genau bekannt und haben dieselben, wie bereits einer der Herren Vorredner 
sehr richtig bemerkte, viel mehr Neigung, die Schule bei ansteckenden Krankhei¬ 
ten zu schliessen, als die letzteren, wenn sie zu ihrer Kenntniss kommen, zu ver¬ 
heimlichen. Wenigstens giebt es eine ganze Reihe von Lehrern, denen es ganz 
angenehm ist, auf gute Art und Weise einmal Ferien zu machen. Um diese 
Schulschliessungen, die doch unzweifelhaft zu recht unangenehmen Inconse- 
quenzen in Bezug auf den Lehrplan fuhren, auf’s möglichste zu vermeiden, ist 
es übrigens entschieden dringend wünschenswerth, bei jedem Schulbau dafür 
zu sorgen, dass die Lehrerwohnung von den Schulräumen möglichst getrennt 
wird und muss ich bedauern, dass bei den erst kürzlich vom H. Minister als 
Muster mitgetheilten Plänen Ihr Volksschulbauten, dieser Punkt zu wenig be¬ 
rücksichtigt ist. Wenn auch dadurch die Baukosten für die Schulen etwas 
steigen würden, so brauchte doch dann die Schule bei ansteckenden Krank¬ 
heiten in der Familie des Lehrers nicht jedesmal geschlossen zu werden und 
das würde vom pädagogischen Standpunkte aus von grossem Vortheil sein. 
Kann es doch jetzt Vorkommen, dass eine Schule in solchen Fällen 3 bis 4 
Wochen, ja Monate hindurch geschlossen werden muss; was dann aus der Zucht 
der Kinder und ihren geistigen Fortschritten wird, das können Sie sich selbst 
denken. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Wernieh (Cöslin): M. H.! College Nötzel wird 
sich etwas erleichtert fühlen, wenn er sich erinnert, dass Ministerialerlasse 
nicht den Zweck haben, den Lehrern verbotenus mitgetheilt zu werden. Ich 
behaupte jedoch, dass in jedem Regierungsbezirke, also auch bei uns, den 
Lehrern einmal oder mehrere Male ihre Pflicht eingeschärft ist, wenn auch in 



90 6. Hauptversammlung des Preussischon Modicinalbeamtenvereins. 


anderer Weise, als im Erlasse steht. Dass Reduplicationon nur Belten erfolgen, 
will ich gern zugeben; man fühlt sich natürlich nur gedrungen, solche eintre- 
ten zu lassen, wenn irgend ein Anlass dazu vorliegt. — Das wollte ich nur 
hinzufügen, um die Verhältnisse nicht all zu schwarz erscheinen zu lassen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Gntsmuth (G enthin): Ich muss gestehen, dass ich doch 
nicht davon überzeugt bin, dass es zweckentsprechend wäre, den § 10 dahin 
zu ändern, dass statt den Hausleuten dem Arzt in erster Linie dio Last der 
Anzeige aufgezwungen wird; denn es ist unnöthig. weil in der Familie, wo ein 
Arzt ist, ja immer der Familienvater, Hausvorstand u. s. w. Kunde hat, dass 
und welche ansteckende Krankheit das Familienglied hat. Ich fürchte, wenn 
in erster Linie dem behandelnden Arzt der Zwang zur Anzeige auferlegt wird, 
so begünstigen wir damit nur, dass erheblich mehr Leute als jetzt statt 
zum Arzt, zum Medicinalpfuscher gehen. 

H. Kr.-Phys. u. San.-Rath Dr. Meinfaof (Pieschen): Ich wollte nur kurz 
bemerken, dass das wegfallt, wenn der Paragraph in der Weise gefasst wird, 
wie ich vorhin sagte, dass erst der Arzt und wenn der nicht vorhanden ist, 
der Familienvorstand zur Anzeige verpflichtet wird. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Peters (Referent): ich habe als Schlusswort 
weiter nichts hinzuzufügen. Ich habe mich gefreut, dass in der Debatte noch 
viele Punkte angeregt worden sind, die auch noch eine weitere Besprechung 
gefunden haben; namentlich habe ich mich darüber gefreut, dass die Zustände, 
aio ich erstrebe, in einzelnen Kreisen existiren und ausserordentlich gut func- 
tioniren. Vielleicht können wir das als gutes Omen dafür betrachten, dass 
schliesslich einmal für den ganzen Staat ähnliche Einrichtungen getroffen wer¬ 
den. Das Hauptgewicht meiner ganzen Darstellung möchte ich darauf legen, 
dass eben in der bisherigen Praxis eine nicht zu rechtfertigende Verzögerung 
in der Constatirung und in der Anordnung von Massregeln statttindet. und 
dass der Staat unter allen Umständen das Recht und die Pflicht hat, dafür zu 
sorgen, dass die Anordnung von Massregeln zu einer Zeit erfolgt, wo sie einen 
Zweck haben und nicht erst dann, wenn die Epidemie bereits um sich gegrif¬ 
fen hat. 

Vorsitzender: M. H.! Wie sehr der letzte Vortrag und die 
daran geknüpfte Discussion das allgemeine Interesse in Anspruch 
genommen hat, geht aus der Zahl der Redner, die sich daran be¬ 
theiligt haben, zur Genüge hervor. Die Versammlung wird wohl 
mit mir einverstanden sein, wenn ich H. Medicinalratli Peters 
für seinen anregenden Vortrag den Dank des Vereins ausspreche. 


III. Vorstandswahl und Bericht der 
Kassenrevisoren. 

Vorsitzender: M. H.! Ich erlaube mir, Ihnen das Ergebniss 
der Vorstandswahl mitzutheilen. Es sind 46 Stimmen abgege¬ 
ben und davon gefallen auf mich und auf H. Rapmund je 43, 
und auf die Herren Mittenzweig, Schulz und Wallichs je 40, 
die übrigen Stimmen haben sich zersplittert. Es sind demnach 
die alten Vorstandsmitglieder wiedergewählt. 

M. H.! Im Namen der Gewählten, welche die Wahl gern und 
dankbar annehmen, sage ich Ihnen für das uns dadurch erwiesene 
•Vertrauen den allerverbindlichsten Dank. 

Die Kassenrevision ist von den Herren Jaenicke und 
Pippow ausgeführt und sind keine Monita gezogen worden. Dem 
Schrift- und Kassenführer kann somit Decharge ertheilt werden. 



Ueber einige den Medicinalbeamten abzunehmende Geschäfte. 91 

IV. Ueber einige den Medicinalbeamten abzu¬ 
nehmende Geschäfte. 

H. Kr.-Phys. Professor Dr. Falk (Berlin): M. H.! Wohl könnte 
der Titel der kleinen Mittheilung, die ich machen will, etwas be¬ 
fremden; denn unser Aller Bestreben ist ja immer darauf hinge¬ 
gangen, — und das ist auch heute wieder und gestern geäussert 
worden — dass der Kreis unseres Arbeitsfeldes gerade er¬ 
weitert werden soll. Ich muss aber gleich hier hervorheben, dass, 
obwohl unsere Bestrebungen lauten Ausdruck gefunden haben, 
eigentlich doch in den letzten Jahren durch gewisse Anordnungen 
der Kreis unserer Berufsarbeit verengt worden ist, und zwar sind 
uns Geschäfte abgenommen, die vor allem wissenschaftlich recht 
interessant und auch, wie ich mich nicht scheue, mit Bedauern 
hervorzuheben, mit Emolumenten verbunden waren. Ich erinnere 
an die gestern wieder beklagte Entfernung unserer Thätigkeit 
von der Begutachtung bei gewerblichen Anlagen, die, obwohl es 
sich doch um sanitäts-technische Angelegenheiten im eigentlichen 
Sinne des Wortes handelt, jetzt Personen übertragen worden ist, 
die gar nicht medicinisch vorgebildet sind. Ich nenne weiter, 
worauf ich noch zu sprechen kommen werde, die Absprechung 
der Berechtigung, die Militär-Reclamanten zu untersuchen. Ich er¬ 
wähne ferner, dass durch die Verfügung betreffend das Verfahren 
bei Entmündigungen, wo ausgesprochen worden ist, dass in erster 
Reihe Psychiater, kurz zu sagen, hinzugezogen werden sollen, 
wir auch hier in den Hintergrund gedrängt worden sind, und ich kann 
sogleich aus Erfahrung anführen, dass jene für das Civilforum 
gütige Verfügimg auch ihren Schatten auf das Strafverfahren ge¬ 
worfen hat, denn ich weiss, dass, als Ausfluss dieser Bestimmung, 
bei Beurtheüung der Zurechnungsfähigkeit im Straf-Forum nicht 
Medicinalbeamte, sondern Irrenanstaltsärzte gefragt wurden. End¬ 
lich will ich auch erwähnen, dass seit einiger Zeit die richter¬ 
lichen Beamten für Beurlaubungen nicht mehr des Physicats- 
attestes bedürfen. Also wir sehn, wie Gebiete, die wir hatten 
und auf denen unsere Thätigkeit auch honorirt wurde, uns ge¬ 
nommen wurden und hoffentlich wird uns, trotz Anfeindung, nicht 
das generell zugestandene Vorrecht bei Ausstellung von Attesten 
für Aufnahme in Privat-Irrenanstalten entrissen. 

Hingegen ist die Thätigkeit, die wir ex officio, ohne Entgelt, 
auszuüben haben, nicht verengt, sondern gesteigert worden. Frei¬ 
lich handelt es sich im Folgenden um verhältnissmässig weniger 
wichtige Amtsgeschäfte, und um so eher glaube ich, dies Vor¬ 
bringen zu dürfen, als nicht allgemein, wenigstens nicht in der 
ganzen Monarchie die gleiche Belastung vorzuliegen scheint. 
Natürlich kann ich die Dinge nur regellos aneinanderreihen. 

Ich erwähne zunächst das Meldewesen für Medicinal- 
personen. Es ist gewiss mit Recht vorgeschrieben, dass jede 
approbirte Medicinalperson, die sich irgend wo im Königreich 
Preussen niederlässt, dies dem zuständigen Physicus mitzutheüen 
hat, welcher die betreffenden Papiere durchsieht und die Meldung 



92 6. Hauptvorsammlung des Preussischen Medicinalbeanitenverems. 

in das von ihm zu führende Verzeichniss einzutragen hat. Damit 
diese Listen wirklich dauernd correct erhalten würden, wäre es 
übrigens auch nothwendig, dass die Abmeldungen angezeigt wür¬ 
den, was nicht der Fall ist; denn wir erfahren officiell nicht, 
wenn jemand verzogen ist; aber das nur nebenbei. Ich sage: es 
ist vorgeschrieben, dass wir die Meldungen entgegennehmen und 
in unsere Listen eintragen. Es ist auch weiter selbstverständlich, 
dass die Centralstelle bestrebt ist, von der Bewegung dieses 
Theils der Bevölkerung, der approbirten Medicinalpersonen in 
Kenntniss gehalten zu werden, und deshalb ist ja auch vorge¬ 
schrieben, dass nach bestimmten Formularen, sei es gleich nach 
der betreffenden Meldung oder am Ende des Monats der Oberbe¬ 
hörde Mittheilung gemacht wird. Aber damit ist es für uns lei¬ 
der nicht gethan: am Ende des Jahres müssen wir eine Ueber- 
sicht über den Zu- und Abgang der approbirten Personen ein¬ 
reichen, obschon wir dies im Laufe des Jahres gethan haben; 
nach 5 Jahren müssen wir dann ein ganz ausführliches Schema 
über die vorhandenen Medicinalpersonen ausfüllen und endlich 
kommt in der Mitte des Jahres die bekannte Aufforderung, anzu¬ 
geben, ob Unrichtigkeiten im Hirschwald’schen Kalender ent¬ 
halten sind. Sonach haben wir für dieselbe Sache eine ganze 
Reihe von Beschäftigungen, also Schreibarbeit, und ich glaube, 
dass hier eine Vereinfachung stattfinden kann; denn mit dem 
Augenblick, wo wir von der erfolgten Niederlassung der Central¬ 
behörde Mittheilnng gemacht, haben wir eigentlich schon den 
Zwecken genügt., die von uns erfüllt werden sollen. 

Wenn ich jetzt auf etwas ganz andres komme, so ist es die 
Verpflichtung zur kostenfreien Untersuchung der Gen¬ 
darmen. M. H.! Es ist uns erst vor einigen Jahren wieder ein¬ 
geschärft worden, dass wir dies umsonst zu machen haben. Vor 
l*/ 2 oder 2 Jahren ist uns dann wieder mitgetheilt worden, dass wir 
sehr eingehend zu motiviren haben, was wir über den Gesund¬ 
heitszustand dieser Beamten für Ansichten gewonnen haben, und 
zwar sind verschiedene Herren vielfach hier in Anspruch genom¬ 
men mit ziemlich ausführlichen Attesten nicht nur bei Pensioni- 
rung, sondern auch bei Beurlaubung von Gendarmen, Erlangung 
von Unterstützungen n. s. w. M. H.! Ich halte es für streng, 
dass wir dies kostenfrei thun sollen, denn die Gendarmen sind in 
wesentlicher Beziehung Personen des Militärstandes. (Zurufe: 
Nein!) Wir haben ja nicht mehr das Recht, Civilpersonen, näm¬ 
lich Reclamanten, für Militärzwecke zu untersuchen. Wenn uns 
also hier das Recht genommen ist, für militärische Zwecke Unter¬ 
suchungen vorzunehmen, die ganz interessant waren und uns auch 
honorirt wurden, dann könnten wohl die Gendarmen, die ja Mili¬ 
tärpersonen sind, auch von den Militärärzten untersucht werden. 
Ich bemerke hierbei, dass wohl einer Anzahl von Ihnen jene Ver¬ 
fügung von 1879 ziemlich unerwartet gekommen ist. Bis dahin 
galt doch die Untersuchung der Militär-Reclamanten als unbestrit¬ 
tener Besitz der Civilmedicinalbeamten, sie wurde uns aber plötz¬ 
lich genommen, ohne dass bekannt geworden wäre, welche Ver- 



lieber einige den Medicinalbeamten abzunehmonde Geschäfte. 93 

anlassung vorlag. Man kann doch unmöglich annelimen, dass die 
Civilmedicinalbeamten ein geringeres Wissen oder gar eine geringere 
moralische Qualification haben als der Militärarzt. Ich glaube 
auch nicht, dass es durch das sachliche Interesse begründet wer¬ 
den kann. Sie sind sich bewusst, mit welcher Um- und Vorsicht 
man Vorgehen muss, namentlich auch um sich zu informiren, ob 
keine Uebertreibung, keine Simulation vorliegt. Ich weiss aus der 
Zeit, wo ich noch solche Untersuchungen vorzunehmen hatte, dass 
ich mehrfach in der Lage war, dieselbe Person wiederum zu be¬ 
stellen, weil ich inzwischen Urin-Prüfungen oder andre Unter¬ 
suchungen anstellen musste. Nun ist doch nicht anzunehmen, 
dass das, was gerade unsere Zeit in der Studirstube in Anspruch 
nahm, von dem Militärarzt so nebenbei gemacht werden kann am 
Ende eines angestrengten Tages, nachdem er so und soviele Ge¬ 
stellungspflichtige untersucht hat Also ich glaube, wir dürfen 
alles oder nichts wünschen, d. h. dass uns entweder die Untersuchung 
der Militär-Reclamanten zurückgegeben oder aber auch die Unter¬ 
suchung anderer Militärpersonen, der Gendarmen, abgenommen 
werde. 

Ich komme wiederum zu etwas ganz Andrem, dem Hebe- 
ammenwesen. Es ist vorgeschrieben, dass jede Hebeamme über 
jede Entbindung nach einem bestimmten Schema ihre Beobach¬ 
tungen niederlegt — mit vollem Recht. Nachdem nun durch 
neuere Ministerial-Verfügung das Prüfungswesen der Hebeammen 
wieder in Gang gebracht worden ist, durch die Oberbehörden 
selbst auch Mittel bewilligt worden sind, um Nachprüfungen vor¬ 
nehmen zu können, könnte es vielleicht genügen, dass bei diesen 
Nachprüfungen die Hebeamme das Tagebuch vorlegt und über 
ihre Erlebnisse sachgemässe Auskunft geben kann. Es ist aber 
ausserdem vorgeschrieben, dass dieselbe Ende des Jahres noch 
dies Tagebuch einschicken soll. Nun kommt aber, wie ich 
glaube hier und auch anderwärts, noch ein empfindliches Nach¬ 
spiel: Es hat nämlich der Physicus die Verpflichtung, aus diesem 
Buch zusammenzuzählen, wie viel Entbindungen im ganzen statt¬ 
gefunden, wie viel Knaben und Mädchen geboren u. s. w., und 
dies der Oberbehörde über jede einzelne Hebeamme einzureichen. 
Ich gestehe ganz offen, wie ich nicht glaube, dass es für die 
Oberbehörden von besonderem Interesse sein soll, so eingehend 
über die Thätigkeit jeder einzelnen Hebeamme Auskunft zu ge¬ 
winnen. Als man Bedenken dagegen äusserte, wurde gesagt: es 
ist in dem Hebeammen-Lehrbuch vorgeschrieben. (Ruf: Nein!) 
Es ist mir sehr angenehm, wenn es nicht vorgeschrieben ist, 
aber uns ist es vorgeschrieben. Hat es aber thatsächlich ein 
Interesse für die Oberbehörde, zu erfahren, ob die Hebeamme 
so und so viel Knaben oder Mädchen verholfen hat, in’s Leben 
zu treten? Ueber das Verhältnis* zwischen Knaben- und Mäd¬ 
chen-Geburten erlangen wir ja anderwärts ausreichende Angaben. 
Dann soll die Unterscheidung gemacht werden zwischen recht¬ 
zeitiger, frühzeitiger und unzeitiger Geburt; es ist nun aber für 
eine Hebeamme oft schwer, diese Unterscheidung zu machen. 



94 6. Hausversammlung des Preussischen MedicinalbeamtenVereins. 


Dann soll angegeben werden, wie viel Schädellagen, wie viel 
Querlagen, wie viel Gesichtslagen, dann ist sogar eine besondere 
Rubrik für regelwidrige, also äusserst seltene Schädelgeburten. 
Was dürfte es ferner für eine Bedeutung für die Oberbehörde 
haben, dass die und die Art von Kunsthilfe geleistet worden ist 
und durch den oder jenen Arzt. Wenn es vielleicht wichtig ist, 
dass die Hebeamme dies dem Physicus zur Kenntniss bringt, 
warum soll aber der Physicus jene Arbeit haben, wobei noch oft 
Rückfragen zu halten und verschiedene Briefe zu verschicken 
sind, sodass er Ende Februar endlich sich ordentlich gehoben 
fühlt, wenn er die Sache beendet sieht. 

M. H., ich komme jetzt zu den Sanitätsberichten. Es ist 
wohl der Anregung des H. Rapmund zuzuschreiben und dem 
freundlichen Entgegenkommen der Medicinalbehörden zu ver¬ 
danken, dass wir von den Vierteljahi-sberichten entbunden wur¬ 
den und nur einmal im Jahre Bericht zu erstatten haben. Das 
ist aber mehrfach nur Theorie geblieben, indem wir ausser den 
Jahresberichten auch die Vierteljahrsberichte weiter zu liefern 
haben. Es kann sich nun in den Quartalsberichten bloss um wich¬ 
tige Vorkommnisse epidemiologischer Art handeln; darüber schrei¬ 
ben wir aber an den Landrath schon Berichte; dieser könnte die 
Berichte originaliter oder in Abschrift — dort sind mehr Schreib¬ 
kräfte, als wir sie haben — der Oberbehörde senden. 

Wenn wir nun weiter zum Hauptsanitätsbericht über¬ 
gehen, so sind darin mehrere Rubriken, die wir ausfüllen sollen, 
die wir aber aus unserer amtlichen Infonnation kaum recht aus¬ 
füllen können; ja es ist sogar manche Colonne darin enthalten, 
die wir wenigstens im Januar nicht ausfüllen können; ich meine 
die statistischen Angelegenheiten, Geburten, Todesfälle. Todes¬ 
arten u. s. w. Das können wir doch erst ausfiillen, nachdem 
nach Ende des Jahres sämmtliche standesamtlichen Karten dem 
statistischen Bureau hierselbst zugegangen und von diesem zu¬ 
sammengestellt worden sind. Da übrigens gewünscht wird, dass 
wir von diesen Zusammenstellungen der Oberbehörde Kenntniss 
geben, so könnte vielleicht beschlossen w erden, dass das statistische 
Amt dies umsonst macht und wir es ferner nicht zu bezahlen 
haben. 

Nun sind da ferner einige Colonnen: Hydrographie, Geographie, 
Geognosie, — dann kommen meteorologische Beobachtungen, Was¬ 
serstands- und Grundwasserbeobachtungen; m. H., die machen wir 
doch wohl kaum. 

Wenn wir zu den ansteckenden Krankheiten gelangen, da 
steht: „croupöse Pneumonie.“ Die ist aber nicht anzeigepflichtig. 
Es giebt wohl eine und keine kleine Anzahl von Aerzten, die sie 
für infectionsfähig erachten; da sie aber nicht anzeigepflichtig ist, 
glaube ich, kann nicht vorausgesetzt w r erden, dass wir darüber 
entscheidende Auskunft geben. Wir kommen zu der „Tuber- 
culose.“ Da gilt dasselbe. Wir betrachten sie als infectiös, sie 
ist aber nicht anzeigepflichtig. Ferner: „Syphilis,“ darüber dürfen 



Ueber einige den Medicinalbeamten abzunehmende Geschäfte. 


95 


wir eigentlich gar nicht etwas erforschen, denn die practischen 
Aerzte sind zur Geheimhaltung verpflichtet. 

Weiterhin „Massenwohnungen für Fabrikarbeiter und Asyle 
für Obdachlose.“ Ja, gewiss giebt es die in einer ganzen Anzahl 
von Kreisen; aber wir erfahren amtlich nichts davon. 

Ueber „Pflasterung und Reinigung“ ist mir auch nicht ein 
officieller Bericht aus einem Dorfe zugegangen. 

„Wasserversorgung.“ Es wäre erfreulich, wenn wir stets 
wüssten, wie sie ist. Ueber den Zustand der öffentlichen Wasser¬ 
läufe kann ich mittheilen, dass grössere Gemeinden meines Ver¬ 
waltungsgebietes verdienstliche Unternehmungen gemacht haben, 
um besseres Wasser zu erhalten; aber officiell ist der Medicinal- 
beamte nicht darüber unterrichtet und nicht zugezogen worden. 
Dasselbe gilt für die „Reinigung und Entwässerung“ der Ort¬ 
schaften. Auch da kann es Vorkommen, dass grosse Vorarbeiten 
im Aufträge von Gemeinden gemacht werden, von denen der 
Medicinalbeamte privatim Kenntniss hat; aber officiell ist ihm 
darüber nichts mitgetheilt worden. Wenn nun die Oberbehörde 
solches erfordert, so bleibt wohl auch nothwendig, dass sie die 
betreffenden Corporationen veranlasst, uns die Mittheilungen amt¬ 
lich und ohne besondere Aufforderung zu machen. 

Es kommt die „Controle der Nahrungsmittel-Bestrafungen.“ 
Ich habe es nicht erfahren, sobald Jemand bestraft worden ist; 
es fehlen eben Bestimmungen, welche die betreffenden Behörden 
zwingen, dem Physicus Mittheilung zu machen. 

Es ist ferner — ich möchte fast sagen, es klingt ironisch — 
uns zur Pflicht gemacht, über „gewerbliche Anlagen“ etwas zu 
sagen. Wir werden aber nicht herangezogen; können wir viel 
also darüber aussagen? 

„Schule“; selbstverständlich erstreben wir hygienische Mit¬ 
arbeit an der Schule. Es soll ja auch der Plan sein, dies durch¬ 
zuführen. Es wäre ja, meine ich, sehr erwünscht, dass die Medi¬ 
cinalbeamten in ausgedehnter Weise beschäftigt würden. Wir 
brauchen dazu keine besonderen „Schulärzte“, sondern die Medi¬ 
cinalbeamten reichen aus. Aber wenn es sich nicht gerade um 
Schliessung der Schule handelt, so werden wir gemeinhin officiell 
nicht beansprucht, nicht einmal die Schulbaupläne werden vorge¬ 
legt. Also, entweder könnten die Behörden angewiesen werden, 
dass sie uns zuziehen, und dies ist wohl angängig, oder es dürfte 
uns nicht aufgegeben werden, dass wir darüber referiren. 

Dann „Gefängnisse.“ Darüber erfahren wir amtlich auch 
nichts. Es kommen „Prämien für Wiederbelebung.“ Das ist mir 
nie mitgetheilt. Also auch hier sollten wohl entweder die Behörden 
verpflichtet werden, uns das mitzutheilen, oder es muss uns er¬ 
lassen werden. Es ist doch ein gewisses Odium, das wir haben, 
wenn wir „Vacat“ schreiben; denn es wird doch wohl vorausge¬ 
setzt, dass wir darüber etwas erfahren; wir erfahren aber nichts. 

Ich glaube also bei dem allen, dass es sich weniger um ab¬ 
zunehmende Geschäfte, als um Vereinfachung und Verminderung 
des Schreibwerks handelt. Wir sehen hier in Berlin, wie wohl- 



96 6. Hauptversammlung des Preussischen Medicinalbeamtenvereins. 


thätig auch hier das gesprochene Wort wirken kann, besser als 
die sorgfältigsten Schriftstücke. Wie Sie wissen, bestehen hier 
nämlich monatliche Zusammenkünfte der Physiker. Natürlich 
weiss ich, das lässt sich anderwärts nicht so machen. Aber ich 
glaube, eine alljährliche Zusammenkunft im Kreise der Medicinal- 
beamten am Sitze der Regierung unter dem Vorsitz ihres techni¬ 
schen Raths wäre wohl durchzusetzen. Grade am Sitze der Re¬ 
gierung halte ich es für wichtig, weil es erspriesslich ist, Acten 
zur Hand zu haben. Durch diese persönlichen Zusammenkünfte 
würde wohl mehr Kenntniss von den Dingen gewonnen, als durch 
Schriftstücke. Die Zeit dazu liesse sich gut finden, es ist vielleicht 
der allgemeine Reisemonat, der September, dafür geeignet, und 
wenn diese ständigen Bezirks-Zusammenkünfte eingeführt w r erden, 
dann würden unsere darauffolgenden Verhandlungen neue Be¬ 
fruchtung gewinnen. 


Discussion. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schmidt (Steinau a/O.): M. H.! Betreffs der Personalien, 
die wir nach Herrn Falk nicht mehr aufnehmen sollen, muss ich ge¬ 
stehen, dass ich die Sachen ganz gern mache. Es ist mir sehr angenehm, 
dass ich weiss, wer in meinem Kreise Arzt ist. Was zweitens die Gendarmen 
anlangt, so sind das überhaupt keine Militärpersonen im wirklichen Sinne, 
sondern Polizeibeamte, die zufällig in einer Uniform stecken. (Widerspruch.) 
Wenn ein Irrthum meinerseits vorliegt, will ich Ihnen sagen, wie ich auf die¬ 
sen Irrthum komme: Ich habe vielfach mit Gendarmen bezw. Gendarmerie- 
officieren zu correspondiren gehabt; es wurde mir immer gesagt, ich dürfte 
nicht „Militaria“ auf die Adresse schreiben, da sie ihre besondere Porto-Liqui¬ 
dation haben. Auf diesen zweiten Punkt will ich übrigens nicht so grosses 
Gewicht legen. Der dritte scheint mir aber wichtiger zu sein, nämlich der 
über die Hebeammengeburtslisten. Ich sehe diese Geburtslisten, die alle Jahr 
im Januar bei mir einlaufen, sehr gern durch, es ist mir keine Last Ich 
habe allerdings auch nicht den Auftrag, eine Statistik aus diesen Dingen her¬ 
auszuziehen. Ich benutze die Listen dazu, um zu sehen, was meine Hebeam- 
men gemacht haben, wie oft sie keinen Arzt gerufen, wie oft sie gegen diesen 
oder jenen Paragraphen verstossen haben; dann mache ich mir mein Facit und 
wenn sie zur Nachprüfung kommen, nehme ich sie vor und gehe die ent¬ 
sprechenden Abschnitte des Lehrbuches mit ihnen durch. Ich lerne aus die¬ 
sen Listen etwas, und meine Hebeammen auch. 

Was die Sanitätsberichte anlangt, so ist ja am Ende betreffs des Schema 
manches zu sagen, was uns nicht gefällt, und es ist auch ganz richtig, was 
Herr Coli. Falk geäussert hat, dass wir das nicht alles wissen können, was 
da von uns gefragt wird. Aber hier zeigt sich gerade die Findigkeit des 
Medicinalbeamten (Heiterkeit); er muss zeigen, dass er sich zu helfen weiss; 
wie er dazu kommt, das ist seine Sache. Ich schreibe in solchen Fällen an 
die Polizeibehörden, diese antworten mir, dann habe ich das Material für 
meinen Bericht und dann wird er auch gut. 

H. Falk (Vortragender): M. H.! Das Meldewesen dem Physicus ab¬ 
nehmen zu wollen, ist mir selbstverständlich nicht eingefallen. Wem sollte es 
denn gemeldet werden, dass sich ein Arzt niedergelassen hat? Ich will nur 
die mehrfachen Schreiben über die nämliche Sache nicht. Ueber die Gendarmen 
ist der Vorredner inzwischen schon aus der Versammlung berichtigt worden. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmnnd (Aurich): M. H! Hinsichtlich der 
Personalien stimme ich in gewisser Hinsicht dem Hrn. Vorredner bei, wenig¬ 
stens könnte die jährliche Veränderungs-Nachweisung unzweifelhaft wegfallen; 
denn daas die Physiker monatlich anzeigen und ausserdem jährlich noch einmal 
eine Uebersicht einreichen sollen, ist meines Erachtens überflüssig. Desgleichen 
ist es unzweckmässig, dass bei diesen Anzeigen verschiedene Formulare für 
die monatlichen und für die jährlichen Veränderungs-Nach Weisungen vorge* 



Uober oinigo den Medicinalbeamten abzunehmcnde Geschäfte. 


97 


schrieben sind; das giebt nur zu Irrthümem und falschen Aufstellungen Ver¬ 
anlassung. Also auch in dieser Hinsicht wäre eine Vereinfachung durchaus, 
angezeigt. 

Was den Sanitätsbericht betrifft, so thut es mir unendlich leid, wenn 
ich die Ursache gewesen bin, da.ss jetzt in einigen Theilen der Monarchie von 
den Physikern nicht nur jährliche, sondern auch vierteljährliche oder monat¬ 
liche Berichte eingefordert werden. In meiner Provinz ist dies nicht »Sitte; 
hier brauchen die Physiker nur jährliche Sanitätsberichte einzureichen. 

Betreffs des Schemas zu den jährlichen Berichten hat H. Coli. Falk 
zweifellos Recht, wenn er behauptet, dass in demselben nach manchen Dingen 
gefragt werde, die dem Physikus aus eigenem Wissen nicht bekannt sind und 
die er nur dann erfahren kann, wenn er mit dem Behörden seines Kreises auf 
gutem Fusse stellt und ihm dieselben die erbetenen Mittheilungen bereitwilligst 
geben. Diese Rückfragen des Physikus bei den Behörden, besonders bei den 
Ortspolizei-Behörden, haben mitunter aber auch ihr Gutes, bezw. den nicht zu 
unterschätzenden Erfolg, dass diese Behörden an die Existenz des Physikus, 
ihres gegebenen technischen Boiraths erinnert, und dadurch veranlasst werden, 
denselben wieder mehr als bisher zu Käthe zu ziehen. (Widerspruch.) Ja, 
m. H., wenn Sie andre Erfahrungen gemacht haben, thut mir dies leid, ich 
kann natürlich nur von meinen eigenen sprechen. 

Betreffs der Revision der Hebcammen-Tagebücher seitens der Physiker, 
sowie betreffs der Aufstellung einer statistischen Uobersicht der in diesen 
Tagebüchern eingetragenen Geburten, besteht in meinem Regierungsbezirk ein 
ähnliches Verfahren, wie das H. Prof. Falk beschrieben. Dasselbe beruht 
jedoch nicht auf einer Ministerial-, sondern auf einer Regicrungs-Verfügung 
und es sind diese statistischen Zusammenstellungen für den betreffenden Regie¬ 
rungs- und Medicinalrath mit Rücksicht auf den von ihm zu erstattenden Ge¬ 
sundheitsbericht äusserst werthvoll. Ausserdem ist aber auch — und darin 
stimme ich dem Collegen Schmidt vollständig bei — das Durchstudiren der 
Hebeammenlisten für die Physiker keineswegs werthlos, denn sie erhalten da¬ 
durch das beste Bild von der Thätigkeit der ihnen unterstellten Hebeammen. 

H. Geh. Med.- u. Reg.-Rath Dr. Ranzow (Potsdam): Da sich Herr Falk 
auf Einrichtungen in dem Regierungsbezirk bezogen hat, in dem ich zu wir¬ 
ken habe, so nehmo ich Veranlassung, auf die Aeusserung desselben mit einigen 
Worten einzugehen. Allerdings werden Nachweisungen über die von den Hebeam¬ 
men besorgten Geburten in der angegebenen Weise eingefordert und es ist diese 
Einrichtung unter meiner Mitwirkung getroffen worden. Ich bin dabei der 
Meinung gewesen, es sei das durch das Hebeammen-Lehrbuch gewissermassen 
vorgeschrieben. Jedenfalls müssen von den Hebeammen Geburtslisten nach 
vorgeschriebenem Schema geführt und alljährlich dem Physicus eingereicht 
werden. Nun ist es ja möglich, dass man sich dabei gedacht hat, der Physi¬ 
kus habe das Interesse, speciell zu wissen, welche Entbindungen die Hebeamme 
im Laufe dos Jahres besorgt hat; aber es scheint mir doch, dass man den 
weiteren Zweck gehabt hat, grösseres statistisches Material zu schaffen, welches 
nicht anderweitig leicht zu gewinnen sein dürfte. Ich werde mich aber näher 
danach umthun und, wenn die vorhandenen Bestimmungen keinen Anhalt da¬ 
für geben, dass diese Sache so gehandhabt werden soll, dann werde ich gern 
dahin wirken, dass diese Arbeit aufhört. 

Was nun die Sanitätsberichte betritt!, so bestätige ich, dass vierteljähr¬ 
liche kleine Berichte eingereicht werden müssen. Ich habe damals, als in 
unserer Versammlung über diesen Gegenstand dobattirt wurde, hervorgehoben, 
dass es für die Regierung ganz unmöglich ist, ohne solche Viortoljahrsberichte 
auszukommen, denn der Regierungs-Präsident muss regelmässig alle Vierteljahr 
die sogenannten Zeitungsberichte einroichen, welche an den König gehen und 
in welchen auch Auskunft darüber verlangt, wird, wie der allgemeine Gesund¬ 
heitszustand im Bezirk gewesen ist. Nun wissen die Herren ja, wie schwierig 
es ist, die Anzeigepflicht durchzuführen; wir erfahren vermöge derselben nicht 
Genügendes; die Handhabung derselben ist auch in den einzelnen Kreisen 
ausserordentlich verschieden und sie ergiebt daher aus einzelnen Kreisen wohl 
ziemlich Genaues, aus anderen aber ausserordentlich wenig. Es ist wohl keine 
Indiscretion, wenn ich beispielsweise erwähne, dass aus dem Kreise, in wel¬ 
chem Herr Kollege Falk wirkt, bezüglich des Auftretens contagiöser Krank- 

7 



98 6. Hauptversammlung des Preussischen Modicinalboamtonvereins. 


heiten nur die Anzeigon eingehen, dass und wo die Constatirung eines solchen 
Auftretens statt gefunden hat. Aber damit ist doch nicht erschöpft, was be¬ 
züglich des gesummten Gesundheitszustandes von Interesse ist; wir wollen 
unter Umständen auch Etwas von dem Auftreten von Krankheiten wissen, 
welche gar nicht der Anzeigepflicht unterliegen, z. B. von der Verbreitung der 
Malaria-Krank heiten bei Überschwemmungen u. s. w. Es müssen also schon 
solche vierteljährlichen Berichte eingereicht werden. Bezüglich derselben ist 
aber ausdrücklich gesagt, dass keine ausführliche Genauigkeit beansprucht 
wird; sie können also mit leichter Mühe gemacht und die Physiker durch so 
geringes Schreibwerk wohl nicht belastet werden. Im übrigen glaube ich, 
dass Herr Falk auch bezüglich der Jahresberichte seine Ansicht nicht so 
stark hat hinstellen wollen, dass er annähme, es solle in diese Berichte jedes¬ 
mal Alles hinoingeschrieben werden, was in dem Schema steht, als da sind: 
meteorologische Beobachtungen und genaue Beschreibung topographischer, 
klimatischer und anderer stabiler Verhältnisse; denn ich darf auch wohl ver- 
rathen, dass Herr Prof. Falk darüber nicht jedesmal grosse Abhandlungen 
schreibt, sondern ganz zweckmässig fortlässt, was ihn nicht intcressirt und 
was auch Andere nicht intcressirt. 

H. Falk (Vortragender): Um keinen Irrthum auf kommen zu lassen, 
muss ich erwähnen, dass die Polizeibehörden meines Verwaltungsgebietes 
ausserordentlich entgegenkommend sind; dies ist aber nur eine Gefälligkeit, 
die ich verlange und die sie mir erweisen, und es ist doch nicht correct, dass 
ich Gefälligkeiten verlangen soll für Dinge, die ich ex officio mittheilen soll; 
was ich durch private Information gewinne, hat damit nichts zu thun. 

Um nochmals auf die Hebeammen-Listen zu kommen, so wurde gesagt, 
dass sie einen gewissen statistischen Anhalt liefern sollen. Gewiss, der Physi- 
kus soll ja diese Hebeammen-Listen durchlesen, obgleich er ein entscheidendes 
Urtheil über die Qualification der Hebeammen aus den Tagebüchern nicht ge¬ 
winnen kann. Ich habe Hebeammen gefunden, die sehr gute Tagebücher führ¬ 
ten, sich aber unbeholfen bei der Prüfung zeigten. Aber um statistisches 
Material zu gewinnen, sind andere Quellen offen. Um zu wässen, wie viel 
Schädelgeburten, wie viel Querlagen Vorkommen, ist das Material der An¬ 
stalten so vollständig, dass wir dazu nicht auch noch ein Scherf lein beizu¬ 
tragen brauchten. 

Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das Wort? — Wenn 
das nicht der Fall ist, schliesse ich die Discussion und sage 
Herrn Professor Falk den besten Dank für seinen Vortrag. 

M. H.! Wir sind am Schlüsse unserer Tagesordnung und 
wollte ich mir noch erlauben, meine Freude darüber auszusprechen, 
dass wir besonders heute recht interessante und bewegte Debat¬ 
ten gehabt haben. Gleiclizeitig kann ich die Ihnen sicherlich 
willkommene Mittheilung machen, dass für die nächste Haupt¬ 
versammlung schon jetzt eine Anzahl interessanter Vorträge an¬ 
gemeldet sind und zwar: 

1) Ueber Puerperalfieber vom sanitätspolizeilichen 
Standpunkte: H. Kreisphysikus Dr. Philipp (Berlin); 

2) Ueber Formulirung von Obductionsprotokollen: 
H. Professor Dr. Falk (Berlin); 

3) Der Entwicklungsgang im Preussischen Medi- 
cinalwesen. II. Theil: Die Reformbewegungen im 
ärztlichen Stande: H. Reg.- u. Medicinal-Rath Dr. 
Wernich (Cöslin); 

4) Ueber eine Frage aus dem Gebiete der Schulhygiene: 
H. Kreisphysikus Dr. Schröder (Weissenfels). 



Ueber einige den Medicinalbeamten abzunehmende Geschäfte. 


99 


Sie sehen, m. H., es ist schon wieder ein reichlicher Stoff 
vorhanden. Und damit auf ein frohes Wiedersehen im nächsten 
Jahre! 


Nach Schluss der Sitzung (2 Uhr Nachmittags) fand zunächst 
ein einfaches Mittagsessen im „Prälaten“ statt und hierauf die 
Besichtigung der Königl. Strafanstalt in Plötzensee unter der 
ebenso liebenswürdigen wie sachkundigen Führung des derzeitigen 
Directors derselben Herrn Geheimen Justizrath Wirth. 

Abends 9 Uhr vereinigten sich die Mitglieder nochmals zu 
fröhlichem Zusammensein hei Sedlmayer (Friedrichstr. 172). 


7 * 



Mitglieder-Y erzeiehniss 

des 

Preussischen Medicinalbeamten-Vereins.*) 


Provinz Ostpreussen. 

1. Dr. Beeck, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Preuss.-Holland. 

2. - Berthold, Kreis-Physikus in Sensburg. 

3. - Bredschneider, Kreis-Physikus in Angerburg. 

4. - Hennemeyer, Kreis-Physikus in Orteisburg. 

5. - Herrendörfer, Kreis-Physikus in Ragnit. 

6. - Klamroth, Kreis-Physikus in Osterode. 

7. - Klein, Kreis-Physikus in Molirungen. 

8. - Leistner, Kreis-Wundarzt in Eydtkubnen. 

*9. - Liedtke, Kreis-Physikus in Goldap. 

10. - Liepkau, Director des Königl. Impfinstituts in Königsberg. 

11. - Passauer, Regierungs- und Medicinal-Rath in Gumbinnen. 

12. - Sabartli, Kreis-Physikus in Lötzen. 

*13. - Salomon, Kreis-Physikus ad. int. in Darkehmen. 

14. - Schiller, Kreis-Physikus in Wohlau. 

15. - Sonntag, Kreis-Wundarzt und Sanitäte-Rath in Allenstein. 

16. - Stielau, Kreis-Wundarzt in Preuss.-Holland. 

17. - Surminski, Kreis-Physikus in Lyek. 

18. - Wilde, Kreis-Wundarzt in Osterode. 

19. - Wolffberg, Kreis-Physikus in Tilsit. 

Provinz Westprenssen. 

20. Dr. Ab egg, Geh. Sanitäts-Rath und Medicinal-Rath in Danzig. 

21. - Brinkmann, Kreis-Wundarzt in Christburg. 

22. - Deutsch, Kreis-Physikus in Elbing. 

23. - Freymuth, Kreis-Physikus in Danzig. 

24. - Hasse, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Flatow. 

25. - Heise, Kreis-Physikus in Briesen. 

26. - Heynacher, Kreis-Physikus in Rosenberg. 

27. - Köhler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Marienwerder. 

28. - Matz, Kreis-Wundarzt in Deutsch-Krone. 


*) Die Namen der in die Präsenzliste aufgenommenen Theilnehmer der 
sechsten Hauptversammlung sind mit einem * versehen. 



Mitglieder-V erzeichniss. 


101 


29. Dr. Meissner, Kreis-Physikus in Strassburg. 

30. - Merner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Preuss.-Stargard. 

31. - Moritz, Kreis-Physikus in Schlochau. 

32. - Müller, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Könitz. 

*33. - Priester, Kreis-Physikus in Tuchei. 

34. - Reiche,*) Regierungs- und Medicinal-Rath in Marienwerder. 

35. - von Rosycki, Kr eis-Wundarzt in Thorn. 

36. - Rummel, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Berent. 

37. - Siedamgrotzky, Kreis-Physikus in Thorn. 

38. - Sinagowitz, Kreis-Wundarzt in Neuenburg. 

39. - Stark, Medicinal-Rath in Danzig. 

40. - Wiener, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Graudenz. 

*41. - Wilczewski, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Marienburg. 

*42. - Wodtke, Kreis-Physikus in Dirschau. 

43. - Wolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Loebau. 

*44. - Wollermann, Kreis-Wundarzt in Baldenburg. 

Berlin. 

45. Dr. Altmann, Kreis-Physikus a. D. und Sanitäts-Rath. 

*46. - Baer, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath. 

*47. - Becker, Bezirks-Physikus. 

*48. - Döring, Bezirks-Physikus. 

*49. - Falk, Kreis-Physikus und Professor. 

50. - von FoHer, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath. 

51. - Granier, Bezirks-Physikus. 

52. - Koch, Professor und Geh. Medicinal-Rath. 

*53. Köhler, Director des Kaiserl. Gesundheitsamts. 

*54. Dr. Lewin, Bezirks-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath. 

*55. - Mittenzweig, Stadt-Physikus. 

*56. - Philipp, Kreis-Physikus. 

*57. - Pißtor, Regierungs- und Geh. Medicinal-Rath. 

*58. - Rahts, Regierungs-Rath und Mitglied des Reichsgesundheitsamts. 

59. - Richter, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath. 

60. - Röckl, Regierungs-Rath und Mitglied des Reichsgesundheitsamts. 

*61. - Schulz, Stadt-Physikus, San.-Rath u. Director des KgL Implxnstituts. 
*62. - Seil, Geh. Regierungs-Rath und Professor. 

63. - Struck, Geh. Ober-Regierungs-Rath. 

*64. - Wehmer, medicinischer Hülfsarbeiter bei dem Polizei-Präsidium in 
Berlin. 

*65. - Wolff, Stadt-Physikus und Geh. Medicinal-Rath. 

Provinz Brandenburg« 

*66. Dr. Berendes, Kreis-Physikus in Friedeberg. 

*67. - Beyer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lübben. 

*68. - Davidsohn, Kreis-Physikus in Spremberg. 

69. - Dyrenfurth, Kreis-Wundarzt in Spandau. 


*) Inzwischen verstorben. 



102 


Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


70. Dr. Friedrich, Kreis-Physikus in Landsberg a. W. 

*71. - Gleitsmann, Kreis-Physikus in Belzig. 

*72. - Grossmann, Kreis-Physikus in Freienwalde a. 0. 

73. - Günther, Kreis-Wundarzt in Luckenwalde. 

74. - Guericke, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Straussberg. 

75. - Gutkind, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Mittenwalde. 

76. - Haebler, Kreis-Wundarzt in Rüdersdorf. 

77. - Hannstein, Kreis-Physikus in Perleberg. 

78. - Heise, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rathenow. 

79. - Jacobi, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Wittstock. 

*80. - Jaenicke, Kreis-Physikus in Templin. 

*81. - Kanzow, Regierungs- und Geh. Medicinal-Rath in Potsdam. 

82. - Kreussler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Brandenburg. 

83. - Liersch, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kottbus. 

84. - Lindner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Angermünde. 

85. - Lindow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Prenzlau. 

*86. - Nesemann, Kreis-Physikus in Soldin. 

87. - Ortmann, Kreis-Wundarzt in Alt-Ruppin. 

*88. • Passauer, Kreis-Physikus in Potsdam. 

89. - Prawitz, Kreis-Physikus in Kyritz. 

90. - Rät zell, Kreis-Physikus in Amswalde. 

*91. - Reinecke, Kreis-Physikus in Nauen. 

92. - Sander, Medicinal-Rath und Director der städtischen Irrenanstalt 
in Dalldorf. 

*93. - Schartow, Kreis-Wundarzt in Potsdam. 

*94. - Schleussner, Kreis-Physikus in Beeskow. 

*95. Schumann, Kreis-Wundarzt in Beeskow. 

*96. Dr. Siehe, Kreis-Physikus in Kalau. 

97. - Struntz, Kreis-Physikus in Jüterbogk. 

98. - Stüler, Kreis-Wundarzt in Belzig. 

*99. - Telke, Kreis-Physikus in Züllichau. 

100. - Tietze, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Frankfurt a. 0. 

101. - Wei s8enborn, Kreis-Physikus in Zielenzig. 

*102. - Wiedemann, Kreis-Physikus in Neu-Ruppin. 

*103. - Wiedner, Kreis-Physikus in Königsberg i. N. 

Provinz Pommern. 

104. Dr. Alexander, Kreis-Physikus in Bublitz. 

105. - Beumer, Kreis-Physikus und Professor in Greifswald. 

106. - Bittner, Kreis-Physikus in Stargard. 

107. - Dieterich, Regierungs- und Medicinal-Rath in Stettin. 

108. - Dyrenfurth, Kreis-Physikus in Bütow. 

109. - Freyer, Kreis-Physikus in Naugard. 

*110. - Freyer, Kreis-Physikus in Stettin. 

111. - Friedländer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lauenburg. 

112. - Hanow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Ueckermünde. 

113. - Heidenhain, Kreis-Wundarzt in Köslin. 

114. - v. Haselberg, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Stralsund. 

115. - Kortum, Kreis-Wundarzt in Swinemünde. 

116. - Krafft, Kreis-Physikus in Rummelsburg. 




Mitglieder-V erzeichniss. 


103 


117. Dr. Krau, Kreis-Physikus in Greifenhagen. 

118. - Kramer, Kreis-Physikus in Pyritz. 

119. - Lebram, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Köslin. 

*120. - Liedke, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neustettin. 

121. - Mau, Kreis-Physikus in Schievelbein. 

*122. - Noetzel, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Colberg. 

123. - Pogge, Kreis-Wundarzt in Stralsund. 

124. - Prochnow, Kreis-Physikus und Sanitats-Rath in Labes. 

125. - Raabe, Kreis-Physikus in Kammin. 

126. - Roth, Kreis-Physikus in Belgard. 

127. - Schlüter, Kreis-Wundarzt in Pyritz. 

128. - Seligmann, Kreis-Wundarzt in Leba. 

129. - Siemens, Director der Provinzial-Irrenanstalt und Medicinal-Rath 

in Lauenburg. 

130. - Spiegel, Kreis-Wundarzt in Bublitz. 

131. - Ulmer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Dramburg. 

132. - Vanselow, Kreis-Physikus in Schlawe. 

*133. - Wernich, Regierungs- und Medicinal-Rath in Cöslin. 

134. - Ziegler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Anclam. 

Provinz Posen« 

135. Dr. Adamkiewicz, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rawitsch. 

136. - Chrzescinski, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kolmar. 

137. - Cohn, Medicinal-Rath in Posen. 

138. - Dembzack, Kreis-Physikus in Schroda. 

139. - Düsterhoff, Kreis-Physikus in Lissa. 

140. - Gemmel,*) Regierungs- und Geh. Medicinal-Rath in Posen. 

141. - Haberling, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Bromberg. 

142. - Hoffmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Meseritz. 

143. - Knispel, Kreis-Wundarzt in Murowana-Goslin. 

144. Kronisch, Kreis-Wundarzt in Bromberg. 

145. Dr. Kunau, Kreis-Physikus und Medicinal-Rath in Posen. 

146. - Kutzner, Kreis-Wundarzt in Kriewen. 

*147. - Landsberg, Kreis-Physikus in Ostrowo. 

148. - Landowicz, Kreis-Wundarzt in Gnesen. 

*149. - Lehmann, Kreis-Physikus in Znin. 

150. - Li88ner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kosten. 

151. - Litthauer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Schrimm. 

*152. - Matthes, Kreis-Physikus in Obornick. 

*153. - Meinhof, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Pieschen. 

154. - Möller, Kreis-Physikus in Czarnikau. 

*155. - Peters, Regierungs- und Medicinal-Rath in Bromberg. 

156. - Powidzki, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Schrimm. 

157. - Roquette, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Inowrazlaw. 

158. - Rubensohn, Kreis-Physikus in Graetz. 

159. - Scheider, Kreis-Physikus in Samter. 

160. - Schmidt, Kreis-Physikus in Strelno. 

161. - Sikorski, Kreis-Physikus in Adelnau. 


*) Inzwischen verstorben. 



104 


Preußischer Medicinalbcamtcn-Verein. 


*162. Dr. Wilke, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gnesen. 

163. - Wunderlich, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Krotoschin. 

Provinz Schlesien. 

164. Dr. Adelt, Kreis-Physikus in Bunzlau. 

165. - Adler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Brieg. 

*166. - Alse her, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Leobschütz. 

*167. - Babel, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Pless. 

168. - Blumenthal, Kreis-Physikus in Militseh. i 

169. - Braun, Kreis-Physikus in Bolkenhayn. j 

170. - Chlumsky, Kreis-Physikus in Wohlau. | 

*171. - Comnick, Kreis-Physikus in Striegau. j 

172. - Färber, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kattowitz. < 

173. - Felsmann, Kreis-Physikus in Neise. | 

174. - Friedländor, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lublinitz. 

175. - Fritzsch, Geh. Medicinal-Rath und Professor in Breslau. | 

176. - Gottschalk, Kreis-Physikus in Rosenberg. 

177. - G ottwald, Kreis-Physikus u. Sanitäts-Rath in Frankenstein. 

178. - Grätzer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gross-Strehlitz. 

179. - Hauptmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gleiwitz. 

180. - Hausmann, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Niesky. 

181. - Heer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Beuthon. j 

182. - Heidelberg, Kreis-Physikus in Reichonbach. ' 

183. - Herrmann, Kreis-Physikus in Hirschberg. 

184. - Klose, Kreis-Physikus in Oppeln. 

185. - Köhler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Landeshut. | 

186. - Ko lim, Kreis-Physikus in Freistadt. j 

187. - Leder, Kreis-Wundarzt in Lauban. j 

188. - Lesser, Stadt-Physikus und Professor in Breslau. j 

189. - Lichtwitz, Kreis-Physikus in Ohlau. 

190. - Loeser, Kreis-Physikus in Nimptsch. 

191. - Ludwig, Kreis-Wundarzt in Habelschwerdt. 

192. - Lustig, Kreis-Wundarzt in Liegnitz. 

*193. - Meyhöfer, Kreis-Physikus in Görlitz. 

*194. Michelsen, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Waldenburg. 

195. - Noack, Regierungs- und Medicinal-Rath in Oppeln. 

196. - Ost mann, Kreis-Physikus in Rybnik. 

197. - Rother, Kreis-Physikus in Falkenberg. 

198. - Schilling, Kreis-Physikus in Polnisch-Wartenberg. 

199. - Schirmer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Grünberg. 

200. - Sch lock ow, Polizei-Stadt-Physikus und Sanitäts-Rath in Breslau. 

201. - Schmiedel, Bezirks-Physikus in Breslau. 

*202. - Schmidt, Kreis-Physikus in Steinau a. O. 

203. - Schwahn, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Breslau. 

204. - Stadthagen, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Liegnitz. 

205. - St aff hör st, Kreis-Physikus in Oels. 

*206. - Strassner, Kreis-Physikus in Ruhland. 

207. - Thiene 1, Kreis-Wundarzt in Sohrau O./Schl. 

208. - Wach, Kreis-Wundarzt in Kupp. 

209. - Wolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Sprottau. 

210. - Wüstefeld, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Neustadt. 



Mitglieder-Verzeichnis!*. 


105 


211 . 

* 212 . 

213. 

214. 

215. 

216 . 

217. 

218. 
219. 

* 220 . 

221 . 

222 . 

223. 

224. 

225. 
*226. 

227. 

228. 
229. 

*230. 

231. 

232. 

233. 

234. 

235. 

236. 

237. 
*238. 
*239. 
*240. 

241. 

*242. 

*243. 

244. 

245. 

246. 

247. 
*248. 

249. 

250. 

251. 

252. 
*253. 

254. 

255. 

256. 

257. 

258. 


Provinz Sachsen. 

Dr. Bartsch, Kreis-Physikus in Neuhaldensleben. 

- Boehm, Kreis-Physikus und Medicinal-Rath in Magdeburg. 

- Busolt, Kreis-Physikus in Delitzsch. 

• Claes, Kreis-Wundarzt in Mühlhausen i/Thüringen. 

- Delbrück, Kreis-PhyBiku6 a.D. und Geh. Sanitäts-Rath in Halle a. S. 

- Deutschbein, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Herzberg a. Elster. 

• Dietrich, Kreis-Wundarzt in Möckern. 

- Dippe, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Bitterfeld. 

- Engelhardt, Kreis-Physikus in Burg. 

- Fielitz, Kreis-Physikus in Querfurt. 

- Frantz, Kreis-Wundarzt in Genthin. 

- Friedrich, Kreis-Physikus a. D. und Sanitäts-Rath in Wernigerode. 

- Geissler, Kreis-Wundarzt in Schildau. 

- Giese, Kreis-Wundarzt in Osterburg. 

- Gleitsmann, Kreis-Physikus in Naumburg a/S. 

- Gutsmuth, Kreis-Physikus in Genthin. 

- v. Hake, Kreis-Wundarzt in Wittenberg. 

- Heicke, Kreiß-Physikus in Wernigerode. 

- Helm, Kreis-Wundarzt in Tangermünde. 

- Holthoff, Kreis-Wundarzt in Wollmirstedt. 

- Jacobson, Kreis-Physikus in Salzwedel. 

- Janert, Kreis-Physikus in Seehausen. 

- Joesting, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Halberstadt. 

- Kant, Kreis-Wundarzt in Aschersleben. 

- Koppen, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Heiligenstadt. 

- Kuntz, Kreis-Physikus in Wanzleben. 

- Meye, Kreis-Wundarzt in Mansfeld. 

- Meyer,*) Kreis-Physikus in Liebenwerda. 

- Penk ert, Kreis-Wundarzt in Artern. 

- Pippow, Kreis-Physikus in Eisleben. 

- Pietsch, Kreis-Physikus in Wollmirstedt. 

- Pitschke, Kreis-Wundarzt in Gerbstädt. 

- Plange, Kreis-Physikus in Ziegenrück. 

- Prast, Kreis-Wundarzt in Mühlberg a/E. 

- Probst, Kreis-Physikus in Gardelegen. 

- Reip, Kreis-Physikus a. D. in Kalbe a/M. 

- Richter, Regierungs- und Geheimer Medicinal-Rath in Erfurt. 

- Ri sei, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Halle a/S. 

- Schade, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Weissensee, 

- Schaffranek, Kreis-Physikus in Zeitz. 

- Schmiele, Kreis-Wundarzt in Weissenfels. 

- Schneider, Kreis-Physikus in Schleusingen. 

- Schröder, Kreis-Physikus in Weissenfels. 

- Strübe, Kreis-Wundarzt in Halle a/S. 

- Tenholt, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Nordhausen. 

- ünger, Kreis-Wundarzt in Nordhausen. 

- Voigt, Regierungs- und Medicinal-Rath in Magdeburg. 

- Wachs, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Wittenberg. 


*) Inzwischen verstorben. 



Preussischer Medieinalbeamten-Verein. 


100 


259. Dr. Wehr, Kreis-Physikus in Worbis. 

260. - Weinreich, Kreis-Wundarzt in Heiligenstadt. 

261. - Werner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Sangerhausen. 

262. - Wolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Erfurt. 

ProTlnz Schleswig-Holstein. 

263. Dr. As müssen, Kreis-Physikus in Rendsburg. 

264. - Bar nick, Kreis-Physikus in Flensburg. 

265. - Bockendahl, Regierungs- und Geh. Modicinal-Rath in Kiel. 

266. - Goos, Kreis-Physikus in Ploen. 

267. - Halling, Kreis-Physikus in Glückstadt. 

268. - Hansen, Kreis-Physikus in Gramm. 

269. - Hasselmann, Kreis-Physikus in Hadersleben. 

270. - Horn, Kreis-Physikus in Tondern. 

271. - Joens, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kiel. 

272. - Nauck, Kreis-Physikus in Bredstedt. 

273. - Reimann, Kreis-Physikus in Neumünster. 

274. - Reh der, Kreis-Physikus in Apenrade. 

275. - Schow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neustadt. 

276. - Sültmann, Kreis-Physikus a. D. in Apenrade. 

*277. - Wallichs, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Altona. 



Provinz Hannover. 

278. Dr. Ad ickes, Kreis-Physikus in Hannover. 

279. - Alten, Regierungs- und Medicinal-Rath in Hannover. 

280. - Andr6e, Kreis-Physikus in Neuhaus a Oste. 

281. - Becker, Regierungs* und Medicinal-Rath in Hannover. 

*282. Beckmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Harburg. 

283. - Bitter, Regierung«- und Medicinal-Rath in Osnabrück. 

284. - Blokusewski, Kreis-Physikus in Aurich. 

285. - Bohde, Regierungs- und Medicinal-Rath in Stade. 

286. - Bückling, Kreis-Physikus in Neustadt a/R. 

287. - Burghard, Geh. Medicinal-Rath in Hannover. 

288. - Demp wolff, Kreis-Wundarzt, Stadt-Physikus u.San.-Rath in Harburg. ■ 

289. - Eichhorst, Kreis-Wundarzt in Ottersberg. 

290. - Engelmann, Kreis-Physikus in Achim. 

291. - Friederich, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Hameln. 

292. - Gaehde, Kreis-Physikus in Blumenthal. 

293. - Guertler, Kreis-Physikus in Hannover. 

294. - Halle, Kreis-Physikus in Burgdorf. 

295. - Heilmann, Kreis-Physikus in Melle. 

*296. •- Herwig, Kreis-Physikus in Lehe. 

297. - Herya, Kreis-Physikus in Ottemdorf. 

298. - Hüpeden, Medicinal-Rath in Hannover. 

299. - Huntemueller, Kreis-Physikus in Hoya. 

300. - Juckes, Kreis-Wundarzt in Hannover. 

301. - Jung, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Weener. 

302. - Kessler, Kreis-Wundarzt in Salzgitter. 

*303. - Kirchhoff, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Leer. t 

304. - Kremling, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Walsrode. 


4 



107 


• M itglieder-V erzeichniss. 

305. Dr. Langenbeck, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gifhorn. 

306. - Langerhans, Kreis-Physikus in Hankersbüttel. 

307. - Lohstoeter, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lüneburg. 

308. - Lüning, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Diepholz. 

309. - Marcard, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Celle. 

310. - Mende, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Einbeck. 

311. - Müller, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Salzgitter. 

312. - Nöller, Kreis-Physikus in Buxtehude. 

313. - Norden, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Emden. 

314. - Picht, Kreis-Physikus in Nienburg a. W. 

*315. - Rapmund, Regierungs- und Medicinal-Rath in Aurich. 

316. - Richter, Kreis-Physikus in Peine. 

317. - Ritter, Kreis-Physiku3 und Sanitäts-Rath in Bremervörde. 

318. - Röhr8, Kreis-Physikus in Scheesei. 

319. - Rosenbach, Kreis-Physikus in Hildesheini. 

320. - Rünger, Kreis-Physikus in Springe. 

321. - Rüge, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Linden. 

322. - Rusack, Kreis-Physikus in Stade. 

323. - de Ruyter, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Quakenbrück. 

324. - Sehirmeyer, Kreis-Physikus in Osnabrück. 

325. - Schmalfuss, Stadt-Physikus ixx Hannover. 

326. - Schmidtmann, Kreis-Physikus in Wilhelmshafen. 

327. - Schulte, Kreis-Physikus in Hannov. Münden. 

328. - Seemann, Kreis-Physikus in Northeim. 

329. - Silomon, Kreis-Physikus in Norden. 

330. - Steinebach, Kreis-Physikus in Bassum. 

831. - Stoltenkamp, Kreis-Physikus in Bentheim. 

332. - Strecker, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Duderstadt. 

333. - Tampke, Kreis-Physikus in Stolzenau. 

334. - Th ölen, Kreis-Physikus in Papenburg. 

335. - Többen, Kreis-Physikus in Meppen. 

386. - Wengler, Kreis-Physikus in Göttingen. 

337. - Wolffhügel, Professorin Göttingen. 

Provinz Westphalen. 

338. Dr. Bange, Kr eis-Wundarzt in Niedermarsberg. 

339. - Borndrueck, Kreis-Wundarzt in Femdorf. 

340. - Bremme, Kreis-Physikus in Soest. 

341. - Eckervogt, Kreis-Wundarzt in Bocholt. 

342. - Graeve, Kreis-Physikus in Hattingen. 

343. - Graffunder, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lübbecke. 

344. - Hagemann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Dortmund. 

345. - Hellmann, Kreis-Wundarzt in Wickede a/Ruhr. 

346. - Hölker, Regierungs- und Medicinal-Rath in Münster. 

347. - K a r s c h, Geh. Medicinal-Rath und Professor in Münster. 

*348. - Katerbau, Regierungs- und Medicinal-Rath in Arnsberg. 

*349. - Kley, Kreis-Wundarzt in Rahden. 

350. - Kloster mann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Bochum. 

351. - Krammacher, Kreis-Physikus in Tecklenburg. 

352. - Lemmer, Kreis-Physikus in Sprockhövel. 



108 


Preussißcher Medicinalbeamten-Verein. 


853. Dr. L.imper, Kreis-Physikus in Gelsenkirchen. 

354. - Lindemann, Kreis-Wandarzt in Gelsenkirchen. 

355. - Michels, Kreis-Wundarzt in Herbede, 

356. - Moors, Kreis-Physikus in Hagen i. W. 

857. - Müller, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Minden i. W. 

358. - Munsch, Kreis-Physikus in Bocholt. 

*359. - Overkamp, Kreis-Physikus in Warendorf. 

360. - Pelizaeus, Kreis-Physikus u. San.-Rath in Rietberg i. W. 

361. - PI©8 8, Kreis-Physikus in Brilon. 

362. - Redecker, Kreis-Wundarzt in Bochum. 

363. - Rheinen, Kreis-Physikus in Lippstadt. 

364. - Röper, Kreis-Physikus in Arnsberg. 

365. - Rose, Kreis-Wundarzt in Menden b. Iserlohn. 

366. - Schulte, Kreis-Physikus in Hörde. 

*367. - Schwienhorst, Kreis-Physikus in Laasphe. 

368. - Spanken, Kreis-Physikus in Meschede. 

369. - Terstesse, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Büren i. W. 

Provinz Hessen-Nassau. 

370. Dr. Bickel, Kreis-Physikus a. D. und Medicinal-Rath in Wiesbaden. 

371. - Ebertz, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Weilburg a. L. 

372. - Eisenach, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rotenburg. 

373. - Giesler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Cassel. 

374. - Grandhomme, Kreis-Physikus in Höchst. 

875. - Knorz, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Fritzlar. 

376. - Koehler, Kreis-Wundarzt in Cassel. 

377. - Krause, Medicinal-Rath in Cassel. 

378. - Lehnebach, Kreis-Physikus a. D. in Schmalkalden. 

379. - Lissard, Kreis-Wundarzt in Frankenberg. 

380. - Menke, Kreis-Physikus u. Sanitäts-Rath in Marienberg. 

381. - Mumm, Kreis-Physikus in Gelnhausen. 

382. - Oberstadt, Kreis-Physikus in Langenschwalbach. 

383. - Pfeiffer, Kreis-Physikus in Wiesbaden. 

384. - Plitt, Kreis-Physikus in Hofgeismar. 

385. - Rockwitz, Regierungs- und Medicinal-Rath in Cassel. 

386. - Schauas, Kreis-Physikus in Usingen. 

387. - Schneider, Kreis-Physikus in Fulda. 

388. - Schotten, Kreis Wundarzt in Cassel. 

389. - Spiegeltbai, Kreis-Physikus in Cassel. 

390. - von Tessmar, Kreis-Physikus in Limburg. 

391. - Vietor, Kreis-Physikus in Hersfeld. 

Rheinprovinz. 

392. Dr. Arons, Kreis-Physikus in Erkelenz. 

393. - Aronstein, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Eckenhagen. 

394. - Baum, Kreis-Wundarzt in Aachen. 

395. - Beermann, Kreis-Physikus in Duisburg. 

396. - Eulenberg, Geheimer Ober-Medicinal-Rath in Bonn. 

397. - Gerönne, Kreis-Physikus in Cleve. 

398. - Herbst, Kreis-Physikus in Wipperfürth. 



Mitglieder-V erzeichniss. 


109 


399. Dr. Hillmann, Kreis-Wundarzt in Heinsberg. 

400. - Hoechst, Kreis-Physikus in Wetzlar. 

401. - Kimpen, Kreis-Physikus in Neunkirchen. 

402. - Kleffmann, Kreis-Wundarzt in Andernach. 

403. - Kohlmann, Kreis-Physikus in Remagen. 

404. - Kribben, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Aachen. 

405. - Leo, Kreis-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath in Bonn. 

406. - Lorenz, Kreis-Physikus in Gummersbach. 

407. - Mainzer, Kreis-Wundarzt in Illingen. 

408. - Freiherr v. Massenbach, Regierungs-und Geh. Medicinal-Rath in 

Goblenz. 

409. - Meder, Kreis-Physikus u. San.-Rath in Altenkirchen. 

410. - Nels, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Bitburg. 

411. - Noethlichs, Kreis-Physikus in Heinsberg. 

412. - Nünninghoff, Kreis-Wundarzt in Orsoy a. Rh. 

413. - Racine, Kreis-Wundarzt in Essen (Ruhr). 

414. - Schlecht, Kreis-Wundarzt in Euskirchen. 

415. - Schmitz, Kreis-Physikus in Malmedy. 

416. - Schruff, Kreis-Physikus in Neuss. 

417. - Schubmehl, Kreis-Physikus in St. Wendel. 

418. - Schulz, Kreis-Physikus, Medicinalassessor und Sanitäts-Rath in 

Coblenz. 

419. - Thiele, Kreis-Wundarzt in Kochern. 

420. - Thomas, Kreis-Physikus in Rheinbach. 

421. - Ungar,*Kreis-Wundarzt und Professor in Bonn. 

422. - Wal bäum, Kreis-Wundarzt in Gerolstein. 

423. - Weiss, Regierungs- und Geheimer Medicinal-Rath in Düsseldorf. 

424. - Wellenstein, Kreis-Physikus u. 8an.-Rath in Urft, Kr. Schleiden 

425. - Weskamp, Kreis-Physikus in Düren. 

426. - Wese, Kreiswundarzt in Montjoie. 

427. - Wiesemes, Kreis-Physikus in Solingen. 

428. - Winkel, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Mühlheim a. Rhein. 

429. - Wolff, Kreis-Wundarzt in Garzweiler. 

430. - Zimmermann, Kreis-Physikus und Geh. San.-Rath in Düsseldorf. 

Hohenzollern - Sigmaringen, Eisass-Lothringen nnd andere 
deutsche Bundesstaaten. 

431. Dr. Gaffky, Professor der Hygiene in Giessen. 

432. - Koch, Medicinal-Referent und Geh. Sanitäts-Rath in Sigmaringen. 
438. - Petri, Kreisarzt in Molsheim. 

434. - Picard, Kreisarzt in Gebweiler. 


Ton den Yereinsmltglledern sind während des Jahres 1887/88 gestorben: 

1. Dr. Dupr6, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Ahaus. 

2. - Lorentzen, Kreis-Physikus in Schleusingen. 

3. - Hecht, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Neidenburg. 






FÜftSTUOM PWtV. HOFBUCHOrnJOKKIW (r. MfTZLAFT ) RUDOLSTADT.